DANN BEKOMMT ER EINE FAUST - Fluter
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Foto: Larry Towell/ MagnumPhotos/Focus<br />
WARUM<br />
GEWALT<br />
NORMAL IST<br />
„Gewalt meint eine Machtaktion,die zur absichtlichen körperlichen<br />
Verletzung anderer führt.“<br />
Von dieser Definition des Soziologen Heinrich Popitz kann man<br />
ausgehen,will man Gewalt begreifen.Sie enthält einen „engen“ Begriff<br />
von Gewalt – im Gegensatz zu der modischen Neigung, jede<br />
Art von Zwang und Verletzung, also alles und jedes als Gewalt zu<br />
bezeichnen. Und sie ist doch zeitgemäß und nahe an unserem<br />
Alltagsverständnis, für das Gewalt mehrfach negativ besetzt ist: als<br />
Machtakt, als Verletzung anderer, als Abweichung von der friedlichen<br />
Normalität. Allein in diesen drei Eigenschaften springt der<br />
„Unwert“ von Gewalt so sehr ins Auge, dass eine unvoreingenommene<br />
Prüfung von Prozessen und Funktionen der Gewalt gar nicht<br />
mehr nötig – und möglich – erscheint. Wo Gewalt so selbstverständlich<br />
als böse angenommen wird, ist auch der Kampf gegen<br />
das Böse selbstverständlich. Alle Anstrengungen konzentrieren sich<br />
darauf, das Übel an der Wurzel zu packen. Entsprechend interessiert<br />
sich sozialwissenschaftliche Forschung eher für Ursachen von Gewalt<br />
als für Gewalt selbst. Sie beschreibt die jeweiligen Erscheinungsweisen<br />
des Übels – Jugendgewalt, Gewalt in Familien, Gewalt gegen<br />
Fremde – und sucht die Gründe in psychischen oder sozialen<br />
Problemen. Dahinter steht die Hoffnung, dass Gewalt als soziales<br />
Problem aus der Welt verschwinde,wenn andere Probleme wie soziale<br />
Ungleichheit und Unterdrückung oder Verlust von Werten gelöst<br />
werden.<br />
Diese Sicht verharmlost und unterschätzt Gewalt. Gewalt ist nicht<br />
nur Ausfluss von sozialen Problemen, sondern auch deren Lösung.<br />
Sie ist nicht nur eine Störung der Normalität, sondern deren Teil.<br />
Sie ist nicht an sich krankhaft und böse. Sie entspringt jenseits von<br />
Gut und Böse, als eine elementare Kraft des sozialen Lebens.<br />
Gegenüber den Kräften der Zerstörung, des Zerfalls, muss sich das<br />
Leben, obwohl aus ihnen hervorgegangen, ständig behaupten. Das<br />
Leben selbst ist eine Gegengewalt,eine gewaltige Ordnungsleistung.<br />
Gewalt, die wir in Menschen verkörpert sehen und irrigerweise als<br />
deren individuelle Eigenschaft auffassen, ist in Wirklichkeit eine<br />
Eigenschaft der Beziehungen zwischen Menschen. Sie stört und<br />
ordnet diese Beziehungen zugleich.<br />
Wo soziales Leben vorhanden ist und vor sich geht, ist auch Gewalt<br />
vorhanden. Denn ohne Durchsetzung in Machtaktionen und ohne<br />
Sie entspringt jenseits von Gut und Böse.<br />
Sie entsteht aus vielerlei Gründen. Sie ist überall.<br />
Der Soziologie-Professor Karl Otto Hondrich, 66,<br />
erklärt den Begriff der Gewalt – und gibt die Antwort<br />
auf die Frage, ob man sie bekämpfen soll und kann.<br />
Verletzlichkeit ist Leben nicht denkbar. „Das Leben“ besteht aus<br />
einer Vielzahl von Lebewesen und ihren Beziehungen untereinander.<br />
Die Vielzahl der Lebewesen – Individuen und Gruppen – ist keine<br />
einheitliche Masse, sondern durchzogen von Differenzen und Dissonanzen.<br />
Um sich in ihnen behaupten zu können, brauchen die<br />
einzelnen Macht:die Chance, sich auch gegen Widerstreben durchzusetzen.<br />
Ist dies nicht auch ohne Macht möglich, durch Übereinstimmung<br />
wirtschaftlicher Interessen und /oder moralischer Werte und Rechtsregeln?<br />
Im Prinzip ja. In der Geschichte war es allerdings nicht so. Und in<br />
der Zukunft sieht es noch weniger danach aus. Die Wirklichkeit<br />
arbeitet dagegen: Die Dynamik moderner Gesellschaft vergrößert<br />
die wirtschaftlichen und kulturellen Ungleichheiten,im kleinen wie<br />
im großen. So erschafft sie sich selbst die Machtverhältnisse, mit<br />
deren Hilfe sie ihre inneren Unvereinbarkeiten und Konflikte in<br />
Schach hält.<br />
Wenn Macht im Beziehungsleben unvermeidlich und unersetzbar<br />
ist: Soll und kann es dann nicht wenigstens die friedliche Macht des<br />
wirtschaftlich Stärkeren, des Religionsführers, des Weltphilosophen<br />
sein, die sich auf lange Sicht und gewaltfrei durchsetzt – also ohne<br />
und gegen die besondere Art von Macht, Gewalt genannt, die auf<br />
körperliche Verletzung und Tod hinausläuft?<br />
Auch hier lautet die Antwort: im Prinzip ja. Und auch hierzu gibt<br />
die Wirklichkeit andere Antworten: Im Leben aller Gesellschaften<br />
und der meisten Menschen gibt es Güter und Werte – Gerechtigkeit,Freiheit,der<br />
Schutz der Liebsten – die für wichtiger genommen<br />
werden als die Unverletzbarkeit des andern, ja sogar des eigenen<br />
Lebens. Gewalt als unmittelbar wirkende, schmerzende Machthandlung<br />
enthält die Botschaft, dass das ohnehin verletzliche und<br />
sterbliche individuelle Leben nicht das höchste Gut des Lebens<br />
schlechthin ist. Und als weitere Botschaft: dass eingefahrene<br />
Machtverhältnisse nicht unverbrüchlich und an sich besser sind als<br />
spontane Gewalt-Macht. Gewalt ist eine Alternative, wenn andere<br />
Arten der Macht der Spannungen in sozialen Beziehungen nicht<br />
(mehr) Herr werden.Mögen wir Gewalt als unmoralisch empfinden:<br />
sie hat einen moralischen Kern in ihrer Funktion,Ordnung in Frage<br />
zu stellen und in der Reaktion darauf zu bestärken oder in eine<br />
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