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Heitmeyer: Soziologischer Ansatz - Ploecher.de

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Fach: Pädagogik Gewalt – soziologischer <strong>Ansatz</strong> Jg 12<br />

MAGS – Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales in NRW<br />

Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche in Nordrhein-Westfalen,<br />

6. Jugendbericht<br />

Düsseldorf 1994, S. 102<br />

Im Jugendbericht <strong>de</strong>s Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s Nordrhein-Westfalen wird folgen<strong>de</strong> Ausgangsthese<br />

zu <strong>de</strong>n Ursachen politisch motivierter Jugendgewalt vertreten:<br />

5 „Die Erklärungsansätze für politisch motivierte Gewaltbereitschaft<br />

sind differenziert. Bezogen auf die Neigung zu frem<strong>de</strong>nfeindlicher<br />

Gewalt wer<strong>de</strong>n die Ursachen aber vorrangig in gesamtgesellschaftlichen<br />

Entwicklungen, in Orientierungsproblemen sowie in<br />

<strong>de</strong>r Auflösung traditioneller Milieus gesehen. Es han<strong>de</strong>lt sich da-<br />

10 bei um Ursachen, die offensichtlich in <strong>de</strong>r persönlichen Lebenslage<br />

bzw. im unmittelbaren Umfeld <strong>de</strong>s einzelnen Jugendlichen zu<br />

suchen sind."<br />

-----------------------------------------------------------------------------------------<br />

Wilhelm <strong>Heitmeyer</strong> u.a.<br />

Gewalt<br />

Ohne dass dies im Jugendbericht ausgewiesen wird, stützt sich<br />

15 das Ministerium in seinen Aussagen vor allem auf die Untersuchungen<br />

von Wilhelm <strong>Heitmeyer</strong>. <strong>Heitmeyer</strong> hat auf <strong>de</strong>r Basis von<br />

repräsentativen quantitativen und biografisch-qualitativen Studien<br />

seinen Erklärungsansatz formuliert. Er geht davon aus, dass unsere<br />

Gesellschaft einem rapi<strong>de</strong>n strukturellen und sozialkulturellen<br />

20 Wan<strong>de</strong>l unterliegt, <strong>de</strong>r vor allem durch Individualisierung, die Auflösung<br />

traditioneller Milieus und eine Verschärfung alter und neuer<br />

sozialer Ungleichheiten gekennzeichnet ist. Seine Analyse fasst er<br />

folgen<strong>de</strong>rmaßen zusammen:<br />

Fazit: Ambivalente Lebenssituationen von Jugendlichen<br />

25 Generell ergibt sich die Ambivalenz aus <strong>de</strong>m Zuwachs vermehrter<br />

Handlungsmöglichkeiten auf <strong>de</strong>r einen Seite und gleichzeitig einsetzen<strong>de</strong>n<br />

Gefährdungslagen und Risiken durch <strong>de</strong>n Zwang zu<br />

einer Bewältigung von immer komplexeren Lebensaufgaben ohne<br />

<strong>de</strong>n Rückhalt stabiler Vergemeinschaftungsformen. In vielen Fa-<br />

30 cetten zeigt sich diese Ambivalenz: - Die Chancen <strong>de</strong>r Lebensplanung<br />

und die Vielfalt <strong>de</strong>r Optionen nehmen zu, aber die Berechenbarkeit<br />

<strong>de</strong>r Lebenswege nimmt ab.<br />

• Die Entscheidungschancen wer<strong>de</strong>n größer, aber es steigt<br />

auch <strong>de</strong>r Entscheidungszwang.<br />

35 • Die Gleichheit in manchen Bereichen wird größer, dadurch<br />

steigt aber auch <strong>de</strong>r individuelle Konkurrenzdruck zur sozialen<br />

Platzierung und Statussicherung.<br />

• Die Individualisierung nimmt zu, aber als Masse verschwin<strong>de</strong>t<br />

sie in Standardisierung.<br />

40 • Selbst wo Autonomie auftaucht, ist auch Anomie nicht weit.<br />

• In <strong>de</strong>m Maße, in <strong>de</strong>m alte Strukturen und Umgangsformen<br />

reißen und neue Optionen sich vervielfachen bis zur Kontingenz,<br />

wächst das Bedürfnis nach Unterscheidung.<br />

• Die Befreiung aus einem Lebenslaufkorsett erhöht die Verlustmöglichkeiten<br />

sozialer Verortung.<br />

45<br />

• Die Möglichkeiten größerer individualistischer Selbst<strong>de</strong>utung<br />

gehen mit einer Destabilisierung sozialer Lebenszusammenhänge<br />

einher.<br />

• Durch Entwicklung zur organisierten Gesellschaft ist <strong>de</strong>r Einzelne<br />

immer weniger auf an<strong>de</strong>re angewiesen. Dadurch erhö-<br />

50<br />

hen sich die Möglichkeiten für eine individualisierte Lebensweise,<br />

aber auch das Einmün<strong>de</strong>n in isolierte und anonymisierte<br />

Lebensformen ergibt sich, ohne dass ein Zurück in gemeinschaftlich<br />

unterfütterte Sozialformation möglich ist.<br />

55 • Der Verlust von Gewissheiten entsteht, aber das Bedürfnis<br />

nach ihnen bleibt (Keupp 1992, 171). Dies ist dann beson<strong>de</strong>rs<br />

bedrängend, wenn sich das Wissen darum durchsetzt, dass<br />

das Beson<strong>de</strong>re dieser Epoche darin besteht, dass mit neuen<br />

Gewissheiten politischer o<strong>de</strong>r sonstiger Art nicht mehr gerechnet<br />

wer<strong>de</strong>n kann (Dubiel 1994, 60<br />

12).<br />

• Die Auflösung von Traditionen eröffnet neue Verhaltenschancen,<br />

aber die selbstverständlichen Regelungswege zur Vermin<strong>de</strong>rung<br />

von Konflikten sind verloren.<br />

• Die Lockerung von Normen und die Optionsvielfalt erhöhen<br />

65 die Freiräume, führen aber auch zu einer Subjektivierung von<br />

Werten und Normen. Kommt es zu Verständigungsverlusten<br />

über gemeinsam geteilte Werte und Normen, die zur sozialverträglichen<br />

Lösung von Konflikten vorauszusetzen sind,<br />

dann kann <strong>de</strong>r Freiheitsgewinn in das Recht <strong>de</strong>s Stärkeren<br />

70 umschlagen.<br />

Die Ambivalenzen stellen also erhöhte Anfor<strong>de</strong>rungen an Jugendliche<br />

und insbeson<strong>de</strong>re ihre Fähigkeiten zur I<strong>de</strong>ntitätsbildung, also<br />

zu wissen, wer man ist mit seinen Emotionen und seiner Handlungskompetenz,<br />

wozu man gehört, und zu wissen, warum das,<br />

75 was man tut, auch sinnvoll ist. Die Fähigkeiten zur Bearbeitung<br />

von Ambivalenzen gehen dabei einher mit jenen zur Ausbalancierung<br />

von Ambiguitäten und <strong>de</strong>s Umgangs mit Kontingenzen.<br />

Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass <strong>de</strong>r Sozialisations-<br />

80 prozess von komplizierten Suchbewegungen gekennzeichnet ist,<br />

um<br />

• Mitgliedschaften und soziale Beziehungen zu entwickeln und<br />

zu sichern,<br />

• Statuspositionen zu erwerben,<br />

85 • i<strong>de</strong>ntitätsrelevante Handlungskompetenzen und<br />

• emotionale Sicherheit zu gewinnen,<br />

• Lebensplanungskonzepte aufzubauen,<br />

um in Bezug auf Familie, Schule, Gleichaltrigengruppe, Politik und<br />

Beruf handlungsfähig zu sein.<br />

90 Gera<strong>de</strong> angesichts <strong>de</strong>r Spannbreite <strong>de</strong>r skizzierten Ambivalenzen<br />

ist mit ganz unterschiedlichen Bearbeitungsweisen zu rechnen,<br />

die bei Problemlagen von abwarten<strong>de</strong>n und hilfesuchen<strong>de</strong>n bis zu<br />

autoaggressiven und gewalthaltigen Verhaltensweisen reichen.<br />

----------------------------------------------------------------------------------------<br />

95 Der subjektive Sinn von Gewalt<br />

In diesem ambivalenten Sozialisationskontext kann Gewalt, auch<br />

wenn sie objektiv unmenschlich und „unsinnig" ist, für die Jugendlichen<br />

einen Sinn machen - durchaus im Sinne von „produktiver"<br />

Realitätsverarbeitung.<br />

100 Auch wenn Gewalthan<strong>de</strong>ln für Außenstehen<strong>de</strong> zumeist sinnlos erscheint,<br />

verbin<strong>de</strong>n diejenigen, die so han<strong>de</strong>ln, damit einen subjektiven<br />

Sinn. Dies liegt darin begrün<strong>de</strong>t, dass je<strong>de</strong>s Individuum nach<br />

Legitimationen für sein Han<strong>de</strong>ln sucht, <strong>de</strong>nn es müssen Gewalthemmungen<br />

überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Dieser subjektive Sinn wird nun<br />

105 von mehreren Seiten geliefert o<strong>de</strong>r selbst konstruiert; sei es die<br />

leidvolle Erfahrung in <strong>de</strong>r Opfer-Rolle als Kind, aus <strong>de</strong>r heraus<br />

Gewalt als erfolgreiches' Handlungsmo<strong>de</strong>ll interpretiert wird; sei<br />

es durch die massenmediale Botschaft, dass sich Gewalt „lohnt";<br />

sei es durch politische Legitimationen <strong>de</strong>r „gerechtfertigten" Über-<br />

110 legenheit; sei es die Vermeidung von Desintegration in <strong>de</strong>r Gruppe<br />

durch Überkonformität gegenüber herrschen<strong>de</strong>n Gruppennormen.<br />

Im Rahmen solcher Interaktionsprozesse kann Gewalt unterschiedlichen<br />

Motiven entstammen (vgl. <strong>Heitmeyer</strong> 1994a).<br />

Eine erste Variante ist die expressive Gewalt. Sie gewinnt an Be-<br />

115 <strong>de</strong>utung im Zuge <strong>de</strong>r Präsentation von Einzigartigkeit, über die<br />

das Individuum wahrgenommen wer<strong>de</strong>n will. Dazu ist das Medium<br />

Gewalt beson<strong>de</strong>rs geeignet, weil es zur Tabuverletzung dienen<br />

kann, die erhöhte Aufmerksamkeit sichert, damit die angebliche<br />

Einzigartigkeit unterstreicht und die Suche nach immer neuen<br />

120 Spannungszustän<strong>de</strong>n befriedigt. Diese Variante ist auf die Person<br />

selbst zugeschnitten, die Opfer sind zweitrangig und beliebig.<br />

Deshalb wird diese Form zunehmend gefährlich, weil sie unkalkulierbar<br />

wird, nur <strong>de</strong>m Situationsgefühl ausgeliefert.<br />

Kalkulierbarer ist die instrumentelle Gewalt, weil sie nach<br />

125 antizipierbaren Kalkülen ausgerichtet ist und vor allem auf die individuell<br />

<strong>de</strong>finierten tatsächlichen o<strong>de</strong>r angeblichen „Problemlösungen"<br />

zielt. Sie ist gewissermaßen die soziale Variante, weil es<br />

um Anschluss, Sicherung von Positionen und Aufstieg geht, die<br />

diese Gewalt stützen sollen. Diese Gewaltform ist eine Radikali-<br />

130 sierung und Ausnutzung von Freiheitsräumen.<br />

<strong>Heitmeyer</strong>-etc.doc Titel Seite 1 von 3


Fach: Pädagogik Gewalt – soziologischer <strong>Ansatz</strong> Jg 12<br />

Eine kollektive Variante ist die regressive Gewalt, die so genannt<br />

wird, weil sie hinter <strong>de</strong>n erreichten Stand <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratischen<br />

Entwicklung zurückfällt. Ihr liegen politische Motive zugrun<strong>de</strong>, um<br />

unsicherheitsför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> soziale, berufliche o<strong>de</strong>r politische Desin-<br />

135 tegrationsprozesse durch eine kollektiv einbin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Gewalt aufzuheben,<br />

die an nationalen und ethnischen Kategorien ausgerichtet<br />

ist. Es ist gewissermaßen die kollektive „Furcht vor <strong>de</strong>r Freiheit"<br />

(Fromm 1987).<br />

Die negative Individualisierung im Ungleichheitskorsett erzeugt<br />

140 Anfälligkeiten<br />

• für expressive Gewalt, wenn die Standardisierung, also Nicht-<br />

Unterscheidbarkeit und Langeweile, als bedrängend wahrgenommen<br />

wird,<br />

• für instrumentelle Gewalt, wenn die Durchsetzungschancen<br />

145 sinken,<br />

• für regressive Gewalt, wenn „stabilisieren<strong>de</strong>" Feindbil<strong>de</strong>r lanciert<br />

wer<strong>de</strong>n,<br />

• für autoaggressive Gewalt, wenn sich Auswege verknappen.<br />

Je größer die Unübersichtlichkeit, um so wahrscheinlicher wird<br />

150 Gewalt, wenn sich <strong>de</strong>r Zusammenhang von Zugehörigkeit und sozialer<br />

Kontrolle in sozialen Milieus auflöst, Inkonsistenzen auftreten<br />

und I<strong>de</strong>ntitätsmuster hervorgebracht wer<strong>de</strong>n, die zum Teil mit<br />

hohem Anomiegehalt verbun<strong>de</strong>n sind und zur Klärung drängen.<br />

Gewalt wird dann attraktiv<br />

155 • zur Selbstbespiegelung <strong>de</strong>s Ichs, zu <strong>de</strong>r die beschriebene expressive<br />

Gewalt nötig ist,<br />

• zur Realisierung <strong>de</strong>r gefor<strong>de</strong>rten Selbstdurchsetzung, die instrumentelle<br />

Gewalt sinnhaft macht,<br />

• zur ethnischen Überlegenheit, sodass man auf aggressive<br />

160 Gewalt zurückgreifen muss,<br />

• zur Wahrnehmung durch an<strong>de</strong>re, sodass autoaggressive Gewalt<br />

„letztes Mittel" ist.<br />

Dass solche Handlungsformen in Situationen und Interaktionssequenzen<br />

präferiert wer<strong>de</strong>n, hängt auch von <strong>de</strong>r Funktion und <strong>de</strong>r<br />

165 zugeschriebenen subjektiven Sinnhaftigkeit ab: Die Attraktivität<br />

dieser Handlungsweise kann daher steigen, <strong>de</strong>nn<br />

• sie schafft Ein<strong>de</strong>utigkeit in unklaren und unübersichtlichen Situationen;<br />

es ist eine Bearbeitung von Ambivalenz;<br />

• sie ist eine zumin<strong>de</strong>st augenblicklich wirken<strong>de</strong> (Selbst-) Demonstration<br />

<strong>de</strong>r Überwindung von Ohnmacht: es geht um die<br />

170<br />

Wie<strong>de</strong>rgewinnung von Kontrolle;<br />

• sie garantiert Fremdwahrnehmung, die mit an<strong>de</strong>ren Mitteln<br />

nicht mehr herstellbar war: die Selbstwirksamkeit wird gesteigert;<br />

175 • sie schafft zumin<strong>de</strong>st kurzfristig partielle Solidarität bzw. erweist<br />

sich als klar erkennbarer Prüfstand für Solidarität in<br />

Gruppenzusammenhängen: es entsteht Machtzugewinn;<br />

• sie verspricht Rückgewinnung von körperlicher Sinnlichkeit für<br />

Jugendliche aus spezifischen Milieus als Gegenerfahrung zur<br />

180 Unterlegenheit in einer Umgebung, in <strong>de</strong>r nur rationaler,<br />

sprachlich vermittelter Kompetenzbeweis zählt.<br />

Diese Attraktivität nimmt auch zu, wenn Gewalt im eigenen Sozialisationsverlauf<br />

bereits erlitten, aber trotz<strong>de</strong>m als ein effektives<br />

Handlungsmo<strong>de</strong>ll erkannt wur<strong>de</strong>, und wenn gleichzeitig aktuell<br />

185 das Gefühl auftritt, die Realitätskontrolle zu verlieren, die über die<br />

Erfahrung „Der Stärkere setzt sich durch" vermittelt wird. Die genannten<br />

Orientierungen bekommen dann eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung,<br />

_ wenn sich die Erfahrungen verallgemeinern lassen, also<br />

Gewalt als „Normalität" wahrgenommen wird. Daraus entsteht ein<br />

190 wichtiger Zusammenhang: Je höher <strong>de</strong>r Normalitätsstandard, <strong>de</strong>sto<br />

niedriger die Gewaltschwelle.<br />

(Wilhelm <strong>Heitmeyer</strong> u. a., Gewalt. Schattenseiten <strong>de</strong>r Individualisierung<br />

bei Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus, Juventa,<br />

Weinheim/München 1995, S. 50f und S. 72ff.)<br />

195 ---------------------------------------------------------------------------------------<br />

Heiko Ernst interviewt Zygmunt Bauman<br />

I<strong>de</strong>ntität be<strong>de</strong>utet immer: noch mehr<br />

Psychologie Heute: Man hat <strong>de</strong>n Eindruck, dass für viele Menschen<br />

heute nichts dringlicher ist als die Beantwortung <strong>de</strong>r Frage:<br />

Wer bin ich? Sie empfin<strong>de</strong>n eine innere Leere, ein vages Unwohlsein<br />

darüber, keinen Ort für sich in <strong>de</strong>r Gesellschaft gefun<strong>de</strong>n zu<br />

200 haben. I<strong>de</strong>ntitätssuche ist ein Dauerthema in Literatur und Psychotherapie.<br />

Warum ist diese Suche heute so wichtig gewor<strong>de</strong>n?<br />

Zygmunt Bauman: Ihre I<strong>de</strong>ntität bleibt <strong>de</strong>n meisten Menschen<br />

unbewusst, sie wer<strong>de</strong>n gar nicht gewahr, dass sie so etwas wie<br />

eine I<strong>de</strong>ntität besitzen - bis sie zum Problem wird. Ja, man könnte<br />

205 gera<strong>de</strong>zu sagen, sie taucht im Bewusstsein eigentlich nur als<br />

Problem auf. Die I<strong>de</strong>e einer „I<strong>de</strong>ntität" wur<strong>de</strong> gleichsam als eine<br />

zu lösen<strong>de</strong> Aufgabe geboren. In prä-mo<strong>de</strong>rnen Zeiten dagegen<br />

war I<strong>de</strong>ntität schon <strong>de</strong>shalb kein Thema, weil das Schicksal <strong>de</strong>r<br />

meisten Menschen von Geburt an für <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>s Lebens vorge-<br />

210 zeichnet war - durch Stand, Klasse, Kaste o<strong>de</strong>r Geografie, in die<br />

sie hineingeboren wur<strong>de</strong>n. Nur sehr wenige waren mobil in <strong>de</strong>m<br />

Sinne, dass sie ihre vorgezeichnete Lebensbahn o<strong>de</strong>r Rolle verlassen<br />

konnten, eigentlich ermöglichte nur <strong>de</strong>r Klerus o<strong>de</strong>r die<br />

Armee eine gewisse soziale Mobilität.<br />

215 Das Problem <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität - Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? -<br />

stellte sich für die meisten einfach nicht.<br />

PH: Diese historische Phase dauerte jahrhun<strong>de</strong>rtelang, jahrtausen<strong>de</strong>lang.<br />

Aber irgendwann ging diese fest gefügte Form <strong>de</strong>s<br />

„problemlos" vorgegebenen Lebensentwurfes zu En<strong>de</strong> ...<br />

220 Bauman: Mit <strong>de</strong>r Heraufkunft <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne än<strong>de</strong>rte sich die Situation<br />

grundlegend - sie zerschnitt die Ban<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>nen die Individuen<br />

an ihren Stand, ihre Klasse o<strong>de</strong>r auch ihren Ort gefesselt<br />

waren. Ihre Stellung in <strong>de</strong>r Gesellschaft, ihre Rolle, ihr Charakter<br />

wur<strong>de</strong> nun „verhan<strong>de</strong>lbar", eine verän<strong>de</strong>rliche Größe. Weil nichts<br />

225 mehr auf Lebenszeit festgeschrieben war, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Lebensentwurf<br />

aber auch unsicher, unbestimmt - und das Problem <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität<br />

tauchte auf.<br />

PH: Die soziale Mobilität, die mit <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne kam, ist also <strong>de</strong>r<br />

Auslöser für das I<strong>de</strong>ntitäts-Problem?<br />

230 Bauman: Auch die geografische Mobilität spielte sicher eine Rolle<br />

- man konnte sein Glück nun leichter woan<strong>de</strong>rs suchen -, aber vor<br />

allem die soziale und psychologische Mobilität waren ausschlaggebend<br />

für das Auftauchen <strong>de</strong>s I<strong>de</strong>ntitätsproblems.Die Menschen<br />

waren nicht mehr an ein verbindliches System bestimmter religiös<br />

235 o<strong>de</strong>r politisch verbindlicher Werte gebun<strong>de</strong>n, sie wur<strong>de</strong>n nun mit<br />

einer Vielzahl von solchen Wert-Systemen konfrontiert. Auch Familienban<strong>de</strong><br />

und Loyalitätsban<strong>de</strong> lockerten sich. Und mit <strong>de</strong>r Mobilität<br />

kam <strong>de</strong>r Zwang zu vergleichen, zu wählen und sich zu fragen:<br />

Wer bin ich? Was will ich, was kann ich sein? Wo ist mein<br />

240 Platz in dieser Gesellschaft? Von Anfang an musste <strong>de</strong>r Einzelne<br />

selbst eine Antwort auf diese Fragen fin<strong>de</strong>n - er musste seinen<br />

Platz, seine Rolle in <strong>de</strong>r Gesellschaft selbst <strong>de</strong>finieren, selbst erkämpfen.<br />

I<strong>de</strong>ntität ist das Problem von Menschen, die noch nicht<br />

sicher sind, wohin sie gehören und ob sie mit ihrer selbst <strong>de</strong>finier-<br />

245 ten Einordnung auch von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren akzeptiert wer<strong>de</strong>n. Ja, man<br />

könnte gera<strong>de</strong>zu <strong>de</strong>finieren: Das Streben nach I<strong>de</strong>ntität ist unser<br />

Bemühen, dieser Unsicherheit zu entkommen.<br />

PH: Dieses Streben hat zu unterschiedlichen Zeiten <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne<br />

unterschiedliche Formen und Sozialcharaktere hervorgebracht,<br />

250 <strong>de</strong>nken wir nur an <strong>de</strong>n Tellerwäscher-Mythos, <strong>de</strong>n selfma<strong>de</strong>-man,<br />

<strong>de</strong>n Parvenu und Neureichen. Aber die so genannte Postmo<strong>de</strong>rne<br />

hat das Problem offenbar noch verschärft. Ein einmal eingeschlagener<br />

Lebensweg garantiert noch lange nicht „I<strong>de</strong>ntität".<br />

Bauman: Wenn wir heute so viel über I<strong>de</strong>ntität diskutieren, dann<br />

255 nicht <strong>de</strong>shalb, weil <strong>de</strong>r Inhalt, die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>ssen, was wir unter<br />

„I<strong>de</strong>ntität" verstehen, sich geän<strong>de</strong>rt hat. Bis zur Mitte unseres<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rts war I<strong>de</strong>ntität vor allem das Problem, sich als konsistenter,<br />

kohärenter, stabiler Charakter zu etablieren, <strong>de</strong>r entschlossen<br />

ein einmal <strong>de</strong>finiertes Lebensprogramm verwirklicht. Zwar gab<br />

260 es in <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne eine Vielzahl von möglichen Rollen, aber diese<br />

selbst waren sehr genau <strong>de</strong>finiert. Je<strong>de</strong>r wusste genau, ob er einem<br />

bestimmten Verhaltensmuster entsprach o<strong>de</strong>r nicht. Das<br />

größte Problem war <strong>de</strong>shalb das <strong>de</strong>r Konformität - entspreche ich<br />

<strong>de</strong>r Rolle, die ich anstrebe? Kann ich sie ausfüllen? Und die größ-<br />

265 te Furcht war, nicht-konform zu sein und von <strong>de</strong>r verbindlichen<br />

Norm abzuweichen. Heute dagegen ist die Situation an<strong>de</strong>rs - und<br />

<strong>Heitmeyer</strong>-etc.doc Titel Seite 2 von 3


Fach: Pädagogik Gewalt – soziologischer <strong>Ansatz</strong> Jg 12<br />

noch komplizierter: Zwar wollen die Menschen noch immer eine<br />

klare, verlässliche, soli<strong>de</strong> I<strong>de</strong>ntität - aber zugleich fürchten sie<br />

nichts so sehr wie eine Festlegung für <strong>de</strong>n Rest ihres Lebens. Es<br />

270 ist die Angst, mit 20 bereits das „En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Fahnenstange" erreicht<br />

zu haben, abgeschnitten zu sein von allen Verän<strong>de</strong>rungsmöglichkeiten<br />

und Chancen. Es ist beispielsweise die Angst, dass man<br />

ewig im selben, langweiligen Job bleiben muss, dass nichts mehr<br />

passieren wird und alles vorhersagbar verläuft. Das neue Problem<br />

275 lautet also: Wie kann ich diese bei<strong>de</strong>n wi<strong>de</strong>rsprüchlichen Strebungen<br />

miteinan<strong>de</strong>r versöhnen - die Sehnsucht nach Sicherheit und<br />

sozialer Anerkennung meiner I<strong>de</strong>ntität einerseits und <strong>de</strong>n Wunsch<br />

nach Mobilität, nach Weiterentwicklung an<strong>de</strong>rerseits? An<strong>de</strong>rs<br />

ausgedrückt: Wie kann ich „i<strong>de</strong>ntisch" sein und gleichzeitig offen<br />

280 bleiben für neue Herausfor<strong>de</strong>rungen, Abenteuer - und neue I<strong>de</strong>ntitäten?<br />

Die „Furcht vor Fixierung", Fixeophobie, liegt im Streit mit<br />

<strong>de</strong>r „Furcht vor Formlosigkeit", Proteophobie. [...]<br />

PH: Aber das Verlangen nach I<strong>de</strong>ntität, das die in <strong>de</strong>r Jetzt-Zeit<br />

leben<strong>de</strong>n Zeitgenossen spüren, be<strong>de</strong>utet doch auch, Ziele in <strong>de</strong>r<br />

285 Zukunft anzustreben. Auch in <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne geht es nicht ohne<br />

zumin<strong>de</strong>st befristete Verpflichtungen und Festlegungen.<br />

Bauman: Sicher. Aber I<strong>de</strong>ntität be<strong>de</strong>utet immer: Noch nicht. Es<br />

gibt eine Diskrepanz zwischen <strong>de</strong>m gegenwärtigen und <strong>de</strong>m angestrebten<br />

Zustand. Wer eine I<strong>de</strong>ntität schon hat, braucht nicht<br />

290 darüber nachzu<strong>de</strong>nken. Die Frage ist aber heute: Wie weit reichen<br />

diese Ziele in die Zukunft hinein? Geht es um eine I<strong>de</strong>ntität, die<br />

die ganze Lebensspanne umfasst, o<strong>de</strong>r um mittelfristige Projekte -<br />

„bis auf Wi<strong>de</strong>rruf"? Selbst wenn eine Form <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität dann doch<br />

länger beibehalten wird, leben die Menschen so, als ob sie täglich<br />

295 zur Disposition stün<strong>de</strong>. Niemand geht davon aus, dass er im Jahre<br />

2010 noch dieselbe Person ist wie heute. I<strong>de</strong>ntitätsziele wer<strong>de</strong>n<br />

also in <strong>de</strong>r sehr nahen Zukunft gesetzt. Um noch einmal das Bild<br />

<strong>de</strong>s Pilgers aufzugreifen: Die relativ fest gefügte Welt <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne<br />

brachte bei <strong>de</strong>n meisten Angehörigen <strong>de</strong>r Mittelschichten Le-<br />

300 bensstrategien hervor, die einer Pilgerfahrt gleichen - da gibt es<br />

ein Heiligtum, ein großes Ziel, das angestrebt wird. Und je<strong>de</strong>r<br />

Schritt, je<strong>de</strong> Etappe auf <strong>de</strong>m Weg dorthin wur<strong>de</strong> danach gemessen,<br />

ob er <strong>de</strong>n Menschen diesem Ziel näher brachte.<br />

PH: Und heute haben wir die postmo<strong>de</strong>rnen „Kurzurlauber"?<br />

305 Bauman: In diesen komplexen und konfusen Zeiten gibt es nicht<br />

die eine Metapher, die die Lebensstrategien <strong>de</strong>r Mehrheit beschreibt<br />

- weil es auch die eine, richtige Logik <strong>de</strong>s Planens nicht<br />

mehr gibt. Deshalb sind wir manchmal Vagabun<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n herumgestoßen<br />

und sind an vielen Orten unerwünscht, so wie früher<br />

310 die Zigeuner. Manchmal sind wir aber auch reiche Touristen, die<br />

nach eigenem Gusto herumreisen und so viel wie möglich „mitnehmen".<br />

Dann sind wir auch Flaneure, die betrachtend an verschie<strong>de</strong>nen<br />

Orten herumspazieren, ohne aber zu diesen Orten zu<br />

gehören. Schließlich sind wir manchmal Spieler die an diversen<br />

315 Spielen teilnehmen - wobei wir we<strong>de</strong>r an objektive Gesetze noch<br />

an völligen Zufall glauben - es kommt nur darauf an, sein „Blatt"<br />

richtig auszuspielen. Die „Spiele" sind also eine Mischung aus<br />

Glück und eigener Anstrengung. - Aus Anteilen dieser vier Typen<br />

setzt sich die Persönlichkeit <strong>de</strong>s heutigen Durchschnittsmenschen<br />

320 zusammen. [...]<br />

(I<strong>de</strong>ntität be<strong>de</strong>utet immer: noch mehr; Heiko Ernst interviewt<br />

Zygmunt Bauman, in: Psychologie heute, Aug. 1995, S. 54-58)<br />

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<strong>Heitmeyer</strong>-etc.doc Titel Seite 3 von 3

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