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Zur neuen Ausgabe - Eurasisches Magazin

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> 06-11<br />

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15.06.2011<br />

<strong>Zur</strong> <strong>neuen</strong> <strong>Ausgabe</strong><br />

Juni 2011<br />

Von EM Redaktion<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

urasienweit halten die Proteste junger Menschen gegen Despotien und deren<br />

Unterdrückungsmechanismen an. Zwei Frauen äußern sich dazu in dieser <strong>Ausgabe</strong> des<br />

Eurasischen <strong>Magazin</strong>s in Interviews: die saudi-arabische Autorin Badreya El-Beshr berichtet<br />

vom alltäglichen Kampf der Frauen um etwas mehr persönliche Freiheit, worüber sie ein Buch<br />

geschrieben hat. Im Gespräch mit Christoph Dreyer sagt sie: „Viele betrachten dieses Buch als<br />

einen Wutschrei“.


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Olga Karatsch, eine 32-Jährige aus Witebsk in Weißrussland, ist Vorsitzende der Bürgerinitiative<br />

„Nasch Dom“ (Unser Haus). In der Zeitung „Witebskij Kurier“, die sie herausgibt, prangern sie<br />

und ihre Mitstreiter das Fehlverhalten von Politikern und Beamten an. Sie selbst wurde in ihrem<br />

Leben bereits fünfzig Mal verhaftet. Im Gespräch mit Diana Laartz berichtet Olga Karatsch über<br />

Schläge während des Polizeiverhörs, die Schauprozesse gegen Oppositionelle, aber auch über<br />

neue Möglichkeiten für die vom „letzten Diktator Europas“ unterdrückte Opposition in ihrem<br />

Land: „Lukaschenko will, dass alle schweigen“.<br />

Aus Aserbaidschan, wo die Jugend ebenfalls gegen das allmächtige System rebelliert, berichtet<br />

Rail Safiyev. Allerdings sind dort erst zaghafte Anfänge zu erkennen. Sein Beitrag trägt die<br />

Überschrift: „Demokratiebemühungen bleiben auf der Strecke“.<br />

In dieser <strong>Ausgabe</strong> gibt es auch einen Bericht von der Verhaftung des serbischen Ex-Generals<br />

Ratko Mladic und einen Steckbrief des Gefassten: „Serbien hat Wort gehalten: Kriegsverbrecher<br />

Mladic gefasst“.<br />

Außerdem Beiträge über die Vorbereitungen auf Russlands Wahlen im Dezember. Ulrich Heyden<br />

berichtet dazu aus Moskau: Bei den Duma-Wahlen im Dezember will der Unternehmer Michail<br />

Prochorow eine liberale Klein-Partei zur drittstärksten Kraft in der Duma machen. „Drittreichster<br />

Oligarch geht in die Politik“. Und er informiert über die Gründung einer „Volksfront“ durch den<br />

Ministerpräsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin. Was hat das zu bedeuten? „Was<br />

will Putin mit einer Volksfront?“<br />

Exotisch und farbenfroh geht es zu in der Reportage von Thomas Bauer, der in Ladakh war, im<br />

äußersten Norden Indiens. Dort leben in unzugänglichen Bergregionen noch Schneeleoparden.<br />

Wie es gelang, einen davon in freier Wildbahn zu beobachten, erzählt diese Geschichte einer<br />

Suche im Himalaya: „Im Bann des Schneeleoparden“.<br />

Das EM-Team wünscht allen Lesern viele neue Erkenntnisse und Freude an den gewonnenen<br />

Einsichten.<br />

Eurasien-Ticker 6-2011<br />

Neue Anträge für China-Visum seit 1. Juni · Artenschutz in Kirgisien für<br />

weitere zehn Jahre gesichert · Erdgas: Deutschland führende Speichernation<br />

der EU · Stipendien für Elite-Programm in Asien · Kommission will<br />

Zusammenarbeit mit EU-Nachbarn verstärken · EU verbietet giftiges Metall<br />

Cadmium für Schmuck · Schnee in Samarkand – Ansichten aus dem<br />

Hinterland der Kriege · Neue Buchreihe editionBalkan im Dittrich Verlag ·<br />

Deutsches Theaterstück im Jugendtheater in Baku<br />

Von EM Redaktion<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

Neue Anträge für China-Visum seit 1. Juni<br />

EM - Seit dem 1. Juni 2011 ist für Visaanträge zur Einreise nach China ein neues<br />

Antragsformular vorgeschrieben. Dieses kann bereits ab sofort auf der Webseite der Botschaft der<br />

VR China heruntergeladen werden: http://www.chinabotschaft.de/det/lsfw/P020110303806339434773.pdf


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Artenschutz in Kirgisien für weitere zehn Jahre gesichert<br />

EM – Der Naturschutzbund Deutschland e.V. (NABU) und die kirgisische Regierung haben einen<br />

gemeinsamen Vertrag insbesondere zum Schutz des stark bedrohten Schneeleoparden<br />

unterzeichnet. NABU-Vizepräsident Thomas Tennhardt und der kirgisische Umweltminister<br />

Bijmyrsa Toktoraliev haben den Fortgang laufender Projekte für die kommenden zehn Jahre<br />

beschlossen. Dazu gehören die Anti-Wilderer-Einheit „Gruppa Bars“ zum Schutz von<br />

Schneeleoparden, das Rehabilitationszentrum „Schneeleopard“ und das Monitoring seltener<br />

Tierarten im Projektgebiet.<br />

Im kommenden Jahr soll außerdem ein vom NABU imitiertes internationales Forum zum<br />

Schneeleopardenschutz stattfinden. In Kirgisien begrüßt man die Initiative für eine gemeinsame<br />

Schneeleopardenkonferenz mit Vertretern aller verantwortlichen Staaten. Zum Verbreitungsgebiet<br />

der Großkatze gehören Zentralasien, der Himalaya, China und Russland. Der NABU betreibt seit<br />

über zehn Jahren Projekte zum Schutz der seltenen Großkatze in Kirgisien und konnte bereits<br />

einen Rückgang der Wilderei erzielen.<br />

Lesen Sie dazu auch die Reportage von Thomas Bauer „Im Bann des Schneeleoparden“ in dieser<br />

<strong>Ausgabe</strong>.<br />

Erdgas: Deutschland führende Speichernation der EU<br />

EM – Deutschland speichert am meisten Erdgas innerhalb der Europäischen Union. 2010 ist das<br />

Arbeitsgasvolumen um 0,5 Milliarden Kubikmeter auf 21,3 Milliarden Kubikmeter gestiegen. In<br />

den kommenden Jahren soll es um weitere 11,3 Milliarden Kubikmeter vergrößert werden, so das<br />

Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie (LBEG) in seinem kürzlich erschienenen Bericht<br />

„Erdöl und Erdgas in der Bundesrepublik Deutschland 2010“.<br />

„Niedersachsen ist ein Energieland und die Energiedrehscheibe von Deutschland“, sagt Lothar<br />

Lohff, Präsident des Landesamtes für Bergbau, Energie und Geologie. „Mit dem Ausbau der<br />

Speicherkapazitäten will die Industrie flexibler auf neue Marktentwicklungen und potenzielle<br />

Abhängigkeiten reagieren. Erdgasspeicher erfüllen eine klassische Pufferfunktion, um saisonale<br />

und tageszeitliche Verbrauchsschwankungen abzufangen. Zudem haben sie eine strategische<br />

Bedeutung für Krisenzeiten“, so Lohff.<br />

Weitere Informationen: http://bit.ly/l2gbIE<br />

Stipendien für Elite-Programm in Asien<br />

EM - An Auslandserfahrung führt kein Weg vorbei. Erste Berufserfahrungen sollte man da<br />

sammeln, wo die Wirtschaft große Dynamik entfaltet - in Asien. Seit mehr als 15 Jahren bietet die<br />

Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH jungen Berufstätigen,<br />

Absolventen und Studierenden die Möglichkeit, in acht asiatischen Ländern praxisorientiert zu<br />

arbeiten. Das sechsmonatige Praktikum ermöglicht ihnen Einblicke in die fremden Wirtschaftsund<br />

Bildungssysteme und trägt zu globalem Denken und zur Mobilität bei.<br />

Rund 50 junge Deutsche können auch im nächsten Jahr wieder in China, Indien, Indonesien,<br />

Japan, Malaysia, Südkorea, Vietnam oder Taiwan diese wertvollen Qualifikationen erwerben.<br />

Sprachkurse in Deutschland und im Zielland sowie interkulturelle Seminare bereiten auf das<br />

Praktikum vor. Aus Mitteln der Heinz Nixdorf Stiftung erhalten die Teilnehmer darüber hinaus ein<br />

Stipendium zur Finanzierung ihrer Lebenshaltungskosten. Interessenten mit einer technischen oder<br />

kaufmännischen Hochschulbildung können sich online vom 1. Juni bis zum 30. September 2011<br />

bewerben.


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Kontakt: Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH Friedrich-Ebert-<br />

Allee 40, 53113 Bonn T + 49 228 4460-1293, www.giz.de/hnp<br />

Kommission will Zusammenarbeit mit EU-Nachbarn<br />

verstärken<br />

EM - Die EU-Kommission will die Nachbarstaaten der Europäischen Union, etwa in Nordafrika<br />

und Osteuropa, künftig noch stärker als bisher in ihrem Streben nach Demokratie, politischer<br />

Stabilität und wirtschaftlichem Wohlstand unterstützen. Die finanzielle Hilfe im Rahmen der<br />

Nachbarschaftspolitik soll um 1,24 Milliarden Euro auf rund sieben Milliarden Euro für die<br />

nächsten beiden Jahre aufgestockt werden. Dazu kommen noch Milliardenkredite durch die<br />

Europäische Investitionsbank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.<br />

Aber es gehe bei der <strong>neuen</strong> Nachbarschaftsstrategie, über die nun EU-Staaten und Europäisches<br />

Parlament beraten werden, um viel mehr als nur um Geld, sagte Kommissionspräsident José<br />

Manuel Barroso: „Es zeigt, wie ernst es uns ist, denen zu helfen, die politische Freiheit und eine<br />

bessere Zukunft anstreben.“<br />

<strong>Zur</strong> wirtschaftlichen Entwicklung sollen unter anderem Freihandelsabkommen,<br />

Kooperationsprogramme in bestimmten Branchen, Reiseerleichterungen und eine gesteuerte<br />

Migration von Arbeitskräften beitragen. Das nütze auch der EU, sagte Barroso.<br />

Informationen: http://bit.ly/mw2oBt<br />

EU verbietet giftiges Metall Cadmium für Schmuck<br />

EM - Das krebserregende und hochgiftige Metall Cadmium darf ab Dezember in der EU nicht<br />

mehr in Schmuck, PVC oder Lötstoffen enthalten sein. Vor allem in importiertem Modeschmuck<br />

seien wiederholt sehr hohe Cadmiumwerte festgestellt worden, begründete die Kommission das<br />

Verbot. Verbraucher nähmen den Schadstoff über die Haut auf und Kinder auch dadurch, dass sie<br />

das Metall ableckten.<br />

Schnee in Samarkand – Ansichten aus dem Hinterland der<br />

Kriege<br />

EM – Eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin vom 23. Juni bis 12. September 2011<br />

zeigt Fotografien von Daniel Schwartz. Die Ausstellung konfrontiert mit brisanter Gegenwart. Sie<br />

führt nach Afghanistan und Zentralasien und zeigt Geschichte, Geografie und Gegenwart einer<br />

Region, die vom Kaspischen Meer bis über die Wüsten Westchinas hinausreicht und von<br />

Kasachstan im Norden bis Pakistan und Iran im Süden. Diese Region ist in den Nachrichten als<br />

Herd andauernder Kriege und latenter Konflikte präsent.<br />

Der international renommierte Schweizer Fotograf und Autor Daniel Schwartz untersucht in<br />

seinem Werk das geografisch heterogene und machtpolitisch komplexe Gebilde Zentralasien<br />

sowohl von innen her als auch aus europäischer, chinesischer und persisch-arabischer Perspektive.<br />

Die Vermittlerrolle Zentralasiens zwischen Ost und West reicht bis in die prähistorische Zeit<br />

zurück. Schon immer war sie ein entscheidender machtpolitischer Faktor. Und nicht erst seit dem<br />

Anschlag auf das World Trade Center am 09.11.2001 und der darauf folgenden militärischen<br />

Intervention in Afghanistan besitzt diese Region geostrategische und geo-ökonomische<br />

Bedeutung.


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Der ausgestellte Werkzyklus entstand zwischen 1995 und 2007 in den fünf zentralasiatischen<br />

Republiken sowie in Afghanistan und den angrenzenden Regionen. Seit 14 Jahren bereist<br />

Schwartz dieses Gebiet und hat dabei ebenso betörende wie bestürzende Bilder geschaffen – etwa<br />

die zeitlos anmutende Aufnahme afghanischer Flüchtlinge aus dem Hungergebiet oder das Bild<br />

der iranischen Ruinenstadt Bam.<br />

Weitere Informationen: http://bit.ly/kiopxk<br />

Neue Buchreihe editionBalkan im Dittrich Verlag<br />

EM – Schon im letzten Herbst erschienen vier Romane aus Bulgarien in der <strong>neuen</strong> editionBalkan.<br />

Im März 2011 wurde die Reihe mit drei serbischen Autoren fortgesetzt. Ziel dieses ehrgeizigen<br />

Projekts ist es, zeitgenössische Literatur aus dem Balkan hierzulande zugänglich zu machen und<br />

die intelligenten, anspruchsvollen und melancholischen Texte aus Südosteuropa über die Grenzen<br />

des Balkans hinaus zu verbreiten.<br />

Die editionBalkan erscheint als Gemeinschaftsproduktion mit CULTURCONmedien und wird<br />

getragen von der S. Fischer Stiftung sowie traduki. Durch den Fokus auf Serbien bei der Leipziger<br />

Buchmesse war eine große Medienresonanz erzielt worden. Im September werden weitere<br />

Romane aus Bulgarien erscheinen.<br />

Weitere Informationen zur editionBalkan unter http://editionbalkan.twoday.net<br />

Deutsches Theaterstück im Jugendtheater in Baku<br />

EM – „Lauf mir nach, dass ich dich fange“ so hieß das Theaterstück, das Constanze Baruschke<br />

und Jörg Herwegh, als deutsche Gäste am 19. April 2011 vor dem voll besetzten Gənc<br />

Tamaşaçılar Teatrı (staatliches Jugendtheater) in Baku, Aserbaidschan aufgeführt haben. Dieses<br />

ironisch erotische Puzzle haben die beiden aus Texten von Shakespeare bis Goethe, und von<br />

Ringelnatz, Morgenstern, Erich Fried bis hin zu Robert Gernhardt zusammengestellt.<br />

Unter den Zuschauern waren viele Germanistikstudentinnen und eben Deutschkundige. Die Texte<br />

wurden aber mit Hilfe einer Simultanübersetzungsanlage auch den Deutschunkundigen per<br />

Kopfhörer umschrieben. Dafür war die Dolmetscherin Semira Kazimova zuständig.<br />

Es gab Szenenbeifall, was nach Aussage einer Gastprofessorin aus Berlin selten vorkommen<br />

würde. Theaterdirektor Hamidov war selbst zugegen. Er empfing die Schauspieler und sorgte für<br />

die Auszahlung einer Gage.<br />

Das Gastspiel der Schauspieler aus Rosenheim ist Teil eines sich entwickelnden Kulturaustauschs.<br />

Dazu gab es im Pantomimentheater schon einmal vier Kostproben. Vorgestellt wurde ein<br />

Schumannscher Liederzyklus, der vom 17. Oktober bis 23. Oktober in Rosenheim, Wasserburg<br />

und München aufgeführt werden soll. Der international bekannte Komponist Azimov überträgt<br />

den Klavierpart dieser Lieder auf zusätzlich drei Musikinstrumente. Die Lieder werden<br />

pantomimisch von einer Balletttänzerin und zwei Balletttänzern ausgedeutet. Es wird also eine<br />

ungewöhnliche Aufführung.<br />

Am dritten Tag des Aufenthaltes wurde den deutschen Gästen eine Ausstellung des Malers Eli<br />

Aga präsentiert. Der Künstler selbst führte durch sein Lebenswerk. Er lässt sich beim Malen, so<br />

verriet er, durch Musik von Beethoven inspirieren.<br />

EM-INTERVIEW


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„Viele betrachten dieses Buch als einen<br />

Wutschrei“<br />

In ihrem Roman „Der Duft von Kaffee und Kardamom“ erzählt die saudiarabische<br />

Autorin Badreya El-Beshr vom alltäglichen Kampf der Frauen um<br />

etwas mehr persönliche Freiheit. Hier ein Gespräch mit der in Dubai lebenden<br />

Schriftstellerin und Kolumnistin.<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

<strong>Zur</strong> Person: Badreya El-Beshr<br />

Die saudi-arabische Schriftstellerin studierte Literatur- und Sozialwissenschaften an<br />

der König-Saud-Universität, Riad und der libanesischen Universität in Beirut. Sie<br />

arbeitet als Journalistin und schreibt literarische und sozialkritische Kolumnen für<br />

mehrere saudische Zeitungen, zurzeit hauptsächlich für die Tageszeitung „Al-Hayat“.<br />

urasisches <strong>Magazin</strong>: Hat es Sie überrascht, dass Ihr Buch in Saudi-Arabien überhaupt<br />

zugelassen wurde?<br />

Badreya El-Beshr: Ja, das war wirklich eine Überraschung. Aber unter dem jetzigen König<br />

Abdullah hat es einige Veränderungen in Saudi-Arabien gegeben, und man rechnete mit dem<br />

Beginn einer <strong>neuen</strong> Reformbewegung. Deshalb wurden einige Bücher genehmigt, wodurch auch<br />

mein Roman diese Chance bekam.<br />

EM: Wie waren denn die Reaktionen auf Ihr Buch in der saudischen Öffentlichkeit?<br />

El-Beshr: Gegen das Buch wurden drei Vorwürfe erhoben. Erstens, dass es gegen den Islam<br />

verstoße, weil die Protagonistin einen Roman mit dem Titel „Jesus wird wieder gekreuzigt“ liest<br />

(während es laut dem Koran überhaupt nicht zur Kreuzigung kam, Anm. d. Red.). Zweitens dass<br />

ich jeden, der sich meinen lüsternen Wünschen widersetze, als Moralpolizei anprangere. Und<br />

drittens warf man mir vor, dass ich in dem Roman meine Mutter schlechtmache. Diese Kritiker<br />

halten das Buch nämlich für autobiografisch.


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„Es gibt die Liebe, aber wenn man darüber spricht, ist das<br />

ein Skandal“<br />

EM: Ist es nicht erstaunlich, dass sich die Kritik gerade daran festmacht und nicht daran, dass Sie<br />

zum Beispiel offen über sexuelle Belästigung sprechen oder sich über die Religionspolizei lustig<br />

machen?<br />

El-Beshr: Viele betrachten dieses Buch als einen Wutschrei. Aber das Problem liegt auch bei<br />

diesen konservativen Gesellschaften, die immer alles unter der Decke halten wollen. In solchen<br />

Gesellschaften ist alles ein Skandal, worüber man schreibt, sogar die Liebe. Mehr als die Hälfte<br />

der Frauen in Saudi-Arabien heiratet meines Erachtens aus Liebe: die junge Frau, die den<br />

Nachbarssohn liebt, die einen Cousin oder sonst einen Verwandten liebt. Es gibt die Liebe also,<br />

aber wenn man darüber spricht, ist das ein Skandal. Und genau das ist das Problem. Nicht was<br />

tatsächlich passiert, gilt als Skandal, sondern dass man darüber spricht.<br />

EM: Glauben Sie, dass die meisten Menschen in Saudi-Arabien ihre Sicht der Dinge teilen?<br />

El-Beshr: Ein Teil oder vielleicht die Hälfte meiner Generation stimmt mit mir überein, aber die<br />

nächste Generation wird das, was ich schreibe, schon banal finden. Für die Jugend von heute, die<br />

mit Satellitenfernsehen, Handys und Internet aufwächst, ist mein Roman wahrscheinlich nur noch<br />

eine Sammlung von Geschichten alter Frauen. Beziehungen zwischen jungen Männern und Frauen<br />

sind mittlerweile etwas ganz Normales geworden. Es ist sogar umgekehrt: Wer keine Beziehung<br />

hat, wird schon als rückständig betrachtet.<br />

„Es findet ein schneller Wandel statt“<br />

EM: Könnte man also sagen, dass das Buch die Kämpfe einer bestimmten Generation von Frauen<br />

beschreibt?<br />

El-Beshr: Meine Großmutter und meine Mutter sind nicht einmal zur Schule gegangen, während<br />

ich promovieren konnte. Das ist ein gewaltiger Sprung, da klafft eine Lücke zwischen den<br />

Generationen. Und dann gibt es einen weiteren Sprung zur Generation der Globalisierung, des<br />

Satellitenfernsehens und des Mobiltelefons. Es findet ein schneller Wandel statt, der ein Stück<br />

weit beunruhigend ist, der aber auch Fenster der Hoffnungen aufstößt. Von einem Beobachter der<br />

Revolution in Ägypten habe ich einen schönen Satz gehört: Die Jugend kann revoltieren, weil sie<br />

im Zeitalter des Internets genau wieß, was Freiheit bedeutet - anders als die Generation davor, die<br />

die Freiheit nicht gekannt hat.<br />

EM: Wie schwerwiegend sind die wütenden Reaktionen auf ihr Buch, von denen sie sprachen?<br />

El-Beshr: Eine andere Frau würde sich an meiner Stelle vielleicht bedrängt oder in Gefahr fühlen,<br />

aber für mich gehört das zum Beruf des Schreibens und der Veränderung dazu. Deshalb akzeptiere<br />

ich, dass viele das ablehnen, was ich schreibe, denn ich schaue einfach auf diejenigen, die es<br />

annehmen. Mir persönlich genügt es, wenn die Hälfte der Leute oder weniger als die Hälfte<br />

akzeptieren, was ich schreibe. Das ist doch schon etwas, finde ich.<br />

„Frauen haben mehr Mut, und mehr Wut“<br />

EM: Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach die Rolle von Frauen bei den Veränderungen in der<br />

saudischen Gesellschaft oder auch in anderen arabischen Gesellschaften?<br />

El-Beshr: Ich glaube, die Frauen leisten einen realen und aktiven Beitrag. Ihr Problem ist, dass sie<br />

in der zweiten Reihe bleiben müssen und nicht an vorderster Front stehen dürfen. Aber die Frauen


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haben mehr Mut, mehr Wut und ein genauso ausgeprägtes Bewusstsein. Wann immer Frauen<br />

heute die Chance bekommen, machen sie die schnelleren Fortschritte.<br />

EM: Ist das auch so, weil auf den Frauen mehr Druck lastet, weil sie mehr unter den<br />

Verhältnissen leiden?<br />

El-Beshr: Natürlich. Es gibt ein gemeinsames Leiden von Frauen und Männern, es mangelt<br />

insgesamt an Rechten. Aber es ist die Art von Druck, wie ihn die Frauen ertragen müssen, der<br />

diese Art von Ausbruch hervorbringt. Deshalb werden Frauen auch stärker die Initiative ergreifen.<br />

„Der Weg kann nur nach vorne gehen“<br />

EM: Wie wird die saudi-arabische Gesellschaft nach ihrer Einschätzung in fünf oder zehn Jahren<br />

aussehen?<br />

El-Beshr: Ich wieß nicht, wie weit unsere Fortschritte gehen werden. Aber der Weg kann nur<br />

nach vorne gehen. Es kann nicht rückwärtsgehen oder so bleiben wie bisher.<br />

EM: Wie schätzen Sie die politischen Ereignisse in Saudi-Arabien in letzter Zeit ein - zum<br />

Beispiel die Demonstrationen und die Petitionen an das Königshaus?<br />

El-Beshr: Ich glaube nicht, dass es eine Revolution geben wird. Aber es gibt einen starken Drang<br />

nach Veränderungen von innen. Doch niemand wieß, inwieweit dem entsprochen werden wird.<br />

EM: Aber irgendetwas wird sich ändern müssen?<br />

El-Beshr: Sicher, absolut - das muss einfach geschehen.<br />

EM: Frau El-Beshr, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.<br />

Zuerst erschienen in Qantara.<br />

© Qantara.de 2011<br />

http://de.qantara.de/wcsite.php?wc_c=16183&wc_id=16417<br />

EM-INTERVIEW<br />

*<br />

Das Interview führte Christoph Dreyer<br />

„Lukaschenko will, dass alle schweigen“<br />

Sie sitzen in Käfigen vor Gericht: Oppositionelle in Weißrussland (Belarus),<br />

die wegen ihrer Proteste gegen die unfreie Präsidentenwahl im Dezember 2010<br />

protestiert hatten. Nach dem Anschlag auf die Minsker Metro gerieten weitere<br />

Bürgerrechtler ins Visier der Sicherheitsbehörden. Unter Ihnen auch Olga<br />

Karatsch. Die 32-Jährige aus Witebsk ist Vorsitzende der Bürgerinitiative<br />

„Nasch Dom“ (Unser Haus). In der Zeitung „Witebskij Kurier“, die Karatsch<br />

herausgibt, prangern sie und ihre Mitstreiter das Fehlverhalten von Politikern<br />

und Beamten an. Sie selbst wurde in ihrem Leben bereits fünfzig Mal<br />

verhaftet. Im Interview spricht Olga Karatsch über Schläge während des


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Polizeiverhörs, die Schauprozesse gegen Oppositionelle, aber auch über neue<br />

Möglichkeiten für die unterdrückte Opposition.<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

<strong>Zur</strong> Person: Olga Karatsch<br />

Olga Karatsch wurde 1979 im weißrussischen Wittebsk geboren. Sie ist freie<br />

Journalistin und leitet die Bürgerrechtsbewegung „Nasch Dom“ (Unser Haus) in<br />

Witebsk. Dabei handelt es sich eine der wenigen Nichtregierungsorganisationen in<br />

Weißrussland überhaupt. Sie informiert Bürger über ihre Rechte. Außerdem hilft sie<br />

bei Alltagsproblemen von hohen Mieten bis hin zur Trinkwasserqualität.<br />

Olga Karatsch gibt als freie Journalistin die unabhängige Zeitung „Witebskij Kurer“<br />

heraus. Sie ist Mitglied der weißrussischen Oppositionspartei „UCP“ und deren<br />

Vorsitzende in der Region Witebsk.<br />

urasisches <strong>Magazin</strong>: In Minsk stehen wieder Oppositionelle vor Gericht, unter ihnen auch<br />

der ehemalige Präsidentschaftskandidat Andrej Sannikow. Wegen des Aufrufs zu einer<br />

Großdemonstration nach der Wahl im Dezember wird ihm massive Störung der öffentlichen<br />

Ordnung vorgeworfen. Was glauben Sie, wie wird der Prozess enden?<br />

Olga Karatsch: Wie meistens mit einer Gefängnisstrafe. Ich rechne mit mehr als fünf Jahren.<br />

Und das nicht etwa, weil Sannikow ein so großer Held der Opposition wäre, sondern weil<br />

Lukaschenko immer die Schuld für Unruhen bei anderen sucht. Er ist ein sehr emotionaler<br />

Politiker. (Anmerkung der Redaktion: Inzwischen wurde wießrussische Oppositionsführer Andrej<br />

Sannikow wegen seiner Proteste zu fünf Jahren Haft verurteilt.)<br />

EM: Bei den Präsidentenwahlen etliche wurden auch andere Protestierer verhaftet. Im April<br />

kamen bei einem Bombenanschlag auf die Minsker Metro 14 Menschen ums Leben und die<br />

Sicherheitsbehörden nahmen die Bürgerrechtler ins Visier. Wie ist jetzt die Stimmung unter den<br />

Oppositionellen?<br />

Karatsch: Der endlose Strom der Verdächtigungen und Verhaftungen erzeugt natürlich eine<br />

gewisse Depression. Ich würde sagen, wir haben alte Möglichkeiten verloren, aber auch neue<br />

gewonnen.


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„Die Bevölkerung ist heute mehr bereit, uns zuzuhören“<br />

EM: Welche sind das?<br />

Karatsch: Die Menschen glauben Lukaschenko nicht mehr alles, sie schauen nach links und<br />

rechts, suchen Alternativen. Ja, es gibt ungeheure Repressalien, aber die Bevölkerung ist heute<br />

mehr bereit, uns zuzuhören.<br />

EM: Sie selbst wurden als Bürgerrechtlerin und als Herausgeberin einer oppositionellen Zeitung<br />

insgesamt 50 Mal verhaftet. Nach dem Anschlag auf die Minsker Metro gerieten Sie wieder ins<br />

Visier der Sicherheitsbehörden und wurden am 19. April festgenommen. Wie kam es dazu?<br />

Karatsch: Wir hatten uns in der Wohnung des bekannten Bürgerrechtlers Walerij Schtschukin<br />

getroffen, wo wir über eine neue Kampagne berieten. Es klingelte es an der Tür. Draußen standen<br />

zwei Polizisten und ein paar Männer in Zivil, so treten gewöhnlich die Leute vom Geheimdienst<br />

auf. Sie forderten uns auf, die Türen zu öffnen. Sie sagten, es handele sich um eine planmäßige<br />

Überprüfung der Pässe. So etwas gibt es in Belarus nicht, also haben wir nicht geöffnet.<br />

EM: Aber wenig später wurden sie dennoch festgenommen?<br />

Karatsch: Etwa nach 40 Minuten wollten Oleg und Pawel, zwei Männer unserer Gruppe,<br />

losfahren. Vor der Tür standen Polizisten. Sie sagten, die beiden müssten mitkommen. Oleg hat<br />

mich angerufen. Ich bin sofort heraus und habe gesagt, dass ich die beiden als Verteidigerin<br />

begleiten möchte, so wie es Artikel 62 unserer Verfassung garantiert. Uns wurde erklärt, wir<br />

würden verdächtigt, etwas mit dem Anschlag auf die Metro in Minsk zu tun zu haben.<br />

„Man brachte mich allein in ein Verhörzimmer. Dort wurde<br />

ich geschlagen“<br />

EM: Sie sind freiwillig mitgegangen?<br />

Karatsch: Ja, dass ich verhaftet worden bin, habe ich erst realisiert, als man mich allein in ein<br />

Verhörzimmer brachte und ich geschlagen wurde.<br />

EM: Wer hat Sie geschlagen?<br />

Karatsch: Ein Polizist sprang auf und beschimpfte mich aufs Übelste. Er drohte, dass er mich auf<br />

der Toilette vergewaltigen wird. Und dabei schlug er mich mit voller Kraft ins Gesicht. Ich stand<br />

vollkommen unter Schock. Umso mehr, weil er gar nichts von mir wissen wollte. Er wollte von<br />

mir kein Geständnis, dass ich den Anschlag auf die Metro begangen habe oder etwas Ähnliches.<br />

Er wollte nur meine Angst sehen.<br />

EM: Waren Sie allein mit dem Polizisten in einem Raum?<br />

Karatsch: Da waren noch sechs andere Männer. Sie haben gelacht, niemand hat etwas<br />

unternommen.<br />

EM: Wie ging es weiter?<br />

Karatsch: Am frühen Abend wurden wir alle in ein kleines Gefängnis gebracht. Wir hatten kein<br />

Essen, kein Wasser, es war bitterkalt, nur Beton, kein Schlafplatz. Dort haben wir die Nacht<br />

verbracht. Alle zwei Stunden kam ein Wärter vorbei und hat kontrolliert, dass wir nicht schlafen.<br />

Am nächsten Tag hat man uns ins Gericht gefahren. Das spottet eigentlich jeder Beschreibung.<br />

Alle meine Rechte waren schließlich verletzt worden. Ich wurde zu einer Geldstrafe von


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umgerechnet 160 Euro verurteilt. Die Männer mussten acht bis zehn Tage ins Gefängnis. Wir<br />

durften die Dokumente nicht einsehen, Zeugen gab es nicht.<br />

„Ich werde die Strafe nicht bezahlen. Wenn nötig, gehe ich<br />

damit bis zum Gerichtshof der UNO“<br />

EM: Wofür wurden Sie verurteilt, was stand im Urteil?<br />

Karatsch: Wir sollen die Polizisten vor Schtschukins Haus beschimpft und geschlagen haben.<br />

EM: Haben Sie die Geldstrafe bezahlt?<br />

Karatsch: Nein, und ich werde auch nicht bezahlen für etwas, das ich nicht getan habe. Wenn<br />

nötig, gehe ich damit bis zum Gerichtshof der UNO.<br />

EM: Glauben Sie, all das wäre auch ohne den Anschlag auf die Metro passiert?<br />

Karatsch: Die Anschuldigung, wir hätten etwas mit dem Anschlag zu tun, war nur ein Vorwand.<br />

Wir sind gegen den Bau eines Atomkraftwerkes. Man wollte einfach verhindern, dass wir an der<br />

Tschernobyl-Demonstration am 26. April teilnehmen.<br />

EM: In zwei offenen Briefen haben Sie Alexander Lukaschenko vorgeworfen, er habe zumindest<br />

vorher von dem Anschlag auf die Minsker Metro gewusst, wenn ihn nicht sogar geplant. Wie<br />

kommen Sie zu dieser Auffassung?<br />

Karatsch: Man muss einfach nur schauen, wem dieser Terrorakt hilft. Er bringt der Opposition<br />

überhaupt nichts, den einfachen Leuten auch nicht, das ist klar. Keine islamistische Gruppe hat<br />

sich zu dem Anschlag bekannt.<br />

„Wer Gerüchte über Lebensmittelknappheit und<br />

Währungskrise verbreitet, wird strafrechtlich verfolgt“<br />

EM: Was bringt Alexander Lukaschenko der Terrorakt?<br />

Karatsch: Er rechtfertigt damit zum Beispiel, dass Menschen, die Gerüchte über<br />

Lebensmittelknappheit und Währungskrise verbreiten, nun strafrechtlich verfolgt werden können.<br />

Im Namen des Anschlages schränkt er die Menschenrechte weiter ein. Er will, dass alle<br />

schweigen, und so seine Macht sichern.<br />

EM: Haben sie Beweise, dass Lukaschenko etwas mit dem Anschlag zu tun hat?<br />

Es mag sein, dass er ihn nicht persönlich befohlen hat. Vielleicht handelt es sich um einen<br />

Machtkampf innerhalb der staatlichen Strukturen. Dass der Anschlag von Lukaschenkos<br />

Anhängern geplant wurde, ist für mich eine unverrückbare Tatsache.<br />

EM: Frau Karatsch, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.<br />

*<br />

Die Autorin ist Korrespondentin von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in ganz<br />

Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu allen<br />

Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und Osteuropas in<br />

der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen unter www.n-ost.de.


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Das Interview führte Diana Laartz<br />

RUSSLAND<br />

Was will Putin mit einer Volksfront?<br />

In Russland sinkt das Vertrauen in die Parteien. Nun soll eine „Volksfront“<br />

der Kreml-Partei „Einiges Russland“ <strong>neuen</strong> Schub geben.<br />

Von Ulrich Heyden<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

ie Gründung einer Volksfront durch den<br />

Ministerpräsidenten der Russischen Föderation, was<br />

hat das zu bedeuten? Selbst gestandene Kreml-<br />

Beobachter konnten sich die Sache nicht gleich erklären.<br />

Volksfronten hatte es zuletzt unter Gorbatschow gegeben,<br />

in der stürmischen Zeit der Perestroika. Doch von einer<br />

stürmischen Umbruchzeit ist im heutigen Russland nichts<br />

zu spüren. Wozu also der martialische Begriff?<br />

Nun ja, auch in Russland wissen die Polit-Technologen,<br />

dass Wahlen viel mit Gefühlen zu tun haben. Warum also<br />

nicht auf einen positiv besetzten Begriff aus der<br />

Gorbatschow-Zeit zurückgreifen?<br />

Nach Putins Plänen soll die Volkfront die Partei Einiges<br />

Russland bei den Duma-Wahlen unterstützen. Im<br />

Gegenzug sollen parteilose Volksfront-Unterstützer<br />

Listenplätze bei der Kreml-Partei bekommen. <strong>Zur</strong><br />

Teilnahme an der Volksfront lud der Premier den<br />

Unternehmerverband, die Gewerkschaften, Jugend-, Frauen<br />

- und Rentnerverbände ein. Insgesamt 40 Organisationen<br />

haben sich schon für die Teilnahme an dem <strong>neuen</strong> Bündnis<br />

angemeldet.<br />

Wortkarger Medwedew<br />

Information zu den Wahlen in<br />

Russland<br />

Im März 2012, also in weniger als<br />

einem Jahr, wird in Russland ein<br />

neuer Präsident gewählt. Doch ist<br />

noch immer nicht klar, ob<br />

Medwedew und Putin ins Rennen<br />

gehen und ob es möglicherweise<br />

noch einen dritten Kandidaten des<br />

Kremls geben wird. Medwedew tritt<br />

als Präsident immer selbstsicherer<br />

auf. Trotzdem sind viele Experten<br />

der Meinung, dass Putin nach wie<br />

vor der starke Mann in Russland sei.<br />

Wie die Pläne von Medwedew und<br />

Putin auch aussehen werden, es ist<br />

offensichtlich, dass sie die<br />

Entscheidung, wer für die<br />

Präsidentschaftswahlen kandidiert,<br />

versuchen bis zum letztmöglichen<br />

Zeitpunkt hinausschieben. Man<br />

möchte offenbar vermeiden, dass<br />

einer der beiden Hauptfiguren als<br />

„lahme Ente“ dasteht.<br />

Präsident Medwedew reagierte auf Putins Volksfront-Gründung zurückhaltend. Das Projekt<br />

bewege sich „im Rahmen des Wahlgesetzes“, meinte der Präsident. Konkurrenz sei jedoch<br />

„lebenswichtig für die politische Stabilität im Land“. Medwedews Chef-Berater Igor Jurgens vom<br />

Reform-Institut INSOR erklärte klipp und klar, die Volksfront-Gründung sei „Unsinn“.<br />

Auch Putins-Ex-Berater Gleb Pawlowski, der 1999 den Weg Putins zur Macht organisierte,<br />

kritisierte das Volksfront-Projekt. Pawlowski der kürzlich erklärte, er unterstützte den amtierenden<br />

Präsidenten, meinte „im System der Volksfront gibt es keinen Platz für Medwedew.“


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Ansehen der Parteien sinkt<br />

Den Grund für die Bildung der Volksfront sieht Pawlowski in dem Ansehensverlust der Parteien.<br />

Pawlowski meinte gegenüber der „Nesawisimaja Gazeta“, die Macht habe Angst, dass das<br />

„Parteimodell bei den Wahlen nicht funktioniert.“<br />

Bei den bei den Kommunalwahlen im März hat Einiges Russland seine Stimmenanteile zwar<br />

halten können und durchschnittlich 50 Prozent der Stimmen erreicht, aber es gab auch zahlreiche<br />

Meldungen über Manipulationen bei der Wahl und Verstöße gegen das Wahlgesetz. Selbst das<br />

führende Mitglied von Einiges Russland, Konstantin Kosatschow, zeigte sich besorgt über die<br />

Meldungen, dass von der Partei Druck auf die Wähler ausgeübt wurde. Die Wahlergebnisse<br />

spiegeln also nicht völlig die Stimmung in der Bevölkerung wieder.<br />

„Partei der Betrüger und Räuber“<br />

Nach einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungsinstituts sind 31 Prozent der Befragten<br />

sogar der Meinung, Einiges Russland sei „die Partei der Betrüger und Räuber“. Experten<br />

vermuten, die Menschen seien enttäuscht, dass sich die Überwindung der Wirtschaftskrise so<br />

lange hinzieht. Nach einer Meinungsumfrage des Lewada-Zentrums würden, wenn jetzt Duma-<br />

Wahlen stattfänden, nur 39 Prozent der Russen – im Vorjahr 46 Prozent -, die Kreml-Partei<br />

Einiges Russland wählen. Der Popularitätswert der Kommunisten stieg dagegen auf zwölf auf 18<br />

Prozent.<br />

Weiter im Tandem?<br />

Ex-Putin-Berater Pawlowski, meinte, die ideale Lösung für Russland sei, wenn Medwedew<br />

Präsident bleibe und von Putin unterstützt werde. Putin bleibe „Architekt unserer Macht“,<br />

Medwedew komme als jüngerem Politiker die Aufgabe zu, „die Unternehmerkreise und die<br />

Mittelschicht zu festigen“. Die russische Gesellschaft sei offener und bunter geworden und nicht<br />

mehr so „versessen“ auf Sicherheit wie 2000, als der Tschetschenienkrieg noch lief. Damals<br />

hatten die Bürger Putin vor allem deshalb zum Präsidenten gewählt, er Sicherheit und Ordnung<br />

versprach.<br />

BALKAN<br />

Serbien hat Wort gehalten: Kriegsverbrecher<br />

Mladic gefasst<br />

Zeit und Ort des Schlussakts: 5.30 Uhr am Morgen des 26. Mai in Lazarevo<br />

nördlich von Belgrad. Schwerbewaffnete Polizei- und Sicherheitskräfte<br />

stürmen den Bauernhof des 59-jährigen Branislav Mladic, ein Cousin des seit<br />

15 Jahren gesuchten Generals Ratko Mladic.<br />

Von Wolf Oschlies<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

ie Szene ist filmreif. Im Haus wird ein gewisser Milorad Komadic gefunden, alt und<br />

gebrechlich, wegen einer gelähmten Hand unfähig zum Ankleiden. Komadic zeigt einen seit<br />

1999 ungültigen Personalausweis vor, der auf Ratko Mladic ausgestellt ist. Und er fügt


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hinzu: „Ich bin der, den ihr sucht“. Bei seinem Bett werden zwei Pistolen gefunden, aber Mladic<br />

hat keine Anstalten gemacht, sie zu ergreifen, nach einem oder mehr Schlaganfällen ist er dazu<br />

nicht mehr fähig.<br />

Die Sicherheitsleute waren in fünf Jeeps angerückt und hatten sich um die Häuser von Branislav<br />

Mladic und seiner Söhne gruppiert. Gegen die und andere wurde Strafanzeige erstattet, und in<br />

Belgrad begann am 27. Mai ein Berufungsverfahren gegen zehn „Mladicevi jataci“ (Mladic-<br />

Helfer), dem allerdings nach der Dingfestmachung Mladics keine große Bedeutung mehr zukam.<br />

Mladic war noch im Laufe des 26. Mai von den Profis der serbischen „Sicherheits- und<br />

Informationsagentur“ ans „Sondergericht“ der Hautpstadt überstellt wurde. Dort informierte<br />

Bruno Vekaric, Stellvertreter des Chefanklägers gegen Kriegsverbrecher, dass Ratko Mladic wohl<br />

binnen einer Woche ans Haager Kriegsverbrecher-Tribunal (ICTY) überstellt werden könnte. Am<br />

Morgen des 27. Mai konnten Mladics Ehefrau und Sohn, Bosiljka und Darko, den Inhaftierten<br />

besuch, trafen ihn aber nicht an, da er gerade auf „setnja“ war, auf Freigang.<br />

„Ein Stigma wurde Serbien genommen“<br />

Am Vormittag des 26. Mai hatte Staatspräsident Boris Tadic auf einer außerordentlichen<br />

Pressekonferenz das Ereignis bekannt gemacht, den Häschern vom „Aktionsteam des nationalen<br />

Sicherheitsrates“ gratuliert und weitere Aktionen angekündigt. Noch steht die Verhaftung des<br />

letzten großen Kriegsverbrechers aus, Goran Handzic, der seinerzeit als Präsident der<br />

sezessionistischen „Republik Serbische Krajina“ in Kroatien schwere Verbrechen zu verantworten<br />

hat. Und es werden intensive Untersuchungen in staatlichen Institutionen Serbiens folgen, in<br />

denen ungezählte Unterstützer Mladics vermutet werden.<br />

Zunächst aber überwog die Erleichterung: „Skinuta ljaga sa Srbije“, seufzte Tadic erleichtert: Ein<br />

Stigma wurde von Serbien genommen. Dazu kamen zahllose Glückwünsche: EU-<br />

Erweiterungskommissar Stefan Füle, EU-Außenrepräsentatin Catherine Ashton, ICTY-<br />

Chefankläger Serge Brammertz, Europarats-Generalsekretär Thorbjørn Jagland, UN-<br />

Greneralsekretär Ban Ki-moon, EU-Präside José Manuel Barroso, Frankreichs Präsident Nicolas<br />

Sarkozy und ungezählte weitere gratulierten den Serben, immer im Tonfall dessen, was Tadic<br />

gesagt und der slowenische Premier Borut Pahor und viele andere wiederholt hatten: „Die<br />

Verhaftung von Mladic ist ein Schritt zur Versöhnung in dieser Region Europas!“<br />

Gefragteste Person bei Belgrader Medien war die Journalistin Ljiljana Smailovic, langjährige<br />

Berichterstatterin aus dem Haag. Sie begrüßte die Verhaftung, der nun bald „die Anberaumung<br />

eines Termins für den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen“ folgen könnte. Dass Mladic wegen<br />

„Völkermord“ verurteilt werde, bezweifelte sie, denn für einen so schwer zu definierenden und zu<br />

bestimmenden Tatbestand ist vom ICTY noch nie jemand verurteilt worden, da sich immer<br />

genügende andere Strafgründe fanden. Unbeeindruckt zeigte sie sich von den Resultaten einer<br />

Blitzumfrage, nach der die Mehrheit der Bürger Serbiens und der Republika Srpska in Bosnien<br />

gegen die Verhaftung Mladics sei. Das sei nicht ernst zu nehmen, sagte Frau Smailovic, „denn es<br />

besteht sehr wohl ein Bewusstsein seiner Verantwortung für Verbrechen“.<br />

Berlin: Gegen Serbien, für kroatische Kriegsverbrecher<br />

Irgendwann am 26. Mai kam auch eine lustlose Reaktion aus Berlin, was die Serben nicht anders<br />

erwartet hatten. Frau Merkel hat seit Monaten postuliert, man solle schleunigst Kroatien in die EU<br />

aufnehmen und dann den Brüsseler Laden dichtmachen. Diesen Verrat an dem EU-Credo, die<br />

„europäische Perspektive stehe allen offen“, hat man in Brüssel peinlich berührt überhört, und<br />

inzwischen stehen die deutsche Kanzlerin und ihr Hätschelkind Kroatien ziemlich belämmert da:<br />

Serbien ist plötzlich ein seriöser EU-Bewerber, der mit aller Berechtigung seine Wiedereinsetzung


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in bestätigte EU-Ansprüche gefordert, nachdem Brüssel diese Mladics wegen „auf Eis gelegt“<br />

hatte.<br />

Was hingegen das überschuldete, ökonomisch nahezu bankrotte und chauvinistisch verhetzte<br />

Kroatien betrifft, so urteilte dieser Tage die regierungsnahe Berliner „Stiftung Wissenschaft und<br />

Politik“, Kroatiens eventueller „verfrühter EU-Beitritt würde dem Land, den anderen Kandidaten<br />

und der EU schaden“. Berlin und Zagreb haben am 26. Mai kaum verhehlt, dass ihnen ein Serbien<br />

in EU-Ächtung lieber gewesen wäre. Kroatiens Präsident Ivo Josipovic mahnte sofort am 26. Mai<br />

an, man müsse Serbien wegen weiter Opfer, „besonders“ kroatischer, zur Rechenschaft ziehen.<br />

Wo lebt der? Brüssel rechnet Kroatien derzeit alte Sünden von 1995 vor, Vertreibungen von<br />

Serben, Kriegsverbrechen und Defizite beim Schutz von Menschenrechten. Das ICTY hat am 15.<br />

April den „kroatischen Patrioten und Helden“ Ante Gotovina und weitere kroatische Killer zu 24<br />

Jahren Haft verurteilt. Daraufhin zündeten Kroaten die Fahnen von EU-Ländern an und die<br />

kroatische Zustimmung zur EU fiel auf 23 Prozent. Wer auf solche Fakten verweist, sieht sich von<br />

der deutschen EP-Abgeordneten Doris Pack, einer notorischen Serbenhasserin, als „Feind<br />

Kroatiens“ denunziert.<br />

Moralisch sind diese Typen alle gleich verwerflich<br />

Sagen wir es so: Mladic ist das serbische Exemplar des menschlichen und militärischen<br />

Abschaums, der auf dem West-Balkan seit über anderthalb Jahrzehnten sein Unwesen treibt. Der<br />

serbische Kriegsverbrecher Mladic ist ein „Bruder im Geiste“ von Verbrechern wie dem<br />

kroatischen General Slobodan Praljak, dem kosovarischen Schlächter Hashim Thaci und<br />

Dutzenden anderer. Moralisch sind diese Typen alle gleich verwerflich. Differenziert ist allein der<br />

Umgang aktueller politischer Führungen mit ihnen: Serbien jagt seit 2000 die Verbrecher und<br />

liefert sie aus, Kroatien umgibt sie mit hysterisch-heroischem Massenwahn, im Kosovo sitzen sie<br />

in der Regierung, nachdem sie alle potentiellen Belastungszeugen beseitigten.<br />

Ratko Mladic: Steckbrief eines Verbrechers<br />

Vor einem Jahr haben Bosiljka und Darko Mladic, Ehefrau und Sohn von Ratko Mladic, beim 1.<br />

Amtsgericht Belgrad eine amtliche Todeserklärung für den flüchtigen General verlangt, von dem<br />

sie „sieben Jahre lang nichts gesehen oder gehört hatten“. Das war ein Trick der Familie, den ihr<br />

niemand abnahm. Vielmehr fand und beschlagnahmte die Polizei bereits Ende Februar 2010 bei<br />

einer Hausdurchsuchung eine große Geldsumme, da es sich allem Anschein nach um Hilfsmittel<br />

für Mladic handelte.<br />

Darauf verklagten Mutter und Sohn Mladic die Republik Serbien wegen Diebstahls, ein weiteres<br />

Verfahren strengte Schwiegertochter Biljana an, weil sie „widerrechtlich“ von ihrem Arbeitgeber<br />

Telekom gefeuert worden war. Die Familie macht sich seit Jahren über die Behörden lustig. Bei<br />

Bosilka Mladic wurden Anfang Juni 2010 Waffen aus dem Besitz ihres Mannes gefunden,<br />

weswegen ein Strafverfahren gegen sie läuft. Sohn Darko besitzt eine Firma und finanziert mit<br />

seinen Partnern, den Gebrüdern Vujic, größte Fensterhersteller Serbiens, die Flucht seines Vaters.<br />

In den bosnischen Orten Vojkovici und Kasindol leben weitere Verwandte Mladics, die ihn<br />

mehrfach beherbergten. Das Nachsehen hatten stets internationale Fahnder, die im Laufe der Jahre<br />

Mladic mindestens sechsmal dicht auf den Fersen waren, aber immer zu spät kamen.<br />

Wer ist überhaupt dieser Ratko Mladic, der vom Haager ICTY des Völkermords, der Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit, schwerer Verstöße gegen die Genfer Konvention und weiterer Untaten<br />

angeklagt ist?<br />

Er wurde am 12. März 1943 in dem winzigen Flecken Bozanovici – 1991: 66 Einwohner – im<br />

Südosten der bosnischen Republika Srpska geboren. Nach der Grundschule erlernte er den Beruf


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eines Drehers und war in dem Metallwerk „Tito“ tätig, das später ein Partner von Volkswagen<br />

Sarajevo war. Anfang der 1960er Jahre entschied er sich für eine militärische Laufbahn und<br />

besuchte in Belgrad eine „Militärindustrielle Schule“, danach eine „Kommandeurs- und<br />

Stabsakademie“, die er als Jahrgangsbester beendete. 1965 bis 1991 war er als Offizier der<br />

Jugoslawischen Volksarmee (JNA) in Makedonien, im Kosovo und in Kroatien aktiv. 1991 wurde<br />

er Kommandant der 9. Armee im kroatischen Knin, 1992 beförderte man ihn zum Generaloberst<br />

und machte ihn zum Stabschef des 2. Wehrbezirks in Sarajevo. Im Mai 1992 wurde er oberster<br />

Militär der Republika Srpska in Bosnien und blieb bis 1996 auf diesem Posten.<br />

Die unvollständige Geschichte von Srebrenica<br />

In diesen Jahren soll er Kriegsverbrechen begangen oder solche seiner Untergebenen toleriert<br />

haben, etwa wiederholte Geiselnahmen bei ausländischen Einheiten oder die 44 Monate währende<br />

Belagerung und Beschießung Sarajevos und die schwerste Untat im Juli 1995, als Mladics<br />

Soldaten die Stadt Srebrenica angriffen und dort etwa 7.000 muslimische Männer umbrachten.<br />

So wird es seit anderthalb Jahrzehnten geschildert, aber die Schilderung ist unvollständig: Vor den<br />

Serben haben in der Region Srebrenica muslimische „Milizen“ unter Naser Oric in serbischen<br />

Dörfern gewütet, und als die Serben angriffen, befanden sich niederländische „Blauhelme“ in der<br />

Stadt, die tatenlos verharrten. Dazu hat später das Niederländische Institut für<br />

Kriegsdokumentation (NIOD) im Regierungsauftrag einen akribischen Bericht veröffentlicht, der<br />

aber nur vage Angaben zu einem „Massenmord an Tausenden Muslimen“ (massamoord op<br />

duizenden Moslimannen) macht. Serbien hat offiziell eingeräumt, dass Mladic und seine Soldaten,<br />

die alle von Belgrad besoldet und bewaffnet wurden, schwere Verbrechen begangen haben. Dabei<br />

hat es auch die international kolportierte Opferzahl von 7.000 akzeptiert, obwohl diese nie<br />

bestätigt worden ist.<br />

Karadzic und Mladic: schlechte Politiker und feige Militärs<br />

Aber wie viele es auch immer waren – in Srebrenica sind Muslime ermordet worden, von Mladics<br />

Soldateska, wofür er nach dem Rechtsgrundsatz des „command responsibility“ verantwortlich ist.<br />

Er und sein politischer Chef Radovan Karadzic waren schlechte Politiker und „feige“ Militärs (so<br />

1997 die Belgrader „Vreme“), die zur Taktik der verbrannten Erde übergingen, als sie ihre<br />

Vorhaben scheitern sahen. Mladic ließ in seinem Herrschaftsbereich KZs einrichten, Karadzic<br />

zwang nach dem Friedensabkommen von Dayton (November 1995) 50.000 Serben zum Exodus<br />

aus Sarajevo, und beide wurden samt ihrer Machtclique im August 1994 von Belgrad fallen<br />

gelassen. Im Juli 1995 klagte das Haager ICTY beide des Völkermords an, ein Jahr später begann<br />

im Haag ein Prozess gegen sie und daheim wurden sie von der <strong>neuen</strong> „Herrin“, der couragierten<br />

Biljana Plavsic, aus allen Machtpositionen gefeuert.<br />

Zu diesem Zeitpunkt war Mladics Glückssträhne längst abgerissen. 1994 beging seine Tochter<br />

Ana, eine 23-jährige Medizinstudentin, Selbstmord mit seiner Dienstpistole. Seit 1996 war er auf<br />

der Flucht, 1997 endete offiziell seine Offizierslaufbahn, obwohl der damalige Präsident Vojislav<br />

Kostunica noch bis 2002 zu ihm hielt. Ab November 2005 wurde es „eng“ um ihn: Seine Pension<br />

durfte nicht mehr ausgezahlt werden, seine Konten waren (wie die aller flüchtigen ICTY-<br />

Angeklagten) gesperrt. 2006 zerschlug die Polizei bei einer massiven Aktion das Netz seiner<br />

„jataci“. Gleichzeitig erlitt er den ersten Schlaganfall, wozu Nieren-, Herz- und Magenprobleme<br />

kamen, die alle konstante ärztliche Aufsicht erforderten. Dennoch ist Mladic heute bei weitem<br />

nicht so hinfällig, wie er, seine Familie und sein Anwalt MiLos Saljic vorgeben.


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Übeltäter mit Rentenberechtigung<br />

Carla del Ponte, frühere ICTY-Chefanklägerin, ist darüber fast wahnsinnig geworden: Mindestens<br />

zehnmal hat Belgrad die vom ICTY gesuchten mutmaßlichen Kriegsverbrecher aufgefordert, sich<br />

freiwillig zu stellen, und ebenso oft hat es dementiert, dass Mladic sich in Serbien oder sogar in<br />

Belgrad aufhielte. Dabei war es kaum ein Geheimnis, dass Mladic lange Jahre in seinem Haus in<br />

der Blagoja Parovic-Straße im Stadtteil Banovo Brdo lebte, häufig bei Wettkämpfen seines<br />

geliebten Fußballvereins „Crvena zvezda“ (Roter Stern) zugegen war und nicht selten in<br />

exklusiven Belgrader Restaurants gesehen wurde. Später hat er sich dann in Kasernen der<br />

Milosevic-Armee versteckt, was erst endete, als 2002 Boris Tadic Verteidigungsminister des<br />

„Staatenbundes Serbien-Montenegro“ (SCG) wurde. Ab Mai 2002 ist Mladic fast ganz aus dem<br />

Gesichtskreis von Armee, Polizei und Sicherheitsdiensten verschwunden.<br />

Nur der „Fonds für soziale Sicherung der Soldaten des Verteidigungsministeriums“ (SOVO) hatte<br />

noch Kontakt zu ihm, da er ihm von Februar 2002 bis Dezember 2005 seine Pension von 70.000<br />

Dinar (RSD) monatlich auszahlte. Ende 2005 stoppte Verteidigungsminister Zoran Stankovic die<br />

Auszahlung. Mittlerweile schuldet die Regierung dem Ex-General 4,45 Mio. Dinar (100 RSD = 1<br />

€) aufgelaufene Pensionen.<br />

Die Regierung stellt andere Rechnungen auf. Danach verliert jeder Bürger Serbiens seit Jahren<br />

monatlich 159 Euro, weil Mladic nicht gefasst wurde, was Serbien als Land hinstellte, das für<br />

Kriminelle attraktiv, für ausländische Investoren aber abschreckend ist. Weil Mladics wegen<br />

Serbiens Beitritt zu EU blockiert war, verzeichnete das Land pro Jahr 1,2 Milliarden Euro<br />

entgangener Hilfen und Zahlungen.<br />

Solange Mladic nicht gefasst war, bewies Serbien nach Ansicht Brüssels ungenügende<br />

Kopperation mit dem ICTY und erfüllte somit eine wesentliche Voraussetzung für den EU-Beitritt<br />

nicht. Darunter litt am meisten Rasim Ljajic, Vorsitzender des „Nationalrats für Zusammenarbeit<br />

mit dem Haager Tribunal“ und ein makelloser Demokrat. Auch er konnte die schlechte Meinung<br />

Brüssels nicht ändern, dabei hat Serbien spätestens seit August 2008, als der „Nationalrat für<br />

Sicherheit“ geschaffen wurde, unausgesetzt Mladic gejagt – sagte Präsident Tadic auf seiner<br />

Pressekonferenz am 26. Mai. 10.000 Verfolger waren Tag für Tag aktiv, was bis zu 12 Millionen<br />

Euro jährlich kostete. Damit nicht genug, hat es laufend die Belohnungen für die Ergreifung<br />

Mladics heraufgesetzt, von 1 Million Euro im Oktober 2007 auf 10 Millionen im Oktober 2010.<br />

Und die werden vermutlich nie ausgezahlt werden müssen, da die staatlichen Sicherheitsorgane<br />

Mladic ohne Hinweise der Öffentlichkeit fassten – was dessen „jataci“ als Beweis für den<br />

„Patriotismus“ der Serben, die sich nicht durch Geld „kaufen“ lassen, interpretierten.<br />

Serbien: Alte Bedingungen erfüllt – neue Erpressungen<br />

eingehandelt?<br />

Zoran Dragisic, Professor für Sicherheitspolitik in Belgrad, ist überzeugt, dass die Regierung seit<br />

langem wusste, wo sich Mladic aufhielt und wann sie ihn greifen könnte. So etwas hört man in<br />

Regierungskreisen nicht gern, dabei dürfte es zutreffen, zumal nicht nur Dragisic dieser Meinung<br />

ist.<br />

Es ist vermutlich so, dass Belgrad nach 12 Jahren Betrug und Erpressung durch die EU meint, die<br />

EU hätte eine serbische Lektion verdient, damit sie nicht auf die Idee kommt, Neuauflagen alter<br />

Spielchen zu inszenieren.<br />

Es begann im Herbst 1999, als Bodo Hombach, damals Chef des Stabilitätspakts Südosteuropa,<br />

den Serben „noch dieses Jahr 4 Milliarden Mark“ versprach, wenn sie Milosevic abwählten. Das<br />

hätten sie auch ohne dieses Versprechen getan, und als sie es taten, gab es natürlich keinen<br />

Pfennig dafür. Wie auch nichts von den Dollar-Miliarden in Belgrad eintraf, die man den Serben


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für die Auslieferung Milosevics zugesagt hatte. Statt geleistete Versprechen einzulösen, stellte die<br />

EU immer neue Bedingungen in immer drohenderem Tonfall, etwa die nach der Verhaftung von<br />

Radovan Karadzic. Als diese am 21. Juli 2008 erfolgte, machte man in Brüssel „Freudensprünge“,<br />

um dann umgehend neue Pressionen zu präsentieren: Bevor Serbien an einen EU-Beitritt denken<br />

könne, müsse es erst enger mit dem ICTY kooperieren und zum Zeichen dessen Mladic greifen<br />

und ausliefern.<br />

Das ist nun am 26. Mai auch geschehen. Wie es jetzt weitergehen soll, haben bekannte<br />

Serbenhasser und Brachialschwätzer längst angekündigt. Um nur einmal die abschreckendsten<br />

Beispiele zu zitieren:<br />

• Albert Rohen (Österreich, Frühjahr 2008): „Serbien (hat) durch die systematischen und<br />

massiven Menschenrechtsverletzungen in den neunziger Jahren das Recht auf Herrschaft im<br />

Kosovo verwirkt“, muss also kosovarische „Unabhängigkeit“ anerkennen, wenn es in Europa<br />

noch angesehen werden will.<br />

• Ursula Plassnik (Außenministerin Österreichs, Sommer 2008): „Wir erwarten nicht, dass<br />

Serbien in nächster Zukunft das Kosovo anerkennt. Dennoch muss klar sein, dass ein Staat, der die<br />

europäische Integration für eine seiner fundamentalen Prioritäten ansieht, sich keine Einstellung<br />

erlauben kann, die in diametralem Widerspruch zur Politik der EU steht“. Also stehen wohl auch<br />

fünf EU-Länder – Rumänien, Zypern, Griechenland, Slowakei und Spanien –, die das<br />

„unabhängige“ Kosovo nicht anerkennt haben und es vermutlich nie anerkennen werden, „im<br />

Widerspruch zur Politik der EU“.<br />

• Doris Pack (deutsche EP-Abgeordnete, Oktober 2009): „Kein EU-Beitritt für Serbien ohne<br />

Lösung des Problems mit dem Kosovo“. Und analog kein EU-Beitritt für Tschechien ohne<br />

Anerkennung des Münchner Abkommens von 1938 (das sich in nichts von der Kosovo-<br />

Unabhängigkeit vom Februar 2008 unterscheidet)?<br />

• Guido Westerwelle (deutscher Außenminister, August 2010): „Serbien (kann) nur dann mit<br />

einer Aufnahme in die EU rechnen, wenn es sich mit der Unabhängigkeit des Kosovo abfindet“.<br />

Beim Pokern verliert der, der zuerst blinzelt<br />

Und so weiter: Prominente oder Hinterbänkler fühlten sich berufen, Serbien Vorschriften zu<br />

machen und Strafen anzudrohen, falls es nicht pariert. Serbien hat sich wenig darum gekümmert,<br />

auf die Unvereinbarkeit von EU-Positionen vertrauend: Kosovarische „Unabhängigkeit“ plus UN-<br />

Resolution 1244, die das Kosovo als integralen Bestandteil Serbiens definiert. Die Kosovaren<br />

selber sind schon erheblich weiter, wie EU-Außenrepräsentantin Ashton am 27. Mai von<br />

Vizepremierin Edita Tahiri erfuhr: Das Kosovo muss sofort den Kandidatenstatus erhalten, weil es<br />

„nicht durch eigene Schuld“ in vielen Fragen verspätet ist.<br />

Beim Pokern verliert der, der zuerst blinzelt. Belgrads Außenminister Vuk Jeremic, im Zivilberuf<br />

Mathematiker, ist ein eiskalter Pokerspieler, der mit der Verhaftung Mladics bis zur letzten<br />

Minute wartete, als Brüssel bereits überlegte, ob es mit seinen Erpressungen nicht zu weit<br />

gegangen sei. Damit obsiegte er. Am 20. Mai war EU-Präside Barroso in Belgrad, wo er nach<br />

Gesprächen mit Präsident Tadic die Fraktion Pack, Westerwelle & Co. Lügen strafte: „Ich<br />

bestätige, dass weder der Prozess der Verhandlungen zwischen Belgrad und Prishtina noch die<br />

Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo von Belgrad Bedingung gestellt werden“. Noch<br />

Fragen?


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15.06.2011<br />

In Russland kennt man seine Brüsseler Pappenheimer<br />

EU in die Schranken gewiesen, Russland einmal fest an die eigene Seite geholt. Moskau nutzt<br />

jetzt die Verhaftung Mladics, um einige Dinge klarzustellen. Michail Margelov, Chef des<br />

Auswärtigen Ausschusses im russischen Föderationsrat, sieht Brüssel der Lüge überführt: Es<br />

werde Serbien hintergehen oder hinhalten, weil es überhaupt keine „Neulinge“ vom Balkan<br />

wünscht. Konstantin Kosacov, Chef des Auswärtigen Ausschusses der Duma, erklärte der EU und<br />

anderem, dass Russland nicht der „Advokat“ des „Ex-Generals Mladic“ sein wolle, aber einen<br />

fairen Prozess verlange und keine endlose Verlängerung des faktisch ausgelaufenen ICTY-<br />

Mandats wünsche.<br />

Russland will Fakten und Termine, im Umgang mit Mladic, aber auch mit Untätern wie Hashim<br />

Thaci aus dem Kosovo, deren Verbrechen der Schweizer Anwalt Dick Marty zu Jahresende 2010<br />

im Auftrag des Europarats bloßgelegt hat. „Die internationale Gemeinschaft hat schon aus<br />

geringerem Anlass Strafverfahren gestartet. In diesen Fragen darf es keine doppelten Standards<br />

geben“, verlangte Moskaus Außenminister Sergej Lavrov, der offenkundig seine Brüsseler<br />

Pappenheimer kennt.<br />

ASERBAIDSCHAN<br />

Demokratiebemühungen bleiben auf der<br />

Strecke<br />

Dass Aserbaidschan nicht als ein von der „Arabellion“ erfasstes Land in die<br />

Schlagzeilen der europäischen Medienberichte gelangte, ist nicht<br />

verwunderlich: Es gab keine Toten, keine Schusswechsel, keine Scharfschützen<br />

und keinen Regierungswechsel. Dennoch kann man das dortige politische<br />

Klima als von scharfen Gegensätzen erfüllt betrachten. Die Lage bleibt<br />

weiterhin angespannt.<br />

Von Rail Safiyev<br />

EM 06-11 · 05.06.2011


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Allgegenwärtiger Präsident: Riesige Plakate mit dem Porträt des Staatsoberhauptes<br />

Ilham Aliyev „zieren“ selbst die Schaufenster der Geschäfte, wie hier in der<br />

Hauptstadt Baku. „Vorwärts mit Ilham“ (Ilhamla Ireli) lautet der simple Text auf dem<br />

Bild. Foto: Rail Safiyev<br />

s war überraschend, dass den Anstoß zu den jüngsten Protesten diesmal nicht die Länder des<br />

postsowjetischen Raums gegeben haben, sondern die bis vor einigen Jahrzehnten in<br />

Aserbaidschan als fremdes Ausland angesehene arabisch-islamische Welt.<br />

Die Ähnlichkeiten mit Tunesien, Ägypten, Syrien und dem Jemen fallen ins Auge, wenn man<br />

bedenkt, dass, ähnlich wie in Nordafrika und in den Ländern des Nahen Ostens, die Gesellschaft<br />

in Aserbaidschan stark polarisiert ist, zwischen wenigen Reichen und der verarmenden Mehrheit.<br />

Aserbaidschan ist ein Land in dem kaum eine staatliche Dienstleistung ohne Schmiergelder<br />

geboten wird. Die Zivilgesellschaft ist bis auf ihr Existenzminimum geschrumpft. In die versuchte<br />

politische Teilhabe wird mit dem Knüppel dreingeschlagen. Ähnlich wie in Baschar Al-Assad's<br />

Syrien bestieg der Sohn Ilham Alijews unmittelbar nach dem Tod seines Vaters den<br />

Präsidententhron. Das war die Möglichkeit für die Sippenmitglieder, sich den Ölreichtum des<br />

Landes einzuverleiben.<br />

Den langsam anschwellenden Unmut in der Bevölkerung hat das diktatorisch geführte Regime<br />

selbst mitverschuldet. Die im Fernsehen täglich laufende Warnpropaganda über<br />

menschenfeindliche Wirkungen des Internets und sozialer Netzwerke, die vermeintlich von<br />

fremden, feindseligen Mächten ferngesteuert werden, um die unbeschwerte Ruhe der Bevölkerung<br />

in Aserbaidschan zu stören, erzeugte eine Gegenwirkung. Bald schlug diese ständige staatliche<br />

Kritik an den <strong>neuen</strong> Medien in Widerstand gegen das Regime um, dessen Angst vor einer einzigen<br />

kleinen Manifestation des freien Willens von Menschen ganz offensichtlich wurde.<br />

Der 2003 verstorbene Heydar Aliyev, Vater des jetzigen Staatsoberhauptes, grüßt<br />

noch immer von Plakaten. Nach ihm ist auch der Flughafen der Hauptstadt Baku<br />

benannt.<br />

Foto: Andrea Weiss


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15.06.2011<br />

„Korruptionsbekämpfung“ als Beruhigungsmittel - der<br />

Sumpf bleibt<br />

Zu Beginn der Protest in Aserbaidschan glich die Besorgnis der politischen Elite einer<br />

apokalyptischen Angst. Man konnte dies an der plötzlichen Verkündung eines<br />

Antikorruptionskampfes erkennen. Die Ursachen für den Schmiergeldsumpf schob der Präsident<br />

seinem Beamtenstab zu. Die „unerwünschten Elemente“ hätten bei der Ausübung ihrer Dienste<br />

ein schlechtes Licht auf die Erfolge der „an sich reformorientierten und erfolgreichen“ Regierung<br />

geworfen. Diese rein rhetorische Ansage verwandelte sich schließlich in eine Jagd auf die<br />

Mitarbeiter der Ministerien.<br />

Jedes Ministerium pries sich, es habe eine besonders hohe Zahl an Entlassungen vorgenommen<br />

um die Korruptionsbekämpfung umzusetzen. Es kann wohl nicht anders als ein versuchter<br />

rhetorischer Trick genannt werden, wenn „der Präsident sich Unterstützung von der Bevölkerung<br />

wünsche“, während der Volksmund weiß und beständig davon spricht, dass gerade jene<br />

Korruptionsbekämpfer, die auch des Präsidenten Umgebung bilden, im Sumpf der Bestechung<br />

versinken.<br />

Das Regime ist der Netztechnologie oft nicht gewachsen<br />

In der Bevölkerung herrschte große Anspannung und man hoffte durch massenhafte Proteste und<br />

einen großen Volksauftand das Regime zu Fall zu bringen. Für eine Steigerung der nahezu<br />

revolutionären Atmosphäre sorgten die Fernsehbilder aus Tunesien und nachträglich aus Ägypten,<br />

die Aserbaidschans Realitäten haargenau widerspiegelten. Dort gelang es der protestierenden<br />

Masse einen lange Jahre festsitzenden Herrscher in die Knie zu zwingen so dass er sich mitsamt<br />

seiner bewaffneten Garde in sein Schicksal ergeben musste. In den Augen der Aserbaidschaner<br />

war es ein Moment des Triumphs über das böswillige Herrschaftssystem. Daran sieht man, welch<br />

einem Bedrohungsdruck die faktisch totalitär regierenden Führungen unterliegen, wenn von einem<br />

kleinen Revolutionsfunken ein ganzer Brand ausgelöst wird.<br />

Durch die Bilder von den Ereignissen aus Tunesien und Ägypten setzte sich in Regierungskreisen<br />

in Baku die Meinung fest, dass das Internet zu dem unkontrollierten Bereich gehört, wo die<br />

Umwälzung der Unzufriedenheit in eine Widerstandsbereitschaft am wahrscheinlichsten ist.<br />

Fernsehen und politische Presse unterliegen dagegen konventionellen medialen Kontrollapparaten<br />

des Regimes. In alle Regionen dürfen ausschließlich regierungsfreundliche TV Sender<br />

ausstrahlen. Dagegen bleibt das Internet angesichts der geringen Popularität relativ zensurfrei. Oft<br />

auch aus dem einfachen Grund, dass viele Regimetreue der Internettechnologie gar nicht<br />

gewachsen sind und sich ihrer nicht bedienen können.


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Unterführung mit Propaganda-Spruch: An allen Durchgängen werden den Passanten<br />

die Parolen von Ilham Aliyev eingetrichtert. „Die erfolgreiche Entwicklung<br />

Aserbaidschans ist schon Realität“ (Azerbaycanin ugurlu inkishafi artiq realliqdir)<br />

heißt es an dieser hier. Foto: Andrea Weiss<br />

Frustrierte Jugend<br />

Diejenigen, die die ersten Schritte gemacht haben, waren die informell organisierten jungen<br />

Aktivisten beiderlei Geschlechts. Man kann nicht von einer zusammengeschlossenen Gruppe<br />

sprechen, denn ihre Mitglieder sind in der ganzen Welt verstreut. Und ihre Aktivität entfaltet sich<br />

unter sehr eingeschränkten Bedingungen, und zwar lediglich im Internet, in Blogs und in sozialen<br />

Netzwerken.<br />

Ausgesucht wurde für den Zeitpunkt des Protestes der 11. März, im Gedenken an den<br />

Rücktritttags von Hüsnü Mubarak einen Monat zuvor. Die Grundidee bestand im Aufruf zum<br />

zivilen Ungehorsam. Jeder entscheide selbst, wie er sein Missfallen am „Volkstag“ zum Ausdruck<br />

bringe. Blitzschnell war die Nachricht einer angekündigten Demonstration überall verbreitet. Die<br />

kühnen, ganz unabhängig organisierten Studenten verbreiteten Flugblätter; in YouTube und<br />

Facebook wurden die Solidaritätsgefühle unter Jugendlichen in Aserbaidschan ausgetauscht.<br />

Die beachtliche Mehrheit der Protestierenden bildeten die Stadtbewohner und Studenten,<br />

wenngleich Straßenaktionen auch Menschen aus ärmeren Verhältnissen sehr gelegen kamen. Die<br />

tragende Kraft der Demonstration sollten die ersten Jungpolitiker der Facebook-Generation bilden.<br />

Ihr Markenzeichen ist eine prowestliche Orientierung und der Wunsch nach beschleunigter<br />

Integration in Europa, im Sinne der wirklichen Angleichung an europäische Werte, etwas, was<br />

dem Alijew Regime schwerfällt. Es will in die Gegenrichtung steuern.<br />

Die Jugend fühlt sich verletzt, wenn ihre Ideale der Demokratie und republikanischer Traditionen<br />

missachtet werden. Wie zum Beispiel schon vor ein paar Jahren, als die Behörden auf einem<br />

Platz, auf dem ursprünglich ein Denkmal für Resulzade, den ersten Staatsführer der<br />

Aserbaidschanischen Demokratischen Republik von 1918 errichtet werden sollte, eine belanglose<br />

Vergnügungsfontäne installierten.


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15.06.2011<br />

„Bestechlichkeit und nicht Bildungskompetenz sind die<br />

Faktoren, die die Jobchancen auf dem aserbaidschanischen<br />

Arbeitsmarkt bestimmen“<br />

Andererseits entgeht kein Erstbesucher in Aserbaidschan den allgegenwärtigen Bildern, Porträts<br />

und überdimensionalen Statuen des Präsidentenvaters. Die Jugendlichen verärgert außerdem die<br />

unbefriedigende Situation in der Lehre, die an Universitäten herrscht, wo das<br />

Unterrichtsschwänzen mit Geldaufwendungen an die Lehrenden kompensiert werden kann. Die<br />

Loyalität dem Vorsitzenden gegenüber, die Bestechlichkeit und nicht die Bildungskompetenz sind<br />

die Faktoren, die die Jobchancen auf dem aserbaidschanischen Arbeitsmarkt bestimmen. Dass der<br />

Bildungssektor trotz des verhältnismäßig größeren Budgets den benachbarten Staaten<br />

hinterherhinkt, belegen die Universitätsrankings, wonach aserbaidschanische Hochschulen die<br />

allerletzten Plätze einnehmen.<br />

Die Jugend verlangt nach einer Öffnung des Landes und dem Ende der mafiösen Art der<br />

Regierungsführung, die den Menschen den autoritären Stil vorschreibt. Als 2010 die<br />

engagiertesten Vertreter der jungen Generation um Stimmen bei den Parlamentswahlen warben –<br />

ein harter Test für politisches Engagement in Aserbaidschan - wurden ihre Wählerstimmen<br />

zugunsten der regimetreuen Kandidaten gezählt.<br />

In einer solchen von Unfreiheit geplagten Gesellschaft fühlt sich jeder, ungeachtet seiner<br />

politischen Zugehörigkeit, in die Ecke gedrängt. Das Regime wendet sich mit allen Mitteln gegen<br />

die Versammlungsfreiheit und erstickt jede politische Bewegung im Keim. Trotz der<br />

Mitgliedschaft im Europarat zählt Aserbaidschan zu den Ländern mit den größten<br />

Einschränkungen, was die Versammlungsfreiheit anlangt. Bislang wurden sogar Aktionen<br />

untersagt wie das gemeinsame Zeitungslesen im Stadtzentrum, das sich so harmlose Ziele steckt,<br />

wie Menschen in ihrer sozialen Verantwortung aufzuklären. Sogar solche Gemeinschaftsaktionen<br />

wurden mit roher Polizeigewalt auseinander getrieben.<br />

Blick vom „Qiz qalasi“, dem Jungfrauenturm aus dem 11. Jahrhundert auf die Baku<br />

Werft. Foto: Andrea Weiss


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Proteste – aber keine Großdemonstration<br />

Zu einer Großdemonstration, wie es viele erwartet hatten, ist es bislang nicht gekommen. Vorab<br />

wurden schon einige Protestorganisatoren von der Polizei inhaftiert, mit der Absicht, jeglicher<br />

Ausbreitung der Erhebungswelle vorzubeugen. Oppositionelle Parteien wurden eines illegalen<br />

Umsturzversuches bezichtigt. Auch der journalistisch aktive Elnur Mejidli, der mittlerweile seinen<br />

Wohnort nach Frankreich verlegt hat, wurde von der Drohgebärde nicht verschont. Ihm wurde<br />

eine Straftat unterstellt, da er angeblich über soziale Netzwerke zum Staatsstreich aufgerufen<br />

habe.<br />

Wie übliche haben sich die Provokateure des Regimes unter die Menge gemischt, Angriffe auf<br />

die Straßenläden angestiftet, um die ehrlichen Zielsetzungen der Demonstranten zu diskreditieren.<br />

Mittlerweile stieg die Proteststimmung in der Bevölkerung jedoch soweit an, dass lange völlig aus<br />

dem öffentlichen Leben ferngehaltene und jeglicher legaler (elektoraler) Unterstützung<br />

entbehrende Opposition den Mut zusammennehmen konnte, Forderungen an das Regime zu<br />

richten. Sie betrafen die Durchführung demokratischer Wahlen, die Entscheidungsfähigkeit in der<br />

Korruptionsbekämpfung bis hin zu einem Regimewechsel.<br />

Das war wahrscheinlich der Moment, als junge Leute und einfache Menschen, ihre aufgestaute<br />

Enttäuschung und Wut den führungsschwachen Oppositionsparteien überantworteten. Aber deren<br />

Enttäuschung kam während der Demonstrationen gar nicht zur Sprache. Das war auch ein Faktor,<br />

warum der Schwung in der Protestbewegung gebremst wurde. Der Opposition fehlte Leitungskraft<br />

und Organisationsmoral. Deshalb weitete sich der mit kleineren Gruppen beginnende Widerstand<br />

chaotisch aus und es gelang nicht, eine Brücke zwischen den moderaten Kräften der ohnehin<br />

marginalisierten Zivilgesellschaft und breiteren Massen zu schlagen.<br />

In den letzten zehn Jahren hat sich die Bevölkerungszahl von Baku durch Arbeitsmigranten und<br />

Bevölkerungszuwanderung aus den besetzten, in und um Bergkarabach liegenden Territorien<br />

verdreifacht. Dass diese Bevölkerungsmasse unterschiedlicher Herkunft auch unterschiedlich<br />

denkt, ist ein weiterer Grund für den Mangel am solidarisierendem Bewusstsein.<br />

„Die Oppositionsparteien sind dem politischen Leben<br />

entfremdet“<br />

Das Regime verstärkte dagegen seinen Erpressungsdruck auf Oppositionsmitglieder und zwang<br />

sie zur Schweigsamkeit oder sogar öffentlichen Fehlereingeständnissen. Wie manipulativ das<br />

Regime mit Versammlungsfreiheit umgeht, machte ihre eigens gelenkte, auf die Diffamierung der<br />

Oppositionsführer zielende Demo-Maskerade evident, die in schauspielerischer Art und Weise<br />

von der Polizei „aufgelöst“ wurde.<br />

Als politische Kraft hat die Opposition ihre Rolle längst verspielt. Die völlig dem politischen<br />

Leben entfremdeten oppositionellen Parteien sind eher ein Gefügeelement in dem autoritären<br />

Herrschaftssystem, das sich mit wenig offener Kritik dem Manipulationsdruck des Regimes<br />

unterwirft.<br />

In den auf die Proteste folgenden Monaten zielte die Regierung mittels fördernder Maßnahmen<br />

auf Bedürfnisse breiter sozialer Schichten ab, um die Wahrscheinlichkeit, dass die Zahl der<br />

Protestierer steigt, möglichst zu eliminieren. Außerdem bemühte sie sich den sozial bedingten<br />

Ausbruch als von außen gesteuerte Aktion hinzustellen. So lauteten die unpräzisen<br />

Anschuldigungsworte des Staatsanwalts, der ohne Namen zu nennen behauptete, es wäre das<br />

Werk ausländischer Unterstützer gewesen.


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15.06.2011<br />

Die letzte Wortmeldung zu den Vorgängen kam nach langem Stillschweigen vom Präsidenten. Er<br />

bagatellisierte die Demos und machte damit klar, dass die Anliegen der Bevölkerung auch künftig<br />

kein Gehör finden werden.<br />

Noch sind es in Aserbaidschan der korrumpierende Präsident und seine Umgebung, die das letzte<br />

Wort haben. Es wird noch dauern sein, bis sich das Volk unüberhörbar mit seiner eigenen Stimme<br />

zu Wort meldet.<br />

OSZE<br />

Hat die Organisation für Sicherheit und<br />

Zusammenarbeit in Europa noch eine<br />

Daseinsberechtigung?<br />

Auf den ersten Blick scheint sich die OSZE in einer Sackgasse zu befinden.<br />

Gegründet, um die Sicherheit in Europa zu gewährleisten, kann sie heute<br />

wenig greifbare Erfolge bei der Lösung regionaler Konflikte vorweisen. Und<br />

auch in ihrer humanitären Dimension, bei der Förderung von Demokratie und<br />

Menschenrechten, sind die Fortschritte in einer Reihe von Mitgliedsstaaten<br />

begrenzt geblieben.<br />

Von Manfred Grund MdB<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

<strong>Zur</strong> Person: Manfred Grund MdB<br />

Manfred Grund ist seit 1994 Mitglied des Deutschen Bundestags (MdB). Außerdem<br />

gehört der 1955 in Zeitz geborene Politiker dem Auswärtigen Ausschusses des<br />

Bundestags an und ist Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-<br />

Bundestagsfraktion. Seit 2010 bekleidet Grund das Amt des Vorsitzenden der<br />

Deutsch-Kasachischen Gesellschaft und des Deutsch-Moldauischen Forums.<br />

uf Initiative Kasachstans, das 2010 den Vorsitz innehatte, ist es im Dezember zum ersten<br />

OSZE-Gipfel seit mehr als einem Jahrzehnt gekommen. Doch auch dabei blieben viele


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15.06.2011<br />

Wünsche offen. Erwartungen, die Staats- und Regierungschefs könnten sich auf einen Aktionsplan<br />

zur Reform der OSZE und zur Überwindung der sogenannten eingefrorenen Konflikte um Berg<br />

Karabach, Transnistrien, Abchasien und Südossetien verständigen, erfüllten sich nicht. Stattdessen<br />

blieb es bei einer Erklärung, die die bestehenden Ziele der Organisation bekräftigte. Infolgedessen<br />

waren die Reaktionen in den meisten westlichen Medien ausgesprochen kritisch. Hat die OSZE<br />

mittlerweile ihre Daseinsberechtigung verloren?<br />

Die OSZE verbindet Europa auch mit Zentralasien<br />

Doch die Defizite der OSZE sind lediglich die Defizite der euroatlantischen Sicherheitsarchitektur<br />

insgesamt, die nach wie vor durch sehr unterschiedliche Zonen von Sicherheit gekennzeichnet ist.<br />

NATO und EU haben ein hohes Maß an Integration, gegenseitigem Vertrauen und kollektiver<br />

Sicherheit geschaffen, das jenseits ihrer Grenzen fehlt. Die OSZE verbindet Europa auch mit<br />

Zentralasien, das wirtschaftlich und strategisch von großer Bedeutung ist. Doch dessen Integration<br />

in andere internationale Institutionen – wie die Shanghai Organisation – orientiert sich sonst eher<br />

nach Asien. Dass Kasachstan der OSZE mit dem Gipfel von Astana neues Gewicht verleihen<br />

wollte, ist deshalb grundsätzlich nur zu begrüßen. Solange die OSZE die einzige umfassende<br />

Sicherheitsorganisation im euroatlantischen Raum ist, bleibt sie unverzichtbar.<br />

Allerdings gehen diese Unterschiede innerhalb des OSZE-Raums auch mit grundsätzlichen<br />

Differenzen einher. Für Russland und zentralasiatische Staaten steht stärker die militärische<br />

Sicherheit im Vordergrund, für EU und NATO die humanitäre Dimension, also demokratische<br />

und menschenrechtliche Standards.<br />

Vor diesem Hintergrund sollte der Gipfel von Astana nicht einfach als Misserfolg verstanden<br />

werden. Immerhin: Der bestehende gemeinschaftliche Besitzstand (Acquis) einschließlich der<br />

humanitären Forderungen wurde ausdrücklich bestätigt. Auch die Absicht, einen Aktionsplan zu<br />

erarbeiten, ist nicht gescheitert, sondern soll vom litauischen Vorsitz 2011 fortgeführt werden. Es<br />

waren vor allem die Auseinandersetzungen über den Status von Abchasien und Südossetien, die<br />

eine weitergehende Einigung in Astana verhindert haben.<br />

Die OSZE bietet ein alternativloses Forum zur Bewältigung<br />

von Konflikten<br />

Doch von diesem Beispiel abgesehen, kann die OSZE mehr zur Bewältigung von Konflikten<br />

beitragen als oft sichtbar wird. So hat der kasachische Vorsitz dazu beigetragen, dass die Krise in<br />

Kirgisistan nicht weiter eskaliert. Mit den Madrider Prinzipien hat die OSZE bereits Grundsätze<br />

für eine Lösung des Berg Karabach-Konflikts formuliert. Ob sie umgesetzt werden oder es<br />

schlimmstenfalls zu einer erneuten Eskalation des Konfliktes kommt, hängt jetzt davon ab, mit<br />

welchem Nachdruck die Mitgliedstaaten diesen Prozess unterstützen. Die OSZE bietet ein<br />

alternativloses Forum zur Bewältigung von Konflikten an, aus eigener Kraft lösen kann sie sie<br />

nicht.<br />

Welche Zukunftsperspektiven ergeben sich nach dem Gipfel? Wegweisend kann das ausdrücklich<br />

bekräftigte Ziel wirken, zu Fortschritten bei Abrüstung und Rüstungskontrolle vor allem durch<br />

neue Verhandlungen über den angepassten Vertrag über konventionelle Streitkräfte zu gelangen.<br />

Bislang haben die NATO-Staaten eine Ratifizierung des Vertrages mit der Erfüllung der 1999 auf<br />

dem letzten OSZE-Gipfel von Russland eingegangenen Verpflichtung zum Abzug von Truppen<br />

aus Moldau und Georgien verknüpft.


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„Große Strategie manifestiert sich manchmal in scheinbar<br />

kleinen Konfliktfeldern.“<br />

Ohne solche Fortschritte dürfte aber auch Russland seinem Interesse an einer umfassenden<br />

euroatlantischen Sicherheitsarchitektur – mit größeren eigenen Mitwirkungsmöglichkeiten – kaum<br />

näher kommen. Denn dabei würden EU und NATO nur mitmachen, wenn damit nicht nur die<br />

russische Vetomacht gestärkt würde, sondern eine konstruktive Zusammenarbeit absehbar wäre.<br />

Wo anders ließe sich das erforderliche Vertrauen schaffen, wenn nicht bei der gemeinsamen<br />

Bewältigung bestehender Konflikte? Allerdings ist eine Verständigung über Abchasien und<br />

Südossetien seit dem Georgien Krieg zunächst unrealistisch geworden. Wer Fortschritte will,<br />

muss sie woanders suchen. Umso wichtiger kann daher Transnistrien werden. Auch deshalb<br />

engagiert sich die Bundeskanzlerin für diesen Konflikt. Ein Erfolg in Transnistrien würde eine<br />

substanzielle Chance nicht nur für eine Stärkung des Abrüstungsregimes in Europa bieten,<br />

sondern auch dazu, über den heute bestehenden OSZE-Rahmen hinaus schrittweise zu einer<br />

effektiveren Sicherheitsorganisation zu gelangen. Große Strategie manifestiert sich manchmal in<br />

scheinbar kleinen Konfliktfeldern.<br />

EINWANDERUNG<br />

„Bei bestimmten Migrantengruppen ist die<br />

Integration gescheitert“<br />

Von Importbräuten und geschäftstüchtigen Moschee-Betrieben, von türkischer<br />

Opfermythologie und der Macht der Familien. Ein Vortragsabend der<br />

Publizistin Dr. Necla Kelek.<br />

Von Wolf Oschlies<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

Dr. Necla Kelek<br />

Foto aus Wikipedia/ Medienmagazin


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15.06.2011<br />

nd so eine beschimpft der Futterneid der Islam-Versteher als „Hasspredigerin“,<br />

„Panikmacherin“ und was der Verwünschungen mehr sind. Eigentlich ist sie kleiner, als<br />

man sie sich vorstellt, auch erheblich attraktiver, als manche süßlichen Porträts von Fotografen<br />

ahnen lassen: Die Publizistin Dr. Necla Kelek, 1957 in Istanbul geboren, seit 1966 in Deutschland<br />

ansässig und inzwischen deutsche Staatsbürgerin, Verfasserin mehrerer Bestseller über das Leben<br />

und die Weltanschauung türkischer „Migranten“. Diese Frau lässt sich gern den Wind ins Gesicht<br />

wehen, aber feuilletonistische Windmacher nehmen inzwischen lieber vor ihr Reißaus.<br />

Selbst ihr in der Polemik zu unterliegen, ist noch ehrenvoll<br />

Neclas Kelek als Mitstreiterin zu haben, ist die „halbe Miete“ - spürbar beispielsweise im August<br />

2010, als sie Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ mit größter Zustimmung<br />

(„Befreiungsschlag“) vorstellte. Selbst ihr in der Polemik zu unterliegen (was bislang der<br />

natürliche Lauf der Dinge war), ist noch ehrenvoll. Dabei ist Frau Kelek das Hassobjekt aller<br />

„Integrations-Schönredner“, gegen die sie eine scharfe Klinge führt, wie Ende Februar ihr<br />

Streitgespräch mit Patrick Bahners, Autor des Pamphlets „Die Panikmacher“, in einem<br />

Hamburger <strong>Magazin</strong> zeigte.<br />

<strong>Zur</strong> Begegnung mit Necla Kelek am 6. April in einem Kölner Hotel kam man nur über persönliche<br />

Einladung durch die „Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit“, welchen Vorzug etwa 90<br />

Personen hatten. Die Publizistin referierte über „Integration und Integrationspolitik in<br />

Deutschland“ - versteht sich, mit besonderem Blick auf Türken und eigeleitet mit Blicken auf<br />

jüngste Entwicklungen in Nahost, die viele mit Sympathie betrachten, Necla Kelek aber mit<br />

größtem Misstrauen:.<br />

„Wird der Islam total wie im Iran herrschen?“<br />

„Die ägyptische Gesellschaft z. B. ist nicht nur von Mubarak, sondern seit dem 7. Jahrhundert von<br />

Grund auf durch den Islam geprägt“, führte sie aus. Und weiter: „ Der Artikel 2 der Verfassung<br />

der seit 1952 bestehenden Republik Ägypten bestimmt den Islam zur Staatsreligion. Es gibt dort<br />

keine Gesetze, die den Vorgaben der Scharia widersprechen. (…) Wenn wir über den Aufstand in<br />

der arabischen Welt sprechen, müssen wir deshalb über das System sprechen, das die Gesellschaft<br />

bestimmt. Es ist der Islam, und zwar nicht nur als sinnstiftende Institution, sondern als den Alltag<br />

prägende Kraft. Denn noch hat diese Kraft nirgends bewiesen, dass mit ihr eine Trennung von<br />

Staat und Religion zu machen sein wird (…) Oder wird gar der Islam total wie im Iran<br />

herrschen?“<br />

Der Islam mit zweifelhafter Integrationswilligkeit exemplifiziert sich seit Jahren und immer<br />

stärker auch an Türken in Deutschland. Das hat Necla Kelek bereits im Juli 2007 mit<br />

dankenswerter Offenheit gesagt, als es um einen von vornherein sinnlosen „Integrationsgipfel“ im<br />

Kanzleramt ging: „Die türkischen Verbände machen ohnehin nichts für die Integration in<br />

Deutschland. Sie treten jetzt zurück, weil sie nur im vermeintlichen Interesse ihrer Klientel, der<br />

Türken und der Türkei, handeln, anstatt konkret für Integration in Deutschland zu kämpfen“.<br />

Fünf Jahre später sieht sie keinen Grund, ihr harsches Urteil zu mildern: „Die Integration ist bei<br />

bestimmten Bevölkerungsgruppen gescheitert und dies belastet und verändert das Gemeinwesen in<br />

besonderer Weise“. Speziell Türken haben Deutschland nicht als Heimat akzeptiert, sie verachten<br />

Deutsche als „Ungläubige“ und verdammen deren Sitten. „Ehrenmorde“ an türkischen Mädchen<br />

wurden von den Tätern gerechtfertigt mit der Feststellung. „Sie lebte wie eine Deutsche“.


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Eine Opfermythologie mit Deutschen als Tätern kultivieren<br />

In dieser Verweigerung werden Türken von Politikern wie Ministerpräsident Erdogan unterstützt,<br />

selbst „türkischstämmige“ Politiker in deutschen Parteien sind als „Türkei-Lobbyisten“ keine<br />

Anwälte der Integration. Deutsche Anstrengungskultur und Leistungsbereitschaft prallt an Türken<br />

ab, die lieber eine Opfermythologie mit Deutschen als Tätern kultivieren.<br />

Die Muslimin Kelek pries den Sozialstaat als Verkörperung christlicher Nächstenliebe und Garant<br />

von allgemeinen Menschenrechten, wo der Islam solche Rechte nur Muslimen gewährt.<br />

Undenkbar für Türken, dass sie für diese Rechte dankbar, auf sie gar stolz seien und bereit, sie zu<br />

verteidigen, obwohl sie von ihnen zählbaren Gewinn hatten. Sie kamen seit den 1950er Jahren,<br />

anfangs verhalten, dann massiert: 1961 lebten in Deutschland 6.800 Türken, 1971 waren es<br />

650.000, die ihr nahezu bankrottes Heimatland retteten – sagt Neclas Kelek:<br />

„Die Türkei durchlebte seit 1960 eine große wirtschaftliche und politische Depression. Das Militär<br />

putschte und versuchte die Wirtschaft weiter zentralistisch zu kontrollieren. Folge der<br />

Automatisierung der Landwirtschaft war eine Verarmung und eine nachhaltige Landflucht der<br />

anatolischen Bevölkerung. Millionen zogen in die Städte und über eine halbe Million<br />

Arbeitssuchende nach Almanya.<br />

Diese über 500.000 Menschen weniger in der Türkei waren ein Segen für das arme Land. Denn<br />

die Almancis entlasteten den türkischen Arbeitsmarkt und schickten monatlich ihren Lohn aus<br />

dem kalten Norden nach Hause und glichen zudem das Haushaltsbilanzdefizit aus. Das war<br />

ökonomisch ein warmer Regen für Anatolien und jede Familie. Manches Haus, manches Dorf<br />

entstand oder überlebte so. Rechnet man die Zahlen hoch, kann man davon ausgehen, dass in den<br />

siebziger Jahren fast zehn Prozent der 30 Millionen Menschen in der Türkei von Überweisungen<br />

aus Deutschland lebten“.<br />

Zustrom durch eine wenig beachtete gesetzliche Regel<br />

Inzwischen sind es nahezu 1,6 Millionen, die sich die Deutschland durch eigene Kurzsichtigkeit<br />

auf Dauer aufgeladen hat: „1973 wurde ein Anwerbestopp verkündet und viele Arbeitsverträge<br />

liefen aus. Von den insgesamt 14 Millionen Gastarbeitern, die bis 1973 nach Deutschland kamen,<br />

kehrten die Italiener, Spanier und Griechen in ihre Länder zurück. Insgesamt elf Millionen, auch<br />

weil inzwischen in ihren Ländern die Wirtschaft ins Rollen kam. Die meisten Türken blieben in<br />

Deutschland, denn die wirtschaftliche Situation in der Türkei hatte sich nicht entscheidend<br />

verbessert. Finanziell war es auch besser, in Deutschland als in der Türkei arbeitslos zu sein. Die<br />

Zahl der Türken erhöhte sich trotz des Anwerbestopps bis 1980 um 42,4 Prozent auf über 1,4<br />

Millionen. Der Grund dafür war eine im Ausländergesetz zunächst wenig beachtete Regelung, die<br />

im Rahmen der Familienzusammenführung Ehepartnern und Kindern den Nachzug erlaubte. Sie<br />

entwickelte eine Eigendynamik. (…) Wer konnte, holte seine Familie nach. Insgesamt kamen so<br />

jährlich bis zu 100.000 Menschen“.<br />

Jede zweite türkische Mutter aus Deutschland ist eine<br />

Importbraut<br />

Es wurden nicht nur Familienmitglieder nachgeholt, vielmehr immer häufiger „Importbräute“. Mit<br />

diesen befasst sich ein eigenes Buch von Necla Kelek und das Problem selber nannte sie bereits<br />

2007 deutlich beim Namen: “Jede zweite türkische Mutter aus Deutschland ist eine Importbraut,<br />

was bedeutet, dass sie ihr Kind nicht in die Schule begleiten kann, weil sie kein Deutsch spricht.<br />

Wir haben wahrlich nichts zu feiern. Und nach einer <strong>neuen</strong> Umfrage sagen 50 Prozent aller<br />

befragten türkischen Männer in Deutschland, dass sie eine Braut aus der Türkei wollen. Sind die


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Frauen, die in Deutschland groß geworden sind, nicht gut genug? Ich bin mittendrin in der<br />

anatolischen Community, und ich kenne keine einzige Familie, die keine Braut geholt hat“.<br />

In diesem Zusammenhang ist „Integration“ ein absolutes Fremdwort: „Über eine halbe Million -<br />

meist Frauen - kamen im Laufe der Jahre so nach Deutschland. Sie konnten meist weder die<br />

Sprache, noch mussten sie Deutsch lernen, denn in den Familien war vom Essen bis zur<br />

Kindererziehung alles türkisch. Ihre Kinder lernten kein Deutsch. Es kamen nicht nur die Frauen<br />

und Kinder, sondern mit ihnen auch eine andere Kultur, eine andere Art zu leben, andere<br />

Traditionen und Sitten, eine Religion, auch der Islam, das anatolische Dorf und die Moschee. Die<br />

türkischen Migranten begannen, sich in Deutschland einzurichten, wie sie es aus ihrem<br />

anatolischen Dorf kannten. Und die deutsche Politik verschloss die Augen vor den Problemen,<br />

denn Deutschland wollte kein Einwanderungsland sein. Während die erste und auch die zweite<br />

Generation der Migranten meist als Einzelpersonen oder als Kleinfamilien kamen und selbständig<br />

Anpassungsleistungen erbrachten und Bildungschancen nutzten, änderte sich dies mit der<br />

massenhaften Familienzusammenführung grundlegend. Großfamilienstrukturen entstanden und<br />

ganze Clans zogen vor allem in die Großstädte und Ballungsräume. <strong>Zur</strong> mitgebrachten Tradition<br />

gehörte auch, dass man die Söhne und Töchter mit Verwandten aus der Türkei verheiratete und<br />

über Familienzusammenführung nach Deutschland holte.“<br />

Die einstige türkische Parallelgesellschaft hat sich zur<br />

feindseligen, muslimischen Gegengesellschaft transformiert<br />

In ihrem Kölner Vortrag hat Necla Kelek die Folgen dessen bilanziert. Jede weitere<br />

Türkengeneration wurde abgeschotteter, unnahbarer als die vorherige. Die einstige türkische<br />

Parallelgesellschaft hat sich zur feindseligen, muslimischen Gegengesellschaft zwecks<br />

Unterwanderung der deutschen Gesellschaft transformiert, deren archaische Regeln<br />

Drogenkartelle, Kriminalität und Mafiagruppen begünstigten.<br />

Die türkischen Arbeitskräfte finden immer schwerer Arbeitsplätze, da sie zumeist unqualifiziert<br />

sind und ihr Bildungs- und Sprachniveau ins Bodenlose absackt: „Die soziale Realität von<br />

Importbräuten, Schulverweigerung, schlechten Bildungsergebnissen, hohen Kriminalitätsraten,<br />

Ghettoisierung, Parallelgesellschaften, Zuwanderung in die Sozialsystem haben die Menschen und<br />

die Politik alarmiert. Dazu nahm durch die technologische Entwicklung und Automatisierung (seit<br />

1980) in der Industrie in der Bundesrepublik die Zahl der einfachen Arbeitsstellen zunehmend ab.<br />

(…) Viele wurden so arbeitslos und zu Empfängern von Sozialleistungen. Knapp 42 Prozent aller<br />

in Berlin lebenden Türken im erwerbsfähigen Alter sind z.B. heute erwerbslos und ihre Familien<br />

leben von Transferleistungen“.<br />

Allenthalben entsteht eine „türkische Nischenökonomie“, die Necla Kelek ironisch beschrieb:<br />

„Allein in Duisburg-Marxloh gibt es 60 türkische Hochzeitsläden, und von A (wie<br />

Abschleppdienst) bis Z (wie Zahnarzt) kann man alles bei Türken erledigen“. Handwerks- oder<br />

gar Industriebetriebe sucht man bei Türken vergebens, sie unterhalten zumeist kleine Geschäfte, in<br />

denen Familienangehörige ohne Versicherung und Lohn arbeiten, „in vollständiger Abhängigkeit<br />

vom Inhaber, der auch die Heirat mit einer Cousine aus der Türkei arrangiert“.<br />

Moscheen und islamische Vereinigungen sind auch<br />

ökonomische Netzwerke<br />

Anders als das Christentum hat sich der Islam nicht aus der Wirtschaft zurückgezogen, vielmehr<br />

sind Moscheen und islamische Vereinigungen auch ökonomische Netzwerke und Ausgangspunkt<br />

von Milliardenunterschlagungen, die vor allem der islamistischen „Milli Görüs“ zur Last gelegt<br />

werden.


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„Das ist aber nicht der Islam“, lautet das häufige Gegenargument, wenn man mit Türken über<br />

Auswüchse ihres Alltags – Zwangsheiraten, Ehrenmorde, Gewalt – spricht. Necla Kelek hat es oft<br />

gehört, ließ es aber nie gelten, auch nicht 2011 in Köln: „Ich weise in meinen Büchern auf die<br />

Missstände innerhalb der muslimischen Community hin und versuche zu erläutern, warum der<br />

Islam eben nicht nur ein Glaube, sondern eine Weltanschauung und politische Ideologie darstellt,<br />

die sich anders als das Christentum nicht säkularisiert hat. Der Islam ist gelebte Kultur und diese<br />

Kultur hat ein anderes Menschen- und Weltbild als das einer aufgeklärten Bürgergesellschaft. Ich<br />

möchte Ihnen auseinandersetzen worin diese „Kulturdifferenz“ besteht und worum es im Kern<br />

geht: den Umgang mit Freiheit. Und warum Muslime sich so schwer tun, in der Freiheit<br />

anzukommen“.<br />

„Die Hierarchie ergibt sich nicht aus einer natürlichen<br />

Autorität, sondern wird über Alter und Geschlecht definiert,<br />

und dies ist gottgegeben“<br />

Das liegt zu einen daran, dass der Islam türkischer Lesart keinen absoluten Wert des Menschen<br />

anerkennt: „Im türkischmuslimischen Wertekanon spielt der Begriff Respekt eine große Rolle.<br />

Respekt vor dem Älteren, dem Stärkeren, vor der Religion, vor der Türkei, vor Vater, Onkel,<br />

Bruder. Wenn ein Abi, ein älterer Bruder, von einem Jüngeren oder Fremden Respekt einfordert,<br />

fordert er eine Demutsgeste ein. Auch erwachsene Söhne reden z.B. In Gegenwart ihrer Väter<br />

oder Onkel nicht unaufgefordert, sie ordnen sich unter, erweisen so dem Älteren Respekt. Das ist<br />

die absolute Orientierung auf einen hierarchisch Höherstehenden, auf ein patriarchalisches<br />

System. (…) Die Mitglieder der Gruppe, der Familie, des Clans usw. sind nicht gleich, sondern<br />

nach Geschlechtern, Alter und Rang abgestuft zu respektieren. Gegen einen Älteren<br />

aufzubegehren ist in diesem religiös kulturellen System deshalb so, als würde man gegen die<br />

göttliche Ordnung aufbegehren. Ich habe beobachtet, dass Söhne im Alter von vielleicht 12 Jahren<br />

mit ihren Müttern zum Einkaufen gingen und das Portemonnaie in der Hand hielten und zahlten,<br />

weil der Junge während der Abwesenheit des Vaters als ältester Mann im Haus das Sagen hatte.<br />

Die Hierarchie ergibt sich nicht aus einer natürlichen Autorität, sondern wird über Alter und<br />

Geschlecht definiert, und dies ist gottgegeben“.<br />

Das Individuum steht vor der Familie wie vor einem<br />

„Volksgerichtshof“<br />

Die Türken waren ein aufstrebendes Volk, das durch den fundamentalistischen Islam<br />

zurückgeworfen wurde, patriarchalische Strukturen von unbedingter Autorität und unbedingtem<br />

Gehorsam gingen mit dem Islam ein Verhältnis wechselseitiger Legitimierung und Verfestigung<br />

ein. Das Individuum steht vor der Familie wie vor einem „Volksgerichtshof“, der seine<br />

Möglichkeiten willkürlich begrenzt. Allgemein anerkannte Werte erfahren ihre Verkehrung ins<br />

Gegenteil, aus „frei“ wird „vogelfrei“ und „schutzlos“, das Kopftuch ist ein Symbol der Freiheit,<br />

wo es doch ein Verstoß gegen die Menschenwürde ist. Sogar ein besonders perfides, wie Necla<br />

Kelek kritisiert: „Ich bin deshalb vehement dafür, dass Kinder, ganz gleich woher sie kommen,<br />

erst lernen sich selbst auszuprobieren, dass sie schwimmen, auf Berge klettern, Wandern gehen,<br />

ein Naturbewusstsein entwickeln. Genauso die Chance bekommen das kulturelle Leben kennen zu<br />

lernen, Museen und Theater gehen, dass sie möglichst vieles selbst machen, dass man verhindert,<br />

dass sie ‚freiwillig‘ ein Kopftuch aufsetzen. Mädchen vor dem 14. Lebensjahr mit dem Kopftuch<br />

in die Schule zu schicken, hat für mich nichts mit Religionsfreiheit oder dem Recht der Eltern auf<br />

Erziehung zu tun, sondern ist ein Verstoß der durch das Grundgesetz garantierten Menschenwürde<br />

und des Diskriminierungsverbots. Das Kopftuch qualifiziert das Kind als Sexualwesen, das seine<br />

Reize vor den Männer zu verbergen hat, weniger darf als ihre Brüder und die anderen<br />

Schulkameradinnen. Jede erwachsene Frau mag für sich selbst entscheiden, ob sie sich verhüllt,


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aber Kinder mit diesem Stigma aufwachsen zu lassen, ist für mich ein Zeichen von religiöser<br />

Apartheit“.<br />

Deutsche Politik trägt Mitschuld<br />

Die „Migranten“ wollen nicht in der deutschen Gesellschaft oder für sie aktiv sein, deutsche<br />

Gerichte geben ihnen Recht – deutsche Politik trägt „Mitschuld“ am Chaos, das Migranten<br />

anrichten. Integrationsverweigerung wächst parallel zum Einfluss der Moscheenvereine, türkische<br />

staatliche Organisationen wie die religiöse Überwachungsanstalt DITIB mit derzeit 896<br />

Ortsgruppen in Deutschland arbeiten mit allen Mitteln gegen die Integration der Türken.<br />

Deutschland duldet das und nimmt auch das Heer ungebildeter und des Deutschen kundiger<br />

Hodschas hin, deren einzige Aufgabe es ist, türkische Frauen und Kinder von Kontakten mit<br />

Deutschen fernzuhalten. Warum verzichtet Deutschland leichten Herzens auf die Kontrolle<br />

dessen, was unter dem religiösen Deckmantel gegen seine freiheitliche Gesellschaftsordnung<br />

unternommen wird? Werden die Deutschen demnächst einzelne Ortschaften, Bundesländer oder<br />

gar ihr ganzes Land den islamistischen Hetzern aus der Türkei überlassen müssen? Zitat eines<br />

FDP-Politikers, das Necla Kelek nicht absichtslos in einer FDP-Veranstaltung fallen ließ.<br />

Postskriptum:<br />

*<br />

Ein gutes Referat regt zu Fragen an. Nach Frau Keleks Ausführungen gab es zahlreiche Fragen<br />

und Kommentare aus dem Publikum, und es wären vermutlich noch weit mehr gewesen, hätten<br />

die gastgebenden Liberalen nicht zu einem freundlichen Umtrunk gebeten. Auch der Chronist<br />

hätte gern noch etwas gefragt, aber das ist ihm zu spät eingefallen. Eine seiner Fragen wäre<br />

gewesen, angeregt durch Necla Keleks Buch „Die fremde Braut“, wie hoch wohl die weibliche<br />

Mittäterschaft bei der Unterdrückung türkischer Frauen sein mag. Was die Autorin da von<br />

Müttern, Schwiegermüttern etc. berichtet, lässt einem mitunter die Haare zu Berge stehen – wobei<br />

in der Türkei die rituellen Genitalverstümmelungen von Frauen und Mädchen entfallen, die in<br />

anderen islamischen Ländern praktiziert werden.<br />

Und eine weitere Frage wäre, warum Türken mehrheitlich einen Bogen um die <strong>neuen</strong><br />

Bundesländer machen, wo man so gut wie keine Kopftücher zu sehen bekommt. Das fällt einem<br />

schon in Ost-Berliner Stadtteilen auf, und mit angeblicher Ausländerfeindlichkeit der „Ossis“ hat<br />

das nichts zu tun, wie ungezählte Russen, Polen, Vietnamesen etc. „drüben“ beweisen. Also muss<br />

es wohl an identischen Abneigungen liegen: Was dem Türken das Hassbild des „Deutschländers“<br />

(wozu Necla Kelek in ihren Büchern prachtvolle Beispiele berichtet), das ist dem „Ossi“ der<br />

verhasste „Wessi“ (woraus eine bestimmte Partei ihr politisches Kapital schlägt).<br />

Türken in Deutschland sind mehrheitlich überzeugt (und werden in dieser Überzeugung von<br />

Türkei-Premier Erdogan bestärkt), dass ihre Arbeitskraft der eigentliche Motor des deutschen<br />

Wirtschaftswunders war – „Ossis“ glauben fest daran, dass die bösen „Wessis“ ihre schöne DDR<br />

vernichtet haben, die doch zu den „zehn größten Industriemächten der Welt“ gehörte. Weil sich<br />

Aversionen gegen „deutsche Ungläubige“ bzw. „westdeutsche Ausbeuter“ nur getrennt pflegen<br />

lassen, bleiben Türken und „Ossis“ unter sich – in Almanya West und Almanya Ost.<br />

SÜDOSTASIEN


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Strategische Neuausrichtung in der<br />

Energiepolitik?<br />

Nach dem Super-GAU von Fukushima werden Pläne über den Bau von<br />

Atomkraftwerken auch im energiehungrigen Südostasien neu überdacht. Dort<br />

sehen wachstumsverwöhnte Eliten in steigenden Energiepreisen die<br />

Konkurrenzfähigkeit ihrer Länder gefährdet. Im Kontext des globalen<br />

Klimawandels wird jedoch deutlich: Umwelt und Klima werden die Zukunft<br />

der Region ganz entscheidend mit beeinflussen.<br />

Von Wilfried Arz<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

ie Architektur der Weltwirtschaft hat in den letzten Jahrzehnten eine nachhaltige<br />

Schwerpunktverlagerung vom transatlantischen zum asiatisch-pazifischen Raum erfahren.<br />

Neben China als neuem Aufsteiger hat auch Südostasien maßgeblich von einem<br />

dynamischen Wirtschaftsboom profitiert, der mit anhaltend hohen Wachstumsraten beeindruckt.<br />

Jede rasante wirtschaftliche Entwicklung ist jedoch untrennbar verbunden mit einer hohen<br />

Nachfrage nach Rohstoffen und Energie. Schätzungen der Internationalen Energieagentur (IEA)<br />

zufolge wird die Energienachfrage weltweit bis 2030 um durchschnittlich vierzig Prozent steigen.<br />

Eine besonders starke Zunahme des Energiebedarfs ist in China, Indien und den Schwellenländern<br />

Südostasiens zu erwarten.<br />

Der globale Wettlauf um Ressourcen hat bereits begonnen. USA und EU, China und Indien stehen<br />

seit Jahren in Konkurrenz zu knapper werdenden Rohstoffen und fossilen Energieträgern. Auch<br />

vor militärischer Gewalt wird bei Versuchen, sich den Zugang und die Kontrolle zu Ressourcen zu<br />

sichern, nicht zurückgeschreckt. Rohstoffreiche Regionen werden zu Schauplätzen gewaltsamer<br />

Konflikte.<br />

Wohin steuert die Energiepolitik in Südostasien?<br />

Das durch Erdbeben und Tsunami verursachte Reaktorunglück in Japan hat global ein Überdenken<br />

energiepolitischer Konzepte ausgelöst. Atomkraft, lange als eine Alternative zu fossilen<br />

Brennstoffen wie Kohle, Erdgas und Erdöl gepriesen, ist auch in Asien in den Mittelpunkt einer<br />

<strong>neuen</strong>, kritischen Bewertung gerückt. Japan, Südkorea, China und Taiwan betreiben seit Jahren<br />

Atomkraftwerke. Auch in Vietnam, Indonesien und Thailand halten die politischen Eliten den Bau<br />

von AKWs für die Energieversorgung und damit die Funktionsfähigkeit ihrer exportabhängigen<br />

Ökonomien für unverzichtbar.<br />

In Teilen der Öffentlichkeit dieser Länder regt sich jedoch Unbehagen und manifestiert sich<br />

zunehmend Widerstand gegen diese Pläne. Gleichwohl geht es nicht nur um das kontrovers<br />

diskutierte Thema Atomenergie. Es geht um nicht weniger als eine langfristig zukunftsfähige, d.h.<br />

umwelt- und sozialverträgliche Versorgung der Region mit Energie schlechthin.<br />

Die Zukunft der Energieversorgung ist auch in Südostasien eine Schlüsselfrage des 21.<br />

Jahrhunderts. Nicht nur Importabhängigkeiten bei Energieträgern haben in den vergangenen<br />

Jahren deutlich zugenommen. Auch Konflikte um Ressourcen haben sich in Südostasien deutlich<br />

verschärft. Ist der Streit um die Spratley- und Paracel-Inselgruppen im Südchinesischen Meer ein<br />

erster Vorgeschmack auf künftige geopolitische Rivalitäten um Rohstoffe? In den<br />

energiepolitischen Strategieplanungen wurde die Fixierung auf fossile Brennstoffe bislang kaum


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hinterfragt. Ressourcenkonflikte, globaler Klimawandel und der Super-GAU von Fukushima<br />

lassen jedoch an einer Fortsetzung bisheriger energiepolitischer Konzepte zweifeln. Politischer<br />

Handlungsbedarf ist gefragt - nicht nur in Südostasien.<br />

Indonesien - Tanz auf dem Vulkan<br />

Südostasiens größte Wirtschaft liegt auf dem pazifischen Feuerring, einer seismisch recht<br />

unruhigen Region aktiver Vulkane, Erdbeben und Tsunamis. Dennoch sind in Indonesien zwei<br />

Atomkraftwerke in Planung. Südkoreas Korean Electric Power Corporation (KEPC) soll die<br />

beiden Druckwasser-Atommeiler bis 2025 bauen. Als Standort war bislang Muria an der<br />

Nordküste Zentral-Javas auserkoren worden. Allerdings liegt dort ein aktiver Vulkan nur 30<br />

Kilometer vom geplanten Standort entfernt.<br />

Politischer Widerstand gegen Jakartas AKW-Projekte regen sich bei Umweltverbänden<br />

(Greenpeace, WWF) und der indonesischen Umweltorganisation WAHLI wie auch auf religiöser<br />

Seite: muslimische Geistliche hatten sich 2007 durch eine Fatwa (islamisches Rechtsgutachten)<br />

grundsätzlich gegen den Bau des Atommeilers bei Muria ausgesprochen. Anhaltende Proteste<br />

zwangen Indonesiens Regierung im April, einen <strong>neuen</strong> Standort zu bestimmen. An den<br />

Atomplänen wird jedoch weiter festgehalten.<br />

Das rohstoffreiche Indonesien ist in Südostasien größter Produzent von Erdgas und Kohle,<br />

aufgrund gesunkener Förderquoten jedoch seit 2002 Netto-Erdölimporteur. Der Energiemix des<br />

Landes wird von Kohle und Erdgas bestimmt. Indonesien beabsichtigt, sein immenses Potenzial<br />

an geothermischer Energie in Zukunft verstärkt zu nutzen. Nach Berechnungen der Weltbank<br />

sollen rund 80 Millionen Indonesier noch nicht am Stromnetz angeschlossen sein.<br />

Philippinen - Vorreiter bei alternativen Energien<br />

Ein Leichtwasser-Reaktor (620 MW Leistung) wurde von dem US-Konzern Westinghouse auf der<br />

Insel Luzon in der Zeit von Ferdinand Marcos gebaut, 1986 jedoch von Corazon Aquino nach dem<br />

Reaktorunfall von Tschernobyl aus Sicherheitsgründen gestoppt. Der Standort Bantaan wird von<br />

Vulkanen umrahmt, u.a. dem Pinatubo, der 1991 weite Gebiete durch glühende Lava und Asche<br />

zerstörte, zur Evakuierung von zehntausenden Menschen zwang und 875 Todesopfer forderte.<br />

Seitdem ist das Thema Atomkraft auf den Philippinen ein politisches Tabu.<br />

Großprojekte stoßen auf den Philippinen seit Jahrzehnten auf scharfe Kritik bei betroffenen<br />

Bevölkerungskreisen. Anhaltender militanter Widerstand indigener Volksgruppen gegen den Bau<br />

des Chiko-Staudamms auf der Insel Luzon hatten die Weltbank bereits 1975 veranlasst, sich aus<br />

dem Projekt vollständig zurückzuziehen.<br />

Die Philippinen sind stark von Energieimporten abhängig. Das Energiemix-Profil des Landes:<br />

Kohle (27 Prozent), Wasser (21 Prozent), Erdöl (20 Prozent), Erdgas (18 Prozent), Geothermie<br />

(12 Prozent) und zu 34 Prozent regenerierbare Energiequellen. In diesem Sektor nehmen die<br />

Philippinen eine führende Rolle in Südostasien ein.<br />

Malaysia - Atomkraft ist vorerst kein Thema mehr<br />

Obwohl im Januar 2011 die Malaysia Nuclear Power Corporation (MNPC) gegründet wurde,<br />

scheint das Thema Atomkraft in Kuala Lumpur nach dem Super-GAU von Fukushima vorerst<br />

vom Tisch energiepolitischer Optionen. Diskussionen über den Bau von zwei AKWs mit einer<br />

Leistung von je 1.000 Megawatt sind bislang nicht in eine konkrete Planungsphase übergegangen.<br />

Eine Standortsuche ist bisher nicht in die Wege geleitet worden.


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Malaysia ist Südostasiens größter Erdöl-Exporteur und nach Indonesien zweitgrößter Erdgas-<br />

Produzent. Neue Erdölvorkommen wurden vor der Küste von Sabah und Sarawak (Kalimantan)<br />

von Royal Dutch Shell (Niederlande/GB) und BHP Billiton (Australien) entdeckt. Der Energiemix<br />

des Landes setzt sich zusammen aus Erdgas, Wasserkraft und Öl.<br />

Vietnam - an Atomkraft wird festgehalten<br />

In Vietnam ist der Bau von zwei Druckwasser-Reaktoren in der Küstenprovinz Ninh Thuan im<br />

Süden des Landes in Planuing. Bis 2020 sollen diese mit einer Leistung von 4.000 Megawatt ans<br />

Netz gehen. Der staatliche Konzern Rosatom (Russland) konnte sich den Auftrag 2010 sichern.<br />

Eine Machbarkeitsstudie ist in Arbeit. Zwei weitere AKWs sollen von einem japanischen<br />

Konsortium unter Führung von Toshiba, Hitachi und Mitsubishi errichtet werden. An den<br />

Bauplänen wird in Hanoi festgehalten. Vietnams staatliche Presse meldete „große Zustimmung“<br />

unter der Bevölkerung an den Standorten der geplanten Atomkraftwerke.<br />

Wasserkraft steht in Vietnam als Energieträger mit 38 Prozent Anteil an erster Stelle, gefolgt von<br />

Erdgas (30 Prozent), Kohle (18 Prozent) und Erdöl (5 Prozent). Vietnam verfügt über<br />

Anthrazitkohle (ca. fünf Milliarden Tonnen) und sehr ergiebige Offshore-Erdölvorkommen im<br />

Golf von Bac Bo sowie vor der Küste Südvietnams. Weitere Erdöl- und Erdgaslagerstätten werden<br />

im Gebiet der Paracel- und Spratley-Inseln im Südchinesischen Meer vermutet. Allerdings<br />

verhindern dort überlappende Territorialansprüche zwischen China, Vietnam und anderen ASEAN<br />

-Staaten noch deren Erschließung und Förderung.<br />

Kambodscha - Ein neues Erdöl-Dorado?<br />

Atomare Ambitionen bestehen in Phnom Penh derzeit nicht. Bislang wird der Energiebedarf des<br />

Landes fast vollständig durch Erdölimporte aus Vietnam abgedeckt. Kambodschas<br />

Stromproduktion erfolgt weitgehend durch Dieselgeneratoren. Die Strompreise des Landes gelten<br />

als die höchsten aller ASEAN-Staaten. Fast sechzig Prozent der Bevölkerung hat noch keinen<br />

Stromanschluss. Um die hohe Abhängigkeit von Energieimporten zu vermindern, setzt die<br />

Regierung verstärkt auf Wasserkraft: einige Staudämme sind in Kambodscha bereits im Bau,<br />

weitere in Planung. China und Vietnam haben die Finanzierung übernommen.<br />

Kambodschas Chancen, sich künftig zu einem Selbstversorger bei Erdöl und Kohle zu entwickeln,<br />

werden im Land optimistisch eingeschätzt. Im Golf von Siam war ein Konsortium unter Führung<br />

des US-Konzerns Chevron bereits 2005 bei Probebohrungen fündig geworden. Die dortigen<br />

Erdölvorkommen werden auf eine Größenordnung zwischen 500 Millionen und zwei Milliarden<br />

Barrel geschätzt. 2012 soll die Förderung in Angriff genommen werden. Im Norden Kambodschas<br />

wurden zudem Kohlevorkommen (150 Millionen Tonnen) entdeckt.<br />

Laos - Die Batterie Südostasiens<br />

Atomkraft ist in Laos kein Thema. Das kleine Land mit nur knapp sechs Millionen Einwohnern<br />

wird gern als „Batterie Südostasiens“ bezeichnet, weil dessen Energiepotenzial seine<br />

Nachbarländer ausreichend mit Strom versorgen könne. Laos nutzt Wasserkraft zur<br />

Energieproduktion, die durch eine Reihe von Staudämmen an den Zuflüssen zum Mekong erzeugt<br />

wird, der Laos auf einer Länge von über 2.000 Kilometern durchfließt. Die Wasserkraftprojekte<br />

werden u.a. von der Weltbank (USA), EGAT (Thailand) und EDF (Frankreich) finanziert und sind<br />

ganz auf die Bedürfnisse des energiehungrigen Thailand zugeschnitten, das den größten Teil des<br />

Stroms aufkauft. In Laos selbst ist nur rund ein Drittel der Bevölkerung an das Stromnetz<br />

angeschlossen.


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Die Mega-Dammprojekte in Laos standen und stehen auch heute im Mittelpunkt scharfer Kritik.<br />

Deren Umwelt- und Sozialverträglichkeit wird von internationalen Umweltverbänden in Zweifel<br />

gezogen. Trotzdem sind in Laos weitere große Staudammprojekte in Planung. Die Eingriffe in das<br />

Mekong-Fluss-System haben bereits zu erheblichen Veränderungen des Wasserhaushaltes geführt.<br />

Betroffen sind nicht nur der Fischfang in Laos und dem Tonle Sap-See in Zentral-Kambodscha,<br />

der in der Regenzeit durch den Mekong gespeist wird. Gefahren drohen auch dem Reisanbau im<br />

Mekong-Delta Südvietnams durch reduzierte Wasserzufuhr.<br />

Thailand - Die Regierung zieht AKW-Pläne zurück<br />

Prognosen erwarten im Königreich bis 2022 eine Verdoppelung des Energiebedarfs und<br />

begründen damit den Bau von fünf Atomreaktoren. Diese sollen mit einer Gesamtleistung von<br />

5.000 Megawatt ab 2020 ihren Betrieb aufnehmen. Machbarkeitsstudien des US-Unternehmens<br />

Burns & Roe liegen vor. Nach dem Fukushima-GAU in Japan kündigte Thailands Regierung eine<br />

Überprüfung der AKW-Projekte an. Als Alternative liegen Pläne für den Bau von zwei<br />

erdgasbetriebenen Kraftwerken mit je 800 MW-Leistung in der Schublade bereit. Sollten sich die<br />

Atompläne Bangkoks in absehbarer Zeit politisch nicht durchsetzen lassen, sollen weitere<br />

Kohlekraftwerke folgen.<br />

Politischer Widerstand gegen Staudämme, Kraftwerke und Erdgasleitungen hat in Thailand eine<br />

lange Tradition und verursachte in der Vergangenheit wiederholt Projektverzögerungen und<br />

Kostensteigerungen. Energie-Großprojekte werden von der Regierung künftig als politisch nur<br />

schwer durchsetzbar eingeschätzt. Thailand importiert deshalb auf Grundlage langfristiger<br />

Lieferverträge Erdgas aus Burma und Malaysia sowie Strom aus Wasserkraft aus dem<br />

Nachbarland Laos.<br />

Thailands Energiemix wird derzeit zu knapp 70 Prozent von Erdgas dominiert. An zweiter und<br />

dritter Stelle folgen Kohle mit 18 Prozent und Wasserkraft (3,4 Prozent). Braunkohle-Vorkommen<br />

im Norden des Landes dienen dem Eigenverbrauch. Nach Regelung der strittigen maritimen<br />

Grenzziehung mit Kambodscha ist zu erwarten, dass auch Thailand Nutznießer der<br />

Erdölvorkommen im Golf von Siam werden wird.<br />

Myanmar - Rohstoffreiches Land am Irrawaddy<br />

Meldungen über Pläne des burmesischen Militärregimes, einen Leichtwasser-Reaktor (zehn MW<br />

Leistung) zu Forschungszwecken mit russischer Unterstützung zu bauen, hatten 2007 weltweit für<br />

Aufsehen gesorgt. Von exilburmesischen Oppositionsgruppen gestreute Informationen, Burmas<br />

Militärs strebten mit Unterstützung Nord-Koreas die Entwicklung von Atomwaffen an, haben sich<br />

bislang nicht bestätigt.<br />

Burma gilt als eines der rohstoffreichsten Länder Asiens. Unter dem Meeresboden seiner<br />

maritimen Wirtschaftszone schlummern riesige Erdgas- und Ölvorkommen. Wirtschaftlichen<br />

Sanktionen zum Trotz sind westliche Energiekonzerne, u.a. Chevron (USA) und Total<br />

(Frankreich), aber auch PTT (Thailand), Daewoo International (Süd-Korea) und Petronas<br />

(Malaysia) seit vielen Jahren groß im Geschäft. Im Golf von Martaban wird Erdgas gefördert, das<br />

via Pipeline nach Ratchaburi in Thailand transportiert wird. Bangkok überweist den burmesischen<br />

Militärs dafür jährlich rund eine Milliarde US-Dollar. Die Röhren der Erdgasleitung wurden von<br />

der Mannesmann AG in Deutschland geliefert.<br />

Die Erdölvorkommen Burmas werden auf eine Größenordnung von 3,2 Milliarden Barrel<br />

geschätzt. Aktiv im Fördergeschäft sind bereits China National Petroleum (CNPC) und<br />

Sarubesneft (Russland). Eine Erdöl-Pipeline von Burma nach Yunnan in Südwest-China ist im<br />

Bau. China und Thailand wollen in den kommenden Jahren zudem Wasserkraftwerke am Salween<br />

-Fluss bauen, dessen Strom in ihre eigenen Netze eingespeist werden soll.


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> 06-11<br />

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15.06.2011<br />

Singapur - Importe sichern Energieversorgung<br />

Der dichtbesiedelte Stadtstaat Singapur mit knapp 4,6 Millionen Einwohnern besitzt keine eigenen<br />

Rohstoffvorkommen. Erdgasimporte aus Malaysia und Indonesien stellen die Versorgung<br />

Singapurs mit Energie zu achtzig Prozent sicher. Weitere fünfzehn Prozent werden durch<br />

Erdölimporte abgedeckt. 2010 ließ die Regierung eine Machbarkeitsstudie für den Bau eines<br />

Atomkraftwerkes in Auftrag geben.<br />

Brunei - Ein Sultan schwimmt in Erdöl<br />

Das kleine Sultanat Brunei an der Westküste der Insel Kalimantan ist Energieselbstversorger. Die<br />

reichen Erdgas- und Erdölvorkommen werden von einem Gemeinschaftsunternehmen unter<br />

Beteiligung von Royal Dutch-Shell (Niederlande/Großbritannien) gefördert und nach Japan, Süd-<br />

Korea, Taiwan und die USA exportiert. Trotz sinkender Förderquoten seiner fossilen Rohstoffe ist<br />

Kernenergie in Brunei (noch?) keine Option.<br />

Timor-Leste - Kleines Land mit großen Energievorkommen<br />

Vielversprechende Perspektiven für das nach Afghanistan zweitärmste Land in Asien: die Erdölund<br />

Erdgasvorkommen unter dem Meeresboden im Gebiet zwischen Timor-Leste (Ost-Timor)<br />

und Australien zählen zu den größten im asiatisch-pazifischen Raum. Ein Streit um<br />

konkurrierende Souveränitätsansprüche scheint zwischen beiden Ländern vorerst beigelegt zu<br />

sein. Die Förderung ist von Royal Dutch-Shell in Angriff genommen worden. Gewinne aus dem<br />

Verkauf sollen zwischen beiden Staaten aufgeteilt werden. Noch erfolgt die Stromproduktion auf<br />

der kleinen Insel durch Dieselgeneratoren. 2008 wurde ein erstes von Norwegen erbautes<br />

Wasserkraftwerk in Betrieb genommen. Das Stromnetz befindet sich im Aufbau.<br />

Tendenzen in der Energiepolitik<br />

Eine kurze Bestandsaufnahme verdeutlicht: die Länder Südostasiens sind unterschiedlich mit<br />

fossilen Brennstoffen ausgestattet. Einem steigenden Energiebedarf steht eine tendenziell sinkende<br />

Eigenförderung (bei Erdöl und Kohle) gegenüber. Noch konzentrieren sich Energieexporte auf<br />

nachfragestarke Märkte in Japan, Südkorea und Taiwan, zunehmend auch China. In zehn Jahren<br />

schon könnte ganz Südostasien jedoch zum Netto-Erdölimporteur werden. Regenerierbare<br />

Energieträger (Wasser, Geothermie, Sonne, Wind) spielen eine insgesamt untergeordnete Rolle.<br />

Nur Indonesien und die Philippinen nutzen Dank ihrer vulkanischen Geologie bereits in<br />

nennenswertem Umfang geothermische Energie.<br />

Derzeit sind in Südostasien keine energiepolitischen Strategien erkennbar, die sich mit der<br />

Energieversorgung jenseits des Kohle- und Ölzeitalters befassen. Eine zumindest schrittweise<br />

Ablösung fossiler Energieträger ist nicht in Sicht. Energiepolitik bleibt auf den Einsatz von Erdöl,<br />

Kohle und Gas fixiert. Das Geschäftsmodell der Energiekonzepte beruht weiterhin auf<br />

zentralisierten Großkraftwerken. Eine Subventionspolitik hält die Energiepreise künstlich niedrig<br />

und belastet die Staatshaushalte. In Indonesien absorbierten Subventionen im Energiebereich 2010<br />

fast 13 Prozent des Budgets. Gleichwohl können hohe Treibstoffpreise auch soziale Unruhen<br />

auslösen (Indonesien 1998, Burma 2007). In Thailand sind die gegenwärtigen Subventionen für<br />

Diesel und Benzin eindeutig innenpolitisch motiviert: im Juli 2011 sollen im Königreich<br />

Parlamentswahlen erfolgen. Energiesparsamkeit gilt bei konsumverwöhnten Städtern zudem als<br />

unpopulär.


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15.06.2011<br />

Konflikte um knappe Rohstoffe<br />

Eine sichere Energieversorgung ist schon lange nicht mehr nur eine Frage wirtschaftlicher<br />

Wettbewerbsfähigkeit, sondern vielmehr auch eng verbunden mit nationaler Sicherheit. Der<br />

Wettlauf um den Zugriff und die Kontrolle von Rohstoffen hat bereits begonnen und in Ost- und<br />

Südostasien erste Spannungen und zwischenstaatliche Konflikte ausgelöst: im Ostchinesischen<br />

Meer um die Senkaku/Daioyu-Inseln (China/Japan), im Südchinesischen Meer um die<br />

Inselgruppen von Spratley und Paracel (China/Vietnam und weitere ASEAN-Staaten), im Golf<br />

von Bac Bo (China/Vietnam), im Golf von Siam (Thailand/Kambodscha) und schließlich in der<br />

Timor-See (Timor-Leste/Australien). Das Objekt der Begierde? Fossile Energierohstoffe!<br />

Klimawandel soll Südostasien besonders treffen<br />

Modellberechnungen zufolge werden Indonesien, die Philippinen, Thailand und Vietnam die<br />

Folgen des globalen Klimawandels ganz besonders stark zu spüren bekommen. Sollte es zu einem<br />

prognostizierten Anstieg des Meeresspiegels kommen, dann würden dichtbesiedelte Küstengebiete<br />

langfristig zunehmend unter Wasser gesetzt und Millionen von Menschen zur Umsiedlung<br />

gezwungen werden. Klimaforscher sehen jedoch nicht nur Millionenmetropolen wie Bangkok,<br />

Jakarta, Ho-Chi-Minh-Stadt (Saigon) und Manila im Wasser versinken. Auch das Mekong-Delta<br />

in Süd-Vietnam, heute das bedeutendste Reisanbaugebiet für 90 Millionen Vietnamesen, wird<br />

dann nicht mehr die Bevölkerung versorgen können. Schon heute nimmt im Delta eine Versalzung<br />

zu, ganz abgesehen von dem schleichenden ökologischen Kollaps durch den massiven Einsatz<br />

chemischer Input-Leitungen. Ernteausfälle, Hungersnöte und soziale Unruhen würden die Folge<br />

sein. Trotz dieser (langfristig!) dramatischen Prognosen ist Klimawandel in Südostasien kein<br />

Thema.<br />

Indonesien (Bevölkerung 2010: 240 Millionen Menschen) ist mit fast 400 Millionen Tonnen<br />

Südostasiens größter CO2-Produzent. Der Grund dafür liegt insbesondere im Raubbau seiner<br />

tropischen Regenwälder. Diese dienen eigentlich als Kohlendioxid-Speicher, da sie Treibhausgase<br />

filtern und CO2-Emissionen binden. Mit Abholzung und Brandrodung gelangt gespeichertes<br />

Kohlendioxid jedoch wieder in die Atmosphäre und verstärkt den globalen Treibhauseffekt. Vor<br />

diesem Hintergrund ist somit auch der weiträumige Anbau von Ölpalmen auf der Insel Sumatra<br />

zur Gewinnung von Biosprit als ein Schritt in die falsche Richtung zu bewerten. Gleichwohl<br />

verlagern auch Emissionshandel, unterirdische CO2-Deponierung & andere scheinbar kreative<br />

Ideen ein globales Problem, das einschneidende Veränderungen verlangt - im Denken und in der<br />

politischen Praxis.<br />

Energie, Sicherheit und Klima - Problemfelder der Zukunft<br />

Trotz medienwirksam begleiteter UN-Klimakonferenzen von Kyoto, Bali und Kopenhagen findet<br />

ein öffentlicher Diskurs über den Zusammenhang von Energiepolitik, Klimawandel und einer neu<br />

zu definierenden Sicherheitspolitik in Südostasien nicht statt.<br />

Fast alle Länder Südostasiens haben das Kyoto-Protokoll zum internationalen Klimaschutz (1997)<br />

der UN-Klima-Rahmenkonvention von 1992 zwar ratifiziert, sich aber nicht zu einer<br />

verbindlichen Reduzierung ihrer CO2-Emissionen verpflichtet. Einigkeit bestand darin, einen<br />

globalen Temperaturanstieg von maximal zwei Prozent zuzulassen. „Es bleibt zu hoffen, dass sich<br />

auch das Klima daran hält“ - so Harald Welzer, Verfasser des Buches „Klimakriege“. Eine<br />

strategische Neuausrichtung in der Energiepolitik ist in Südostasien nicht in Sicht.<br />

*


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15.06.2011<br />

Literatur:<br />

Claus Leggewie/Harald Welzer: Das Ende der Welt, wie wir sie kennen - Klima, Zukunft und<br />

Chancen der Demokratie.<br />

Frankfurt/Main: Fischer Verlag, (3. Auflage) 2009. 278 Seiten. ISBN 3100433114.<br />

Harald Welzer: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird.<br />

Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 2008. 300 Seiten. ISBN 3100894332.<br />

Michael T. Klare: Resource Wars. The New Landscape of Global Conflict.<br />

New York: Henry Hott, 2002. 304 Seiten. ISBN 978-0805055764.<br />

INDIEN<br />

Im Bann des Schneeleoparden<br />

In Ladakh, dem äußersten Norden Indiens, leben noch Schneeleoparden. Wie<br />

es gelang, einen davon in freier Wildbahn zu beobachten erzählt diese<br />

Geschichte einer Suche im Himalaya.<br />

Von Thomas Bauer<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

Im Bann des Schneeleoparden – eine Begegnung, die unvergessen bleibt.<br />

Foto Bauer.<br />

st er das, Jigmet?“ - Ich starre auf die Felswand, die sich sechzig Meter vor uns jäh erhebt. An<br />

einer Stelle scheint sich plötzlich der Boden zu bewegen. Die Umrisse eines großen Tieres<br />

schälen sich aus dem schneebedeckten Hintergrund. Dann stehe ich einem ausgewachsenen<br />

Schneeleoparden gegenüber.


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15.06.2011<br />

Sein buschiger Schwanz, beinahe so lang wie sein Körper, zuckt nervös. Er dreht den massigen<br />

Kopf in unsere Richtung und wittert, als wolle er herausfinden, welche Absichten wir hegen, ehe<br />

er sich würdevoll in höhere Lagen zurückzieht und schließlich in einem Felsspalt verschwindet.<br />

Niemals zuvor habe ich ein anmutigeres Tier gesehen.<br />

Begegnung mit dem „Phantom der Berge“<br />

Die Hoffnung, einen der verbliebenen dreihundert Schneeleoparden Ladakhs in den rauen<br />

Berghängen des Himalaya zu entdecken, ließ mich gemeinsam mit fünf weiteren Abenteurern zu<br />

einer Reise der besonderen Art aufbrechen. Zwei auf außergewöhnliche Tierreisen spezialisierte<br />

Anbieter, die Berliner Planeta Verde (www.planeta-verde.de) und das in Kalifornien beheimatete<br />

KarmaQuest (www.karmaquest.com), haben sich zusammengetan, um Gästen in Ladakh ein selten<br />

gewordenes Naturereignis zu bieten: die Beobachtung von Schneeleoparden in freier Wildbahn.<br />

Das „Phantom der Berge“ – die letzten verbliebenen Schneeleoparden unseres<br />

Planeten leben in den Bergen des Himalayas.<br />

Foto Bauer.<br />

Die beiden wissen, was sie tun. Seit Jahren kooperieren sie mit der in Ladakhs Hauptstadt Leh<br />

ansässigen Umweltschutzorganisation Snow Leopard Conservancy. Deren Programmleiter, Jigmet<br />

Dadul, hat in seinem Leben vermutlich mehr Schneeleoparden gesehen als jeder andere. Er weiß,<br />

dass die scheuen Jäger ihrer Beute im Winter hinab in die Täler folgen. Dann kann man sie in<br />

Höhen zwischen drei- und fünftausend Metern beobachten. Außerdem, vertraut er mir zu Beginn<br />

unserer Reise mit einem Augenzwinkern an, sind die ansonsten einzelgängerischen Katzen dann<br />

auf Partnersuche und insofern etwas abgelenkt.<br />

Geduld muss man dennoch aufbringen. Jeden Tag verlassen wir mit Sonnenaufgang unser<br />

Zeltlager auf knapp viertausend Metern Höhe, folgen dem Verlauf mehrerer Täler, überwinden<br />

Hügel und Felsspalten und tasten uns auf vereisten Flüssen voran. Bei minus fünfzehn Grad beißt<br />

jeder Atemzug in der Nase, das Wasser in den Trinkflaschen gefriert zu Eisklumpen. In der<br />

ungewohnten Höhe setze ich langsam und konzentriert einen Schritt vor den anderen. „Genau wie<br />

eine Schildkröte“, bemerkt Jigmet taktvoll. Regelmäßig gehöre ich zu den Letzten, die eine<br />

Bewegung in der bizarren Mondlandschaft ausmachen. Jigmets Augen dagegen sind geübt darin,<br />

das Terrain abzusuchen. Beinahe stündlich läuft ein Blauschaf, ein Steinbock oder ein Fuchs vor<br />

die Linse seines Teleskops.


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15.06.2011<br />

Der Gedanke, dass der rauchgraue Räuber, den wir so innig herbeisehnen, ganz in der Nähe ist<br />

und sich keine unserer Bewegungen entgehen lässt, macht unsere Suche zur Obsession. Nach<br />

einigen Tagen halten wir jeden von der Erosion verformten Felsen für einen Schneeleopardenkopf<br />

und vermuten den Gefleckten hinter jedem noch so kleinen Gebüsch. Nachts besucht er unsere<br />

Träume. Tatsächlich verschmilzt die Bergkatze zuweilen so gekonnt mit ihrer Umgebung, dass<br />

man ihr in Teilen Ladakhs magische Kräfte zuschreibt. In Liedern und Erzählungen ist vom<br />

„Phantom der Berge“ die Rede, dessen klagendes Rufen den Menschen nachts den Schlaf raubt<br />

und Kindern die Haare zu Berge stehen lässt. Es ist dieses Heulen, der Paarungsruf des<br />

Schneeleoparden, das bei westlichen Bergsteigern immer wieder Gerüchte über den Yeti befeuert.<br />

In keinem anderen Land der Welt drückt sich der Buddhismus so überzeugend und<br />

farbenfroh aus wie in Ladakh. Auf Dächern und Brücken wehen Gebetsfahnen.<br />

Foto Bauer.<br />

Das Erbe Tibets<br />

Dr. Rodney Jackson von der Snow Leopard Conservancy lächelt, wenn er solche Geschichten<br />

hört. Die Faszination, die von den letzten verbliebenen Schneeleoparden unseres Planeten ausgeht,<br />

führt ihn seit über dreißig Jahren auf die Spur der Tiere. Er hat früh erkannt, welches Potenzial der<br />

Schneeleopard für die Entwicklung ländlicher Gebiete in Ladakh besitzt. Und dass es sich lohnt,<br />

sich gemeinsam einzurichten, statt einander als Konkurrenten zu bekämpfen.<br />

„Wir setzen dabei vor allem auf die Zusammenarbeit mit dörflichen Gemeinschaften. In Ladakh<br />

haben wir ein Bildungsprogramm initiiert, das Schulkindern die Vorteile eines funktionierenden<br />

Ökosystems nahe bringt. Farmern gegenüber argumentieren wir, dass der langfristige Nutzen<br />

durch den aufkommenden Tourismus größer ist als der kurzfristige Schaden, den ein<br />

Schneeleopard anrichten kann. Gleichzeitig arbeiten wir darauf hin, dass die Gehege, in denen das<br />

Nutzvieh nachts untergebracht ist, durch Elektrozäune verstärkt werden. Auf diese Weise wird<br />

von vornherein ausgeschlossen, dass ein Schneeleopard ein Schaf oder eine Kuh reißt.“


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Autor Thomas Bauer vor dem Bergdorf Rumbak in 4.000 Metern Höhe.<br />

Foto Bauer.<br />

Tierkunde als Unterrichtsfach und ein modernes elektronisches Abwehrsystem: Dr. Jackson und<br />

sein Team haben verstanden, welch kostbaren Schatz die rauen Hänge des Himalaya beherbergen.<br />

Dabei wissen sie sich auf einer Linie mit den Grundüberzeugungen eines Volksglaubens, der das<br />

Töten von Lebewesen nur im äußersten Notfall erlaubt und langfristig sinnvolle Lösungen<br />

favorisiert.<br />

In keinem anderen Land der Welt drückt sich der Buddhismus so überzeugend und farbenfroh aus<br />

wie in Ladakh, das nach der Vertreibung des Dalai Lama durch die Chinesen das religiöse Erbe<br />

Tibets verwaltet. Auf Dächern und Brücken wehen Gebetsfahnen. Stupas in immer <strong>neuen</strong><br />

Ausformungen zieren Anhöhen. Bäche treiben Gebetsmühlen an. Klosteranlagen wie jene in<br />

Hemis und Thikse scheinen aus Felsen und auf Hügeln zu wachsen, so harmonisch fügen sie sich<br />

in die Umgebung ein. Hunderttausende Steine sind mit der Formel verziert, die Gläubige mit<br />

unendlicher Geduld wiederholen: Om Ma Ni Pad Me Hum – ein Segensgebet für Körper, Geist<br />

und Seele. Im äußersten Norden Indiens, der im Winter ausschließlich per Flugzeug erreichbar ist,<br />

fühlt sich der Gast auch heute noch in eine andere Welt versetzt.<br />

Das gilt an diesem Abend umso mehr, da wir unseren Triumph in Rumbak feiern. Alle zwanzig<br />

Bewohner des Dorfes, das sich zwischen mehreren Sechstausendern in einer Falte des Himalaya<br />

versteckt, sind zusammengekommen. Während sich „unser“ Schneeleopard längst in ein einsames<br />

Versteck zurückgezogen hat, singen und tanzen wir bis Mitternacht zu ladakhischer Volksmusik.<br />

Jigmet lächelt mir zu, und ich weiß, dass ich die Ereignisse der vergangenen Tage nie mehr<br />

vergessen werde.<br />

Thomas Bauers Ladakh-Reisebuch „Nurbu – Im Reich des Schneeleoparden“ erscheint 2012 im<br />

Wiesenburg Verlag. Mehr zum Autor: www.literaturnest.de<br />

Weiterführende Informationen zu Ladakh:<br />

Anreise:<br />

Von Delhi in knapp anderthalb Stunden mit Air India, Go Air, Jet Airways oder Kingfisher<br />

Airlines nach Leh.<br />

Organisation:<br />

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15.06.2011<br />

Die Reise in den Hemis-Nationalpark wird von Planeta Verde (www.planeta-verde.de) und<br />

KarmaQuest (www.karmaquest.com) jeden Winter (Ende Februar / Anfang März) angeboten.<br />

Voraussetzungen:<br />

Warme Kleidung („Zwiebelprinzip“), Stirnlampe und Sonnenschutz unerlässlich, Höhen- und<br />

Trekkingerfahrung von Vorteil.<br />

Unterkunft:<br />

In Leh im modernen Mittelklassehotel Omasila, unterwegs in Ein- oder Zweimannzelten sowie bei<br />

Gastfamilien in Rumbak. Vollpension während der gesamten Reise.<br />

Sonstiges:<br />

Obwohl keine Sichtungsgarantie gegeben werden kann, ist es Jigmet Dadul und seinem Team<br />

bislang immer gelungen, einen Schneeleoparden zu entdecken.<br />

RUMÄNIEN - SLOWAKEI<br />

Schlechtere Qualität von Lebensmitteln für<br />

Osteuropa?<br />

Lebensmittelkonzerne verkaufen in Osteuropa Produkte minderer Qualität<br />

mit der gleichen Verpackung wie im Westen. Dies ergab eine Studie des<br />

slowakischen Verbraucherschutzdienstes. Produkte wie Coca-Cola, Jacobs<br />

Krönung, Tchibo Espresso, Nescafé Gold sowie zwei Kotanyi-Pfeffersorten<br />

haben auf den Märkten in Mittel- und Osteuropa minderwertigere Qualität als<br />

in Westeuropa. Die Firmen schweigen oder führen die schlechten Ergebnisse<br />

auf „unterschiedliche Herstellungsdaten“ zurück.<br />

Von Ruxandra Stanescu<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

affee hat in Rumänien noch heute eine besondere Bedeutung. Im Kommunismus war er<br />

Mangelware. Für viele Rumänen ist es deswegen noch immer nicht ganz selbstverständlich,<br />

dass heute in den Regalen Produkte wie Jacobs Krönung oder Nescafé stehen.<br />

Doch viele Rumänen lassen sich lieber Kaffee und Schokolade von Verwandten oder Bekannten<br />

aus Deutschland oder Österreich schicken. Denn die westlichen Markenprodukte, die in Rumänien<br />

erhältlich sind, halten oft nicht das, was sie versprechen. Immer mehr Rumänen klagen, dass die in<br />

ihrem Land gekaufte Coca-Cola nicht so gut schmeckt wie in Wien oder München.<br />

Eine Studie offenbart minderwertige Zutaten<br />

Eine im April veröffentlichte Studie des slowakischen Verbraucherschutzdienstes, die von der EU<br />

-Vertretung in Bratislava finanziert wurde, weist nun darauf hin, dass an dem Verdacht etwas dran<br />

sein könnte. Die Studie behauptet, dass Coca-Cola, Jacobs Krönung, Tchibo Espresso, Nescafé<br />

Gold sowie schwarzer und roter Pfeffer des Herstellers Kotányi auf dem osteuropäischen Markt<br />

eine minderwertigere Qualität haben. Die Konsumentenschützer hatten in Supermärkten in<br />

Deutschland, Österreich, Tschechien, Polen, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien und Ungarn<br />

die gleichen Produkte eingekauft und miteinander verglichen. Dabei stellte sich heraus, dass<br />

lediglich die Qualität von Milka-Schokolade unabhängig vom Absatzmarkt gleich war. Alle<br />

anderen Lebensmittel hatten in Deutschland und Österreich eine weitaus bessere Qualität.


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> 06-11<br />

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15.06.2011<br />

Die Konsumentenschützer stellten zum Beispiel fest, dass Coca-Cola in Osteuropa mit Isoglucose<br />

gesüßt wird, die aus Maisstärke gewonnen wird und billiger ist. In Deutschland und Österreich<br />

dagegen werden Saccharose und Kristallzucker verwendet. Coca-Cola zeigt sich von den<br />

Vorwürfen überrascht. Ibolya Szabo, Senior Communication Manager Coca-Cola Europe, sagte,<br />

dass die Firma in vielen Ländern der Welt, einschließlich den USA, Stärkezucker benutze. In<br />

Deutschland und Österreich würde man genauso wie in Rumänien Raffinade benutzen. Man sei<br />

folglich „erstaunt über die angeblichen Laborbefunde bezüglich der in Rumänien verkauften Coca<br />

-Cola“ und werde diese eingehend prüfen, um zu eruieren, wie es zu dieser „Konfusion“ kommen<br />

konnte. Ein Sprecher der deutschen Coca-Cola-Zentrale erklärte, dass die in Deutschland<br />

verwendete „125 Jahre alte Rezeptur“ sich nicht von denen in anderen Staaten unterscheide.<br />

Die Studie wurde zwar von der EU-Kommission finanziert, doch der für den Verbraucherschutz<br />

zuständige Kommissar John Dalli, der bei einem Besuch in der Slowakei die Ergebnisse erhielt,<br />

reagiert verhalten. „Die Studie bezieht sich nur auf eine begrenzte Anzahl von Produkten,<br />

außerdem weiß ich nichts über die tatsächliche Verlässlichkeit der Ergebnisse“, sagte ein Sprecher<br />

des Kommissars. „Es ist durchaus üblich, dass Produkte der gleichen Marke in verschiedenen<br />

Ländern unterschiedlich hergestellt werden. Es ist Aufgabe der Unternehmen, die Qualität zu<br />

garantieren.“<br />

Geschäfte mit Importen aus Deutschland und Österreich<br />

In Osteuropa profitieren derweil findige Geschäftsleute vom angeblichen Qualitätsmangel der<br />

Produkte. Einer nennt sich beispielsweise Marius Popescu, will seinen richtigen Namen nicht<br />

nennen, fährt einmal pro Woche zur deutsch-österreichischen Grenze und kauft ein, was in<br />

Supermärkten gerade im Angebot ist. Im rumänischen Hermannstadt hält jede Woche ein Bus aus<br />

Deutschland und Österreich, voll mit Kaffee, Schokolade und Waschmittel. Am besten verkaufen<br />

sich in Hermannstadt Öl und Kaffee, vor Feiertagen Süßigkeiten.<br />

Dass dieses Geschäft nicht unbedingt legal ist, weiß Popescu. Denn Steuern zahlt er auf die<br />

verkauften Produkte nicht. Die Idee, den Handel mit Westprodukten zu intensivieren, kam ihm<br />

nach einem Deutschland-Besuch, von dem er für alle Nachbarn Kaffee mitbringen musste.<br />

Als er eines Tages seinen Job verlor, blieben die Fahrten, um Einkommen zu erzielen. Inzwischen<br />

hat er für seine Familie ein Haus gebaut und auch seine Geschwister ins „Geschäft“ gebracht. Von<br />

der slowakischen Studie weiß er zwar nichts, es kümmert ihn auch nicht. Denn er ist sicher, dass<br />

noch viel Zeit vergehen wird, bis die Rumänen die gleiche Qualität bekommen. Und sein Business<br />

floriert, denn inzwischen nimmt er auch Bestellungen für teurere Produkte wie Parfum entgegen.<br />

*<br />

Die Autorin ist Korrespondentin von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in ganz<br />

Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu allen<br />

Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und Osteuropas in<br />

der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen unter www.n-ost.de.<br />

KULT-FISCH<br />

Wobla – gut zum Bier<br />

Statt Chips isst man in Russland zum Gerstensaft den Trockenfisch „Wobla“.<br />

Ein Selbstversuch in Astrachan.<br />

Von Ulrich Heyden


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> 06-11<br />

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15.06.2011<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

Wobla-Verkauf auf einem Markt in Astrachan.<br />

(Foto: Heyden)<br />

s war ein gemütlicher Abend in einer russischen Küche. Ich befand mich gerade in<br />

Astrachan. Bei Nina, meiner Gastgeberin, gab es Hühnersuppe mit Nudeln. Plötzlich fragte<br />

mich die Hausherrin, ob ich einen Wobla probieren wolle. Wobla – zu Deutsch „kaspisches<br />

Rotauge“ – ist ein getrockneter Fisch, etwas größer als eine Männerhand und nicht dicker als ein<br />

Ringfinger. Ich hatte den salzigen Wobla schon in Moskau probiert, zum Bier in Künstlerateliers<br />

oder nach dem Banja-Schwitzbad. Aber einen Wobla direkt an der Fangstelle zu verspeisen, das<br />

wollte ich mir natürlich nicht entgehen lassen.<br />

Fischer ziehen Rutilus caspicus aus der zugefrorenen Wolga<br />

Der Rutilus caspicus – so der lateinische Fachausdruck für den Wobla - zieht im März aus dem<br />

Kaspischen Meer zum Laichen in die Wolga, die zu dieser Zeit noch zugefroren ist. So sieht man<br />

im März auf der Wolga bei Astrachan ganze Trauben von Fischern, die auf Klappstühlen durch<br />

Eislöcher mit einer kleinen Angel die ersten Woblas fischen. Der kleine Delikatessen-Fisch wird<br />

dann mit den Innereien drei Tage in Salzlauge eingelegt und anschließend eine Woche an der<br />

frischen Luft getrocknet. Danach kann man das hart gewordene Flossen-Tier, welches zur Familie<br />

der Karpfenfische gehört, überall in Russland auf Freiluftmärkten oder an Kiosken kaufen, je nach<br />

Größe 25 bis 60 Rubel (1,5 Euro) das Stück.<br />

Nina fragte mich also, ob ich einen Wobla wolle. Meine Augen leuchteten bei diesem Angebot<br />

besonderes hell, denn ich konnte es kaum erwarten, den eigenartigen Geschmack des Rutilus<br />

caspicus zu kosten. Ich bekam die Delikatesse gereicht und meine Gastgeberin beobachtete, wie<br />

ich etwas unentschlossenen den trockenen Fisch-Schwanz abbrach. Nina ging mein Gefinger<br />

irgendwie zu langsam. Sie nahm mir das Schuppentier wieder aus der Hand. „Den Ausländern<br />

muss man aber auch alles zeigen“, dachte sie sich wohl und brach den silber-grauen Fisch<br />

entschlossen in der Mitte durch, so dass es krachte. Nun war es einfacher, die trockene Fischhaut<br />

vom Fleisch abzuziehen, das ebenfalls trocken und hart war.


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> 06-11<br />

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15.06.2011<br />

So gut wie nichts wird übriggelassen<br />

Wir unterhielten uns über dies und das und dabei verschwand immer wieder ein Stück des<br />

salzigen Fleisches in meinem Mund. Zu meiner Freude fand ich meinem Wobla auch leuchtendgelben<br />

Rogen. Er war krümelig-trocken und hatte einen intensiven Geschmack. Irgendwann war<br />

die Prozedur für mich beendet und ich schob meinen Teller beiseite, doch Nina schaute streng auf<br />

den kleinen Berg von Haut, Gräten und Teilen der Wirbelsäule. Mit unwirschem Gesicht trat<br />

meine Gastgeberin wieder in Aktion. In dem was ich als Abfall hinterlassen hatte, fand Nina noch<br />

viele essbare Fisch-Stücke.<br />

Der Wobla ist ein Kult-Fisch. Maler haben ihn in ihre Stilleben integriert. Man findet ihn in jeder<br />

russischen Stadt auf Freiluftmärkten und in den Kiosken. Der Wobla, eingewickelt in<br />

Zeitungspapier, eignet sich vorzüglich zum Verzehr unterwegs. Dabei dient das Zeitungspapier als<br />

Tischdecke auf der Parkbank oder auf dem Klapptisch im Zug. Das kaspische Rotauge schätzen<br />

alle, die lange unterwegs sind, nicht nur Bahnreisende, sondern auch Piloten und sogar<br />

Kosmonauten.<br />

Protestaktionen wegen Kommerzialisierung des Fangs<br />

Die russischen Männer sind wahre Angel-Fanatiker. Sie stellen sich an jedes Gewässer und halten<br />

seelenruhig ihre Ruten raus. Doch die Jagd nach dem Wobla und anderen Schuppentieren wird<br />

nun Schritt für Schritt begrenzt. In Astrachan dürfen Hobbyangler pro Tag nicht mehr als fünf<br />

Kilogramm Fisch angeln. Schon 2010 unterzeichnete Präsident Dmitri Medwedew ein Gesetz,<br />

nachdem der Fischfang zum Teil kostenpflichtig wird. Findige Unternehmer wollen die besten<br />

Fangplätze zu Sport-Areals ausbauen und Angel-Lizenzen verkaufen.<br />

Doch nun fürchten die Hobby-Angler, dass man sie vom kostenlosen Fischfang ausschließen will.<br />

Nachdem im März 6.000 Fangplätze an Flüssen und Seen im ganzen Land an Angelsport-<br />

Unternehmen ausgelost wurden, kam es in vielen russischen Städten zu Protestaktionen. Dem<br />

russischen Tandem - Putin und Medwedew – kommen diese Proteste kurz vor den Wahlen sehr<br />

ungelegen und so verkündeten die beiden, man werde das Gesetz so ändern, dass genug freie<br />

Plätze für kostenloses Angeln erhalten bleiben.<br />

POLEN<br />

Warschaus kostbare Quellen<br />

In der Millionenstadt Warschau holen sich viele Bewohner ihr Trinkwasser am<br />

Brunnen. In nahezu jedem Wohnviertel stehen sie. Aus ihnen fließt kaltes,<br />

klares, kostenloses Wasser. Es stammt aus unterirdischen Quellen und kann<br />

bedenkenlos getrunken werden. Das Wasser aus den Rohren dagegen ist braun<br />

und riecht nach Chlor. Denn das Leitungssystem der Stadt ist veraltet und<br />

überfordert, die Rohre in vielen Häusern sind nicht saniert.<br />

Von Elisabeth Lehmann<br />

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Der Gang zum Brunnen gehört für den Warschauer Tadeusz Trzcinski zur<br />

Alltagsroutine.<br />

Foto: Elisabeth Lehmann<br />

er Gang zum Brunnen gehört für den Warschauer Tadeusz Trzcinski zur Alltagsroutine.<br />

Vier leere Plastikkanister hat er auf seinen Bollerwagen geladen. Gemächlich schlurft er an<br />

den Plattenbauten seines Viertels vorbei zu einem kleinen Brunnenhäuschen. Hier macht er<br />

halt, dreht die Wasserhähne auf und lässt klares Quellwasser in die Kanister fließen.<br />

Bequemer wäre es für Trzcinski, einfach das Leitungswasser aus dem Hahn zu nehmen. So hat er<br />

es jahrzehntelang gemacht. Doch seit 1996 der Brunnen gebaut wurde, boykottiert er die<br />

bräunliche, chlorversetze Brühe, die aus dem Hahn kommt.<br />

107 Brunnen stehen den Warschauern zur Verfügung<br />

Für viele Warschauer – vom Manager bis zur Hausfrau – ist der Brunnen eine Alternative zum<br />

Leitungswasser. Aus insgesamt 107 Brunnen schöpfen die Stadtbewohner täglich ihr Trinkwasser.<br />

Die unterirdischen Quellen sind ein Schatz, auf den sie und Millionen anderer Einwohner des<br />

Gebiets Masowien rund um die polnische Hauptstadt kostenlos zugreifen. Ursprünglich waren die<br />

unterirdischen Quellen als Notreserve gedacht, um im Fall von Naturkatastrophen oder Krieg<br />

Wasservorräte zu haben. In den 1990er Jahren begann die Stadt, Löcher zu bohren, um das<br />

Quellwasser an die Oberfläche zu befördern. Inzwischen gehört der Gang zum Brunnen für viele<br />

Bewohner zum Alltag.<br />

Der Rentner Trzcinski ist überzeugt von der Qualität des Wassers: „Das Tiefenwasser kommt aus<br />

300 Metern unter der Erde.“ Dort lagert es schon rund 30 Millionen Jahre. Auch Dariusz Rudas<br />

von der staatlichen Hygienebehörde Sanepid versichert: Das lange Lagern zwischen den<br />

Gesteinsschichten hat dem Wasser gut getan. „Dadurch enthält es heute jede Menge Mineralien<br />

wie Eisen oder Mangan.“<br />

In den Häusern: Verdreckte Kupferrohre, verrostete Hähne<br />

Das sind Stoffe, die dem normalen Leitungswasser in Warschau erst noch hinzugefügt werden<br />

müssen. Weil das Quellwasser allein für die Zweimillionen-Metropole nicht reicht, bereitet das<br />

Wasserwerk im Zentrum Warschaus das Weichselwasser auf. Doch die Wege, die das Wasser bis<br />

in die heimischen Küchen und Bäder zurücklegen muss, sind oft weit. Außerdem sind die


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Leitungsnetze, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts gebaut wurden, veraltet. So kommt das<br />

Wasser oft in schlechter Qualität in den Häusern an. „Wenn es unser Werk verlässt, entspricht es<br />

allen von der EU vorgeschriebenen Normen. Das wird regelmäßig vom Gesundheitsministerium<br />

überprüft und kann bedenkenlos getrunken werden. Aber wir können natürlich nicht für die<br />

Leitungen in den Häusern garantieren“, sagt Izabela Jezowska von den Warschauer<br />

Wasserwerken. Und hier gibt es vielfach verdreckte Kupferrohre und vorrostete Wasserhähne. Im<br />

Sommer mischen die Werke dem Wasser deshalb Chlor bei, erklärt Izabela Jezowska. Die Menge<br />

ist für Menschen zwar nicht gesundheitsschädigend, aber geschmacklich wahrnehmbar.<br />

Filter gegen zu viel Eisen und Mangan<br />

Doch kürzlich gab es auch Probleme mit dem ansonsten so klaren Brunnenwasser. Die staatliche<br />

Hygienebehörde bemängelte, dass das Quellwasser zu viel Eisen und Mangan enthalte. Die Werte<br />

seien zwar unbedenklich, versichert Sprecher Dariusz Rudas. Doch sie entsprächen nicht den<br />

Vorgaben des Ministeriums. So müssen viele der alten Brunnen nachgerüstet werden. Neue Filter<br />

sollen dem Wasser einen Teil der Mineralien entziehen. In die <strong>neuen</strong> Brunnen werden sie sofort<br />

eingebaut. Die Kosten trägt die Stadtteilverwaltung, in deren Bezirk der Brunnen steht. Die<br />

Einwohner Warschaus zahlen keinen Cent.<br />

*<br />

Die Autorin ist Korrespondentin von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in ganz<br />

Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu allen<br />

Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und Osteuropas in<br />

der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen unter www.n-ost.de.<br />

ZEITGESCHICHTE<br />

Die Räumung von Karlshorst<br />

Eine Berliner Zeitzeugin erzählt vom Mai 1945. Die Karlshorster mussten ihre<br />

Wohnungen für die siegreichen Russen räumen. „Die Zeit war ein ständiges<br />

Wechselbad der Gefühle“, erinnert sie sich. Letztlich aber habe sie in den<br />

Russen trotz aller Übergriffe und erlittener Schikanen doch mehr die Befreier<br />

als die Besatzer gesehen.<br />

Von Juliane Inozemtsev<br />

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Zeitzeugin Lotti Reitschert aus Karlshorst.<br />

(Foto: Juliane Inozemtsev)<br />

iografien, wie die von Charlotte „Lotti“ Reitschert sind selten geworden heutzutage. Die fast<br />

90-jährige Berlinerin hat ihr Leben lang im östlich gelegenen Stadtteil Karlshorst gewohnt,<br />

der heute zum Doppelbezirk Lichtenberg-Hohenschönhausen gehört. „In meiner Kindheit in<br />

den zwanziger und dreißiger Jahren ging es hier noch recht ländlich zu, es gab kaum Verkehr und<br />

jeder kannte den Anderen“, erzählt die alte Dame mit den kurzen wießen Locken und den braunen<br />

Augen.<br />

Als Mädchen besuchte Lotti das Karlshorster Lyzeum. Von den Schrecken des Krieges blieb sie in<br />

den folgenden Jahren verschont, obwohl auch in Karlshorst Bomben fielen. „Ab 1941 stand ich in<br />

engem Briefkontakt mit einem jungen Soldaten an der Front. Er wurde später mein Mann.“ Auf<br />

dem Hochzeitsbild vom Mai 1944 sieht man ein glückliches junges Paar vor dem Karlshorster<br />

Standesamt – heute befindet sich an diesem Ort, weniger romantisch, die Hochschule für Technik<br />

und Wissenschaft.<br />

Wir hatten große Angst vor den Russen<br />

Doch das Glück der Beiden währte nicht lange. Lottis Mann kehrte nicht aus dem Krieg heim, den<br />

letzten Brief erhielt sie im April 1945, unmittelbar bevor die Befreiung Berlins durch die<br />

sowjetische Rote Armee begann. Karlshorst wird damals zum Hauptsitz der sowjetischen<br />

Militärführung und bereits in jenen Tagen macht erstmals das Gerücht die Runde, der Stadtteil<br />

solle für die Befreier, die zugleich neue Besatzer sind, geräumt werden.<br />

„Die meisten, auch ich, hatten große Angst vor den Russen“, erzählt Lotti. „Die Nazis hatten sie in<br />

ihrer Propaganda als Menschenfresser dargestellt. Wir glaubten das, weil wir es nicht besser<br />

wussten, denn in Karlshorst hatte es bis dato so gut wie keine Ausländer gegeben.“ Lotti selbst<br />

hatte zuvor nur einmal in ihrem Leben Ausländer gesehen, das war während der Olympischen<br />

Spiele 1936 gewesen.<br />

Die einrückenden Soldaten der Roten Armee sind keine Menschenfresser, aber viele von ihnen<br />

sind wegen des Erlittenen getrieben von Bitterkeit und Rachegefühlen. Und so kommt es kurz<br />

nach Kriegsende sehr häufig zu Plünderungen, Brandschatzungen und Vergewaltigungen. Einmal<br />

wird auch Lotti verfolgt, ein russischer Soldat feuert Salven aus seiner Pistole ab und brüllt: „Frau<br />

komm!“ Lotti rennt in Todesangst in den nächstbesten Hauseingang, stößt dort mit einem<br />

russischen Offizier zusammen. Der fragt sie, was passiert sei. Sie erzählt von dem Verfolger, der


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Offizier sagt, sie solle keine Angst mehr haben, sie stehe von jetzt an unter seinem Schutz. „Später<br />

erfuhr ich, dass die Deutschen seine Frau und seine kleine Tochter Lisa vor seinen Augen<br />

erschossen hatten“, sagt Lotti. „Und doch hasste dieser Mann uns Deutsche nicht. Das hat mich<br />

tief beeindruckt. Ich wieß nicht, ob ich an seiner Stelle so großherzig hätte sein können.“<br />

„Jeder Karlshorster durfte einen Koffer mitnehmen sowie<br />

einen Beutel mit Lebensmitteln. Bis spätestens 18 Uhr sollten<br />

alle ihre Wohnungen und Häuser verlassen haben“<br />

Am 3. Mai kommt der offizielle Räumungsbefehl von der sowjetischen Führung. Lotti arbeitet zu<br />

dieser Zeit als Sachbearbeiterin in der neu gegründeten Karlshorster Bürgermeisterei unter dem<br />

kommissarisch eingesetzten jüdischen Bürgermeister Salomon, einem Überlebenden aus dem<br />

Konzentrationslager. Nachdem die junge Dolmetscherin Tatjana Bredow den Befehl ins Deutsche<br />

übersetzt hat, diktieren ihn der Bürgermeister und sein Stellvertreter den Schreibkräften, zu denen<br />

auch Lotti gehört. „Wir haben die ganze Nacht vom 3. Zum 4. Mai durchgearbeitet und den<br />

Befehl hundertfach mit Durchschlag an der Schreibmaschine abgetippt“, erzählt Lotti.<br />

Die Zettel werden an Bäumen und Hauswänden angeschlagen und außerdem über Megafone<br />

durch die Straßen getragen. „Jeder Karlshorster durfte einen Koffer mitnehmen sowie einen<br />

Beutel mit Lebensmitteln“, erinnert sich Lotti. „Bis spätestens 18 Uhr sollten alle ihre Wohnungen<br />

und Häuser verlassen haben. Viele wussten auf die Schnelle gar nicht, wohin.“<br />

Zunächst habe es geheißen, die Bevölkerung dürfe in einem halben Jahr zurückkehren, so Lotti.<br />

„Viele Leute nahmen deshalb nur Sommersachen mit.“ Kaum jemand habe geahnt, dass die<br />

Sowjets bis in die 60er Jahre in den Wohnungen bleiben würden. „Ich wieß noch, dass meine<br />

Mutter als erstes die schmutzige Wäsche einpackte, weil sie befürchtete, die Russen könnten<br />

schlecht über sie denken, wenn sie diese in der Wohnung vorfänden. Eigentlich verrückt, nicht<br />

wahr?“, sagt Lotti. Sie und ihre Eltern bezogen eine kleine Wohnung im sogenannten Fuchsbau,<br />

einem Teil von Karlshorst, der außerhalb der Sperrzone lag. „Anfangs war das geräumte Gebiet<br />

nur mit Schlagbäumen und vereinzelten Wachposten markiert, erst später wurde es mit Zäunen<br />

abgeriegelt“, so Lotti.<br />

„Mir tat es in der Seele weh, dass sie nun alles einfach so<br />

zurücklassen sollten“<br />

In der Nacht vom 8. Auf den 9. Mai 1945 wird die bedingungslose Kapitulation durch die<br />

deutschen Nationalsozialisten und die Alliierten in Karlshorst ratifiziert. „Ich war froh, dass der<br />

Krieg endlich vorbei war, aber auch ärgerlich darüber, wie die Räumung von Karlshorst<br />

vonstattengegangen war“, sagt Lotti. „Meine Eltern hatten sich erst 1936 komplett neu<br />

eingerichtet und dafür hatten sie viele Jahre hart gespart. Mir tat es in der Seele weh, dass sie nun<br />

alles einfach so zurücklassen sollten.“<br />

Und so beschließt Lotti, noch einmal mit ihren Eltern in die Sperrzone zu fahren, um noch<br />

Einiges aus der Wohnung zu holen. Sie spricht einen Fuhrwerkbesitzer an, der mit seiner Familie<br />

aus den Ostgebieten geflohen ist. Dieser ist bereit zu helfen, will das Fuhrwerk aber selbst lenken.<br />

„Er wollte es nicht aus der Hand geben, weil es alles war, was er noch besaß“, sagt Lotti.<br />

Es gelingt ihr, in der Bürgermeisterei einen der wenigen „propuski“ (Passierscheine) zu<br />

bekommen. Er ist genau einen Tag lang gültig und berechtigt dazu, durch das Sperrgebiet zu<br />

fahren. Er berechtigt jedoch keinesfalls zum Abholen von Möbeln aus der alten Wohnung. Das ist<br />

streng verboten. Doch dieses Risiko gehen alle Beteiligten ein. Aber dann hat der Fahrer des<br />

Fuhrwerks ausgerechnet an dem Tag, wo der Passierschein gültig ist, keine Zeit. Und so fahren sie


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einen Tag später, als geplant. Dass sie nun illegal im Sperrgebiet unterwegs sind, wieß nur Lotti,<br />

nicht aber ihre Eltern und der Fahrer des Fuhrwerks. “Rückblickend war das ziemlich leichtsinnig,<br />

ich wusste, dass uns allen eine harte Strafe drohen könnte. Aber als junger Mensch geht man doch<br />

davon aus, dass alles gut geht“, sagt sie.<br />

„Persönliche Sachen, wie die Fotoalben der Familie, hatten<br />

die <strong>neuen</strong> Bewohner bereits entsorgt“<br />

Das Hineinkommen in das Sperrgebiet ist zu dieser Zeit noch kein Problem. Es ist ein russischer<br />

Feiertag, an dem nur die wichtigsten Wachposten besetzt sind und es gibt genügend<br />

Schleichwege. Lotti hat noch einen Schlüssel zur Wohnung, damit kommen sie rein. Dann laden<br />

sie so schnell wie möglich auf: zwei Betten, zwei Nachttische, ein Liegesofa, eine Nähmaschine,<br />

einen Schrank. „Persönliche Sachen, wie die Fotoalben der Familie, hatten die <strong>neuen</strong> Bewohner<br />

bereits entsorgt“, sagt Lotti. „Aber praktische Dinge hatten auch Vorrang.“ Gerade als sie<br />

abfahren wollen, werden sie vor dem Haus von einem bewaffneten Wachposten entdeckt und zur<br />

Rede gestellt: „Stoj stoj – nix fahren!“ ruft er. Er sieht sofort, dass der Passierschein abgelaufen ist<br />

und schickt Lotti zu seinem Vorgesetzten in die „Kommandantura“. Ihre Eltern und der Fahrer<br />

warten indessen angsterfüllt mit dem beladenen Fuhrwerk am Schlagbaum.<br />

Lotti erzählt dem Offizier, dass sie nur ein paar Kleinigkeiten holen wollte. „Natürlich habe ich<br />

nicht verraten, dass am Schlagbaum ein voll bepacktes Fuhrwerk steht“, sagt sie, „und zum Glück<br />

hat er meine Angaben nicht überprüft.“ Der Offizier stellt ihr einen gültigen Passierschein aus,<br />

will aber als Gegenleistung, dass sie um 18 Uhr zu einem Stelldichein wieder kommt. Lotti ahnt,<br />

was das heißt. Doch zum Schein willigt sie ein. „Danach hatte ich eine ganze Weile Angst, dass er<br />

mich ausfindig macht.“ Doch sie hatte wieder Glück, nichts dergleichen passierte.<br />

„Diese Zeit war ein ständiges Wechselbad der Gefühle“, sagt Lotti. „Einerseits haben uns die<br />

Russen von den Nazis befreit. Doch dann haben sie uns bei der Räumung von Karlshorst alles<br />

genommen. Einiges haben wir später zurückbekommen, anderes nie wieder gesehen. Manche<br />

haben uns bedroht, wieder andere beschützt.“ Lotti denkt einen Moment nach. Dann sagt sie:<br />

„Aber insgesamt habe ich die Russen doch weniger als Besatzer gesehen, denn als Befreier.“<br />

ZWEITER WELTKRIEG<br />

Juni 1941: Angriff auf die Sowjetunion<br />

Vor 70 Jahren, im Morgengrauen des 22. Juni 1941griffen mehr als 120<br />

deutsche Divisionen die Sowjetunion an. Auf einer Front von 2130 Kilometern<br />

Länge, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, rückte die deutsche<br />

Wehrmacht vor. Sie nannte ihren Überfall „Unternehmen Barbarossa“. Vom<br />

8. auf den 9.Mai 1945, nachdem Millionen von Soldaten und Zivilisten elend<br />

umgekommen waren, endete die europäische Tragödie mit der<br />

bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches. – Versuch einer Analyse<br />

zur Rolle Hitlers und Stalins, 70 Jahre danach.<br />

Von Leonid Luks<br />

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<strong>Zur</strong> Person: Leonid Luks<br />

Prof. Dr. Leonid Luks wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er<br />

studierte Slavische Philologie, Osteuropäische und Neuere Geschichte in Jerusalem<br />

und München. Seine Promotion (1973) und auch seine Habilitation (1981) erfolgten<br />

an der Ludwig- Maximilians-Universität München.<br />

Luks war danach Hochschullehrer an den Universitäten München, Bremen und<br />

Köln. Seit 1995 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische<br />

Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.<br />

Außerdem ist Luks Mitherausgeber der Zeitschriften „Forum für osteuropäische<br />

Ideen- und Zeitgeschichte“ (http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forum/index.htm)<br />

sowie „Forum novejšej vostočnoevropejskoj istorii i kul'tury“ (http://www1.kueichstaett.de/ZIMOS/forumruss.html)<br />

s war Hitlers und Stalins Krieg. Als Hitler am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, befand<br />

sich die sowjetische Bevölkerung bereits seit zwölf Jahren im Krieg. Dieser Krieg wurde ihr<br />

im Jahre 1929 – im „Jahr des großen Umbruchs“ – von Josef Stalin erklärt.<br />

Damals entschloss sich der sowjetische Diktator zu einem waghalsigen und aus der Sicht vieler<br />

Zeitzeugen undurchführbaren Unternehmen – nämlich zur gänzlichen Enteignung der russischen<br />

Bauernschaft, die Stalin als die „letzte kapitalistische Klasse“ Russlands bezeichnete. Mehr als<br />

100 Millionen Menschen – etwa 80 Prozent der Bevölkerung – sollten ihres Hab und Guts beraubt<br />

werden. Auf diese Kriegserklärung antworteten die Bauern mit einem verzweifelten Widerstand.<br />

Die wehrlose Landbevölkerung Russlands hatte keine Chance<br />

Einer der scharfsinnigsten Beobachter der damaligen Entwicklung, der russische Exilhistoriker<br />

Georgij Fedotow, schrieb 1931: „Nun entscheidet sich das Schicksal Russlands für die nächsten<br />

Jahrhunderte. Sollte das Volk diese entscheidende Schlacht verlieren, wird es aufhören, Subjekt<br />

der Geschichte zu sein“.<br />

Die wehrlose Landbevölkerung hatte keine Chance, diesen Krieg gegen den totalitären Leviathan<br />

zu gewinnen, der in seinen Händen so viele Machtmittel kumuliert hatte, von denen Thomas<br />

Hobbes nicht einmal hätte träumen können. Aber noch wirksamer als die direkten


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Terrormaßnahmen lähmte die Hungersnot von 1932/33 den Widerstand der Bauern, die größte<br />

Hungersnot in der Geschichte des Landes, die infolge der brutalen Enteignungspolitik des<br />

Regimes ausbrach.<br />

Wurde der Hunger von der Stalin-Clique als Waffe benutzt, um das aufsässige Bauerntum zu<br />

bestrafen? Solche Vermutungen werden in Ost und West wiederholt geäußert. Wie dem auch sei,<br />

eine direkte Verbindung zwischen der Kollektivierung der Landwirtschaft und der damaligen<br />

Hungerkatastrophe steht für die Mehrheit der Kenner der Thematik außer Zweifel. Der<br />

sowjetische Agrarhistoriker Viktor Danilow schrieb zur Zeit der Gorbatschowschen Perestroika<br />

(1988): „Der Hunger von 1932–33 stellte das schrecklichste Verbrechen Stalins dar. Dies war eine<br />

Katastrophe, die die gesamte künftige Entwicklung des sowjetischen Dorfes entscheidend prägte.“<br />

Parteitag der Sieger – Parteitag der Selbstmörder<br />

Mitte der 1930er Jahre – nach der Bezwingung des sowjetischen Bauerntums – gebärdete sich die<br />

bolschewistische Partei wie ein allmächtiger Demiurg, der imstande sei, über Nacht eine neue<br />

Welt zu kreieren. Der 17. Parteitag der Bolschewiki, der im Januar 1934, also unmittelbar nach<br />

der endgültigen Niederlage der sowjetischen Bauern stattfand, wurde von den<br />

Parteipropagandisten sogar als „Parteitag der Sieger“ bezeichnet. In einer gleichgeschalteten<br />

Gesellschaft stellte indes eine derart selbstbewusste Partei einen Fremdkörper dar. Einige Jahre<br />

später – zur Zeit des „Großen Terrors“ von 1936–1938 – wurde die sowjetische Machtelite, die<br />

unangefochten alle Machthebel im Staat kontrollierte und die wichtigste Grundlage des Regimes<br />

darstellte, enthauptet. Der „Fremdkörper“ wurde in den gesamtgesellschaftlichen Organismus<br />

integriert.<br />

Anders als die sowjetische Bauernschaft hat sich die sowjetische Oligarchie gegen den<br />

Vernichtungsfeldzug, den Stalin gegen sie richtete, kaum gewehrt. Nicht zuletzt deshalb hat der<br />

Moskauer Historiker Michail Gefter den „Parteitag der Sieger“ von 1934 in „Parteitag der<br />

Selbstmörder“ umbenannt.<br />

„Stalin führt einen Krieg gegen ganz Russland“<br />

Im April 1938 – auf dem Höhepunkt des „Großen Terrors“ – schrieb Fedotow: „Stalin führt einen<br />

Krieg gegen ganz Russland, wenn man ein einseitiges Abschlachten von […] wehrlosen<br />

Gefangenen einen Krieg nennen kann […] Ein Mann gegen das ganze Land. Noch nie war die<br />

Lage Russlands derart verzweifelt. “<br />

Zu den verhängnisvollsten Folgen dieses Krieges gehörte die Enthauptung der Roten Armee,<br />

ausgerechnet am Vorabend des deutsch-sowjetischen Krieges. Die Ausmaße dieser Gewaltorgie<br />

demonstrieren z.B. folgende Zahlen: Im deutsch-sowjetischen Krieg fielen etwa 600 sowjetische<br />

Generäle. Im Krieg Stalins gegen die Rote Armee von 1937–39 fielen dreimal so viele Generäle<br />

bzw. Dem Generalsrang Gleichgestellte zum Opfer. Während Stalin im Krieg gegen das eigene<br />

Volk beträchtliche Erfolge verbuchen konnte, versagte er bei der Aufgabe der Verteidigung des<br />

Landes gegen außenpolitische Feinde beinahe gänzlich. Auf diesem Gebiet war er, wie Fedotow<br />

mit Recht betont, ein hoffnungsloser Stümper.<br />

Als sich die Westmächte nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Hitler im März 1939<br />

von ihrer kurzsichtigen und selbstzerstörerischen Appeasementpolitik abwandten und sich<br />

bereiterklärten, gemeinsam mit Moskau die Aggressionsgelüste Hitlers einzudämmen, entschloss<br />

sich Stalin aus einem kurzsichtigen machiavellistischen Kalkül zu einem Bündnis mit dem<br />

gefährlichsten Feind, mit dem Russland je konfrontiert worden war.<br />

Die sowjetische Rückendeckung ermöglichte Hitler nach seinem Überfall auf Polen beispiellose<br />

militärische Erfolge. Da er im Osten nichts zu befürchten hatte, unterwarf er innerhalb von etwa


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20 Monaten beinahe den gesamten außerrussischen Teil des europäischen Kontinents. Immense<br />

demographische und industrielle Ressourcen standen jetzt dem NS-Staat und seinen Vasallen zur<br />

Verfügung. Nun hielt Hitler die Zeit für gekommen, um seinen bereits in Mein Kampf<br />

entworfenen Plan der Eroberung des Lebensraums im Osten zu realisieren.<br />

Das „Unternehmen Barbarossa“<br />

Am 31. Juli 1940 fand auf dem Obersalzberg ein Treffen Hitlers mit der Führung der Wehrmacht<br />

statt. Hitlers Worte wurden vom Generalstabschef des Heeres Halder folgendermaßen<br />

zusammengefasst: „Im Zuge einer Auseinandersetzung muss Russland erledigt werden […]<br />

Operation hat nur Sinn, wenn wir [den russischen Staat] in einem Zuge zerschlagen. Gewisser<br />

Raumgewinn allein genügt nicht“.<br />

Hitlers Absicht, eine neue Front zu eröffnen, bevor der Krieg gegen England zu Ende ging, rief<br />

bei einigen Vertretern des konservativen Establishments des Reiches Skepsis hervor. Indes blieben<br />

alle Versuche der konservativen Verbündeten Hitlers, dem abenteuerlichen Vorgehen des<br />

„Führers“ Einhalt zu gebieten, erfolglos. Die Konservativen gaben, ähnlich wie bei früheren<br />

Konfliktsituationen, letztendlich nach, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie, trotz aller<br />

Vorbehalte, mit vielen Punkten des außenpolitischen Programms Hitlers übereinstimmten. Der<br />

Militärhistoriker Manfred Messerschmidt spricht in diesem Zusammenhang von einer<br />

„Teilidentität der Ziele“.<br />

Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde von Hitler bewusst als Krieg neuer Art, als<br />

weltanschaulicher Vernichtungskrieg konzipiert.<br />

Auch Heinrich Himmler dachte damals über die Zukunft Russlands nach: „Zweck des<br />

Russlandfeldzugs [ist] die Dezimierung der slawischen Bevölkerung um 30 Millionen“.<br />

Deutsche Generäle zum Vernichtungskrieg bereit<br />

Die Äußerungen Hitlers und Himmlers überraschen nicht. Massenmorde sind für das Vorgehen<br />

totalitärer Herrscher beinahe konstitutiv. Wichtiger ist die Frage, wie die deutschen Generäle auf<br />

solche Pläne reagierten, auf Gedankengänge also, die all ihre bisherigen Vorstellungen vom Krieg<br />

aus den Angeln hoben. Dabei darf man nicht vergessen, dass es sich bei diesen Generälen nicht<br />

selten um die gleichen Militärs handelte, die noch in den 1920er und zu Beginn der 30er Jahre mit<br />

dem künftigen Kriegsgegner – der Roten Armee – eng zusammengearbeitet hatten. Dessen<br />

ungeachtet konnte man, wenn man von einigen Ausnahmen absieht, so gut wie keinen<br />

vernehmbaren Widerstand gegen die von der NS-Führung konzipierte Vorgehensweise<br />

registrieren.<br />

Ernst Nolte bezeichnete seinerzeit das von Hitler im Dezember 1940 endgültig bewilligte<br />

„Unternehmen Barbarossa“ als den „ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs- und<br />

Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt“.<br />

Dass dieser Krieg ausgerechnet von einem Land geführt wurde, dem viele außenstehende<br />

Beobachter eine übertriebene Russophilie, eine maßlose Verklärung der rätselhaften russischen<br />

Seele vorwerfen, erstaunt.


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Seit Herbst 1940 wurde Moskau fortwährend vor einem<br />

bevorstehenden Überfall Hitlers gewarnt.<br />

Am 15. Juni 1941 berichtete der sowjetische Top-Spion Richard Sorge aus Tokio, dass der<br />

deutsche Angriff am 22. Juni erfolgen werde. Stalin versah diesen Bericht mit dem Kommentar:<br />

„Eine deutsche Desinformation“.<br />

Angesichts dieser Stalinschen Vogel-Strauß-Politik stellt sich nun die Frage, ob die<br />

propagandistische These der NSDAP, der deutsche Angriff auf die Sowjetunion sei lediglich ein<br />

Präventivkrieg gewesen, vertreten werden kann. Diese These wurde nämlich 1985 vom<br />

ehemaligen Offizier des sowjetischen Nachrichtendienstes und Amateurhistoriker Viktor Suvorov<br />

(V. Rezun) wieder aufgewärmt. Von der überwältigenden Mehrheit der Militärhistoriker, wenn<br />

man von einigen Ausnahmen absieht (Joachim Hoffmann), wird diese These als wissenschaftlich<br />

nicht haltbar verworfen.<br />

Stalin hatte panische Angst vor Hitler. Generalstabschef der Roten Armee Zhukow berichtet zum<br />

Beispiel über die erste Reaktion Stalins, nachdem ihm der deutsche Überfall gemeldet wurde:<br />

„Das ist eine Provokation der deutschen Militärs. Man soll kein Feuer eröffnen, um eine<br />

Eskalation zu vermeiden“.<br />

Erst drei Stunden nach dem Beginn des deutschen Angriffs sei von Stalin die Erlaubnis erteilt<br />

worden, zurückzuschießen.<br />

Der „erste deutsch-sowjetische Krieg“ und sein Ende - vom<br />

Hitlerschen Überfall auf die UdSSR bis zur Schlacht von<br />

Moskau<br />

Das stalinistische Regime, das seit Anfang der 30er Jahre einen grausamen Krieg gegen imaginäre<br />

Volksfeinde geführt hatte, wurde am 22. Juni 1941 mit wirklichen Feinden konfrontiert. Vieles<br />

sprach dafür, dass es diese harte Bewährungsprobe nicht überstehen würde. Das Debakel der<br />

Roten Armee in den ersten Monaten des Krieges gehört zu den größten Katastrophen in der<br />

gesamten Militärgeschichte.<br />

Der deutsch-sowjetische Krieg bestand praktisch aus zwei Kriegen, die sich grundlegend<br />

voneinander unterschieden. Und im „ersten“ Krieg, der sich im Sommer und im Herbst 1941<br />

abspielte, erlitt die Rote Armee eine verheerende Niederlage. Am 3. Juli 1941 schrieb der<br />

Generalstabschef Halder: „Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, dass der Feldzug<br />

gegen Russland innerhalb von vierzehn Tagen gewonnen wurde.“<br />

Die verheerenden Niederlagen der Roten Armee im Sommer und im Herbst 1941 lassen sich nicht<br />

allein auf Stalins Verbot zurückführen, rechtzeitig wirksame militärische Gegenmaßnahmen zu<br />

ergreifen, oder auf den Überraschungseffekt des deutschen Angriffs. Nicht weniger wichtig war<br />

auch die Tatsache, dass der Roten Armee 1941 Tausende von Offizieren fehlten, die Stalin 1937–<br />

39 hatte ermorden lassen.<br />

Das Debakel der Roten Armee war wohl auch durch die erschreckend niedrige Kampfmoral vieler<br />

sowjetischer Soldaten zu Beginn des Krieges bedingt. Der brutale Terror der 30er Jahre, der sich<br />

praktisch gegen alle Schichten der Gesellschaft gerichtet hatte, musste sich zwangsläufig<br />

verheerend auf die Moral der Bevölkerung auswirken.


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Um Hitler zu begreifen, war ein erst Lernprozess nötig<br />

Die defätistische Stimmung, die einige Teile der sowjetischen Bevölkerung und sogar der Armee<br />

erfasste, war nicht zuletzt dadurch bedingt, dass diese Gegner des sowjetischen Regimes sich<br />

zunächst über die Absichten der nationalsozialistischen Führung nicht im Klaren waren. Sie<br />

mussten, ähnlich wie früher viele westliche und sowjetische Verfechter der Appeasementpolitik<br />

Hitler gegenüber, aber auch wie viele deutsche Konservative, einen Lernprozess durchlaufen, um<br />

zu begreifen, dass eine partielle Identifizierung mit dem Nationalsozialismus nur Hitler nutzt, für<br />

seine Verbündeten aber verheerende Folgen nach sich zieht.<br />

In den Monologen Hitlers im Führerhauptquartier kann man nachlesen, wie der deutsche Diktator<br />

sich die Zukunft des eroberten Ostens vorstellte. Ein Beispiel sollte genügen: Am 17. Oktober<br />

1941 führte Hitler aus:<br />

„Die Eingeborenen? Wir werden dazu übergehen, sie zu sieben. Den destruktiven Juden setzen<br />

wir ganz aus […] In die russischen Städte gehen wir nicht hinein, sie müssen vollständig<br />

ersterben. Wir brauchen uns da gar keine Gewissensbisse zu machen … [Wir] haben überhaupt<br />

keine Verpflichtungen den Leuten gegenüber“.<br />

Als sich die Brutalität des deutschen Besatzungsregimes in voller Deutlichkeit zeigte, nahm die<br />

defätistische Stimmung in der sowjetischen Bevölkerung eindeutig ab. Immer weniger Soldaten<br />

der Roten Armee sahen es als Ausweg an, in deutsche Kriegsgefangenschaft zu geraten. Es blieb<br />

ihnen nicht verborgen, was sie dort erwartete. Und dieser Umschwung im gesellschaftlichen<br />

Bewusstsein trug nicht unwesentlich zum späteren Sieg der UdSSR über das Dritte Reich bei.<br />

Durch den Krieg kam es in der Sowjetunion zu einer Art<br />

Kompromiss zwischen der bis dahin drangsalierten<br />

Gesellschaft und den Machthabern<br />

Um vom Dritten Reich nicht hinweggefegt zu werden, musste die stalinistische Clique, die sich<br />

bis dahin auf die Terrorisierung der eigenen Bevölkerung konzentriert hatte, das bestehende<br />

Unterdrückungssystem modifizieren, es etwas flexibler machen. Der Krieg war paradoxerweise<br />

mit einer gewissen Lockerung des Regimes verbunden. Es kam zu einer Art Kompromiss<br />

zwischen der bis dahin drangsalierten Gesellschaft und den Machthabern. Viele Offiziere,<br />

Ingenieure und Wissenschaftler, die während der Säuberungen von 1936-38 verhaftet worden<br />

waren, wurden nun aus den Gefängnissen und Straflagern entlassen und erhielten nicht selten<br />

erneut führende Positionen in der Armee oder Industrie.<br />

Einige bis dahin offiziell abgelehnte Schriftsteller und Dichter durften wieder publizieren, die<br />

Zensur wurde gelockert. Die bis dahin brutal verfolgte Russisch-Orthodoxe Kirche erhielt nun<br />

neue Betätigungsmöglichkeiten.<br />

Der bereits erwähnte Michail Gefter spricht im Zusammenhang mit den damaligen Entwicklungen<br />

sogar von einer „spontanen Entstalinisierung“, die sich 1941 ereignete.<br />

Der sowjetische Schriftsteller Konstantin Simonow bezeichnete viele Jahrzehnte später – zur Zeit<br />

der sogenannten Breschnewschen „Stagnation“ – den Krieg als den einzigen lichten Fleck in der<br />

sowjetischen Geschichte der letzten Jahrzehnte. Wie grauenhaft muss die sowjetische Wirklichkeit<br />

vor dem 22. Juni 1941 gewesen sein, wenn einer der brutalsten Kriege in der Geschichte der<br />

Menschheit als ein lichter Fleck, als eine Art innere Befreiung empfunden wurde!


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Kriegsgefangene wurden als Landesverräter betrachtet<br />

Man darf auf der anderen Seite nicht vergessen, dass auch nach dem Ausbruch des Krieges<br />

Millionen von Menschen sich weiterhin im „Archipel Gulag“ befanden. Ganze Völker wurden ins<br />

Innere der Sowjetunion deportiert, weil man sie der Kollaboration mit dem Feind bezichtigte,<br />

wobei Tausende von Menschen von den Terrororganen ermordet wurden. Mit äußerster Härte<br />

wurden auch die eigenen Soldaten von der Kremlführung behandelt. Dies betraf vor allem die<br />

sowjetischen Kriegsgefangenen, die als Landesverräter betrachtet wurden. Die sowjetischen<br />

Industriearbeiter, vor allem in den rüstungsrelevanten Sektoren, wurden ihrerseits einer<br />

außerordentlich scharfen Arbeitsdisziplin unterworfen. Mit dem Dekret vom 26. Dezember 1941<br />

wurden die Arbeiter in der Rüstungsindustrie zwangsmobilisiert und wie Soldaten behandelt. Das<br />

eigenmächtige Verlassen der Betriebe galt als Fahnenflucht.<br />

Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in den unbesetzt gebliebenen Teilen der<br />

Sowjetunion fand sich mit der Verschärfung der Arbeitsdisziplin und mit den zusätzlichen<br />

Bürden, die das Regime ihr nach dem Ausbruch des Krieges auferlegte, in der Regel ab.<br />

Angesichts der tödlichen Gefahr, die das russische Staatswesen als solches bedrohte, sah man die<br />

Notwendigkeit dieser verschärften Maßnahmen im Wesentlichen ein. Sie waren durch reale und<br />

nicht durch imaginäre Gefahren wie in den 30er Jahren verursacht. Das stalinistische System<br />

wiederum – diese Verkörperung des Absurden – musste gewisse Konzessionen an die Realität<br />

machen, und schon das allein machte es in den Augen der Bevölkerung etwas erträglicher.<br />

Kurz vor Moskau wurde der deutsche Vormarsch gestoppt<br />

Dieser Kompromiss zwischen Regime und Bevölkerung wurde zur wichtigsten Ursache dafür,<br />

dass der „erste“ deutsch-sowjetische Krieg im Dezember 1941 zu Ende ging. Am 5. Dezember<br />

1941 wurde der deutsche Vormarsch kurz vor Moskau gestoppt und zurückgeschlagen.<br />

Der „zweite“ deutsch-sowjetische Krieg hatte nun begonnen, der im Mai 1945 im zertrümmerten<br />

Berlin sein Ende fand. Nach der verlorenen Luftschlacht über England erlitt Hitler im Dezember<br />

1941 die zweite große Niederlage in seiner Karriere seit 1930. Denn seit dem Triumph bei den<br />

Reichstagswahlen vom September 1930 hatte er im Grunde nur noch Siege gekannt. Er hatte es in<br />

der Regel mit demoralisierten, innerlich unschlüssigen Gegnern zu tun gehabt, die scharenweise<br />

vor ihm kapitulierten – bis er auf zwei Kräfte traf, die nicht zur Selbstaufgabe bereit waren: die<br />

Freiheitsliebe der angelsächsischen Nationen und den russischen Patriotismus. An diesen beiden<br />

Kräften sollten Hitler und sein Regime auch zerbrechen.<br />

Die Tragik Russlands bestand allerdings darin, dass es durch die Bezwingung seines äußeren<br />

Feindes lediglich seinen inneren Feind – die stalinistische Tyrannei – stärkte. Bereits einige<br />

Monate nach der Schlacht von Moskau begann das zunächst verunsicherte Regime, das verlorene<br />

innenpolitische Terrain wiederzugewinnen. Damit erschöpft sich aber nicht die Bedeutung des<br />

sowjetischen Sieges über das Dritte Reich: „Der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk<br />

und dem siegreichen Staat setzte sich fort. Von diesem Streit hing das Schicksal des Menschen,<br />

seine Freiheit ab“, schreibt der russische Schriftsteller Wassili Grossman in seinem Buch „Leben<br />

und Schicksal“, das zu den bedeutendsten Romanen des 20. Jahrhunderts zählt. (Deutsch bei<br />

Claasen, 2007).<br />

Der nach innen gerichtete Kontrollzwang der stalinistischen Tyrannei band einen beträchtlichen<br />

Teil ihrer Kräfte und hinderte sie daran, so uferlos nach außen zu expandieren, wie dies bei der<br />

nationalsozialistischen Diktatur der Fall gewesen war.<br />

Die Übergänge zwischen Regime und Volk waren natürlich fließend. Die Stalinsche Despotie<br />

wäre ohne die partielle oder gänzliche Identifizierung beträchtlicher Teile der Gesellschaft mit ihr<br />

nicht lebensfähig gewesen. Trotz alledem bestand sie doch, diese Trennlinie zwischen Regime und


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Volk, dem die herrschende Clique bis zuletzt misstraute. Sie unternahm außerordentliche<br />

Anstrengungen, um es lückenlos zu kontrollieren. Dieser nach innen gerichtete Kontrollzwang der<br />

stalinistischen Tyrannei band einen beträchtlichen Teil ihrer Kräfte und hinderte sie daran, so<br />

uferlos nach außen zu expandieren, wie dies bei der nationalsozialistischen Diktatur der Fall<br />

gewesen war.<br />

Die „spontane Entstalinisierung“ der Kriegszeit verhallte übrigens nicht ohne Resonanz. Denn<br />

unmittelbar nach dem Tode Stalins knüpfte der reformorientierte Teil der Parteiführung an einige<br />

ihrer Postulate an. Und so begann in der UdSSR eine immer schärfer werdende<br />

Auseinandersetzung mit dem stalinistischen Terrorregime, die trotz mancher Rückschläge und<br />

Restaurationsversuche der Machthaber bis zur Auflösung der Sowjetunion dauern sollte. Die<br />

Entmachtung der KPdSU im August 1991 war nicht zuletzt die Folge dieser russischen Variante<br />

der Vergangenheitsbewältigung.<br />

NATO - RUSSLAND<br />

Ein steiniger Pfad<br />

Schon seit dem Untergang des Warschauer Paktes und der Auflösung der<br />

Sowjetunion steckt die NATO in einer Identitätskrise. Wie sollen die<br />

Beziehungen zum <strong>neuen</strong> Russland aussehen? Inwieweit ist die Gründungsidee<br />

der NATO mit einer partnerschaftlichen Beziehung Russland vereinbar? Ist<br />

für die Mehrheit der politischen Kräfte in Russland eine solche<br />

partnerschaftliche Beziehung mit der NATO annehmbar? Welche Fakten<br />

sprechen für eine Mitgliedschaft Russlands in der NATO und welche dagegen?<br />

Fragen von globaler Bedeutung, auf die hier Antworten gesucht werden.<br />

Von Kenan Engin<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

<strong>Zur</strong> Person: Kenan Engin<br />

Kenan Engin, geboren 1974 im türkischen Pertek, hat Politikwissenschaften und<br />

Europäische Kunstgeschichte an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg<br />

studiert. <strong>Zur</strong>zeit ist er Doktorand im Fach Politikwissenschaften, Bereich


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Internationale Beziehungen an der Ruprecht-Karls- Universität und arbeitet als<br />

Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg, FH Worms und FH Mainz. Seine<br />

Forschungsschwerpunkte: Türkei, Irak, Kurden und Mittlerer Osten. Neben seinen<br />

zahlreichen Essays und Gedichten ist er Verfasser von mehreren Büchern. Zuletzt<br />

erschienen: „Untersuchung zur Konfliktbewältigung im Irak: Ein föderalistisches<br />

Konzept.“<br />

ie Kooperation zwischen NATO und Russland in unterschiedlichen institutionellen Formen<br />

begann im Dezember 1991 und führte 2002 zur Gründung des NATO-Russland-Rats<br />

(NRC). Dieser Rat sollte gegenseitige Konsultationen ermöglichen, gemeinsame<br />

Entscheidungsfindungen und Aktivitäten erleichtern und regeln (Klein:2010). Dies spielte nach<br />

dem Anschlag auf das Word Trade Center 9/11 eine sehr wichtige Rolle. Damals, nach dem<br />

September 2001 erarbeiteten die beiden Seiten gemeinschaftlich Maßnahmen gegen den<br />

internationalen Terrorismus. Dies war zwar ein wichtiger Schritt vereinten Handelns, aber andere<br />

Fragen blieben strittig. Der NATO-Russland-Rat war nicht in der Lage, bei den hochbrisanten<br />

Themen wie Rüstungskontrolle und militärischer Kooperation einen Konsensus zu finden.<br />

Die Ineffektivität der partnerschaftlichen Kooperation lag und liegt daran, dass die Beziehungen<br />

zwischen Russland und der NATO außer durch die Erblasten des Kalten Krieges noch von zwei<br />

großen Krisen belastet wurden. Zuerst erreichte das gegenseitige Verhältnis während des Kosovo-<br />

Krieges 1999 seinen historischen Tiefstand, nachdem die NATO serbische Territorien aus der<br />

Luft angegriffen hatte. Die russische Regierung fror daraufhin die Beziehungen und jede<br />

Zusammenarbeit für ein halbes Jahr ein.<br />

Georgienkrieg: Russische Machtdemonstration gegen die<br />

NATO<br />

Auslöser der zweiten Krise war der Georgienkrieg im Sommer 2008. Eigentlich hatten sich die<br />

Beziehungen zwischen Russland und der NATO schon ab 2004 verschlechtert, nachdem Polen,<br />

Tschechien, Ungarn und acht weitere osteuropäische Staaten in die NATO aufgenommen wurden.<br />

Durch die sukzessiv näher rückenden NATO-Grenzen und den Beitrittswunsch von Georgien und<br />

der Ukraine in die NATO fühlte sich Russland bedroht (Bidder: 2010). Russland sah und sieht die<br />

Versuche der NATO unter der Führung der USA, im Kaukasus Einfluss auszuüben, als Versuch,<br />

eine unipolare Welt unter amerikanischer Dominanz zu konsolidieren. Dies wurde vom russischen<br />

Ministerpräsident Medwedew scharf kritisiert: „Die Welt muss multipolar sein. Eine unipolare<br />

Welt ist inakzeptabel. Vorherrschaft ist inakzeptabel. Wir können keine Weltordnung akzeptieren,<br />

in der alle Entscheidungen von einem einzigen Land getroffen werden. (…) Eine solche Welt ist<br />

instabil und birgt das Risiko von Konflikten.“ (Mellenthin:2008) Deshalb wird der Georgienkrieg<br />

von unterschiedlichen Expertenkreisen als die erste russische militärische Machtdemonstration<br />

interpretiert, die sich gegen die Ausdehnungspolitik der NATO richtete.<br />

Mit dem Ausbruch des Krieges im Sommer 2008 hatten beide Partner die Zusammenarbeit im<br />

NATO-Russland-Rat beendet. Die Beziehungen wurden auf Eis gelegt, bis die US-<br />

Außenministerin Hillary Clinton und ihr russischer Amtskollege Sergej Lawrow den Neustart<br />

angekündigt haben, welcher von den europäischen Ländern wie Deutschland ein positives Echo<br />

fand. Der NATO-Generalsekretär Rasmussen begrüßte ebenfalls den Neustart der Beziehungen,<br />

den er als das Ende der „kleinen Eiszeit“ bewertete (Tagesspiegel: 04.11.2010).<br />

Die zweite Krise zeigte abermals, dass der NATO-Russland-Rat seine Rolle nicht effektiv spielen<br />

konnte. Insbesondere gelang es ihm nicht, gegenseitige Ängste und Bedenken durch konstruktive<br />

Zusammenarbeit abzubauen, weshalb die Basis einer (sicherheits)politischen, auf gemeinsamen<br />

Interessen beruhenden Partnerschaft nicht entstehen konnte (Rühe:2010, Klein:2010). Die<br />

Ankündigung von Rasmussen zu einem „Neustart“ 2009 in den Beziehungen und sein Besuch in


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Moskau, bei dem er sich für eine „wahre“ Partnerschaft aussprach, stabilisierten gewissermaßen<br />

die schwankenden Verhältnisse zwischen beiden Seiten.<br />

Erblasten des Kalten Krieges: Vertrauenskrise und<br />

Hindernisse<br />

Auch nach dem Ende des Kalten Krieges glauben viele russische Politiker, dass die NATO als<br />

eine ursprünglich gegen die Sowjetunion gerichtete Allianz, auch weiterhin feindliche Absichten<br />

gegen Russland hegt und seine Macht einzudämmen versucht. In der russischen Bevölkerung gibt<br />

es ebenfalls ein großes Misstrauen. Laut einer Studie sehen etwa 60 Prozent der Russen die<br />

heutige NATO immer noch als Rivalen (Bidder/Puhl/Schmitz/Volkery/Wittrock: 2010). Diese<br />

misstrauische Haltung findet auch in der Wissenschaft große Unterstützung. Der<br />

Außenpolitikexperte Lukjanow bestätigt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Russland einer<br />

amerikanischen Vorherrschaft in diesem Block so zustimmt, wie das Europäer gemacht<br />

haben.“ (zitiert nach Bidder/Puhl/Schmitz/Volkery/Wittrock: 2010)<br />

Des Weiteren kann man von zwei wesentlichen Problemfeldern sprechen: die NATO-<br />

Osterweiterung und der Streit über die Pläne zum Bau eines Raketenabwehrsystems. Das erste<br />

Problem leitet sich partiell von traditionellen Feindbildern des Kalten Krieges sowie von<br />

Erfahrungen im Umgang miteinander seit der Auflösung der Sowjetunion her. In den<br />

osteuropäischen und baltischen Staaten assoziiert man heute noch Russland mit vormaliger<br />

sowjetischer Herrschaft und betrachte es als Quelle der Gefahr. Demgegenüber herrscht in<br />

Moskau die Stimmung, dass die NATO als eine aggressive und expansionistische Allianz mit ihrer<br />

Osterweiterungspolitik die russische Schwäche ausnutze, um dessen Macht in der Weltpolitik zu<br />

minimalisieren (Antonenko/Giegerich:2009, Klein:2010).<br />

Russland sieht die Rolle der NATO als beendet an<br />

Das zweite Problem rührt von unterschiedlichen und konträren ordnungspolitische Vorstellungen<br />

der NATO und Russlands her. Insbesondere zeigte sich dies während der Ära George W. Bushs.<br />

Er unterschätzte Russlands Rolle für die Weltsicherheitspolitik und sah es als „eine<br />

vernachlässigbare Größe der europäischen Sicherheitspolitik“ (Klein: 2010). Dies erweckte in<br />

Russland den Eindruck, man sei den USA nur willkommen, um bei gemeinsamen Interessen<br />

zusammenzuarbeiten, nicht aber, sobald man Einwände äußerte oder eigene Vorschläge machte<br />

(Rühe: 2010). Dagegen sieht Russland die Rolle der NATO mit der Auflösung des Warschauer<br />

Paktes als beendet an und fordert ein neues Sicherheitssystem, um die Bedeutung und Rolle der<br />

NATO in der Weltsicherheitspolitik zu reduzieren (Antonenko/Giegerich: 2009).<br />

Braucht die NATO Russland?<br />

Die NATO sollte sich in naher Zukunft entscheiden, ob sie Russland innerhalb oder außerhalb der<br />

Allianz sieht. Diese Kernfrage sollte auch von der russischen Seite geklärt werden und beide<br />

Seiten sollen und müssen sich in diesem Kontext einigen.<br />

Heute kommen immer mehr Politiker und Experten sowohl aus NATO-Staaten als auch aus<br />

Russland zu der Einschätzung, dass angesichts der globalen Herausforderungen eine gemeinsame<br />

Sicherheitspolitik nötig sei. Denn in vielen Regionen der Welt haben Europa, die USA und<br />

Russland gemeinsame Interessen, die durch den internationalen Terrorismus, die Proliferation von<br />

Waffen und Massenvernichtungsmitteln und instabile Regierungen im Nahen Osten, in<br />

Zentralasien und der Kaukasusregion gefährdet sind (Antonenko/Giegerich:2009). Diese<br />

Herausforderungen können nur durch eine breit angelegte Strategie, die anstatt militärischer


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Angriffe bzw. Interventionen die Rolle der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Faktoren<br />

besonders hervorhebt, und eine gut organisierte Zusammenarbeit gemeistert werden (Rühe: 2010).<br />

<strong>Zur</strong> Notwendigkeit einer gemeinsamen Sicherheitspolitik<br />

Im Folgenden sollen nun einige Problemfelder betrachtet werden, die die Notwendigkeit einer<br />

gemeinsamen Sicherheitspolitik untermauern. Erstens der Krieg gegen die Taliban in Afghanistan.<br />

Russland beobachtet den Verlauf des Krieges mit Besorgnis. So Russlands Botschafter Dmitrij<br />

Rogosin bei der Nato: “Heute kämpfen in Afghanistan Seite an Seite mit den Taliban auch<br />

Tausende freiwillige Kämpfer aus anderen Ländern. Siegen die Aufständischen, fürchte ich, dass<br />

die Kämpfer in andere zentralasiatische Länder einsickern, um dort eine islamische Revolution<br />

anzuzetteln. Das ist ein Problem auch für Russland, denn in der Region leben viele<br />

Russen.“(zitiert nach Bidder: 2010).<br />

Die Instabilität des Landes könnte tatsächlich dazu führen, dass Zentralasien insgesamt in ein<br />

ökonomisches, politisches und militärisches Chaos geriete. Das würde die Interessen auch von<br />

Russland beeinträchtigen würde. Eine noch intensivere logistische bzw. militärische<br />

Unterstützung durch Russland, die durch den Lissaboner Vertrag, (ermöglicht den Transit von<br />

Truppenmaterial durch Russland), schon eine gewisse Kooperationsbasis besitzt, wäre für den<br />

Afghanistan-Krieg von enormer Bedeutung.<br />

Zweitens ist die Stabilisierung der Krisenregionen, die sich in der „Einflusszone“ (Halbach: 2009)<br />

von Russland befinden, enorm wichtig. Ein effektives und diplomatisches Vorgehen ohne<br />

Polarisierungspolitik von Seite Russlands würde das Konfliktrisiko im Kaukasus und in<br />

Zentralasien reduzieren, wo in Zukunft aufgrund der dortigen Energiereserven Spannungen<br />

wahrscheinlicher werden.<br />

Drittens ist es das iranische Atomprogramm, das den Westen relativ beunruhigt. Eine<br />

zufriedenstellende Lösung dieser Problematik ohne aktive Beteiligung von Russland lässt sich<br />

kaum vorstellen. Dies zeigt sich offen bei den gegen den Iran verhängten Sanktionen, die ihre<br />

Wirksamkeit nur durch multilaterales Handeln unter Einbeziehung der russischen Vetomacht im<br />

UN-Sicherheitsrat entfalten können (Deep/Seifert: 2010). Allerdings beteiligt sich Russland am<br />

iranischen Atomprogramm bis dato aufgrund seiner wirtschaftlichen Interessen im Iran – Öl, Gas,<br />

Rüstungsexporte- nicht engagiert (Finger: 2007).<br />

Die NATO wird auf die Wertegemeinschaft verweisen<br />

Aus dieser Perspektive betrachtet, sollte die NATO ihre neue Strategie an diese globalen<br />

Herausforderungen anpassen. Deswegen sollte die NATO ihre Türen zu Russland als Mitglied<br />

bzw. zu einer wahren Partnerschaft öffnen. Nur dadurch würden Energiesicherheit, Abrüstung<br />

bzw. Ausrüstungskontrolle, Kampf gegen internationalen Terrorismus und illegalen Handel sowie<br />

die Entschärfung von Konfliktrisiken im Nahen Osten, in Zentralasien und im Kaukasus<br />

geschaffen werden.<br />

Während sich die NATO auf die Mitgliedschaft bzw. effektive Partnerschaft umstellt, sollte<br />

Russland auch grundlegende Voraussetzungen zum Beitritt erfüllen. Obwohl der Washingtoner<br />

Nato-Vertrag nicht ausdrücklich und detailliert definiert, was die Voraussetzungen eines Beitrittes<br />

sind, liegt auf jeden Fall noch ein weiter Weg vor Russland. Es wird erwartet, dass Russland den<br />

Schutz der Menschenrechte, die Einhaltung der Prinzipien des Rechtsstaates, zu denen politischer<br />

Pluralismus, freie Marktwirtschaft, Pressefreiheit und andere Grundrechte gehören, gewährleistet.<br />

Diese Kriterien sind sowohl innerhalb der NATO-Mitgliedstaaten als auch der EU-Zone die<br />

eigentliche Grundlage von Stabilität und Sicherheit. Die NATO wird deshalb darauf verweisen,<br />

dass die Nordatlantische Allianz eine Wertegemeinschaft sei und alle Mitglieder und<br />

Beitrittskandidaten diese Werte vertreten und in der Praxis umsetzen sollten (Schlotter: 2011).


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Dieser Prozess kann in Russland noch längere Zeit in Anspruch nehmen. Jedoch hat die Aussicht<br />

einer Mitgliedschaft bislang bei allen Beitrittskandidaten eine Dynamik ausgelöst, die schließlich<br />

zum Wertekonsens führte (Rühe/Naumann/Elbe/Weisser: 2010).<br />

Der Weg zur erfolgreichen Zusammenarbeit<br />

Trotz der sicherheitspolitischen und geostrategischen Fakten, die eine effektive Zusammenarbeit<br />

zwischen der NATO und Russland wünschenswert erscheinen lassen, soll nicht außer Acht<br />

gelassen werden, dass es zwischen beiden Polen eine tiefe Vertrauenskrise und grundlegende<br />

ordnungspolitische Antagonismen gibt, die die gegenseitigen Beziehungen beeinträchtigen. Um<br />

diese Gegensätze abzubauen, sollten die folgenden Schritte unternommen werden.<br />

Abbau der Vertrauenskrise<br />

Vor allem sollte ab jetzt ein diplomatisches Vorgehen bevorzugt werden, das keine <strong>neuen</strong><br />

Divergenzen hervorruft. Deswegen sollte darauf geachtet werden, dass die NATO ihre politische<br />

Erklärung zur Osterweiterung, die 2008 in Bukarest verabschiedet wurde, mit großer Sensibilität<br />

umsetzt (Bidder/Puhl/Schmitz/Volkery/Wittrock: 2010). Dabei sollte Russland zwar kein<br />

Vetorecht zugestanden werden, aber andererseits könnte eine rasche Aufnahme Georgiens und der<br />

Ukraine ohne Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen die Beziehungen zwischen Russland<br />

und der NATO verschlechtern und die politische Glaubwürdigkeit der NATO beeinträchtigen<br />

(Dox: 2010).<br />

Vertrauensbildende Maßnahmen<br />

Um die bisherige Vertrauenskrise zu überbrücken, sollten vertrauensbildende Maßnahmen<br />

gestärkt werden. Im Dezember 2009 vereinbarten beide Seiten, die <strong>neuen</strong> globalen<br />

Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gemeinsam zu bewerten und zu erarbeiten, was als<br />

wichtiger vertrauensbildender Schritt betrachtet werden kann. Dies sollte durch einen intensiven<br />

Dialog zu Fragen der Militärreform ergänzt werden. Ferner sollte die Rolle des NATO-Russland-<br />

Rates gestärkt werden, damit die gegenseitigen Kommunikationskanäle nicht von einer Seite<br />

geschlossen werden können(Klein: 2010).<br />

Intensivierung der praxisbezogenen Arbeit<br />

Für die Verbesserung der Beziehungen kann auch eine praxisbezogene Kooperation einen Beitrag<br />

leisten. Eine praktische Zusammenarbeit in Afghanistan in Fragen wie Transit, Ausbildung und<br />

Ausrüstung der afghanischen Streitkräfte sowie der Bekämpfung des Drogenhandels wäre ein<br />

wichtiger Schritt, der durch ein formelles Abkommen zwischen der NATO und der Organisation<br />

des Vertrages für gemeinsame Sicherheit (OVKS) ¬– der Russland, Belarus, Kirgistan, Armenien,<br />

Usbekistan und Kasachstan angehören – abgeschlossen werden kann. Dabei sollte darauf geachtet<br />

werden, dass man dem regionalen Dominanzstreben Russlands keinen Vorschub leistet. Um das<br />

vermeiden zu können, dürften solche formelle Übereinkünfte die bilaterale Zusammenarbeit der<br />

Nordatlantischen Allianz mit den OVKS-Staaten nicht ersetzen. Darüber hinaus bietet die<br />

Bekämpfung der Piraterie und gemeinsames Handeln gegen den Drogenschmuggel in Afghanistan<br />

und in der benachbarten Regionen nach einem einheitlichen Plan eine weitere günstige<br />

Kooperationsmöglichkeit an.<br />

Abschwächung der konträren Positionen<br />

Die bisherigen erwähnten Maßnahmen zielen darauf, die Zusammenarbeit zu erweitern, was<br />

allerdings für eine etablierte und gut funktionierende Partnerschaft nicht ausreichend ist. Diese<br />

muss durch Abschwächung der grundlegenden ordnungspolitischen Divergenzen gestützt werden,<br />

damit konträre Positionen eine Entwicklung der Partnerschaftsbeziehungen nicht verhindern.


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Dafür wäre der erste Schritt der Abbau der konträren Standpunkte zur Gestaltung des euroatlantischen<br />

Sicherheitsgefüges.<br />

Dafür bieten trotz der obenerwähnten Schwierigkeiten die Ankündigung eines „Neustarts“ seitens<br />

der NATO 2009, und Medwedews kompromissbereite Haltung nach dem Lissabon Gipfel eine<br />

halbwegs günstige Lage. Medwedew signalisierte Offenheit gegenüber der EU und der NATO<br />

und distanzierte sich damit vom konfrontativen Habitus seines Vorgängers (Katsioulis:<br />

2010/Kornelius:2010). Diese neue Annäherung sieht Timofei Bordatschew vom Zentrum für<br />

Europäische und Internationale Studien an der Moskauer Wirtschaftsuniversität als das „formale<br />

Ende der schwierigen Beziehungen zwischen Russland und der NATO“ (Dox:2010).<br />

Unterschiedliche Positionen in den NATO-Staaten<br />

Trotz des allmählich steigenden Optimismus und Umdenkens sollte nicht vergessen werden, dass<br />

es noch eine große Zahl von Skeptikern in den NATO-Staaten gibt, die einen raschen Eintritt in<br />

konkrete Verhandlungen erschweren. Während beispielsweise die partnerschaftliche Beziehung in<br />

amerikanischen Regierungskreisen ein mehr oder weniger positives Echo findet, herrscht in<br />

Wissenschaftskreisen eher eine skeptische Stimmung.<br />

Einerseits plädiert Charles Kupchan, Professor an der Georgetown University und unter Clinton<br />

Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates, dafür, dass es überfällig sei, ernsthaft über eine russische<br />

Mitgliedschaft in der NATO nachzudenken. Andererseits hält Dan Hamilton, NATO-Experte und<br />

Direktor des Transatlantikzentrums an der Johns Hopkins University, eine Mitgliedschaft<br />

Russlands für verfrühat und sagt: „Außerdem müssten die Parlamente aller Mitgliedstaaten einer<br />

Neuaufnahme zustimmen, auf Basis bestimmter Kriterien wie Demokratieverständnis,<br />

Menschenrechte und Respekt für die Souveränität anderer europäischer Nationen.<br />

Viele Staaten glauben, dass Russland diese Vorgaben nicht erfüllt.“ (zitiert nach:<br />

Bidder/Puhl/Schmitz/Volkery/Wittrock: 2010). Auch William Drozdiak, Präsident des American<br />

Council on Germany in New York, äußert sein Skepsis, obwohl er gewisse Fortschritte bei der<br />

Zusammenarbeit zum Umgang mit Irans Atompolitik sieht: „Russland ist nach wie vor nur schwer<br />

zu überzeugen, dass seinen eigenen Sicherheitsinteressen eine bessere Beziehung mit dem Westen<br />

hilft.“(Bidder/Puhl/Schmitz/Volkery/Wittrock: 2010).<br />

Die „roten Linien“<br />

Die Skepsis bzw. ablehnende Position der amerikanischen Seite rühren daher, dass sie eine<br />

Schwächung der Handlungsfähigkeit er NATO befürchten (Kamp: 2010). Diese skeptische<br />

Haltung wird auch von Großbritannien und osteuropäischen Staaten geteilt. Um diese Skepsis zu<br />

vermindern, sollten sich NATO-Mitglieder im Vorfeld auf gemeinsame Hauptpunkte einigen.<br />

Dazu gehören so genannte „rote Linien“, die in den Beitrittsverhandlungen nicht aufgegeben<br />

werden sollen, wie das Prinzip der freien Bündniswahl und die Ablehnung exklusiver<br />

Einflusszonen (Rodionow: 2009). Dagegen sollte Russland ebenfalls darauf verzichten, seine<br />

Forderungen zu maximieren. Der am 29. November 2009 veröffentlichte Entwurf für einen euroatlantischen<br />

Sicherheitsvertrag (Klein: 2009) entspricht dem Versuch, ein Vetorecht gegen<br />

zukünftige Operationen der NATO zu erhalten, um Russlands Machtbasis in seiner Einflusszone<br />

auszubauen.<br />

Obwohl eine Mitgliedschaft von Russland in der NATO mit großen Schwierigkeiten verbunden<br />

wäre, spricht nichts dagegen, einen Verhandlungsprozess zu starten. Die Komplexität der<br />

Probleme deutet nur darauf hin, dass der Weg ein sehr langer Weg sein wird und mit bestimmten<br />

Voraussetzungen verbunden sein muss. Dabei ist es wichtig, dass man bei den<br />

Verhandlungsprozessen die ordnungspolitischen Fragen nicht ausgeklammert lässt, sonst würden<br />

die Beziehungen zwischen den beiden Seiten zwischen selektiver Kooperation und prinzipiellem


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Interessenkampf schwanken. Dies würde eine Lösung der internationalen Herausforderungen wie<br />

Terrorismus und Fundamentalismus erschweren. Ferner würde das bisherige traditionelle<br />

Verhältnis zwischen beiden Polen gespannt bleiben, was bisher ständig eine Quelle von<br />

Irritationen und Konflikten war.<br />

Literaturverzeichnis:<br />

Anne Finger: Russland und das iranische Atomprogramm, SWP-Diskussionspapier, Juli 2007.<br />

Benjamin Seifert, Rana Deep: Russland gehört in die Nato, aus:<br />

http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-11/nato-russland?page=2 , Zugriff: 09.04.2011.<br />

Benjamin Bidder: „Russlands Hilfe in Afghanistan hat ihren Preis“, Interview mit Dmitrij<br />

Rogosin, aus: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,674295,00.html, Zugriff: 24.05.2011.<br />

Benjamin Bidder, Jan Puhl, Gregor Peter Schmitz, Carsten Volkery: NATO-Planspiele lassen<br />

Russen kalt, in: Der Spiegel, 08.03.2008.<br />

Christos Katsioulis: Die neue NATO-Strategie Kompromiss auf Zeit, FES-Politikanalyse,<br />

November 2010.<br />

Georg Dox: Neustart von NATO und Russland? Realistische Erwartungen, pragmatisches<br />

Handeln, aus: http://oe1.orf.at/artikel/262134, Zugriff: 07.04.2011.<br />

Uwe Halbach: Die Georgienkrise als weltpolitisches Thema, in: Aus Politik und Zeitgeschichte<br />

(APuZ 13-23.03/2009).<br />

Iwan Rodionow: Russland und die NATO: Grenzen der Gemeinsamkeit, in: Aus Politik und<br />

Zeitgeschichte (APuZ 15-16/2009).<br />

Karl-Heinz Kamp: Die NATO nach dem Jubiläumsgipfel, in: Die politische Meinung, 05/2009.<br />

Margarete Klein: Medwedews Vorschlag für einen euroatlantischen Sicherheitsvertrag, in:<br />

Russlands-Analysen, Nr.193, vom 04.12.2009.<br />

Margarete Klein: Neustart in den Beziehungen zwischen Russland und der Nato<br />

Anlauf zur strategischen Partnerschaft?, in: SWP-Aktuell 2010/A 01<br />

Knut Mellenthin: Für eine multipolare Welt: Russland nimmt außenpolitische Neubestimmung<br />

vor: USA sollen laut Moskau „Realität einer postamerikanischen Welt“ anerkennen,aus:<br />

http://www.agfriedensforschung.de/regionen/Russland/weltordnung.html, Zugriff: 06.04.2011.<br />

Oksana Antonenko, Bastian Giegeric: Rebooting NATO-Russia Relations, in: Survival: Global<br />

Politics and Strategy, vol. 51, no. 2, April–May 2009, S. 13–21.<br />

Peter Schlotter: Russland in die NATO!?, Vortrag: 21. Frühjahrsakademie Sicherheitspolitik:<br />

Europa - Russland - USA , Lambrecht, 17.03.2011.<br />

Stefan Kornelius: Neue Töne aus Moskau, aus: http://www.sueddeutsche.de/politik/russland-unddie-nato-neue-toene-aus-moskau-1.1014728,<br />

Zugriff: 13.04.2011.<br />

Volker Rühe, Ulrich Weisser: Russland in die NATO, aus: http://www.rponline.de/politik/deutschland/Russland-in-die-Nato_aid_919077.html,<br />

Zugriff: 10.04.2011.<br />

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RUSSLAND<br />

Drittreichster Oligarch geht in die Politik<br />

Bei den Duma-Wahlen im Dezember will der Unternehmer Michail Prochorow<br />

eine liberale Klein-Partei zur drittstärksten Kraft in der Duma machen.<br />

Von Ulrich Heyden<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

um ersten Mal seit der Verhaftung von Michail Chodorkowski im Jahr 2003 will wieder ein<br />

russischer Oligarch in die Politik. Michail Prochorow, mit 18 Milliarden Dollar Vermögen<br />

laut Forbes der drittreichste Russe. Er erklärte Mitte Mai auf einer Pressekonferenz, er wolle<br />

Vorsitzender der liberalen Partei „Rechte Sache“ werden. Freunde und Bekannte hätten ihn<br />

gedrängt. Der Moskauer Tageszeitung „Kommersant“ berichtete, Prochorow wolle die Klein-<br />

Partei aufmöbeln und bei den Duma-Wahlen im Dezember zur drittstärksten Partei - nach der<br />

Kreml-Partei „Einiges Russland“ und den Kommunisten - machen.<br />

Der ehemalige Yukos-Chef Michail Chodorkowski musste seine politischen Ambitionen mit<br />

einem zweifelhaften Gerichtsverfahren wegen Steuerhinterziehung teuer bezahlen. Der heute 47<br />

Jahre alte Chodorkowski hatte 2003 Oppositionsparteien finanziell unterstützt und sitzt seitdem in<br />

Haft, mit ungewissem Ende.<br />

Mit dem Kreml hat sich der 46jährige nie angelegt<br />

Michail Prochorow geht nun einen anderen Weg. Dem Unternehmer mit dem Gardemaß von 204<br />

Zentimetern gehört das Finanzunternehmens Onexim sowie Unternehmen in der Aluminium- und<br />

Goldproduktion. Mit dem Kreml hat sich der 46jährige nie angelegt.<br />

So groß Prochorow, so klein die Partei, deren Chef er werden will. „Rechte Sache“ wurde 2008<br />

von der russischen Präsidialadministration als Auffangbecken aus den Überresten von drei<br />

liberalen Klein-Parteien gegründet. Mit der Neugründung wollte die Präsidialadministration<br />

Kreml-kritischen Angehörigen der Mittelschicht eine Alternative zu der radikalen liberalen<br />

Opposition um den Ex-Ministerpräsidenten Michail Kasjanow und dem Ex-Schachweltmeister<br />

Garri Kasparow bieten. Doch die Klein-Partei kommt nicht voran.<br />

Seit der Duma-Wahl 2003 gibt es keine liberalen Parteien mehr in der Duma. Damals scheiterten<br />

die Parteien Jabloko und die später aufgelöste „Union der rechten Kräfte“ an der Fünf-Prozent-<br />

Hürde. Nach den chaotischen Jahren unter Präsident Boris Jelzin haben es die russischen<br />

Liberalen schwer in breiteren Bevölkerungskreisen Fuß zu fassen. Selbst ihren traditionellen<br />

Wählern in der Mittelschicht trauen den Liberalen politisch nicht viel zu, weil sie seit Jahren<br />

zerstrittenen sind.<br />

Prochorow wurde 2007 der Zuhälterei verdächtigt: Er ließ 20<br />

junge Russinnen in einen französischen Nobel-Skiort<br />

einfliegen<br />

Prochorow ist in Russland bekannt. Er könnte es schaffen, zum liberalen Zugpferd zu werden,<br />

hofft man in der Klein-Partei Rechte Sache. Der Unternehmer sorgte schon häufig für<br />

Schlagzeilen. Allerdings nicht mit politisch brisanten Äußerungen sondern durch seine ständige<br />

Querelen mit Geschäftspartnern.


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15.06.2011<br />

Schwer angeschlagen wurde das Ansehen des Oligarchen als er 2007 in den französischen Ski-<br />

Kurort Chourchevel zwanzig junge russische Frauen einfliegen ließ, worauf der Unternehmer von<br />

der französischen Polizei wegen dem Verdacht auf Zuhälterei vier Tage hinter Schloss und Riegel<br />

gesetzt wurde.<br />

Seit diesem Vorfall geht Prochorow den Weg des aufgeklärten Industrie-Magnaten. 2008 wurde er<br />

Präsidenten des russischen Biathlon-Verbandes. Im letzten Jahr stellte der Großunternehmer den<br />

Prototypen des ersten russischen Autos mit Hybrid-Antrieb vor, das sogenannte Jo-Mobil. Es soll<br />

2012 in Serienproduktion gehen.<br />

Wählerenttäuschung durch Forderung nach 60-Stunden-<br />

Woche<br />

Für die breite Masse bleibt Prochorow trotzdem kaum wählbar, seit er sich für die Einführung der<br />

60-Stunden-Arbeitswoche und die Lockerung des Kündigungsschutzes ausgesprochen hat.<br />

Fest steht nach Meinung aller Beobachter, dass die Duma-Wahl im Dezember der Vorbereitung<br />

für die Präsidentschaftswahl im März nächsten Jahres dient.<br />

Einer der möglichen Präsidentschafts-Kandidaten, Wladimir Putin, sammelt bereits seine<br />

Anhänger. Er gründete die „Allgemein Russische Volksfront“, welche vom Beamtenfilz und<br />

Korruption enttäuschte Wähler wieder für die Kreml-Partei „Einiges Russland“ einfangen soll.<br />

Und Medwedew? Auch er werde sich irgendwann einer Partei anschließen, erklärte Russlands<br />

Präsident kürzlich. Aber noch sei die Zeit nicht reif dafür.<br />

KREML<br />

Die geheimnisvollen Einkünfte russischer<br />

Minister<br />

Putins Kabinettsmitglieder verdienen gut bis sehr gut. Woher sie ihre<br />

Einkünfte beziehen weiß Niemand so genau.<br />

Von Ulrich Heyden<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

enn es stimmt, was Präsident Dmitri Medwedew und Ministerpräsident Wladimir Putin in<br />

ihrer Einkommenserklärung für das Jahr 2010 angegeben haben, leben sie im Verhältnis<br />

zu den Mitarbeitern der Präsidialverwaltung und der Minister bescheiden. Medwedew<br />

verdiente nach eigenen Angaben im letzten Jahr 83.000 Euro und hat in der Garage nur ein<br />

Raritäten-Auto stehen, einen „Pobeda“, Baujahr 1948. Putin konnte sein Einkommen im letzten<br />

Jahr dagegen von 95.000 (2009) auf 125.000 Euro steigern. Der Premier hat zwei Oldtimer-Wolga<br />

-Limousinen, einen Niva-Geländewagen und ein Wohnmobil in der Garage.<br />

Einkommenserklärungen im Internet<br />

Seit Montag können die Russen schwarz auf weiß lesen, was Präsidialamtsmitarbeiter und<br />

Minister sowie deren Frauen so verdienen. Die Angaben wurden zeitgleich auf den Websites der<br />

Präsidialverwaltung und der Regierung veröffentlicht.


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15.06.2011<br />

Wovon Putin und Medwedew sich ihre teuren Armbanduhren kaufen und ihre Ehefrauen<br />

einkleiden, bleibt bei den angegebenen Einkommen ein Rätsel. Präsidentengattin Swetlana<br />

Medwedewa, die im Wohltätigkeitsbereich aktiv ist, hat 2010 keinen einzigen Rubel verdient.<br />

Ljudmilla Putina konnte ihr Jahres-Einkommen von 2009 auf 2010 immerhin von 14,5 Euro (!)<br />

auf 3655 Euro steigern. Womit jedoch die öffentlichkeitsscheue Premiers-Gattin ihr Geld<br />

verdiente, ist unbekannt. Immerhin, Miete müssen Putin und Medwedew nicht bezahlen. Der<br />

Präsident besitzt zusammen mit seiner Frau eine Wohnung mit 367 Quadratmetern, Putin hat<br />

sogar zwei Wohnungen mit 77 und 153 Quadratmetern.<br />

Reiche Minister-Frauen<br />

Gegenüber dem, was die Minister in der russischen Regierung verdienen, sind die Einkommen<br />

von Putin und Medwedew bescheiden. Reichstes Kabinettsmitglied ist der Minister für Natur-<br />

Ressourcen, Juri Trutnew, obwohl er offenbar durch die Finanzkrise hat bluten müssen. 2010 hatte<br />

Trutnew ein Jahreseinkommen von 2,8 Millionen Euro. 2009 hatte Trutnew noch 3,8 Millionen<br />

Euro verdient.<br />

Noch wohlhabender als der Minister für Natur-Ressourcen ist jedoch Olga Schuwalowa, die<br />

Ehefrau von Vize-Ministerpräsident Igor Schuwalow. Olga, die ihren Beruf als Hausfrau angibt,<br />

erzielte 2010 ein Einkommen von 9,3 Millionen Euro. Doch auch Frau Schuwalowa musste<br />

zurückstecken. 2009 hatte sie noch 16 Millionen Euro verdient. Nach Angaben der Wirtschafts-<br />

Zeitung Wedomosti verwaltet Frau Schuwalowa die Wertpapiere ihres Mannes. Auch der<br />

Ehemann verdient nicht schlecht. Igor Schuwalow konnte sein Einkommen von 162.000 Euro<br />

(2009) auf 365.000 Euro (2010) steigern. Außerdem hat das Ehepaar Schuwalow ein Haus in<br />

Österreich (1.479 Quadratmeter) und eine Wohnung in Großbritannien (424 Quadratmeter)<br />

gemietet. Der Fuhrpark des Vizepremiers kann sich ebenfalls sehen lassen. Bei Schuwalow stehen<br />

ein Jaguar sowie drei Mercedes der S-Klasse in der Garage.<br />

825 Euro Monatseinkommen für einen Geschäftsführer<br />

Verglichen mit den Vermögen der russischen Oligarchen, die Milliarden Euro ihr Eigentum<br />

nennen, sind die Einkommen der Minister und Präsidialamtsmitarbeiter aber immer noch<br />

bescheiden, verglichen mit dem durchschnittlichen Einkommen der Beschäftigten in der<br />

Privatwirtschaft jedoch erheblich.<br />

Nach Angaben des Staatlichen Statistik-Komitees verdiente ein Geschäftsführer eines russischen<br />

Unternehmens im Jahr 2009 – neuere Zahlen liegen nicht vor – monatlich 825 Euro. Ein Arbeiter<br />

mit abgeschlossener Berufsausbildung verdient monatlich im Schnitt 609 Euro. Real liegen die<br />

durchschnittlichen Einkommen der abhängig Beschäftigten jedoch höher. Um die Sozialabgaben<br />

zu umgehen, zahlen viele Unternehmen ein Teil der Gehälter im Briefumschlag. Dieser Teil des<br />

Einkommens geht nicht in die offizielle Buchhaltung eines Unternehmens ein.<br />

Das Unrechtsbewusstsein der abhängig Beschäftigten wegen der „grauen“ Gehaltszahlungen ist<br />

nur schwach entwickelt. Das Geld im Briefumschlag sei nur ein Klacks im Vergleich zu dem, was<br />

Spitzenbeamte und Geschäftsleute gegenüber dem Finanzamt verschweigen, so die landläufige<br />

Meinung.<br />

Das „Gefühl von Transparenz“<br />

Dass die Einkommen der Minister, Präsidialamtsmitarbeiter und Gouverneure veröffentlicht<br />

werden, ist sicher ein Fortschritt. Präsident Medwedew hatte die Veröffentlichung vor drei Jahren<br />

angeordnet. Doch die Anti-Korruptions-Expertin Jelena Panfilowa meint, die Veröffentlichung<br />

vermittle nur „ein Gefühl von Transparenz“, denn die Aussagekraft der Angaben sei begrenzt. Die


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hohen Beamten sind nicht verpflichtet anzugeben, woher sie ihr Geld haben und wofür sie es<br />

ausgegeben haben. Nur wenn diese Angaben gefordert werden, könne der Kampf gegen die<br />

Korruption einigermaßen erfolgreich sein, meinen Experten.<br />

Nur Einer wurde bestraft<br />

2009 wurden 6.000 Beamte wegen falscher Einkommensangaben von der Staatsanwaltschaft<br />

getadelt. Aber nach Angaben der „Moscow Times“ wurde nur ein Beamter, Armee-General Viktor<br />

Gaidukow, bestraft.<br />

LEMBERG<br />

Wo ist hier der Hafen?<br />

Schnittpunkt aller Handelswege zu sein bedeutet nicht, daran reich zu werden.<br />

Vor allem dann nicht, wenn du jedes Jahrhundert zwölfmal von einer Hand in<br />

eine andere gerätst und diese Hände nichts Besseres zu tun haben, als dir auch<br />

den letzten Faden vom Leib zu reißen. – Lemberg, mein Lemberg.<br />

Von Juri Andruchowytsch<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

Lemberg – Blick über die Altstadt<br />

Foto aus Wikipedia - Lestat (Jan Mehlich)<br />

ur nach Lemberg!“ wiederholte ich mit 15 wie mit 16 Jahren, als handle es sich um den<br />

leicht veränderten Refrain des süßlichen polnischen Liedes, von dessen Existenz ich jedoch<br />

keine Ahnung hatte. „Nur nach Lemberg“ war meine Antwort auf die Frage, wohin ich nach<br />

der Schule zum Studieren gehen wollte.<br />

Wieso Lemberg? Damals hatte ich nur eine sehr vage Vorstellung von dieser Stadt. Sie war für<br />

mich vor allem der Bahnhof, von dem aus wir Jahre zuvor nach Prag aufgebrochen waren. Ich<br />

wollte also offenbar deshalb nach Lemberg, weil es mir als Prager Vorortbahnhof erschien. Was,<br />

fürchte ich, gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist.


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15.06.2011<br />

Bis heute freue ich mich, dass es den Engländern 1944 nicht gelungen ist, Stalin die Stadt für die<br />

Polen abzuhandeln. Wäre es ihnen gelungen, dann hätte Lemberg im Ausland gelegen – und ade!,<br />

meine Hoffnungen. Die Staatsgrenze zwischen der UdSSR und Polen wäre irgendwo bei Vynnyki<br />

verlaufen, dahinter hätte der Westen begonnen. Und uns hätte man dort nicht hingelassen.<br />

Die Geschichte kennt keine Möglichkeitsform, und daraus resultierten nicht nur fünf meiner<br />

dichtesten und intensivsten Jahre, sondern auch alles, was ich bisher geschrieben habe. Und wenn<br />

es für mich ein Dublin gibt, dann ist es Lemberg.<br />

Beim Schreiben über Lemberg muss ich mich einfach wiederholen. Doch werde ich versuchen,<br />

aus jeder unausweichlichen Wiederholung wenigstens eine Überraschung zu gewinnen. Ohne<br />

Überraschungen, vor allem auch für den Autor selbst, hört das Schreiben auf, Schreiben zu sein,<br />

und wird zum Abschreiben. Wenn ich jedoch beim Wiederholen ganz andere Worte wähle, dann<br />

ist es schon kein Wiederholen mehr.<br />

Um Taras Prochasko zu paraphrasieren – aus Lemberg kann man mehrere Romane machen. Mehr<br />

noch: Ich glaube, man kann daraus immer wieder viele Romane machen. Es ist eine Roman-Stadt<br />

in dem Sinne, dass ihre Romane noch nicht geschrieben sind. Ja, Sie haben Recht, es wurden<br />

schon welche geschrieben, darunter ein paar ganz wunderbare. Aber undenkbar, alle möglichen<br />

Bedeutungen dieser Stadt mit ihren wechselnden Eigenschaften zu erfassen.<br />

So blättere ich nach dem Zufallsprinzip einzelne Bedeutungen auf und merke dabei, dass sie<br />

unerschöpflich sind.<br />

Die Hafenstadt<br />

Ich habe sie einmal Stadt-Schiff genannt, jetzt soll sie Hafen sein. Küste also, vielleicht die<br />

Mündung eines großen Flusses, ein Aquatorium, Kais, Güter- und Passagierdocks, Kräne, Kähne<br />

und 24-Stunden-Spelunken.<br />

In „Das Hohe Schloss“ erwähnt Stanisław Lem das Büro der Schifffahrtsgesellschaft „Cunard<br />

Line“ und die Modelle der Ozeanriesen („Lusitania“, „Mauretania“) in jedem Schaufenster. Es<br />

befand sich im Lemberg der Zwischenkriegszeit, ich glaube, in der Słowacki-Straße. Wann es<br />

wohl verschwunden ist – 1939?<br />

Kakaniens Eisenbahnknotenpunkt<br />

Jedenfalls hörte Lemberg genau dann auf, ein offener Hafen zu sein, und wurde zum geheimen.<br />

Überhaupt kein Hafen sein kann es nicht – gemäß dem Willen seiner Gründer, die<br />

jahrhundertelang nach diesem Platz genau zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer gesucht<br />

haben.<br />

Deswegen gibt es so viele Delfine an den Häusern. Nach dem Löwen ist der Delfin das<br />

zweithäufigste Attribut der alten städtischen Dekoration. Vielleicht ist er es, der der Stadt ihre<br />

besondere kühle Glitschigkeit verleiht. Jedenfalls könnte man den Lemberger Delfinen einen<br />

ganzen Bildband widmen.<br />

Die Atlantikaale im unterirdischen Fluss der städtischen Kanalisation sind einen eigenen Roman<br />

wert: Der Weg der Aale aus der Sargasso-See bis zu den Schatzki-Seen und in die Wasser des Bug<br />

und der Poltwa, dann wieder zurück in den Ozean, das ist eine zweite „Odyssee“, noch ein<br />

„Ulysses“.<br />

Manchmal hat es den Anschein, als wäre Lemberg vor allem eine unterirdische Stadt. Dass also<br />

das Wesentliche sehr mächtig tief unter uns weiter existiert. Der Orchestergraben der Oper wäre


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dann eine Art Raum des Übergangs, Warte- oder Empfangszimmer, unter dem nur noch die<br />

Wasser des Styx liegen.<br />

Wer nach zwei Meeren jagt, wird keines je zu fassen kriegen. Lembergs Lage zwischen den<br />

Meeren resultierte in seiner Meerlosigkeit.<br />

Die Kreuzungsstadt<br />

Dahinter verbirgt sich nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Überschneidung. Eine<br />

Kreuzung ist auch eine Anhäufung von Schichten. Die Liste der alten Handelswege, die auf die<br />

eine oder andere Weise Lemberg berührten, würde diesen Text sprengen. Lemberg wurde nicht<br />

nur als Mitte der Zeiten, sondern auch als Mitte von Ländern erdacht. Kaufleute aus Europa<br />

durchquerten es in Richtung Asien, Kaufleute aus Asien in Richtung Europa, obwohl man damals<br />

weder Europa und noch weniger Asien kannte, sondern ausschließlich die Alte Welt. So<br />

bestimmte die Existenz Lembergs die spätere Teilung des Kontinents in Europa und Asien voraus.<br />

Die Stadt lag so günstig, dass weder Karawanen aus Britannien nach Persien, noch solche aus<br />

Korea nach Portugal sie umgehen konnten. Aus Moskau nach Rom gelangen, wie auch aus<br />

Amsterdam nach Bombay, konnte man nur über Lemberg. Aber nicht alle Reisenden machten<br />

einfach nur Station an diesem Schnittpunkt. Einige entschlossen sich, für immer hierzubleiben.<br />

Darunter nicht nur Kaufleute, sondern auch fahrende Musikanten, Prediger, Deserteure fast aller<br />

Armeen, Spione, Seher, Gelehrte, Lehrer, Heiler, geflohene Unfreie und freie Flüchtlinge. Ich<br />

wollte einmal eine Liste erstellen, musste aber aufhören, als ich mir ihrer Unendlichkeit bewusst<br />

wurde.<br />

Als die österreichische höchste Ingenieursinstanz Mitte des 19. Jahrhunderts einen geeigneten<br />

Eisenbahnknotenpunktsuchte, entschloss sie sich ohne Zögern. Der Hauptbahnhof wurde auf der<br />

Linie der europäischen Wasserscheide errichtet, was eine Höhe von 316 Metern über der Höhe der<br />

beiden hiesigen Meere bedeutete. Obwohl im Wort „Wasser-Scheide“ die zweite Wurzel auf<br />

„scheiden“ und „trennen“ verweist, möchte ich noch einmal vom Gegenteil ausgehen. Eine<br />

Wasserscheide, diese geografische Falte auf der Erdoberfläche, kann man sich nicht nur als<br />

Schnitt, sondern auch als Naht vorstellen. Weil sie zusammennähat, zusammenhält, vereint.<br />

Deshalb ist Lemberg eine gemeinsame Anstrengung von West und Ost. Aber auch von Süd und<br />

Nord.<br />

Die Schieberstadt<br />

Lemberg und Geld, ein ewiges Thema. Das Geld folgt den Verlockungen. Füllt sich eine Stadt mit<br />

Verlockungen, dann tritt auch das Geld in sie ein. Je mehr Verlockungen – Schenken, Bordelle,<br />

Zirkusse und Casinos –, umso mehr Geld. Ist aber ein gewisser Höhepunkt erreicht, dann wirkt es<br />

auch umgekehrt. Die Verlockungen gebären Geld – und das Geld Verlockungen. So gleichen sich<br />

die Verlockungen und das Geld an. Die Anhäufung von Geld bedeutet nichts mehr und wird<br />

Selbstzweck, von dem einen weder der Tod noch die Inflation abbringen können. Genau das ist<br />

mit Lemberg passiert. Das Geld trennte sich vom Sein und erhob sich darüber, als das Absolute.<br />

Natürlich ist Lemberg infolge seiner Lage im unglücklichen Teil der Welt eine vor allem arme<br />

Stadt. Schnittpunkt aller Handelswege zu sein bedeutet, wie wir gesehen haben, nicht, daran reich<br />

zu werden. Vor allem dann nicht, wenn du jedes Jahrhundert zwölfmal von einer Hand in eine<br />

andere gerätst und diese Hände nichts Besseres zu tun haben, als dir auch den letzten Faden vom<br />

Leib zu reißen.<br />

Armut und Geldkult, das ist eine sehr unerwünschte Verbindung. Aus diesem Grunde verschoben<br />

sich in Lemberg die Werte, und man begann, das für Verlockungen zu halten, was in Wirklichkeit


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grundlegende menschliche Bedürfnisse sind – ein Dach über dem Kopf, Wasser im Hahn,<br />

Heizung, ein minimaler Wohlstand. Mit diesen Bedürfnissen zu spekulieren wurde zur<br />

Lieblingsbeschäftigung vieler Generationen. So entstand in Lemberg eine ganze Klasse von<br />

Stadtbewohnern, die nur durch Betrug an anderen, ebensolchen armen Schweinen überlebte. Die<br />

hohen Preise Lembergs, frech und durch nichts gerechtfertigt, sind das Leitmotiv ausnahmslos<br />

aller Briefe, Depeschen und Berichte, die schockierte Neuankömmlinge immer und bis heute noch<br />

überallhin schicken.<br />

Ich kann mir nicht vorstellen, was los wäre, hätte Lemberg mehr zu bieten. Wären ihm nur ein<br />

Hundertstel der Sehenswürdigkeiten von Venedig gegeben, ein Zwanzigstel von Prag oder ein<br />

Zehntel von Wien!<br />

Die Opferstadt<br />

In Lemberg wurde immer gemordet. Manchmal auch massenhaft. In Wirklichkeit ist diese<br />

leichtfertig-nette, Kaffeehaus-gemütliche und bierselig-berauschte Stadt eine Grube voller<br />

menschlicher Leichen. In den alten Vierteln müsste eigentlich jeder einzelne Stein schreien.<br />

Anhäufung von Antikulturen<br />

Lemberg ist ein Schnittpunkt der Sprachen, Religionen und Ethnien. Eine Aufschichtung von<br />

Kulturen. Das haben Sie schon gelesen.<br />

In viel größerem Maße aber ist Lemberg eine Anhäufung von Antikulturen. Und Verständigung<br />

herrschte hier niemals. Zwar gab es relativ friedliche Perioden, aber alles hing am seidenen Faden.<br />

Oder sogar am Spinnweb. Und die Spinnen saßen nicht in Lemberg.<br />

Der gegenseitige ethnisch-konfessionelle Hass, den nur Österreich-Ungarn niederhielt, geriet mit<br />

dessen Zerfall außer Kontrolle. Infolge der sozialen Revolutionen und Umstürze in Russland und<br />

Europa kam zum ethnisch-konfessionellen noch der Klassenhass.<br />

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrscht in Lemberg der Krieg aller gegen alle. Das<br />

Anderssein (der Sprachen oder Gebräuche) wird Grund für die bis zur völligen Vernichtung<br />

reichende Repression der anderen. Auge um Auge, Zahn um Zahn war die einzige gültige Losung,<br />

die einzige Motivation der Verhältnisse im Dreieck zwischen Polen, Juden und Ukrainern. Jede<br />

der Seiten des Dreiecks fordert Säuberungen unter den anderen beiden. Wenn schon nicht<br />

Assimilierung, so doch wenigstens Marginalisierung. Eine Form der Säuberung von den<br />

Andersartigen wurde in den zwei Weltkriegen und im Zusammenhang mit ihnen das entschlossene<br />

Verdrängen und sogar Vertreiben hinter die Grenzen der Stadt: der Ukrainer durch die Polen; der<br />

Juden durch die Deutschen und die Ukrainer; der Polen durch die sowjetischen Russen, Ukrainer<br />

und Juden; der Westukrainer ebenfalls durch diese.<br />

Die Ereignisse im Innern des Dreiecks wurden natürlich von außen manipuliert. Vergessen wir<br />

nicht, dass Lemberg, wie der gesamte Teil der Welt, zu dem es gehört, zwischen Deutschland und<br />

Russland liegt. Beide Imperialismen spielten ihr Spiel. Mitte des Jahrhunderts hatte die Stadt fast<br />

ihre gesamte frühere Bevölkerung verloren. Dadurch schien sich der Hass zu verringern. Aber<br />

gleichzeitig verringerten sich die Sprachen, die Kulturen, die Kontinuität. Letztere verringerte sich<br />

in katastrophalem Maße.<br />

Alle, die mir in der Stadt fehlen, wurden ermordet, sind geflohen, haben es nicht ausgehalten oder<br />

wurden nicht geboren.<br />

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15.06.2011<br />

Der Text von Juri Andruchowytsch entstammt dem Band „Kakanien – Neue Republik der<br />

Dichter“, herausgegeben von Plinio Bachmann, Rita Czapka und Knut Neumayer und erscheint<br />

am 26. September 2011 im Paul Zsolnay Verlag Wien. http://bit.ly/m4vMW6<br />

DOKUMENTARFILM<br />

Deutscher Streifen „The Other Chelsea“ stößt<br />

kontroverse Debatte in der Ukraine an<br />

Schachtjor Donezk ist der ganze Stolz der Fußballfans im Osten der Ukraine.<br />

Bergarbeiter und Spitzenpolitiker strömen ins Stadion, wenn die<br />

brasilianischen Stars von Schachtjor auf europäischem Spitzenniveau kicken.<br />

Mit der finanziellen Unterstützung des Oligarchen Rinat Achmetow gewann<br />

der Verein 2009 sogar den Uefa-Pokal. Ein junger deutscher<br />

Dokumentarfilmer hat die Menschen im ostukrainischen Kohlerevier Donbass<br />

und ihre Leidenschaft für ihre Fußballmannschaft porträtiert – und mit<br />

seinem Film eine kontroverse Debatte in der Ukraine ausgelöst.<br />

Von Martin Brand und Robert Kalimullin<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

Mit dem UEFA-Pokalsieg von Schachtjor erfüllte sich ein Traum für den<br />

Bergmannssohn und Milliardär Achmetow. Foto Preuss.<br />

wei Lebenswelten stehen sich in dem Film „The Other Chelsea“ gegenüber. Da sind einmal<br />

die Vertreter aus der einfachen Bevölkerung, die sich ihr täglich Brot mühsam unter Tage, in<br />

den maroden Kohlegruben verdienen und sich vom wenigen Ersparten einen Stehplatz im<br />

Stadion leisten können.<br />

Ihnen gegenüber steht Nikolai Lewtschenko, aufstrebender Nachwuchspolitiker in Donezk. Seine<br />

Stadtwohnung ist in einem Stil ausgestattet, den man als neobarock klassifizieren könnte, den<br />

morgendlichen Grießbrei bekommt er von einer Hausangestellten serviert. In seinem Büro hängt<br />

ein Bildnis Stalins.


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15.06.2011<br />

Der treue Fan Sascha bekam vom Verein als Reaktion auf den Film ein<br />

Jahresabonnement geschenkt. Foto Preuss.<br />

„Es gibt eine Verbindung zwischen Wirtschaft, Politik und<br />

Sport“<br />

Lewtschenko dürfte inzwischen bereuen, dem Berliner Regisseur Jakob Preuss derartig intime<br />

Einblicke in seine Verhältnisse gewährt zu haben. Denn der Film, dessen Untertitel lautet „Es gibt<br />

immer eine Verbindung zwischen Wirtschaft, Politik und Sport“, wurde inzwischen auch in der<br />

Ukraine gezeigt. In Lewtschenkos Heimatland also, wo er die Rolle des politischen Scharfmachers<br />

auf Seiten der „blauen“ Gegenkräfte zum „orangenen“ Lager kultiviert, wenn er beispielsweise für<br />

Russisch und gegen Ukrainisch als Amtssprache eintritt.<br />

Da ist es für seine Ambitionen nicht gerade förderlich, wenn die Zuschauer im Kino dabei sind,<br />

wie er während seiner Arbeitszeit Gardinen für seine Luxuswohnung aussucht. Oder wenn er laut<br />

darüber sinniert, dass Wahlverlierer in der Ukraine eine Verfolgung durch die Justiz zu befürchten<br />

hätten. Seit der „orangenen Revolution“ von 2004 hat sich das Ruder schließlich gedreht, jetzt<br />

sitzen seine „Blauen“ mit Präsident Viktor Janukowitsch in Kiew an den Schalthebeln der Macht.


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15.06.2011<br />

Vom Bergbau geprägt: die ostukrainische Metropole Donezk. Foto Preuss.<br />

Milliardenschwerer Klubpräsident<br />

Zum blauen Lager gehört auch Boris Kolesnikow, der stellvertretende Ministerpräsident der<br />

Ukraine. Als Reaktion auf den Film empfahl dieser Lewtschenko nun öffentlich, seine politische<br />

Tätigkeit am besten an den Nagel zu hängen und eine Bäckerei aufzumachen, wenn er dem Land<br />

dienen wolle. Anders dagegen Lewtschenkos politischer Ziehvater, der milliardenschwere Rinat<br />

Achmetow, der jüngst Schlagzeilen machte, als sein Unternehmen SCM die mit geschätzten 150<br />

Millionen Euro wohl teuerste Wohnung Londons erwarb.<br />

Achmetow ist Klubpräsident bei Schachtjor und so etwas wie der Übervater des Donbass. Aus<br />

Regionalpatriotismus investiert er auch hier, in seiner Heimat. Im Gegensatz zu Milliardärskollege<br />

Roman Abramowitsch, der sich den Londoner Klub Chelsea als Spielzeug leistete, schenkte<br />

Achmetow Donezk ein Stadion für die Fußball-Europameisterschaft im kommenden Jahr. Auch er<br />

hat den Film gesehen. Gefallen hat dem ukrainischen Unternehmer tatarischer Herkunft, wie<br />

Preuss gezeigt habe, dass der Fußball die Region verbinde. Und an Lewtschenko lobt der Oligarch<br />

dessen Ehrlichkeit – wenigstens habe er sich nicht eine Wohnung gemietet, um dem Filmteam<br />

vorzugaukeln, dass er in einfachen Verhältnissen lebe.<br />

Was hat Lewtschenko bewogen, sich von Preuss porträtieren zu lassen? Eine Vorstellung<br />

bekommt, wer Preuss erlebt, der zu seinen Filmvorführungen in Berlin, Warschau, Kiew oder<br />

Donezk stets persönlich anreist, um mit den Zuschauern zu diskutieren. Es muss so etwas wie eine<br />

Anziehung gegeben haben zwischen dem Regisseur und seinem Protagonist.


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Nachwuchspolitiker Lewtschenko: „Wahlverlierer müssen in der Ukraine die Justiz<br />

fürchten.“ Foto Preuss.<br />

Ein Hauch von Skandal<br />

Mit Mitte 30 sind sie beide in etwa gleichaltrig. Beide lieben sie den öffentlichen Auftritt, stehen<br />

gerne im Rampenlicht. Und sicherlich fühlte Lewtschenko sich auch etwas geschmeichelt von der<br />

Aufmerksamkeit durch das Filmteam. Nach der Filmvorführung, die in Donezk vom Hauch eines<br />

Skandals umgeben ist, gibt der Jungpolitiker eine Pressekonferenz und verkündet, natürlich sei der<br />

Film unvorteilhaft für ihn. Doch einen Grund zum Rücktritt sieht Lewtschenko nicht. Und wenn<br />

er sich für etwas schäme, dann für die im Film gezeigten katastrophalen Arbeitsbedingungen in<br />

den Kohleschächten und nicht für seinen Auftritt. Für deren Verbesserung, so der Jungpolitiker,<br />

wolle er 24 Stunden am Tag arbeiten.<br />

So ganz mag man Lewtschenko diese zur Schau gestellte Gelassenheit allerdings nicht abnehmen.<br />

Preuss wieß zu berichten, dass der Held seines Filmes die Rechte an ebendiesem kaufen wollte –<br />

für die Ukraine, Russland und Wießrussland. Sie haben sich auch nach der Filmpremiere<br />

gesprochen, Lewtschenko und Preuss, den der Politiker öffentlich immer noch als seinen Freund<br />

bezeichnet. Stalin ist inzwischen aus dem Büro verschwunden. Etwas zynisch, so Preuss, habe<br />

Lewtschenko ihm für die Hilfe bei seiner Karriere gedankt. „Das kann absurderweise sogar<br />

stimmen“ meint Preuss, schließlich habe Achmetow der Film ja gefallen – und dessen Wort hat<br />

Gewicht in Donezk.<br />

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The Other Chelsea – Kinotrailer:<br />

Die Autoren im Netz:<br />

http://www.robertkalimullin.de/<br />

http://martin-brand.de/<br />

GELESEN<br />

„Aeroflot bis Zar – Ein heiteres Sachbuch zu<br />

den 222 russischen Wörtern, die ALLE<br />

Deutschen kennen“ von Wolf Oschlies.<br />

Wieder hat im Wieser Verlag in Klagenfurt ein Buch von Wolf Oschlies das<br />

Licht der Welt erblickt. Wie alle Bücher der Reihe „Europa erlesen“ ist auch<br />

dieses in handlichem und damit Leser- und lesefreundlichem Format<br />

erschienen. Das Buch ist mit zahlreichen Illustrationen von Shenja Sidorkin<br />

versehen, und mit einer davon geht es auf dem Cover gleich heiter los und<br />

dann heiter weiter.<br />

Von Lutz Hustig<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

ei den beiden üppigen Matronen auf dem Titel handelt es sich um Matrjoschkas. Mütterchen<br />

Russland hat keine Barbies hervorgebracht, sondern frauliche Frauen, von der Traktoristin<br />

bis zur Dame - Fülliges in Fülle. Auch der russische Mann (die nächste Illustration) ist mit<br />

Ikone und Samowar, mit seiner Balalaika und seinem Wodka recht gemütlich und umgänglich.<br />

Aber bald lernen wir im Text, wie sehr gerade das Sowjetische der russischen Sprache abträglich<br />

gewesen ist. Ehe der Autor nämlich die 222 Wörter alphabetisch auflistet und kenntnis- und<br />

faktenreich kommentiert, geht er auf rund 120 Seiten dem Geschick der siebtgrößten Weltsprache


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15.06.2011<br />

„Aeroflot bis Zar – Ein heiteres Sachbuch zu<br />

den 222 russischen Wörtern, die ALLE<br />

Deutschen kennen“ von Wolf Oschlies.<br />

Ende der 80-er Jahre kaum gemildert werden konnten.<br />

nach und sieht ihre Bedeutung und ihren Einfluss<br />

im Niedergang begriffen, in Osteuropa sowieso,<br />

aber auch bei uns.<br />

Russisch – im Bewusstsein der<br />

Untertanen<br />

Unterdrückungsmittel<br />

„Die russische Sprache wurde jahrzehntelang<br />

nicht als das Medium russischer Kultur und<br />

Literatur angesehen, sondern als der Originalton<br />

sowjetisch-stalinistischer Politik!“ Darum blieb<br />

sie, auch wenn sie als Band der Einheit im<br />

Sowjetreich und seinem Einflussgebiet gedacht<br />

war, im Bewusstsein der Untertanen eben doch<br />

Unterdrückungsmittel. Von daher ergaben sich<br />

anhaltende, selbst den Zerfall der Sowjetunion<br />

überdauernde Vorbehalte und Aversionen, die<br />

auch durch die günstige Phase der Perestroika<br />

Wer in der DDR Russisch-Unterricht genossen hat, und nicht wie Oschlies das seltene Glück<br />

hatte, durch die Hände einer ausgezeichneten Lehrerin zu gehen, der hatte in der Regel noch nach<br />

etlichen Jahren null Kenntnisse der Sprache: „Drei Jugendliche stehen mit einem uniformierten<br />

Russen zusammen und fragen ihre Lehrerin: ‚Was hat der gesagt?’ Die Lehrerin: ,Er sagt, er finde<br />

es schön, dass ihr bei mir sechs Jahre Russisch in der Schule gelernt habt’“.<br />

„Eine Phase, in welcher Deutsche gern und lustvoll Russisch<br />

gelernt hätten, hat es zu meinem Bedauern nie gegeben.“<br />

Selbst Erich Honecker hat sich vergeblich bemühat, aber das nicht, weil Russisch an sich schwer<br />

wäre, sondern weil er das Deutsche nicht einmal grammatikalisch sicher beherrschte. Und so<br />

laufen Oschlies’ Beobachtungen auf die zusammenfassende Feststellung hinaus: „Eine Phase, in<br />

welcher Deutsche gern und lustvoll Russisch gelernt hätten, hat es zu meinem Bedauern nie<br />

gegeben“.<br />

Dabei blicken die sprachlichen Kontakte zwischen Russen und Deutschen auf eine 1000-jährige<br />

Geschichte zurück. Der Autor erinnert an die Kauffahrer der Hanse in Nowgorod, an deutsche<br />

Beteiligung an der Petersburger Akademie im 18. Jahrhundert und an den Beitrag der<br />

Francke’schen Stiftungen in Halle zur Entwicklung der Slawistik in Deutschland. Gegenseitige<br />

Wertschätzung oder auch Gleichgültigkeit gingen erst in antirussischen Polemiken und Hetzen des<br />

ausgehenden 19. Jahrhunderts und im Vorfeld des Ersten Weltkriegs unter. Zu dieser Zeit ist der<br />

Russland-Enthusiasmus Rilkes bereits als eine Besonderheit anzusehen. Sprachkontakte und<br />

Kooperationen in der Zwischenkriegszeit hat es nur anfänglich im militärischen Bereich zwischen<br />

den beiden totalitären Systemen gegeben, zielte doch die NS-Ideologie letztlich auf die<br />

Verdrängung des als minderwertig erachteten Slawischen.


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15.06.2011<br />

„Wenigstens die kyrillischen Buchstaben sollte man sich<br />

einmal angeeignet haben“<br />

Im gespaltenen Deutschland hat dann Wolfgang Steinitz mit seinen Lehrbüchern, die teilweise<br />

auch im Westen erschienen sind, versucht, den Deutschen das Russische schmackhaft und leicht<br />

zu machen. Ich erinnere mich, im Jahr 1967 von ihm „Russisch in 26 Lektionen“ in Händen<br />

gehabt zu haben, kam aber über Lektion 4 nicht hinaus, weil ich mich nach dem Sinn und Zweck<br />

meines Tuns fragte, also teilhatte an dem allgemeinen Desinteresse am Russischen auch in der<br />

Bundesrepublik.<br />

Das kann ich im Nachhinein nur beklagen, liegt doch Russland wenigstens geographisch näher an<br />

Europa als Nord-Amerika – es gehört geographisch in größerem Maße zu Europa als die Türkei,<br />

geistes- und kulturgeschichtlich in jedem Fall. Diese Feststellung kann nicht verkehrt sein und<br />

man sollte sich den Sachverhalt gelegentlich bewusst machen. Das wird man die<br />

Minimalforderung des Autors auch eher beherzigen, sich doch wenigstens die kyrillischen<br />

Buchstaben einmal angeeignet zu haben. Aber zunächst können die 222 russischen Wörter im<br />

Deutschen helfen, Zusammenhänge zu verstehen und das Bewusstsein korrigierend zu erhellen.<br />

Rezension zu: „Aeroflot bis Zar – Ein heiteres Sachbuch zu den 222 russischen Wörtern, die<br />

ALLE Deutschen kennen“ von Wolf Oschlies, Wieser Verlag, Klagenfurt 2011, 349 S., 12,95<br />

Euro, ISBN: 978-3851298895.<br />

GELESEN<br />

„Der Anglizismen-Index - Anglizismen,<br />

Gewinn oder Zumutung?“ von Gerhard H.<br />

Junker, Hrsg.<br />

Der Anglizismen-Index ist ein Verzeichnis von rund 7.300 englischen Wörtern<br />

und Wendungen, die in die deutsche Sprache eingedrungen sind. Dabei ist er<br />

jedoch weit mehr als ein reines Wörterbuch.<br />

Von Barbara Gutmann<br />

EM 06-11 · 05.06.2011<br />

*<br />

ls „ein Buch zum Nachschlagen. Ein Buch zum Schmökern. Ein Buch zum Bessermachen.“<br />

ist dieser Index konzipiert. Alle drei dieser Versprechen erfüllt er.<br />

Zum Beispiel Nachschlagen: Der Anglizismen-Index ist ein Verzeichnis von rund 7.300<br />

englischen Wörtern und Wendungen, die in die deutsche Sprache eingedrungen sind. Manche<br />

fallen kaum noch auf. Zum Beispiel der im Vokabular der Sportreporter gebräuchliche „Keeper“,<br />

für den es das schöne deutsche Wort „Torwart“ gibt. Oder der auch immer wieder auf dem Rasen<br />

gesichtete „Referee“ für den man – viel schöner und sofort durchschaubar - „Schiedsrichter“<br />

sagen könnte (oder „Schiri“, wenn man es flapsiger mag). Oder einfach „Unparteiischer“.


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15.06.2011<br />

„Der Anglizismen-Index -<br />

Anglizismen, Gewinn oder<br />

Zumutung?“ von Gerhard<br />

H. Junker, Hrsg.<br />

Das sind dann schon Beispiele zum Bessermachen. Auch das<br />

allgegenwärtige „Ticket“ ist eigentlich längst fällig. <strong>Zur</strong><br />

Verbesserung. Vorschläge im Index zeigen auf die Vielfalt, die im<br />

Deutschen gegeben ist: Fahrkarte, Eintrittskarte, Kinokarte,<br />

Flugkarte, Strafzettel usw.<br />

Für das Sprachkauderwelsch der Wirtschaftsleute, der Börsianer und<br />

Manager (Führungskräfte, Leiter) sind auch eine Reihe von<br />

Verbesserungsvorschlägen aufgeführt. Man höre und staune, der<br />

wichtigtuerisch klingende „break-even“ hat eine wohlklingende<br />

deutsche Entsprechung: „Gewinnschwelle“. Vielleicht würde<br />

manchem viel erspart, wenn er eher mal daran dächte, anstatt den<br />

„break“ im Munde zu führen. – Oder an die Maklergebühr, die fällig<br />

ist, auch wenn sie heute oft gedankenlos als „brokerage“ bezeichnet<br />

wird. Sie ist deshalb nicht harmloser. Und auch<br />

Erschöpfungserscheinungen sind eigentlich viel zu gefährlich, um<br />

sie mit dem anglizistischen Modebegriff „burnout“ abzutun.<br />

„Es ist kurzweilig, erhellend, verblüffend<br />

und ermutigend, die oft so naheliegenden deutschen<br />

Übersetzungen zu erfahren.“<br />

Ganz selten sehen sich die Autoren einmal nicht willens und in der Lage eine deutsche<br />

Übersetzung zu bieten. Beispiel „power“ in allen Variationen. „Frauenpower“ oder „Powerfrau“,<br />

„Powerpreise“ oder „Powersex“. Das ist auch gut so. Denn da will die deutsche Sprache einfach<br />

vielfältiger gebraucht werden. Je nach Situation. Starke Frauen kennen wir ja auch. Und guten<br />

Sex. Aber nicht alles und jedes ist „Power“.<br />

Wobei wir beim Schmökern wären: Es ist kurzweilig, erhellend, verblüffend und ermutigend, die<br />

Anglizismen zu erkennen und ihre oft so naheliegenden deutschen Übersetzungen zu erfahren.<br />

Im Klappentext des Verlags heißt es: „Der Untertitel ‚Gewinn oder Zumutung?‘ macht es<br />

deutlich: Der Anglizismen-Index ist nicht das Werk von Puristen, sondern von Menschen, die sich<br />

konstruktiv und tolerant mit der deutschen Sprache auseinandersetzen. So gibt es aus Sicht der<br />

Autoren nicht nur unwillkommene Anglizismen, sondern durchaus auch solche, die<br />

differenzierend und ergänzend das Deutsche bereichern. Der Anglizismen-Index bietet somit dem<br />

Leser Verstehenshilfen im Alltag wie auch Anregungen beim Abfassen eigener Texte. Kurzum:<br />

Ein Buch zum Nachschlagen. Ein Buch zum Schmökern. Ein Buch zum Bessermachen.“<br />

*<br />

Rezension zu: „Der Anglizismen-Index - Anglizismen, Gewinn oder Zumutung?“ von Gerhard H.<br />

Junker, Hrsg. Broschiert, 304 Seiten, Ifb Verlag (April 2011) 15,00 Euro, ISBN- -13: 978-<br />

3942409117.<br />

Den „Anglizismen-Index“ gibt es auch im Netz: http://www.vds-ev.de/anglizismenindex/

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