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Fach: Pädagogik <strong>Krappmann</strong> - <strong>Erikson</strong> LK12<br />

Lothar <strong>Krappmann</strong><br />

Soziologische Dimensionen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>Erikson</strong><br />

Der interaktionistische Ansatz, (...), wollte <strong>de</strong>mgegenüber<br />

gera<strong>de</strong> zeigen, wie es ohne Anlehnung an feste Persönlichkeitsstrukturen<br />

<strong>de</strong>m Individuum gelingen kann, allein<br />

durch seine Fähigkeit, zwischen diskrepanten Anfor<strong>de</strong>rungen<br />

zu balancieren statt sie zu verdrängen, I<strong>de</strong>ntität auf-<br />

5<br />

rechtzuerhalten. Allerdings geht es diesen Autoren offenbar<br />

nicht so sehr um die Problematik <strong>de</strong>r Wahrung von<br />

I<strong>de</strong>ntität (...). Ihr Thema ist nicht die Frage, welche Schwierigkeiten<br />

sich für die I<strong>de</strong>ntität eines Individuums ergeben,<br />

10 wenn es verschie<strong>de</strong>nartigen, nicht ohne weiteres abweisbaren<br />

Anfor<strong>de</strong>rungen ausgesetzt ist. Vielmehr hoffen die<br />

genannten Autoren, in <strong>de</strong>r „I<strong>de</strong>ntität" ein zuverlässigeres<br />

Fundament für das Verhalten <strong>de</strong>s Individuums gefun<strong>de</strong>n zu<br />

haben, als es bislang in <strong>de</strong>n Begriffen Rolle, Position und<br />

15 Selbst gegeben war. Grundsätzlich besteht diese Hoffnung<br />

auch im Rahmen <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit. Es soll jedoch<br />

versucht wer<strong>de</strong>n, I<strong>de</strong>ntität nicht falsch zu stabilisieren, son<strong>de</strong>rn<br />

konsequent an ihrem balancieren<strong>de</strong>n Charakter festzuhalten,<br />

auch wenn es dann schwerer fallen sollte (...).<br />

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Die Darstellungen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntitätsproblematik, die mehr <strong>de</strong>r<br />

psychoanalytischen Tradition verpflichtet sind, ähneln <strong>de</strong>r<br />

hier vorgetragenen oft im Vokabular, wenn <strong>de</strong>r Frage<br />

nachgegangen wird, wie ein Individuum I<strong>de</strong>ntität gewinnen,<br />

aufrechterhalten und sich ihrer vergewissern kann. E. H.<br />

<strong>Erikson</strong>, <strong>de</strong>r wie kein an<strong>de</strong>rer Autor für die Verbreitung <strong>de</strong>s<br />

I<strong>de</strong>ntitätsbegriffes in <strong>de</strong>r soziologischen und psychoanalytischen<br />

Literatur gesorgt und die Diskussion über dieses<br />

Thema beeinflußt hat, wie<strong>de</strong>rholt immer wie<strong>de</strong>r, daß das<br />

Individuum für seine I<strong>de</strong>ntität die Anerkennung <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />

benötige. Aber die Unterschie<strong>de</strong> treten doch bei genauerer<br />

Betrachtung bald hervor. E. H. <strong>Erikson</strong> <strong>de</strong>nkt nicht zuerst<br />

an die jeweils neu zu erringen<strong>de</strong> Anerkennung in <strong>de</strong>r ständigen<br />

Abfolge von Interaktionen, die immer wie<strong>de</strong>r unter<br />

an<strong>de</strong>ren Erwartungen stehen, son<strong>de</strong>rn an die grundsätzliche<br />

Einglie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Individuums in die kollektiven Lebenspläne<br />

und Realitäts<strong>de</strong>finitionen einer Gruppe:<br />

„Das heranwachsen<strong>de</strong> Kind muß bei je<strong>de</strong>m Schritt ein beleben<strong>de</strong>s<br />

Wirklichkeitsgefühl aus <strong>de</strong>m Bewußtsein ziehen,<br />

daß seine individuelle Art <strong>de</strong>r Lebensmeisterung (seine<br />

Ichsynthese) eine erfolgreiche Variante einer Gruppeni<strong>de</strong>ntität<br />

ist und in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>r Raum-Zeit und<br />

<strong>de</strong>m Lebensplan seiner Gesellschaft steht." (<strong>Erikson</strong> 1950<br />

a, S. 230)<br />

E. H. <strong>Erikson</strong> weist <strong>de</strong>s öftern darauf hin, daß die geschichtliche<br />

Perio<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>r ein Individuum I<strong>de</strong>ntität sucht,<br />

„nur eine beschränkte Anzahl sozial be<strong>de</strong>utungsvoller Mo<strong>de</strong>lle<br />

(liefert), in welchen es seine I<strong>de</strong>ntitätsfragmente zu<br />

einem leistungsfähigen Ganzen zusammenfügen kann" (<strong>Erikson</strong><br />

1946, S. 22). Daher kann er auch erklären, daß Ich-<br />

I<strong>de</strong>ntität eine mit <strong>de</strong>m Abschluß <strong>de</strong>r Adoleszenz zu erreichen<strong>de</strong><br />

Entwicklungsstufe im Sozialisationsprozeß sei.<br />

Zwar hat die Ich-I<strong>de</strong>ntität in <strong>de</strong>n früheren Entwicklungsphasen<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ihre Vorläufer, aber sie bil<strong>de</strong>t sich erst jetzt<br />

in <strong>de</strong>n für das Jugendalter typischen Krisen heraus:<br />

„Die Integration, die nun in Form <strong>de</strong>r Ich-I<strong>de</strong>ntität stattfin<strong>de</strong>t,<br />

ist mehr als nur die Summe <strong>de</strong>r Kindheitsi<strong>de</strong>ntifikationen.<br />

Es ist die gesammelte Erfahrung über die Fähigkeit<br />

<strong>de</strong>s Ich, diese I<strong>de</strong>ntifikationen mit <strong>de</strong>n Libido-Verschiebungen<br />

zu integrieren, ebenso wie mit <strong>de</strong>n aus einer Grundbegabung<br />

entwickelten Fähigkeiten und <strong>de</strong>n Möglichkeiten<br />

sozialer Rollen. Das Gefühl <strong>de</strong>r Ich-I<strong>de</strong>ntität ist also die angesammelte<br />

Zuversicht <strong>de</strong>s Individuums, daß <strong>de</strong>r inneren<br />

Gleichheit und Kontinuität auch die Gleichheit und Kontinuität<br />

seines Wesens in <strong>de</strong>n Augen an<strong>de</strong>rer entspricht, wie es<br />

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sich nun in <strong>de</strong>r greifbaren Aussicht auf eine Laufbahn` bezeugt."<br />

(<strong>Erikson</strong> 1950 a, S. 256)<br />

E. H. <strong>Erikson</strong> glaubt, daß selbst durch die Psychoanalyse<br />

die „Gesamtkonfiguration von Ich-I<strong>de</strong>ntität" nicht grundlegend<br />

zu verän<strong>de</strong>rn ist, wenn es auch gelingen könnte, innerhalb<br />

ihres Rahmens gewisse unerwünschte durch wünschenswertere<br />

I<strong>de</strong>ntifikationen zu ersetzen. Die zitierte Beschreibung<br />

<strong>Erikson</strong>s geht durchaus auf die Integrationsfähigkeit<br />

<strong>de</strong>s Individuums ein, das angeeignete Erwartungen<br />

mit Bedürfnisstrukturen zu vereinigen suchen muß. Aber er<br />

verlangt doch für seine I<strong>de</strong>ntitätsvorstellung inhaltliche<br />

Festlegungen. Der jugendliche soll eine Auswahl unter <strong>de</strong>n<br />

möglichen I<strong>de</strong>ntifikationen treffen. Darauf <strong>de</strong>utet auch die<br />

„Laufbahn" hin, für die sich <strong>de</strong>r junge Mensch zum<br />

Abschluß <strong>de</strong>r Adoleszenz entschei<strong>de</strong>n soll, und die „sozialen<br />

Rollen", die er sich erwählen muß, um seine<br />

I<strong>de</strong>ntität zu stabilisieren. Daß niemand ohne I<strong>de</strong>ntifikationen<br />

an Interaktionen teilnehmen kann, ist nicht zu bestreiten.<br />

Jedoch sind es nicht die I<strong>de</strong>ntifikationen schlechthin,<br />

die die Gleichheit und Kontinuität <strong>de</strong>s Individuums herstellen<br />

und seine I<strong>de</strong>ntität sichern, son<strong>de</strong>rn I<strong>de</strong>ntität kann nur<br />

aufrechterhalten wer<strong>de</strong>n, wenn die I<strong>de</strong>ntifikationen ihrer Art<br />

nach eine interpretieren<strong>de</strong> Diskussion erlauben. E. H. <strong>Erikson</strong><br />

aber geht es nicht um die Art <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikationen, son<strong>de</strong>rn<br />

um Integration von I<strong>de</strong>ntifikationen, Rollen und Bedürfnissen.<br />

Gewiß wünscht E. H. <strong>Erikson</strong> nicht eine starre I<strong>de</strong>ntitätsstruktur,<br />

die <strong>de</strong>m Individuum unmöglich macht, auf sich<br />

verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Verhältnisse einzugehen. Aber er grenzt sein<br />

I<strong>de</strong>ntitätskonzept programmatisch nur gegen die Gefahr<br />

<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntitätsdiffusion ab, nicht gegen die <strong>de</strong>r Starrheit.<br />

I<strong>de</strong>ntitätsdiffusion als Gegensatz zu gelungener I<strong>de</strong>ntität<br />

faßt er als „eine Zersplitterung <strong>de</strong>s Selbstbil<strong>de</strong>s ..., ein(en)<br />

Verlust <strong>de</strong>r Mitte, ein Gefühl <strong>de</strong>r Verwirrung und in schweren<br />

Fällen die Furcht vor völliger Auflösung" auf (<strong>Erikson</strong><br />

1956, S. 154, Anmerkung 6); sie kann also die Gestalt<br />

schwerer pathologischer Störungen annehmen. I<strong>de</strong>ntitätsdiffusion<br />

kann dann auftreten, wenn sich ein Individuum<br />

gleichzeitig vor sehr verschie<strong>de</strong>nartige Erwartungen, etwa<br />

im Elternhaus und im Freun<strong>de</strong>skreis, gestellt sieht. E. H.<br />

<strong>Erikson</strong> betont nicht, daß das Individuum im Sozialisierungsprozeß<br />

die Fähigkeit erworben haben sollte, sich mit<br />

diskrepanten Erwartungen auseinan<strong>de</strong>rzusetzen, son<strong>de</strong>rn<br />

er glaubt, daß das Individuum seine I<strong>de</strong>ntität nicht verlieren<br />

wird, wenn <strong>de</strong>r Sozialisationsprozeß ihr eine gefestigte<br />

Struktur zu geben vermochte. In Konsequenz dieser Vorstellung<br />

muß er sich auf die Hoffnung beschränken, daß<br />

Individuen vor allzu divergieren<strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen möglichst<br />

bewahrt wer<strong>de</strong>n, gesellschaftliche Verän<strong>de</strong>rungen<br />

sich nicht zu schnell vollziehen und eingenommene soziale<br />

Rollen nicht durch äußere Umstän<strong>de</strong> ein gar zu abruptes<br />

En<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n, damit die I<strong>de</strong>ntitätsstruktur <strong>de</strong>s Individuums<br />

nicht überfor<strong>de</strong>rt wird. Die Zunahme von I<strong>de</strong>ntitätsdiffusion<br />

in <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>s Psychotherapeuten <strong>de</strong>utet er als Folge<br />

zunehmen<strong>de</strong>r Belastung <strong>de</strong>s Menschen durch das immer<br />

umfassen<strong>de</strong>re Ausmaß und die zunehmen<strong>de</strong> Beschleunigung<br />

historischen Wan<strong>de</strong>ls (<strong>Erikson</strong> 1946).<br />

Daß Individuen darin überfor<strong>de</strong>rt sein können, I<strong>de</strong>ntität zu<br />

wahren, ist auch <strong>de</strong>m hier vorgetragenen I<strong>de</strong>ntitätskonzept<br />

nicht fremd. E. H. <strong>Erikson</strong> jedoch sucht Hilfe für das Individuum<br />

durch Festlegung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität, während in dieser Arbeit<br />

zu beschreiben versucht wur<strong>de</strong>, daß I<strong>de</strong>ntität grundsätzlich<br />

in Situationen mit divergieren<strong>de</strong>n und sich wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n<br />

Erwartungen aufgebaut wer<strong>de</strong>n muß. Für E. H. E-<br />

rikson beruht Ich-Stärke auf einer nur schwer zerbrechlichen,<br />

gefestigten I<strong>de</strong>ntitätsstruktur; aus <strong>de</strong>r Perspektive<br />

<strong>de</strong>s hier vertretenen I<strong>de</strong>ntitätskonzeptes ist das Individuum<br />

als belastbarer anzusehen, wenn seine I<strong>de</strong>ntifikationen<br />

weniger fest sind, so daß ihm Spielraum und Distanz bleibt<br />

<strong>Krappmann</strong>-<strong>Erikson</strong>.doc <strong>Krappmann</strong> - <strong>Erikson</strong> Seite 1 von 2


Fach: Pädagogik <strong>Krappmann</strong> - <strong>Erikson</strong> LK12<br />

und damit ein Potential verfügbar wird, Konflikte aufzuar-<br />

135 beiten o<strong>de</strong>r sich mit ihnen zu arrangieren.<br />

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200<br />

Von „zerbrechlicher, ungefestigter I<strong>de</strong>ntität" spricht E. H.<br />

<strong>Erikson</strong> auch, wenn Menschen <strong>de</strong>n Psychoanalytiker aufsuchen,<br />

die keine Spannungen ertragen und keine Entscheidungen<br />

fällen können. Die Therapie soll <strong>de</strong>n geheilten<br />

Patienten befähigen, „die Diskontinuitäten <strong>de</strong>s amerikanischen<br />

Lebens und die polaren Spannungen in seinem eigenen<br />

Kampfe um eine wirtschaftliche und kulturelle I<strong>de</strong>ntität<br />

ins Auge zu fassen, nicht als eine von außen auferlegte<br />

feindliche Realität, son<strong>de</strong>rn als potentielles Versprechen<br />

einer universaleren kollektiven I<strong>de</strong>ntität" (<strong>Erikson</strong> 1946, S.<br />

37). Auch an<strong>de</strong>re Stellen klingen durchaus so, als ob nach<br />

diesem Autor eine stabile I<strong>de</strong>ntität gleichfalls ihre Kraft gera<strong>de</strong><br />

aus „<strong>de</strong>m Be- und Durchstehen von“ Konflikten zieht:<br />

„Die Demokratie in einem Lan<strong>de</strong> wie Amerika stellt gera<strong>de</strong><br />

dadurch beson<strong>de</strong>re Probleme, daß sie eine selbstgemachte<br />

I<strong>de</strong>ntität verlangt, eine I<strong>de</strong>ntität, die bereit und fähig ist,<br />

unvorhergesehene Chancen zu ergreifen und sich <strong>de</strong>m<br />

Wechsel von Boom und Baisse, Frie<strong>de</strong>n und Krieg, Mobilität<br />

und Seßhaftigkeit anzupassen." (<strong>Erikson</strong> 1950 b, S.<br />

112)<br />

Es zeigt sich jedoch sehr bald, daß E. H. <strong>Erikson</strong>s I<strong>de</strong>ntitätskonzept<br />

nicht vorsieht, daß <strong>de</strong>r einzelne Diskrepanzen<br />

benutzt, um sich als eigenständiges Individuum zu etablieren.<br />

Vielmehr soll das Individuum nur in die Lage versetzt<br />

wer<strong>de</strong>n, Spannungen und Konflikte hinzunehmen und sich<br />

somit an die Gegebenheiten <strong>de</strong>r amerikanischen Gesellschaft<br />

anzupassen. Wie <strong>de</strong>r Autor das Verhältnis von<br />

„selbstgemachten I<strong>de</strong>ntitäten" zur Gesellschaft einschätzt,<br />

offenbart sich in <strong>de</strong>r Aussage, daß „das System, wenn es<br />

auf Krieg umgeschaltet wird, automatisch die selbstgemachten`<br />

I<strong>de</strong>ntitäten von Millionen Individuen übergehen<br />

und die Menschen dorthin stellen muß, wo sie gebraucht<br />

wer<strong>de</strong>n" (<strong>Erikson</strong> 1950 b, S. 112). <strong>Erikson</strong>s I<strong>de</strong>ntitätskonzept<br />

weist auf keine Kraft hin, die Verhältnisse mitzugestalten.<br />

Es läuft letztlich auf Unterwerfung unter die herrschen<strong>de</strong>n<br />

Verhältnisse hinaus.<br />

Dabei bietet <strong>Erikson</strong>s Darstellung <strong>de</strong>r Sozialisation <strong>de</strong>s<br />

Kin<strong>de</strong>s durchaus Ansätze für die Vorstellung <strong>de</strong>r Genese<br />

eines kritischen Potentials im Individuum. Er schil<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>n<br />

Sozialisationsprozeß als eine Abfolge von psychosozialen<br />

Krisen, die das Kind zu lösen hat. In je<strong>de</strong>r dieser Entwicklungsphasen,<br />

die in Anlehnung an S. Freud bestimmt sind,<br />

erwirbt das Kind eine Fähigkeit, die ihm hilft, bestimmte<br />

Probleme zu lösen: gegeben bekommen und geben in <strong>de</strong>r<br />

oralen Phase; festhalten und loslassen in <strong>de</strong>r analen Phase;<br />

tun und „tun als ob" in <strong>de</strong>r infantil-genitalen Phase sowie<br />

etwas „Richtiges" machen und etwas mit an<strong>de</strong>ren zusammen<br />

machen in <strong>de</strong>r Latenzzeit. Auffälligerweise enthält<br />

das Diagramm für <strong>de</strong>n Abschnitt <strong>de</strong>r Entwicklung, in <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r Jugendliche zum erstenmal I<strong>de</strong>ntität aufbaut, kein Verbum,<br />

das Fähigkeiten bezeichnet, son<strong>de</strong>rn eine Aussage<br />

über das nach <strong>Erikson</strong> zu erzielen<strong>de</strong> Ergebnis in dieser<br />

Entwicklungsperio<strong>de</strong>: „Wer bin ich (wer bin ich nicht) - Das<br />

Ich in <strong>de</strong>r Gemeinschaft." Hier wird also eine klare inhaltliche<br />

Festlegung <strong>de</strong>s Individuums verlangt, während es in<br />

<strong>de</strong>n früheren Phasen um Fähigkeiten ging, die in vielerlei<br />

Situationen angewandt wer<strong>de</strong>n können und <strong>de</strong>m heranwachsen<strong>de</strong>n<br />

Kind ebenso wie <strong>de</strong>m späteren Erwachsenen<br />

erlauben, sich in ihnen angemessen zu etablieren.<br />

205<br />

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An an<strong>de</strong>rer Stelle kommen <strong>Erikson</strong>s Darlegungen <strong>de</strong>n hier<br />

entwickelten I<strong>de</strong>ntitätsvorstellungen näher. Zum Beispiel,<br />

wenn er darauf hinweist, daß gelungene Ich-I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>n<br />

Jugendlichen von <strong>de</strong>r Zwangsherrschaft <strong>de</strong>s kindlichen ü-<br />

ber-Ichs befreit (<strong>Erikson</strong> 1956, S. 190 ff., S. 212). In dieser<br />

I<strong>de</strong>ntität leistet das gestärkte Ich <strong>de</strong>n durch die früheren<br />

über-Ich-Zwänge gestörten Ausgleich zwischen <strong>de</strong>n divergieren<strong>de</strong>n<br />

Anfor<strong>de</strong>rungen von Über-Ich, Es und Außenwelt,<br />

und zwar so, daß Gleichheit und Kontinuität <strong>de</strong>s Individuums<br />

gesichert wer<strong>de</strong>n. Es ist interessant, dass<br />

<strong>Erikson</strong>s Ausführungen dort fruchtbarer wer<strong>de</strong>n, wo er sich<br />

ausdrücklich um die Einordnung seiner Vorstellungen in die<br />

Freudschen theoretischen Ansätze bemüht.<br />

E. H. <strong>Erikson</strong> baut diese Ansätze nicht zu einem Konzept<br />

balancieren<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität aus. Er sucht Ich-I<strong>de</strong>ntität immer<br />

wie<strong>de</strong>r durch Integration in eine Gruppeni<strong>de</strong>ntität, die das<br />

Individuum - an<strong>de</strong>rs als etwa bei E. Goffman - distanzlos<br />

übernimmt, zu stabilisieren und vor <strong>de</strong>m Risiko <strong>de</strong>r Diffusion<br />

zu schützen, ohne die Gefahr <strong>de</strong>r rigi<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>ntifikation<br />

zu be<strong>de</strong>nken. Damit gesellt er sich zu jenen I<strong>de</strong>ntitätstheoretikern,<br />

die <strong>de</strong>m Individuum durch eine fest strukturierte<br />

Orientierung Unsicherheit und Zweifel ersparen wollen. Bei<br />

E. H. <strong>Erikson</strong> sichert das Individuum seine I<strong>de</strong>ntität, in<strong>de</strong>m<br />

es eine möglichst klare Vorstellung von sich selbst zu besitzen<br />

trachtet, noch bevor es sich in Interaktionsprozesse<br />

verwickelt. Es ist dargestellt wor<strong>de</strong>n, wie eine <strong>de</strong>rartige<br />

I<strong>de</strong>ntität die Beteiligung an Interaktion zu gefähr<strong>de</strong>n vermag.<br />

<strong>Erikson</strong> unterschätzt das Problem, in Interaktionen<br />

auf an<strong>de</strong>re einzugehen und sich immer wie<strong>de</strong>r neu artikulieren<br />

zu müssen. Er bietet nichts an, was <strong>de</strong>n Individuen<br />

helfen könnte in einer sich ständig wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Welt mit<br />

stets divergieren<strong>de</strong>n Norme I<strong>de</strong>ntität zu wahren, weil er<br />

nicht die Notwendigkeit sieht, I<strong>de</strong>ntität neu zu entwerfen.<br />

Somit besteht die Gefahr, daß die von E. H. <strong>Erikson</strong> beschriebene<br />

I<strong>de</strong>ntität zu einer „entfrem<strong>de</strong>ten" I<strong>de</strong>ntität im<br />

Sinne E. Schachtels wird, also neben <strong>de</strong>n Interaktionsprozessen<br />

stehenbleibt.<br />

Aufgaben:<br />

1. Was wirft <strong>Krappmann</strong> <strong>Erikson</strong> vor?<br />

2. Wo kommt <strong>Erikson</strong> mit seinen Vorstellungen <strong>Krappmann</strong>s<br />

I<strong>de</strong>en näher und warum gibt es hier eine größere<br />

Nähe?<br />

3. Welche Auffassung vertritt <strong>Krappmann</strong> im Gegensatz<br />

zu <strong>Erikson</strong>?<br />

aus: Lothar <strong>Krappmann</strong>: Soziologische Dimensionen <strong>de</strong>r<br />

I<strong>de</strong>ntität (Klett-Cotta/Stuttgart 10/2005) S. 89-94<br />

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