BRENNPUNKT 6
AM ANFANG WAR DIE TAT Text: Stefan Niggemeier, Illustrationen: Thomas Kartsolis Morgen? Nächste Woche? In einem Jahr? Keiner weiß,ob im Winter ein paar Jungs in den Vereinigten Staaten ein Blutbad anrichten werden, oder in zwei Jahren ein Einzelgänger in Deutschland eine Pistole zieht. Ob wir schon bald erfahren, dass irgendwo ein Verrückter ein Opfer über Tage hinweg gequält hat, oder ob es sehr lange dauert, bis wieder eine Geiselnahme das Land in Atem hält. Keiner weiß es – und doch steht heute schon fest, wie Medien darauf reagieren werden, wenn es mehr als ein alltäglicher Kriminalfall ist, der nur eine kleine Nachricht hergibt. Das ist verblüffend – je unfassbarer, überraschender, monströser die Tat, desto vorhersehbarer ist die Reaktion: Zeitungen oder Fernsehsender scheinen in ihrer tage- und wochenlangen Berichterstattung einem immer gleichen Drehbuch zu folgen.Wer es kennt, kann nach der nächsten Gewalttat fast schon vorhersagen,welche Schlagzeilen ihn am nächsten Morgen am Kiosk erwarten und wer als nächstes die Hauptrolle im Drehbuch spielen wird. 1. Zeugen.___________________________________________ Sie sind die ersten, die wir sehen, oft schon ein paar Minuten, nachdem die schlechte Nachricht zum ersten Mal auf roten Schriftbändern durchs Bild gelaufen ist oder ein Moderator sie vorgelesen hat, hinter sich zunächst nur eine Karte von der Stadt des Geschehens. Bald sind die Reporter vor Ort, und was sie filmen können, ist meist nicht so aufregend: irgendein unscheinbares Gebäude von außen, oder einen Platz, der meist viel zu weit abgesperrt ist, als dass man wirklich etwas sehen könnte. Oder einen Polizeisprecher, der wenig Fakten verkünden mag,und wenn doch,dann immer in diesem Behördendeutsch, in dem nie „Menschen“ vorkommen, sondern immer „Personen“. Kein Wunder, dass jeder Journalist vor allem versucht, einen Zeugen vor die Kamera und das Mikrofon zu bekommen: Eine aufgelöste Passantin, die sagt: „Ich war gerade auf dem Weg zum Einkaufen, da höre ich diesen Knall, ich denke erst noch,dass das ein Auspuff vom Auto ist oder so was.“ Ein Mitschüler, der sagt: „Hier war schon alles voller Polizei, und ich habe gesehen, wie ein Team in voller Ausrüstung in die Schule gestürmt ist. Eigentlich wäre ich da jetzt auch drin,aber bei uns ist heute die erste Stunde ausgefallen.“ Ein Ortskundiger, der sagt: „Die haben keine Chance,wenn der durch den Keller ist,ist der längst über alle Berge.“ Am Anfang werden die Zeugen immer und immer wieder ihre Geschichte erzählen – erst vor Ort, später in den Sondersendungen, mit etwas Pech noch in einer Talkshow. Die Zeugen sind durcheinander, aufgewühlt, unsicher, widersprechen sich. Das ist nicht schlimm. Sie ziehen uns rein in die Geschichte. 2.Opfer._________________ Am Anfang sind sie nur eine Zahl. „...soll noch zwanzig Geiseln in seiner Gewalt haben.“ „...ist von mindestens drei Toten die Rede.“ „...Zahl der Opfer auf fünf gestiegen.“ Es ist eine Zahl, die uns sagt, wie schlimm die Geschichte ist,die bestimmt, wie groß unsere Aufmerksamkeit (und die der Medien) wird.Aber dann bekommt die Zahl nach und nach ein Gesicht, und die Opfer übernehmen von den Zeugen die Rolle, das Geschehene für uns begreifbar zu machen. Oder, eigentlich eher im Gegenteil:uns noch fassungsloser darüber zu machen, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Plötzlich hat die kleine Jessica, die vermisst wird, ein Gesicht, meist ein vertrautes, etwas unscharfes, glückliches Familienalbum-Gesicht. Wir sehen, dass der Polizist, der beim Versuch,eine Geisel zu retten, von einer Kugel getroffen wurde, ein hübscher junger Milchbubi war.Wir erfahren,dass die Lehrerin, die nicht gerettet werden konnte, demnächst heiraten wollte und eigentlich ganz beliebt war. Mit jedem Opfer, das uns persönlich vorgestellt wird,wächst eine Ahnung von der Größe der Tat. Und mit jeder Opfergeschichte, die eine Zeitung hat, steigen ihre Chancen, sich gut zu verkaufen: mit jedem privaten Detail,mit jedem Familienfoto,mit jeder traurigen Ironie,die sie exklusiv bei Nachbarn und Freunden recherchiert hat. 3. Helden.________________ Für eine Woche war Lehrer Heise der meistgezeigte Mann im deutschen Fernsehen. Einen „Held“ nannten ihn alle, weil er sich in Erfurt Robert Steinhäuser in den Weg gestellt hat,der in seinem Gymnasium Amok lief. Ein gutes Drama braucht Helden.Am besten lebende.Zur Not auch tote.Leute wie die Männer an Bord eines der Flugzeuge, die am 11.September entführt wurden, sie sollen die Maschine vorzeitig zum Absturz gebracht haben.Vielleicht ein Passant, der sich vor ein Opfer geworfen hat. Oder wenigstens, das gibt es fast immer, die Geschichte einer 7