Krappmann-Erikson - Ploecher.de
Krappmann-Erikson - Ploecher.de
Krappmann-Erikson - Ploecher.de
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Fach: Pädagogik <strong>Krappmann</strong> - <strong>Erikson</strong> LK12<br />
Lothar <strong>Krappmann</strong><br />
Soziologische Dimensionen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>Erikson</strong><br />
Der interaktionistische Ansatz, (...), wollte <strong>de</strong>mgegenüber<br />
gera<strong>de</strong> zeigen, wie es ohne Anlehnung an feste Persönlichkeitsstrukturen<br />
<strong>de</strong>m Individuum gelingen kann, allein<br />
durch seine Fähigkeit, zwischen diskrepanten Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
zu balancieren statt sie zu verdrängen, I<strong>de</strong>ntität auf-<br />
5<br />
rechtzuerhalten. Allerdings geht es diesen Autoren offenbar<br />
nicht so sehr um die Problematik <strong>de</strong>r Wahrung von<br />
I<strong>de</strong>ntität (...). Ihr Thema ist nicht die Frage, welche Schwierigkeiten<br />
sich für die I<strong>de</strong>ntität eines Individuums ergeben,<br />
10 wenn es verschie<strong>de</strong>nartigen, nicht ohne weiteres abweisbaren<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen ausgesetzt ist. Vielmehr hoffen die<br />
genannten Autoren, in <strong>de</strong>r „I<strong>de</strong>ntität" ein zuverlässigeres<br />
Fundament für das Verhalten <strong>de</strong>s Individuums gefun<strong>de</strong>n zu<br />
haben, als es bislang in <strong>de</strong>n Begriffen Rolle, Position und<br />
15 Selbst gegeben war. Grundsätzlich besteht diese Hoffnung<br />
auch im Rahmen <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit. Es soll jedoch<br />
versucht wer<strong>de</strong>n, I<strong>de</strong>ntität nicht falsch zu stabilisieren, son<strong>de</strong>rn<br />
konsequent an ihrem balancieren<strong>de</strong>n Charakter festzuhalten,<br />
auch wenn es dann schwerer fallen sollte (...).<br />
20<br />
25<br />
30<br />
35<br />
40<br />
45<br />
50<br />
55<br />
60<br />
Die Darstellungen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntitätsproblematik, die mehr <strong>de</strong>r<br />
psychoanalytischen Tradition verpflichtet sind, ähneln <strong>de</strong>r<br />
hier vorgetragenen oft im Vokabular, wenn <strong>de</strong>r Frage<br />
nachgegangen wird, wie ein Individuum I<strong>de</strong>ntität gewinnen,<br />
aufrechterhalten und sich ihrer vergewissern kann. E. H.<br />
<strong>Erikson</strong>, <strong>de</strong>r wie kein an<strong>de</strong>rer Autor für die Verbreitung <strong>de</strong>s<br />
I<strong>de</strong>ntitätsbegriffes in <strong>de</strong>r soziologischen und psychoanalytischen<br />
Literatur gesorgt und die Diskussion über dieses<br />
Thema beeinflußt hat, wie<strong>de</strong>rholt immer wie<strong>de</strong>r, daß das<br />
Individuum für seine I<strong>de</strong>ntität die Anerkennung <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
benötige. Aber die Unterschie<strong>de</strong> treten doch bei genauerer<br />
Betrachtung bald hervor. E. H. <strong>Erikson</strong> <strong>de</strong>nkt nicht zuerst<br />
an die jeweils neu zu erringen<strong>de</strong> Anerkennung in <strong>de</strong>r ständigen<br />
Abfolge von Interaktionen, die immer wie<strong>de</strong>r unter<br />
an<strong>de</strong>ren Erwartungen stehen, son<strong>de</strong>rn an die grundsätzliche<br />
Einglie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Individuums in die kollektiven Lebenspläne<br />
und Realitäts<strong>de</strong>finitionen einer Gruppe:<br />
„Das heranwachsen<strong>de</strong> Kind muß bei je<strong>de</strong>m Schritt ein beleben<strong>de</strong>s<br />
Wirklichkeitsgefühl aus <strong>de</strong>m Bewußtsein ziehen,<br />
daß seine individuelle Art <strong>de</strong>r Lebensmeisterung (seine<br />
Ichsynthese) eine erfolgreiche Variante einer Gruppeni<strong>de</strong>ntität<br />
ist und in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>r Raum-Zeit und<br />
<strong>de</strong>m Lebensplan seiner Gesellschaft steht." (<strong>Erikson</strong> 1950<br />
a, S. 230)<br />
E. H. <strong>Erikson</strong> weist <strong>de</strong>s öftern darauf hin, daß die geschichtliche<br />
Perio<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>r ein Individuum I<strong>de</strong>ntität sucht,<br />
„nur eine beschränkte Anzahl sozial be<strong>de</strong>utungsvoller Mo<strong>de</strong>lle<br />
(liefert), in welchen es seine I<strong>de</strong>ntitätsfragmente zu<br />
einem leistungsfähigen Ganzen zusammenfügen kann" (<strong>Erikson</strong><br />
1946, S. 22). Daher kann er auch erklären, daß Ich-<br />
I<strong>de</strong>ntität eine mit <strong>de</strong>m Abschluß <strong>de</strong>r Adoleszenz zu erreichen<strong>de</strong><br />
Entwicklungsstufe im Sozialisationsprozeß sei.<br />
Zwar hat die Ich-I<strong>de</strong>ntität in <strong>de</strong>n früheren Entwicklungsphasen<br />
<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ihre Vorläufer, aber sie bil<strong>de</strong>t sich erst jetzt<br />
in <strong>de</strong>n für das Jugendalter typischen Krisen heraus:<br />
„Die Integration, die nun in Form <strong>de</strong>r Ich-I<strong>de</strong>ntität stattfin<strong>de</strong>t,<br />
ist mehr als nur die Summe <strong>de</strong>r Kindheitsi<strong>de</strong>ntifikationen.<br />
Es ist die gesammelte Erfahrung über die Fähigkeit<br />
<strong>de</strong>s Ich, diese I<strong>de</strong>ntifikationen mit <strong>de</strong>n Libido-Verschiebungen<br />
zu integrieren, ebenso wie mit <strong>de</strong>n aus einer Grundbegabung<br />
entwickelten Fähigkeiten und <strong>de</strong>n Möglichkeiten<br />
sozialer Rollen. Das Gefühl <strong>de</strong>r Ich-I<strong>de</strong>ntität ist also die angesammelte<br />
Zuversicht <strong>de</strong>s Individuums, daß <strong>de</strong>r inneren<br />
Gleichheit und Kontinuität auch die Gleichheit und Kontinuität<br />
seines Wesens in <strong>de</strong>n Augen an<strong>de</strong>rer entspricht, wie es<br />
65<br />
70<br />
75<br />
80<br />
85<br />
90<br />
95<br />
100<br />
105<br />
110<br />
115<br />
120<br />
125<br />
130<br />
sich nun in <strong>de</strong>r greifbaren Aussicht auf eine Laufbahn` bezeugt."<br />
(<strong>Erikson</strong> 1950 a, S. 256)<br />
E. H. <strong>Erikson</strong> glaubt, daß selbst durch die Psychoanalyse<br />
die „Gesamtkonfiguration von Ich-I<strong>de</strong>ntität" nicht grundlegend<br />
zu verän<strong>de</strong>rn ist, wenn es auch gelingen könnte, innerhalb<br />
ihres Rahmens gewisse unerwünschte durch wünschenswertere<br />
I<strong>de</strong>ntifikationen zu ersetzen. Die zitierte Beschreibung<br />
<strong>Erikson</strong>s geht durchaus auf die Integrationsfähigkeit<br />
<strong>de</strong>s Individuums ein, das angeeignete Erwartungen<br />
mit Bedürfnisstrukturen zu vereinigen suchen muß. Aber er<br />
verlangt doch für seine I<strong>de</strong>ntitätsvorstellung inhaltliche<br />
Festlegungen. Der jugendliche soll eine Auswahl unter <strong>de</strong>n<br />
möglichen I<strong>de</strong>ntifikationen treffen. Darauf <strong>de</strong>utet auch die<br />
„Laufbahn" hin, für die sich <strong>de</strong>r junge Mensch zum<br />
Abschluß <strong>de</strong>r Adoleszenz entschei<strong>de</strong>n soll, und die „sozialen<br />
Rollen", die er sich erwählen muß, um seine<br />
I<strong>de</strong>ntität zu stabilisieren. Daß niemand ohne I<strong>de</strong>ntifikationen<br />
an Interaktionen teilnehmen kann, ist nicht zu bestreiten.<br />
Jedoch sind es nicht die I<strong>de</strong>ntifikationen schlechthin,<br />
die die Gleichheit und Kontinuität <strong>de</strong>s Individuums herstellen<br />
und seine I<strong>de</strong>ntität sichern, son<strong>de</strong>rn I<strong>de</strong>ntität kann nur<br />
aufrechterhalten wer<strong>de</strong>n, wenn die I<strong>de</strong>ntifikationen ihrer Art<br />
nach eine interpretieren<strong>de</strong> Diskussion erlauben. E. H. <strong>Erikson</strong><br />
aber geht es nicht um die Art <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikationen, son<strong>de</strong>rn<br />
um Integration von I<strong>de</strong>ntifikationen, Rollen und Bedürfnissen.<br />
Gewiß wünscht E. H. <strong>Erikson</strong> nicht eine starre I<strong>de</strong>ntitätsstruktur,<br />
die <strong>de</strong>m Individuum unmöglich macht, auf sich<br />
verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Verhältnisse einzugehen. Aber er grenzt sein<br />
I<strong>de</strong>ntitätskonzept programmatisch nur gegen die Gefahr<br />
<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntitätsdiffusion ab, nicht gegen die <strong>de</strong>r Starrheit.<br />
I<strong>de</strong>ntitätsdiffusion als Gegensatz zu gelungener I<strong>de</strong>ntität<br />
faßt er als „eine Zersplitterung <strong>de</strong>s Selbstbil<strong>de</strong>s ..., ein(en)<br />
Verlust <strong>de</strong>r Mitte, ein Gefühl <strong>de</strong>r Verwirrung und in schweren<br />
Fällen die Furcht vor völliger Auflösung" auf (<strong>Erikson</strong><br />
1956, S. 154, Anmerkung 6); sie kann also die Gestalt<br />
schwerer pathologischer Störungen annehmen. I<strong>de</strong>ntitätsdiffusion<br />
kann dann auftreten, wenn sich ein Individuum<br />
gleichzeitig vor sehr verschie<strong>de</strong>nartige Erwartungen, etwa<br />
im Elternhaus und im Freun<strong>de</strong>skreis, gestellt sieht. E. H.<br />
<strong>Erikson</strong> betont nicht, daß das Individuum im Sozialisierungsprozeß<br />
die Fähigkeit erworben haben sollte, sich mit<br />
diskrepanten Erwartungen auseinan<strong>de</strong>rzusetzen, son<strong>de</strong>rn<br />
er glaubt, daß das Individuum seine I<strong>de</strong>ntität nicht verlieren<br />
wird, wenn <strong>de</strong>r Sozialisationsprozeß ihr eine gefestigte<br />
Struktur zu geben vermochte. In Konsequenz dieser Vorstellung<br />
muß er sich auf die Hoffnung beschränken, daß<br />
Individuen vor allzu divergieren<strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen möglichst<br />
bewahrt wer<strong>de</strong>n, gesellschaftliche Verän<strong>de</strong>rungen<br />
sich nicht zu schnell vollziehen und eingenommene soziale<br />
Rollen nicht durch äußere Umstän<strong>de</strong> ein gar zu abruptes<br />
En<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n, damit die I<strong>de</strong>ntitätsstruktur <strong>de</strong>s Individuums<br />
nicht überfor<strong>de</strong>rt wird. Die Zunahme von I<strong>de</strong>ntitätsdiffusion<br />
in <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>s Psychotherapeuten <strong>de</strong>utet er als Folge<br />
zunehmen<strong>de</strong>r Belastung <strong>de</strong>s Menschen durch das immer<br />
umfassen<strong>de</strong>re Ausmaß und die zunehmen<strong>de</strong> Beschleunigung<br />
historischen Wan<strong>de</strong>ls (<strong>Erikson</strong> 1946).<br />
Daß Individuen darin überfor<strong>de</strong>rt sein können, I<strong>de</strong>ntität zu<br />
wahren, ist auch <strong>de</strong>m hier vorgetragenen I<strong>de</strong>ntitätskonzept<br />
nicht fremd. E. H. <strong>Erikson</strong> jedoch sucht Hilfe für das Individuum<br />
durch Festlegung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität, während in dieser Arbeit<br />
zu beschreiben versucht wur<strong>de</strong>, daß I<strong>de</strong>ntität grundsätzlich<br />
in Situationen mit divergieren<strong>de</strong>n und sich wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n<br />
Erwartungen aufgebaut wer<strong>de</strong>n muß. Für E. H. E-<br />
rikson beruht Ich-Stärke auf einer nur schwer zerbrechlichen,<br />
gefestigten I<strong>de</strong>ntitätsstruktur; aus <strong>de</strong>r Perspektive<br />
<strong>de</strong>s hier vertretenen I<strong>de</strong>ntitätskonzeptes ist das Individuum<br />
als belastbarer anzusehen, wenn seine I<strong>de</strong>ntifikationen<br />
weniger fest sind, so daß ihm Spielraum und Distanz bleibt<br />
<strong>Krappmann</strong>-<strong>Erikson</strong>.doc <strong>Krappmann</strong> - <strong>Erikson</strong> Seite 1 von 2
Fach: Pädagogik <strong>Krappmann</strong> - <strong>Erikson</strong> LK12<br />
und damit ein Potential verfügbar wird, Konflikte aufzuar-<br />
135 beiten o<strong>de</strong>r sich mit ihnen zu arrangieren.<br />
140<br />
145<br />
150<br />
155<br />
160<br />
165<br />
170<br />
175<br />
180<br />
185<br />
190<br />
195<br />
200<br />
Von „zerbrechlicher, ungefestigter I<strong>de</strong>ntität" spricht E. H.<br />
<strong>Erikson</strong> auch, wenn Menschen <strong>de</strong>n Psychoanalytiker aufsuchen,<br />
die keine Spannungen ertragen und keine Entscheidungen<br />
fällen können. Die Therapie soll <strong>de</strong>n geheilten<br />
Patienten befähigen, „die Diskontinuitäten <strong>de</strong>s amerikanischen<br />
Lebens und die polaren Spannungen in seinem eigenen<br />
Kampfe um eine wirtschaftliche und kulturelle I<strong>de</strong>ntität<br />
ins Auge zu fassen, nicht als eine von außen auferlegte<br />
feindliche Realität, son<strong>de</strong>rn als potentielles Versprechen<br />
einer universaleren kollektiven I<strong>de</strong>ntität" (<strong>Erikson</strong> 1946, S.<br />
37). Auch an<strong>de</strong>re Stellen klingen durchaus so, als ob nach<br />
diesem Autor eine stabile I<strong>de</strong>ntität gleichfalls ihre Kraft gera<strong>de</strong><br />
aus „<strong>de</strong>m Be- und Durchstehen von“ Konflikten zieht:<br />
„Die Demokratie in einem Lan<strong>de</strong> wie Amerika stellt gera<strong>de</strong><br />
dadurch beson<strong>de</strong>re Probleme, daß sie eine selbstgemachte<br />
I<strong>de</strong>ntität verlangt, eine I<strong>de</strong>ntität, die bereit und fähig ist,<br />
unvorhergesehene Chancen zu ergreifen und sich <strong>de</strong>m<br />
Wechsel von Boom und Baisse, Frie<strong>de</strong>n und Krieg, Mobilität<br />
und Seßhaftigkeit anzupassen." (<strong>Erikson</strong> 1950 b, S.<br />
112)<br />
Es zeigt sich jedoch sehr bald, daß E. H. <strong>Erikson</strong>s I<strong>de</strong>ntitätskonzept<br />
nicht vorsieht, daß <strong>de</strong>r einzelne Diskrepanzen<br />
benutzt, um sich als eigenständiges Individuum zu etablieren.<br />
Vielmehr soll das Individuum nur in die Lage versetzt<br />
wer<strong>de</strong>n, Spannungen und Konflikte hinzunehmen und sich<br />
somit an die Gegebenheiten <strong>de</strong>r amerikanischen Gesellschaft<br />
anzupassen. Wie <strong>de</strong>r Autor das Verhältnis von<br />
„selbstgemachten I<strong>de</strong>ntitäten" zur Gesellschaft einschätzt,<br />
offenbart sich in <strong>de</strong>r Aussage, daß „das System, wenn es<br />
auf Krieg umgeschaltet wird, automatisch die selbstgemachten`<br />
I<strong>de</strong>ntitäten von Millionen Individuen übergehen<br />
und die Menschen dorthin stellen muß, wo sie gebraucht<br />
wer<strong>de</strong>n" (<strong>Erikson</strong> 1950 b, S. 112). <strong>Erikson</strong>s I<strong>de</strong>ntitätskonzept<br />
weist auf keine Kraft hin, die Verhältnisse mitzugestalten.<br />
Es läuft letztlich auf Unterwerfung unter die herrschen<strong>de</strong>n<br />
Verhältnisse hinaus.<br />
Dabei bietet <strong>Erikson</strong>s Darstellung <strong>de</strong>r Sozialisation <strong>de</strong>s<br />
Kin<strong>de</strong>s durchaus Ansätze für die Vorstellung <strong>de</strong>r Genese<br />
eines kritischen Potentials im Individuum. Er schil<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>n<br />
Sozialisationsprozeß als eine Abfolge von psychosozialen<br />
Krisen, die das Kind zu lösen hat. In je<strong>de</strong>r dieser Entwicklungsphasen,<br />
die in Anlehnung an S. Freud bestimmt sind,<br />
erwirbt das Kind eine Fähigkeit, die ihm hilft, bestimmte<br />
Probleme zu lösen: gegeben bekommen und geben in <strong>de</strong>r<br />
oralen Phase; festhalten und loslassen in <strong>de</strong>r analen Phase;<br />
tun und „tun als ob" in <strong>de</strong>r infantil-genitalen Phase sowie<br />
etwas „Richtiges" machen und etwas mit an<strong>de</strong>ren zusammen<br />
machen in <strong>de</strong>r Latenzzeit. Auffälligerweise enthält<br />
das Diagramm für <strong>de</strong>n Abschnitt <strong>de</strong>r Entwicklung, in <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>r Jugendliche zum erstenmal I<strong>de</strong>ntität aufbaut, kein Verbum,<br />
das Fähigkeiten bezeichnet, son<strong>de</strong>rn eine Aussage<br />
über das nach <strong>Erikson</strong> zu erzielen<strong>de</strong> Ergebnis in dieser<br />
Entwicklungsperio<strong>de</strong>: „Wer bin ich (wer bin ich nicht) - Das<br />
Ich in <strong>de</strong>r Gemeinschaft." Hier wird also eine klare inhaltliche<br />
Festlegung <strong>de</strong>s Individuums verlangt, während es in<br />
<strong>de</strong>n früheren Phasen um Fähigkeiten ging, die in vielerlei<br />
Situationen angewandt wer<strong>de</strong>n können und <strong>de</strong>m heranwachsen<strong>de</strong>n<br />
Kind ebenso wie <strong>de</strong>m späteren Erwachsenen<br />
erlauben, sich in ihnen angemessen zu etablieren.<br />
205<br />
210<br />
215<br />
220<br />
225<br />
230<br />
235<br />
240<br />
An an<strong>de</strong>rer Stelle kommen <strong>Erikson</strong>s Darlegungen <strong>de</strong>n hier<br />
entwickelten I<strong>de</strong>ntitätsvorstellungen näher. Zum Beispiel,<br />
wenn er darauf hinweist, daß gelungene Ich-I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>n<br />
Jugendlichen von <strong>de</strong>r Zwangsherrschaft <strong>de</strong>s kindlichen ü-<br />
ber-Ichs befreit (<strong>Erikson</strong> 1956, S. 190 ff., S. 212). In dieser<br />
I<strong>de</strong>ntität leistet das gestärkte Ich <strong>de</strong>n durch die früheren<br />
über-Ich-Zwänge gestörten Ausgleich zwischen <strong>de</strong>n divergieren<strong>de</strong>n<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen von Über-Ich, Es und Außenwelt,<br />
und zwar so, daß Gleichheit und Kontinuität <strong>de</strong>s Individuums<br />
gesichert wer<strong>de</strong>n. Es ist interessant, dass<br />
<strong>Erikson</strong>s Ausführungen dort fruchtbarer wer<strong>de</strong>n, wo er sich<br />
ausdrücklich um die Einordnung seiner Vorstellungen in die<br />
Freudschen theoretischen Ansätze bemüht.<br />
E. H. <strong>Erikson</strong> baut diese Ansätze nicht zu einem Konzept<br />
balancieren<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität aus. Er sucht Ich-I<strong>de</strong>ntität immer<br />
wie<strong>de</strong>r durch Integration in eine Gruppeni<strong>de</strong>ntität, die das<br />
Individuum - an<strong>de</strong>rs als etwa bei E. Goffman - distanzlos<br />
übernimmt, zu stabilisieren und vor <strong>de</strong>m Risiko <strong>de</strong>r Diffusion<br />
zu schützen, ohne die Gefahr <strong>de</strong>r rigi<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>ntifikation<br />
zu be<strong>de</strong>nken. Damit gesellt er sich zu jenen I<strong>de</strong>ntitätstheoretikern,<br />
die <strong>de</strong>m Individuum durch eine fest strukturierte<br />
Orientierung Unsicherheit und Zweifel ersparen wollen. Bei<br />
E. H. <strong>Erikson</strong> sichert das Individuum seine I<strong>de</strong>ntität, in<strong>de</strong>m<br />
es eine möglichst klare Vorstellung von sich selbst zu besitzen<br />
trachtet, noch bevor es sich in Interaktionsprozesse<br />
verwickelt. Es ist dargestellt wor<strong>de</strong>n, wie eine <strong>de</strong>rartige<br />
I<strong>de</strong>ntität die Beteiligung an Interaktion zu gefähr<strong>de</strong>n vermag.<br />
<strong>Erikson</strong> unterschätzt das Problem, in Interaktionen<br />
auf an<strong>de</strong>re einzugehen und sich immer wie<strong>de</strong>r neu artikulieren<br />
zu müssen. Er bietet nichts an, was <strong>de</strong>n Individuen<br />
helfen könnte in einer sich ständig wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Welt mit<br />
stets divergieren<strong>de</strong>n Norme I<strong>de</strong>ntität zu wahren, weil er<br />
nicht die Notwendigkeit sieht, I<strong>de</strong>ntität neu zu entwerfen.<br />
Somit besteht die Gefahr, daß die von E. H. <strong>Erikson</strong> beschriebene<br />
I<strong>de</strong>ntität zu einer „entfrem<strong>de</strong>ten" I<strong>de</strong>ntität im<br />
Sinne E. Schachtels wird, also neben <strong>de</strong>n Interaktionsprozessen<br />
stehenbleibt.<br />
Aufgaben:<br />
1. Was wirft <strong>Krappmann</strong> <strong>Erikson</strong> vor?<br />
2. Wo kommt <strong>Erikson</strong> mit seinen Vorstellungen <strong>Krappmann</strong>s<br />
I<strong>de</strong>en näher und warum gibt es hier eine größere<br />
Nähe?<br />
3. Welche Auffassung vertritt <strong>Krappmann</strong> im Gegensatz<br />
zu <strong>Erikson</strong>?<br />
aus: Lothar <strong>Krappmann</strong>: Soziologische Dimensionen <strong>de</strong>r<br />
I<strong>de</strong>ntität (Klett-Cotta/Stuttgart 10/2005) S. 89-94<br />
<strong>Krappmann</strong>-<strong>Erikson</strong>.doc <strong>Krappmann</strong> - <strong>Erikson</strong> Seite 2 von 2