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Eurasisches Magazin – April 2009 · Seite 1 © Eurasischer Verlag ...

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© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong><br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 1


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong><br />

Die Netzzeitschrift, die Europa und Asien zusammenbringt<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 2<br />

Ausgabe 04-09<br />

2. <strong>April</strong> <strong>2009</strong><br />

Inhalt<br />

ZUR NEUEN AUSGABE .....................................................................................................................3<br />

TERMINE 04-<strong>2009</strong> .........................................................................................................................4<br />

EURASIEN-TICKER 04-<strong>2009</strong>...........................................................................................................6<br />

„ASIEN NUTZT SEINE CHANCE!“ ......................................................................................................9<br />

„KASACHSTAN ZEIGT, DASS WIRTSCHAFTLICHES WACHSTUM NICHT NOTWENDIGERWEISE EINE<br />

DEMOKRATISCHE VERFASSUNG VORAUSSETZT“............................................................................. 14<br />

WIRTSCHAFTSKRISE HAUSGEMACHT UND IMPORTIERT ................................................................. 19<br />

KEINE SPUR VON OSTALGIE ..........................................................................................................23<br />

DER BLICK DER FRAUEN ...............................................................................................................26<br />

ALS GÄBE ES KEIN MORGEN ..........................................................................................................29<br />

GEOMANTIKART VON DER WASSERSCHEIDE..................................................................................32<br />

TV-SERIE „GÜLDÜNYA“ – „RUFEN SIE AN, BEVOR ES ZU SPÄT IST!“ ..............................................36<br />

EINE UKRAINERIN SINGT FÜR RUSSLAND......................................................................................39<br />

ANSCHLAG AUF OPPOSITIONS-POLITIKER IN SOTSCHI .................................................................. 41<br />

RUSSLAND FÜHLT SICH HINTERGANGEN .......................................................................................42<br />

CEUTA UND MELILLA: DIE BEIDEN LETZTEN EUROPÄISCHEN KOLONIEN IN AFRIKA .....................44<br />

„GLÜCKSELIGKEIT“ VON ZÜLFÜ LIVANELI.................................................................................... 48<br />

„DIE RÜCKKEHR ASIENS. DAS ENDE DER WESTLICHEN DOMINANZ“ VON KISHORE MAHBUBANI 50<br />

„DIE DEMOKRATIE UND IHRE FEINDE: WER GESTALTET DIE NEUE WELTORDNUNG?“ VON ROBERT<br />

KAGAN ..........................................................................................................................................52<br />

„DER KAUKASUS. GESCHICHTE - KULTUR – POLITIK“, VON MARIE-CARIN VON GUMPPENBERG UND<br />

UDO STEINBACH ...........................................................................................................................55<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 3<br />

Zur neuen Ausgabe<br />

Von EM Redaktion<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

önnen nichtdemokratische Staaten wirtschaftlich effizient sein? Kann es<br />

autokratischen Regierungen gelingen, sich auf dem Weltmarkt zu behaupten und für<br />

ihre Bevölkerungen Wohlstand zu schaffen? Diese Frage wird gleich in vier Beiträgen<br />

dieser Ausgabe erörtert, obschon dies keinerlei Absicht war. Es hängt vielmehr vor allem mit<br />

der Rolle der asiatischen Staaten zusammen, die wenig demokratisch aber wirtschaftlich<br />

immer erfolgreicher sind.<br />

Im EM-Interview sagt die Expertin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, Dr.<br />

Andrea Schmitz: „Kasachstan zeigt, dass wirtschaftliches Wachstum nicht notwendigerweise<br />

eine demokratische Verfassung voraussetzt“. Die Kasachen seien pragmatisch und vor allem<br />

stabilitätsorientiert. Das wäre ein Grund, weshalb „bunte Revolutionen“ in dem<br />

zentralasiatischen Flächenstaat bislang nicht Fuß fassen konnten. Ein anderer sei die<br />

erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung des Landes und der wachsende Wohlstand breiter<br />

Bevölkerungsschichten. Dies werde in erster Linie der Herrschaft von Präsident Nasarbajew<br />

zugeschrieben und beschere dem Regime ein hohes Maß an Legitimität.<br />

„Asien nutzt seine Chance!“, da ist sich die Wirtschaftswissenschaftlerin Dr. Hanne<br />

Seelmann-Holzmann sicher. Und sie sagt: „Ich bin keinesfalls davon überzeugt, dass die<br />

Demokratie überall ersehnt wird, wie das der Westen unterstellt - Warum soll z.B. die<br />

Mehrzahl der Chinesen an ihrer kommunistischen Regierung zweifeln? - Wenn China im<br />

März <strong>2009</strong> über zwei Billionen US-Dollar an Devisenreserven verfügt, eine Ablösung des<br />

US-Dollars als Leitwährung fordert und dem IWF Kredite geben kann, so sind das einfach<br />

Fakten.“<br />

In den beiden Buchrezensionen „Die Rückkehr Asiens. Das Ende der westlichen Dominanz“<br />

von Kishore Mahbubani und „Die Demokratie und ihre Feinde: Wer gestaltet die neue<br />

Weltordnung?“ von Robert Kagan wird das Thema ebenfalls vertieft.<br />

In einem neuen Beitrag über „Eurasische Spiritualität - Geomantikart von der<br />

Wasserscheide“ berichtet Hans Wagner „Wie man eine neue Beziehung zum Heimatplaneten<br />

Erde herstellt – was die Faszination der Geomantik ausmacht – welche neuen Möglichkeiten<br />

Bücher und Zeitschriften eröffnen – wie durch eine Geomantiklade ganz eigene Kraftorte in<br />

Haus und Wohnung entstehen – was es mit den Geheimnissen vom eurasischen Heidenpfad<br />

auf sich hat.“<br />

Für die kommende Ausgabe haben wir unter anderem eine Rezension zur Neuerscheinung<br />

über „Die Amazonen. Töchter von Liebe und Krieg“ aus dem Theiss-<strong>Verlag</strong> vorgesehen.<br />

*<br />

Ihre EM-Redaktionsmannschaft<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 4<br />

Termine 04-<strong>2009</strong><br />

„Buddhas erbarmungsvoller Helfer“ · „Glanz des Hauses Habsburg.“ · „Die<br />

Türken und die Preußen“ · „Dionysos: Verwandlung und Ekstase“<br />

Von EM Redaktion<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

Berlin bis 19.04.: Ausstellung „Die Glasamphora aus Olbia – Original und Nachbildung“ –<br />

Infos hier<br />

Berlin bis 24.05.: Ausstellung „Transformationen des Mitgefühls – Buddhas<br />

erbarmungsvoller Helfer“ – Infos hier<br />

Berlin bis 01.06.: Ausstellung „Glanz des Hauses Habsburg. Die Medaillen der römischdeutschen<br />

Kaiser und der Kaiser von Österreich 1500 bis 1918“ – Infos hier<br />

Berlin bis 14.06.: Ausstellung „Die Kunst der Interpretation – Italienische<br />

Reproduktionsgraphik von Mantegna bis Carracci“ – Infos hier<br />

Berlin bis 14.06.: Ausstellung „Die Türken und die Preußen: Türkische Kunst, die<br />

Reformen des Osmanischen Reiches und die deutsch-türkische Freundschaft“ – Infos hier<br />

Berlin bis 21.06.: Ausstellung „Dionysos: Verwandlung und Ekstase“ – Infos hier<br />

Berlin bis 26.04.: Ausstellung „Gerettet – Die Inventarbücher der archäologischen<br />

Sammlung des ehemaligen Prussia-Museums in Königsberg“ – Infos hier<br />

Berlin bis 05.07.: Ausstellung „Tuchintarsien in Europa von 1500 bis heute“ – Infos hier<br />

Berlin bis 05.07.: Ausstellung „Die Rückkehr der Götter: Berlins verborgener Olymp“ –<br />

Infos hier<br />

Berlin 09.04. bis 10.08.: Ausstellung „Gandhara – Das buddhistische Erbe Pakistans.<br />

Legenden, Klöster und Paradiese“ – Infos hier<br />

Berlin 06.05. bis 31.08.: Ausstellung „ZeitRäume – Milet in Kaiserzeit und Spätantike“ –<br />

Infos hier<br />

Bonn bis 26.07.: Fotoausstellung „Tschechische Fotografie des 20. Jahrhunderts“ – Infos<br />

hier<br />

Dresden 03.04.: Diavortrag zu einer 25.000 Kilometer langen Reise entlang der<br />

imaginären Grenze zwischen Europa und Asien – Infos hier<br />

Dresden bis 08.04.: Ausstellung „Ganz normale Helden – Schicksale inhaftierter<br />

Oppositioneller in der DDR und der Volksrepublik Polen zu Zeiten des Kalten Krieges“ –<br />

Infos hier<br />

Hamburg bis 30.12.: Ausstellung „Masken der Südsee“ – Infos hier<br />

Hamburg bis 30.12.: Ausstellung „Mit Kamel und Kamera – Historische Orient-Fotografie<br />

1864-1970“ – Infos hier<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 5<br />

Hamburg bis 10.08.10: Ausstellung „Ein Hauch von Ewigkeit. Die Kultur des Alten<br />

Ägyptens“ – Infos hier<br />

Hamburg bis 24.06.11: Ausstellung „Ein Traum von Bali“ – Infos hier<br />

Heidelberg bis 01.06.: Ausstellung „Den Spuren der Götter folgen. Rituale und religiöse<br />

Ästhetik in Orissa“ – Infos hier<br />

Kalkriese/ Detmold ab 15.05.: Ausstellung „Imperium, Konflikt, Mythos. 2000 Jahre<br />

Varusschlacht“ – Infos hier<br />

Köln bis 26.04.: Ausstellung „Feuer und Erde: Chinesische Frühkeramik von 3500 v. Chr.<br />

bis 1400 n. Chr.“ – Infos hier<br />

Köln bis 27.09.: Ausstellung „Kunst des esoterischen Buddhismus“ – Infos hier<br />

Köln 19.06.-15.11.: Ausstellung „Europa brennt: Kunst der Völkerwanderungszeit“ – Infos<br />

hier<br />

Linz 15. bis 29.04.: Ausstellung „Unterwegs: South Caucasus and Europe“ – Infos hier<br />

München bis 02.05.: Ausstellung „ Spuren der Heiligkeit. Mystischer Islam in Pakistan<br />

Fotografien von Lukas Werth“ – Infos hier<br />

München bis 04.10.: Ausstellung „Mazu – Chinesische Göttin der Seefahrt. Kolorierte<br />

Holzschnitte von Lin Chih-hsin. Begleitet von Pilgerstäben des Künstlers Ludwig Denk“ -<br />

Infos hier<br />

München bis 02.05.10: Ausstellung „Sufi-Poster-Art aus Pakistan. Sonderschau in der<br />

Ravi Gallery“ – Infos hier<br />

Selb 16. bis 19.04.: Filmfest: „32. Grenzland-Filmtage“ – Infos hier<br />

Speyer bis 12.07.: Ausstellung „Die Wikinger“ – Infos hier<br />

Wien bis 22.04.-29.03.10: Ausstellung „Japan für alle Jahreszeiten“ – Infos hier<br />

Wiesbaden bis 22. bis 28.04.: Filmfest „Go East – 9. Festival des mittel- und<br />

osteuropäischen Films“ – Infos hier<br />

Wolfsburg bis 24.05.: Ausstellung „Auf der Spitze des Eisbergs. Neue Fotografie aus<br />

Finnland“ – Infos hier<br />

Zürich bis 06.09.: Indien-Ausstellung „Naga – Schmuck und Asche“ – Infos hier<br />

Zürich bis 26.04.: Ausstellung „Drachen, Lotos, Schneelöwen – Teppiche vom Dach der<br />

Welt“ – Infos hier<br />

Zürich bis 24.09: Ausstellung „Geschichten aus der Schattenwelt: Figuren aus China,<br />

Indien und der Türkei“ – Infos hier<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 6<br />

Eurasien-Ticker 04-<strong>2009</strong><br />

Vortrag der Eurasien-Fahrer · Der Peking-Mensch ist viel älter als gedacht ·<br />

Tatort Adria - Vogeljagd auf dem Balkan · China: Junge Dinosaurier rotteten<br />

sich zusammen · 9. goEast - Festival des mittel- und osteuropäischen Films ·<br />

Russland stellt Polar-Streitkräfte auf · Schneller essen in Russland ·<br />

Hunderttausende US-Waffen in den Händen Taliban<br />

Von EM Redaktion<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

Vortrag der Eurasien-Fahrer<br />

EM - Sie haben als erste die imaginäre Linie zwischen Asien und Europa bereist, die man in<br />

der Neuzeit als „Grenze“ bezeichnet. Am Freitag, 3. <strong>April</strong> <strong>2009</strong> um 20.30 Uhr werden<br />

Stefanie Gunkel und Thomas Heinze in der Globetrotter-Filiale in Dresden (World Trade<br />

Center) einen Diavortrag mit Computergestützter Überblendtechnik über ihre 25.000<br />

Kilometer lange Reise halten und ihr Reisebuch vorstellen.<br />

Weitere Infos unter: http://www.heinze-thomas.de/<br />

Der Peking-Mensch ist viel älter als gedacht<br />

EM - Die Überreste des in einer Höhle in China gefundenen Peking-Menschen sind einer<br />

neuen Studie zufolge rund 780.000 Jahre alt und damit 200.000 Jahre älter als Forscher<br />

ursprünglich vermutet hatten. Forscher konnten die Funde aus den 1920er Jahren mit Hilfe<br />

moderner Methoden jetzt neu datieren. Die neuen Erkenntnisse liefern auch Hinweise auf<br />

eine parallele Wanderungsbewegung der Urmenschen durch Eurasien.<br />

Bisher ging die Mehrzahl der Wissenschaftler davon aus, dass Angehörige der Hominiden-<br />

Art Homo erectus, zu der Peking-Menschen gezählt werden, vor etwa zwei Millionen Jahren<br />

von Afrika über die arabische Halbinsel in Richtung des indischen Subkontinents und<br />

entlang der asiatischen Küsten wanderten. Die nun veröffentlichten Erkenntnisse deuteten<br />

darauf hin, dass es eine parallele Wanderungsbewegung durch den eurasischen Kontinent<br />

etwa über das Gebiet des heutigen Georgien gegeben habe, wo der Homo erectus schon vor<br />

1,8 Millionen Jahren angekommen sei.<br />

Tatort Adria - Vogeljagd auf dem Balkan<br />

EM - Es ist wieder soweit. Die Zugvögel kehren aus ihren Winterquartieren im Süden<br />

Europas und aus Afrika zu uns zurück. „Doch wie viele davon tatsächlich ankommen, das<br />

gleicht einem Lotteriespiel“, sagt Prof. Dr. Hartmut Vogtmann, Präsident der<br />

Naturschutzstiftung EuroNatur. „Besonders die Adria-Zugroute entpuppt sich als ein<br />

regelrechter Gefahrenparcour.“ Dies zeigt eine umfassende, von EuroNatur erstellte Analyse<br />

der aktuellen Vogeljagd-Situation auf dem Balkan. Die Veröffentlichung des Berichts ist Teil<br />

der Kampagne „Tatort Adria – Vogeljagd auf dem Balkan“.<br />

Wie groß der Handlungsbedarf ist, zeigen die Ergebnisse des Berichts. „Vogeljäger lauern den<br />

Tieren auf und lassen die östliche Adriaküste jährlich für weit über zwei Millionen Zugvögel<br />

zur Todesfalle werden“, sagt EuroNatur-Projektleiter und Vogelexperte Dr. Martin<br />

Schneider-Jacoby, der maßgeblich an der Erstellung des Papiers beteiligt war. Pro Jäger<br />

fallen mindestens zehn Vögel pro Jahr vom Himmel, und das ist nur die Spitze des Eisbergs.<br />

Hinzu kommt die Dunkelziffer, die auf das Konto von meist italienischen Jagdtouristen und<br />

einer großen Zahl Wilderer geht. Unter den abgeschossenen Arten sind nicht nur seltene<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 7<br />

Wat- und Wasservögel wie Bekassine, Kranich und Löffler, sondern auch für unsere<br />

Kulturlandschaften so typische Arten wie Feldlerche, Wiedehopf und Wachtel lassen hier ihr<br />

Leben. „Wer meint, die Geschehnisse auf dem Balkan wären weit weg, der irrt. Denn wenn an<br />

der Adria die Vögel vom Himmel fallen, wird es auf unseren Äckern still“, warnt Schneider-<br />

Jacoby.<br />

Hintergrundinformationen: http://www.euronatur.org/Daten-Fakten.927.0.html<br />

China: Junge Dinosaurier rotteten sich zusammen<br />

EM - Ein internationales Paläontologenteam hat in der Wüste Gobi in China die Fossilien<br />

von 25 Jungsauriern freigelegt. Die 90 Millionen Jahre alten Versteinerungen stammen von<br />

der Art Sinornithomimus dongi, so die Wissenschaftsredaktion des Deutschlandfunks in der<br />

Sendung Forschung aktuell. Da die Forscher auch fossile Reste von Muschelkrebsen fanden<br />

gehen sie davon aus, dass die drei bis fünf Meter großen Tiere im Morast versunken sind.<br />

Die Anordnung der dicht beisammen liegenden Skelette lässt darauf schließen, dass es sich<br />

um eine Herde handelte, die zeitgleich ums Leben kam, schreiben die Forscher im Fachblatt<br />

„Acta Palaeontologica Polonica“. Sie vermuten, dass sich die halbwüchsigen Dinosaurier in<br />

Gruppen zusammentaten, da sie auf sich allein gestellt waren, während ihre Eltern bereits<br />

wieder mit Paarung, Nestbau und Brutpflege beschäftigt waren.<br />

9. goEast - Festival des mittel- und osteuropäischen Films<br />

EM – Vom 22. bis 28. <strong>April</strong> findet das 9. goEast-Festival in Wiesbaden statt.<br />

Akkreditierungen sind noch bis 15. <strong>April</strong> möglich. Der Ticket-Vorverkauf begann am 30.März<br />

in der Tourist Information in Wiesbaden (0611 / 172 978-0). Einzelkarten für goEast kosten 6<br />

(ermäßigt 5) Euro. Ein Festivalpass, der zum Besuch aller Filme und Veranstaltungen<br />

berechtigt, ist für 40 (35) Euro erhältlich. Tageskarten kosten 16 (12) Euro. Das goEast-<br />

Programmheft <strong>2009</strong> mit allen Informationen: http://www.filmfestival-goeast.de/<br />

Russland stellt Polar-Streitkräfte auf<br />

EM - Der russische Sicherheitsrat plant den Aufbau spezieller Arktis-Streitkräfte für sein<br />

Interessensgebiet am Nordpüol. Das geht aus der neuen russischen Sicherheitsdoktrin für die<br />

Arktis hervor. Dem Grundsatzpapier zufolge sollen die geplanten russischen Arktis-<br />

Streitkräfte in der Lage sein, „die militärische Sicherheit in unterschiedlichen militärpolitischen<br />

Situationen sicherzustellen“. Bis 2016 sollen die Grenzen der russischen Zone am<br />

Nordpol in Verhandlungen mit den fünf Nordpol-Anrainern geregelt werden. Am Nordpol<br />

vermuten Experten 20 Prozent der weltweit noch unerschlossenen Öl- und Gasvorkommen.<br />

Schneller essen in Russland<br />

EM - Im Westen kennt Rostislav Ordovsky kaum jemand. Dabei ist Rostik, wie ihn seine<br />

Freunde nennen, Russlands größter Gastronom – und der einzige, der McDonald’s im wilden<br />

Osten bedrängt, berichtet Gregor Kessler in der „Financial Times Deutschland“.<br />

Experten schätzten die Zahl der Schnellrestaurants in Russland auf etwa 400 – eines pro<br />

350. 000 Einwohner. Etwa 200 davon betreibe McDonald’s, 160 Rostik gemeinsam mit<br />

seinem Partner Yum. Wer hier verdienen wolle, der müsse jetzt investieren, sage Rostik. „Das<br />

ist eine Chance, wie man sie nur einmal im Leben bekommt. Vor einem Jahr waren die guten<br />

Innenstadtlagen unbezahlbar, in zwei Jahren werden sie es wieder sein. Man muss sich in<br />

den nächsten 18 Monaten breitmachen.“<br />

Der Konkurrent McDonald’s täte genau das, berichtet die FTD. „Ende Februar kündigte das<br />

Unternehmen an, <strong>2009</strong> mindestens 40 neue Filialen in Russland zu eröffnen und dafür etwa<br />

120 Millionen US-Dollar zu investieren.“ Russland habe als Fast-Food-Markt ein riesiges<br />

Potential zum Wachsen.<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 8<br />

Der Kampf um die Fast-Food-Russen bleibt spannend. „Das Geschäft mit Burgern, Pizza und<br />

frittiertem Hähnchen in Russland ist so vielversprechend wie schwierig. 15 Jahre mühte sich<br />

Kentucky Fried Chicken, im russischen Markt Fuß zu fassen. Der Erfolg war mäßig. Burger<br />

King bekam Ende der 80er-Jahre nach zweijährigen Vorbereitungen doch wieder kalte Füße<br />

– bis heute hat die Burgerkette keine einzige Filiale in Russland.“ Hygienegründe, mangelnde<br />

Infrastruktur, Bürokratie und organisiertes Verbrechen gälten als Hauptprobleme für die<br />

Branche.<br />

Hunderttausende US-Waffen in den Händen Taliban<br />

EM – Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Al Kaida-Kämpfer mit US-Grantwerfern gegen die<br />

Truppen der NATO vorgehen. Die Amerikaner vermissen große Mengen Waffen in<br />

Afghanistan.<br />

Das Kriegsgerät wird in den Händen der Taliban vermutet. Es sind amerikanische Waffen,<br />

mit denen die einheimischen Sicherheitskräfte versorgt wurden. Das geht aus einem Bericht<br />

hervor, den die Untersuchungsbehörde des Kongresses (GAO) in Washington veröffentlichte.<br />

Die vermissten Waffen umfassen ein Arsenal von Maschinengewehren bis zu Granatwerfern.<br />

Insgesamt habe es das US-Verteidigungsministerium aufgrund von Nachlässigkeit und<br />

Personalmangel versäumt, komplett Buch über 87.000 Waffen zu führen, heißt es in dem<br />

Report. Die US-Waffen entsprächen ungefähr einem Drittel aller Waffen, die an die<br />

afghanischen Sicherheitskräfte geliefert worden seien. Ihr Verbleib lasse sich nun nicht mehr<br />

zurückverfolgen. Ebenso unklar sei der Verbleib von weiteren 135.000 Waffen, die den<br />

afghanischen Sicherheitskräften von anderen NATO-Ländern übergeben wurden.<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 9<br />

EM-INTERVIEW<br />

„Asien nutzt seine Chance!“<br />

„Chinesen kaufen erstmals mehr Autos als Amerikaner“ – „Chinesen bestellen<br />

für zehn Milliarden Dollar bei deutschen Unternehmen“ – „China ist die letzte<br />

große Volkswirtschaft, die wächst“ - „Asien wird Konjunkturlokomotive der<br />

Welt“: Das sind Schlagzeilen der internationalen Presse aus dem März <strong>2009</strong>.<br />

Wir sprachen mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Dr. Hanne Seelmann-<br />

Holzmann über „Die Rückkehr Asiens und das Ende der westlichen Dominanz“.<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

urasisches <strong>Magazin</strong>: Kishore Mahbubani,<br />

Politikwissenschaftler aus Singapur, hat ein<br />

bemerkenswertes Buch geschrieben mit dem Titel<br />

„Die Rückkehr Asiens: Das Ende der westlichen<br />

Dominanz“. Er sagt: Dass der Westen die Welt zwei<br />

Jahrhunderte dominiert hat, war eine Anomalie der<br />

Geschichte. Ihr Arbeitsfeld ist Asien. Sehen Sie das auch<br />

so?<br />

Hanne Seelmann-Holzmann: Europa erlebte ab dem<br />

16. Jahrhundert eine technisch-industrielle Revolution.<br />

Sie hat verschiedene Ursachen, wie etwa die<br />

Bauernbefreiung oder die Französische Revolution im<br />

politischen Bereich, wissenschaftliche Erkenntnisse und<br />

technische Erfindungen. Diese Entwicklungen wurden<br />

unterstützt durch ein wirtschaftsfreundliches Denken, wie<br />

zum Beispiel das protestantische Arbeitsethos. Die damit<br />

verbundenen wirtschaftlichen Erfolge – zusammen mit<br />

dem grundsätzlichen Überlegenheitsgefühl christlichabendländischen<br />

Denkens - bewirkten, dass der Westen in<br />

den letzten zwei Jahrhunderten eine dominante Macht<br />

war. Mahbubani weist ja darauf hin, dass zwischen dem<br />

10. und dem 15. Jahrhundert die asiatischen Länder, wie<br />

etwa China, Indien oder Japan in wirtschaftlicher Hinsicht<br />

mit Europa gleichauf lagen. Ich sehe allerdings keine<br />

Anomalie der Geschichte in der westlichen Dominanz,<br />

sondern einfach den wirtschaftlichen Vorsprung, bedingt<br />

durch die geschickte Nutzung oben erwähnter Parameter.<br />

Der Westen ist dominant in internationalen<br />

Organisationen<br />

EM: Der Asiate Mahbubani hat eine auffallend sanfte<br />

Diktion für seine uns Westlern gegenüber doch<br />

ungeheuerliche Prophezeiung. Er sagt uns nichts weniger<br />

als den Niedergang voraus und wählt dafür die Worte: Die<br />

Asiaten wollen den Westen nicht dominieren, sondern ihn<br />

imitieren. Wie ist das zu begreifen?<br />

Zur Person: Dr. Hanne<br />

Seelmann-Holzmann<br />

Dr. Hanne<br />

Seelmann-<br />

Holzmann ist<br />

Soziologin und<br />

Wirtschaftswisse<br />

nschaftlerin. Sie<br />

hat eine Reihe<br />

von<br />

Forschungsprojekten zum<br />

Kulturvergleich Asien – Europa<br />

durchgeführt, u. a. finanziert<br />

durch die Deutsche<br />

Forschungsgemeinschaft und<br />

die VW-Stiftung.<br />

Die Wissenschaftlerin bereiste<br />

mehrfach die südostasiatischen<br />

Länder Singapur, Malaysia,<br />

Thailand, Indonesien und<br />

Vietnam. Ihre Studien führten<br />

sie außerdem nach China,<br />

Indien, Japan und Südkorea.<br />

Seit 1994 ist Dr. Seelmann als<br />

selbständige<br />

Unternehmensberaterin tätig.<br />

Dr. Seelmann Consultants<br />

bietet Strategieberatung und<br />

Prozessbegleitung für das<br />

Asiengeschäft. Frau Dr.<br />

Seelmann ist Autorin mehrer<br />

Fachbücher und Gastdozentin<br />

an der International Business<br />

School in Nürnberg.<br />

http://www.seelmannconsultants.de/<br />

Seelmann: Für Mahbubani gehört dazu vor allem die Beseitigung von Hunger und der<br />

Zugang zu Wasser. Zum Beispiel die hygienische Revolution der Wassertoiletten. Allgemein<br />

ist es die Erhöhung materiellen Wohlstandes und damit mehr Wahlmöglichkeiten für das<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 10<br />

eigene Leben und für die nachzuahmenden Dinge. Mahbubani sieht die Europäische<br />

Gemeinschaft als einen Garanten für Frieden zwischen den europäischen Staaten. Auch das<br />

zu imitieren empfiehlt er den asiatischen Nationen. Und dann ermahnt er natürlich den<br />

Westen, die dort so hoch geschätzten demokratischen Werte auch umzusetzen und zum<br />

Beispiel in den internationalen Organisationen wie IWF oder Vereinte Nationen<br />

Führungspositionen endlich mit Vertretern asiatischer oder afrikanischer Staaten zu<br />

besetzen. Das würde eben bedeuten, die westliche Dominanz zu beenden. Mit einem Satz<br />

könnte man sagen: Mahbubani fordert gleiche Rechte in wirtschaftlicher und politischer<br />

Hinsicht auch für die asiatischen Staaten.<br />

EM: Ist das die asiatische Form des Kampfes der Kulturen?<br />

Seelmann: Für mich ist das kein Ausdruck eines Kampfes der Kulturen, sondern einfach die<br />

konsequente Folge neuer weltwirtschaftlicher Machtverhältnisse. Wenn China im März <strong>2009</strong><br />

über zwei Billionen US Dollar an Devisenreserven verfügt, eine Ablösung des US Dollars als<br />

Leitwährung fordert und dem IWF Kredite geben kann, so sind das einfach Fakten. „Wer<br />

zahlt, schafft an“, sagt man auch bei uns. Auch die neue amerikanische Regierung hat<br />

erkannt, dass eine multipolare Weltwirtschaft entstanden ist, die neue politische Strategien<br />

fordert.<br />

Die Legitimität unterschiedlicher Weltsichten<br />

EM: Der US-Amerikaner Samuel Huntington war es, der einen Zivilisationenkampf<br />

vorhersagte. Von Kampf ist bei Mahbubani kaum die Rede, sondern von Friedenskultur, von<br />

Bildung, sozialer Gerechtigkeit, Rechtsstaat und Partnerschaft – alles Begriffe aus dem<br />

westlichen Denken. Will Asien zum besseren Westen aufsteigen?<br />

Seelmann: Die Sichtweise und Prognose Huntingtons erscheint mir als typischer Ausdruck<br />

westlichen Denkens, das stark mit Entweder-oder-Kategorien arbeitet. Deshalb geht es erst<br />

einmal um Kampf, wenn zwei Denksysteme aufeinander treffen – noch dazu wenn eines<br />

davon einen großen Dominanzanspruch hat. Alle asiatischen Philosophien propagieren das<br />

Sowohl-als-auch-Konzept. Sie sprechen anderen Deutungssystemen durchaus Legitimität zu,<br />

anerkennen ein gleichberechtigtes Nebeneinander. Ganz pragmatisch formulierte das einmal<br />

der frühere Premierminister von Singapur, Lee Kuan Yew, als er sagte: „Ihr müsst uns nicht<br />

lieben. Ihr müsst nur mit uns Geschäfte machen.“ Äußerungen von Mahbubani – der ja auch<br />

aus Singapur stammt – sind Ausdruck solcher Einstellungen. Er betont einfach die<br />

Legitimität unterschiedlicher Weltsichten. Und das kann dem Westen ganz schön wehtun,<br />

z.B. wenn er anführt, dass wir es zu akzeptieren haben, wenn ein Land die Scharia als<br />

Grundlage der Rechtssprechung einführt. Ich möchte zum Beispiel nicht akzeptieren, dass<br />

eine vergewaltigte Frau als Täterin dargestellt und dann auch noch zu Tode gesteinigt werden<br />

kann.<br />

Die international tätigen Unternehmen sind nicht zu beneiden<br />

EM: Wie sollte man sich als Westen, als westlicher Unternehmer vor allem, verhalten? Sie<br />

hatten in einem vielbeachteten Interview im Dezember 2004 gesagt: „Was unsere<br />

Unternehmer in China machen, ist Harakiri“. Und was machen unsere Unternehmer heute?<br />

Seelmann: Das ist sehr unterschiedlich. Gerade in China sind westliche Unternehmen<br />

manchmal - auch durch eigene Sorglosigkeit - in eine schlimme Zwickmühle geraten.<br />

Chinesische Partner – und da sind natürlich Ministerien oder Staatsbetriebe am deutlichsten<br />

– fordern offen und vehement technisches Know-How, machen den Technologietransfer zum<br />

Teil zur Bedingung für eine weitere Kundenbeziehung. Einige meiner Kunden sprechen von<br />

Erpressung. Ganz allgemein kann man sagen, dass das wachsende Selbstbewusstsein in<br />

Asien, aber auch in Afrika oder Russland, die Arbeit für die westlichen Unternehmen nicht<br />

leichter macht. Denn sie werden verstärkt in ihrer betrieblichen Organisation Forderungen<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 11<br />

berücksichtigen müssen, wie die nach kulturangepasster Mitarbeiterführung, Vertriebspolitik<br />

etc. Und richtig spannend wird es, wenn es um eine Anpassung ethischer<br />

Unternehmensgrundsätze geht: da ist von Korruption bis zur Akzeptanz von Kinderarbeit<br />

alles zu finden. Die international tätigen Unternehmen sind nicht zu beneiden. Auf der einen<br />

<strong>Seite</strong> sollen sie mit ihrem Engagement Arbeitsplätze in einer hoch exportabhängigen<br />

Volkswirtschaft sichern. Auf der anderen <strong>Seite</strong> wachen gerade im Westen Presse und eine<br />

kritische Verbraucherschaft darüber, dass dies alles politically correct erfolgt. Diesen Spagat<br />

erfolgreich zu meistern wird in den nächsten Jahren die Hauptaufgabe westlicher<br />

Unternehmen darstellen.<br />

„Im interkulturellen Handeln werden sich die westlichen Menschen aufgrund<br />

ihrer Denkstrukturen, aber auch ihrer politischen Überzeugungen schwer tun,<br />

Zusammenarbeit für beide Partner befriedigend zu definieren“<br />

EM: „Yes we can“ kann eigentlich kaum mehr jemand hören – es erinnert angesichts der<br />

Situation des Westens inzwischen eher an das Pfeifen im Walde. Mahbubani schreibt, der<br />

Westen verliert seinen Optimismus. Hat er Recht?<br />

Seelmann: Wir wissen ja, dass es in Bezug auf die Optimismusausprägung auch im Westen<br />

Unterschiede gibt. Die politischen oder wirtschaftlichen Kräfte im Westen, die das Ausmaß<br />

der globalen Veränderungen erkannt haben, sind zumindest verunsichert. Denn wir waren ja<br />

in den letzten Jahrhunderten eher in der Durchsetzung unserer Werte und Lösungswege<br />

geübt, als darin, mit anderen starken Partnern friedlich verhandeln zu müssen. Der<br />

Paradigmenwechsel, der von einigen Wissenschaftlern prognostiziert wird, muss gar nicht so<br />

dramatisch ausfallen. Es geht zuerst einmal darum, die Schnittmengen interkulturellen<br />

Handelns - z.B. in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit - für beide Partner befriedigend zu<br />

definieren. Und da werden sich die westlichen Menschen aufgrund ihrer Denkstrukturen,<br />

aber auch ihrer politischen Überzeugungen schwer tun. Manchmal denke ich ganz<br />

optimistisch, dass man in den USA die besten Voraussetzungen für die Bewältigung dieser<br />

Aufgabe geschaffen hat, indem man einen Präsidenten mit afrikanischen Wurzeln,<br />

Kenntnissen des Islams, aufgewachsen in den USA, Indonesien und Hawaii wählte.<br />

EM: Vielleicht. Optimismus scheint jedenfalls längst die bevorzugte Bewusstseinsverfassung<br />

Asiens zu sein. Die Zahl der Menschen, die den westlichen Traum von einem bequemen<br />

Mittelschichtleben verfolgen, war noch nie so groß wie heute, schreibt Mahbubani. Wie<br />

kommt das?<br />

Seelmann: Viele Menschen in Asien erleben eine historisch einmalige Situation. Noch nie<br />

hatten sie – auch in China! – so viele Möglichkeiten, ihre materielle Situation aus eigener<br />

Kraft zu verbessern. Wir sehen, dass viele Menschen in China, Südostasien, früher bereits in<br />

Japan, diese Chancen mit beiden Händen nutzen. In Indien profitieren bisher am meisten die<br />

privilegierten Schichten von der wirtschaftlichen Öffnung. Dort ist das Kastenwesen nach wie<br />

vor ein Hemmschuh für gleichberechtigte Teilnahme am wirtschaftlichen Fortschritt.<br />

„Der Leistungsanspruch, aber auch die persönliche Leistungsbereitschaft der<br />

Kinder, kann überhaupt nicht mit dem verglichen werden, wie das im Westen<br />

größtenteils praktiziert wird“<br />

EM: Liegt es möglicherweise auch daran, dass Asiaten heute bereit sind, sich dafür mehr<br />

anzustrengen? Während im Westen oft Bildungsanforderungen zurückgenommen werden,<br />

um den Nachwuchs nicht überzustrapazieren, scheint dies in Asien kein Problem zu sein?<br />

Seelmann: Vor allem in den konfuzianisch geprägten Ländern, also China, Taiwan, Korea,<br />

Japan, Singapur, wird eine gute Ausbildung der Kinder nach wie vor – oder sogar verstärkt –<br />

als Schlüssel für den wirtschaftlichen Erfolg gesehen. Und der Leistungsanspruch, aber auch<br />

die persönliche Leistungsbereitschaft der Kinder, kann überhaupt nicht mit dem verglichen<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 12<br />

werden, wie das im Westen größtenteils praktiziert wird. Ich bin aber auch gegen eine<br />

Glorifizierung des intellektuellen Leistungsvermögens in diesen asiatischen Ländern.<br />

Bestimmte Fähigkeiten wie eigenständiges, kreatives, innovatives Denken können aufgrund<br />

des Schulsystems nicht selbstverständlich erwartet werden. Ich wünsche mir auch hier, dass<br />

wir uns auf unsere Stärken besinnen und den Kindern vermitteln, wie viel Spaß Leistung<br />

macht. Wir sollten allerdings öfter an die auch im Westen bekannte Erziehungserfahrung<br />

denken: „Wer dich schont, betrügt dich!“<br />

„Ich bin keinesfalls davon überzeugt, dass die Demokratie überall ersehnt wird,<br />

wie das der Westen unterstellt“<br />

EM: Wenn der Geist der Demokratisierung stärker wird und immer mehr Menschen ihr<br />

Schicksal in die eigenen Hände nehmen, werden sie in zunehmendem Maß die<br />

undemokratische Weltordnung, in der sie leben, in Frage stellen. Also die westliche. Diese<br />

Voraussage Mahbubanis gipfelt in dem Satz, dass „der Tag er Abrechnung“ kommen wird.<br />

Wie kann man sich diesen Tag vorstellen?<br />

Seelmann: Ich bin keinesfalls davon überzeugt, dass überall die Demokratie ersehnt wird,<br />

wie das der Westen unterstellt. Warum soll z.B. die Mehrzahl der Chinesen an ihrer<br />

kommunistischen Regierung zweifeln? Und wenn ich mir die Wahlbeteiligung in Europa<br />

oder den USA ansehe, ebenso wie das politische Wissen von Normalbürgern, dann frage ich<br />

mich, wie weit auch hier Anspruch und Realität auseinanderklaffen. Manchmal tauchen in<br />

Mahbubanis Buch solche martialischen Töne auf. Ich hatte oft den Verdacht, dass diese<br />

Formulierungen eher den absatzsteigernden Zweck hatten, Aufmerksamkeit bei der<br />

westlichen Presse zu erzielen. Ich glaube nicht, dass man in Asien die „Abrechnung“ mit dem<br />

Westen anstrebt. Man will einfach die eigene wirtschaftliche, vielleicht auch politische<br />

Position stärken und weiter ausbauen. Der Westen kann so lange davon profitieren, so lange<br />

er für dieses Ziel nützlich ist und z.B. technologische Lösungen anbieten kann. Sorgen wir<br />

also dafür, dass uns viele Länder der Welt noch lange brauchen!“<br />

„Ich würde jedem Studenten einen Studienaufenthalt in Asien empfehlen“<br />

EM: Angesichts der sanften Sicht Mahbubanis dürfen wir wohl zugrundelegen, dass damit<br />

nicht die Vergeltung für Hiroshima und Nagasaki gemeint ist. Aber vielleicht werden in nicht<br />

allzu ferner Zeit europäische Bildungsbürger beginnen, ihre Kinder auf Hochschulen in<br />

Peking, Singapur oder Mumbai zu schicken, statt wie gewohnt auf britische Internate oder<br />

auf amerikanische Colleges, wie unser Autor Rudolf Maresch geschrieben hat. Halten Sie das<br />

auch für realistisch?<br />

Seelmann: Gegenwärtig sehe ich keine chinesischen oder indischen Eliteuniversitäten. Auf<br />

dieser Ebene dominiert nach wie vor der Westen. Ich würde aber unabhängig davon jedem<br />

Studenten einen Studienaufenthalt in Asien empfehlen, damit er die Dynamik und den<br />

Aufstiegswillen von zweieinhalb Milliarden Menschen hautnah erlebt. Gerade zukünftige<br />

Führungskräfte müssen frühzeitig begreifen, dass der Nabel der Welt nicht mehr nur im<br />

Westen liegen wird.<br />

EM: Maresch meint, dass westliche Eltern dies nicht nur deshalb tun werden, weil sie dort<br />

eine bessere Ausbildung für ihre Sprösslinge erwarten, sondern auch, weil sie sich mehr und<br />

besser mit russischen, chinesischen oder indischen Lebensweisen oder Gewohnheiten<br />

bekannt und vertraut machen können. Ist das unsere ideale Bildungszukunft – lernen von<br />

Asien - und nicht mehr die bisher favorisierten westlichen Institute und Universitäten?<br />

Seelmann: Es gibt viel, was Kulturen voneinander lernen können. Ich arbeite gerade an<br />

einem Buch, das sich auch mit dem Thema der Kulturintelligenz beschäftigt.<br />

Kulturintelligenz ist für mich eine Kombination aus interkultureller Kompetenz und<br />

zusätzlich der Fähigkeit, die Synergieeffekte unterschiedlicher Kulturen konkret nutzen zu<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 13<br />

können. Dies wird der entscheidende Wettbewerbsvorteil in der multipolaren Welt sein, nur<br />

so können wir alle Chancen nutzen. Ich rate also den jungen Leuten: schwärmt aus! Dieses<br />

Motto hat übrigens die chinesische Regierung für ihre chinesischen Unternehmen<br />

ausgegeben.<br />

EM: Frau Seelmann, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.<br />

Siehe auch: Gelesen „Die Rückkehr Asiens: Das Ende der westlichen Dominanz“.<br />

*<br />

Das Interview führte Hans Wagner<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 14<br />

EM-INTERVIEW<br />

„Kasachstan zeigt, dass wirtschaftliches Wachstum<br />

nicht notwendigerweise eine demokratische Verfassung<br />

voraussetzt“<br />

Im EM-Interview sagt die Expertin der Berliner Stiftung Wissenschaft und<br />

Politik, Dr. Andrea Schmitz: „Kasachstan zeigt, dass wirtschaftliches Wachstum<br />

nicht notwendigerweise eine demokratische Verfassung voraussetzt“. Die<br />

Kasachen seien pragmatisch und vor allem stabilitätsorientiert. Das wäre ein<br />

Grund, weshalb „bunte Revolutionen“ in dem zentralasiatischen Flächenstaat<br />

bislang nicht Fuß fassen konnten. Ein anderer sei die erfolgreiche<br />

Wirtschaftsentwicklung des Landes und der wachsende Wohlstand breiter<br />

Bevölkerungsschichten. Dies werde in erster Linie der Herrschaft von Präsident<br />

Nasarbajew zugeschrieben und beschere dem Regime ein hohes Maß an<br />

Legitimität.<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

Dr. Andrea Schmitz<br />

urasisches <strong>Magazin</strong>:<br />

Kasachstan wurde schon<br />

zu Zeiten von<br />

Bundeskanzler Schröder als<br />

wichtiger Partner in<br />

Zentralasien betrachtet und<br />

gefördert. 2007 konnte<br />

Präsident Nasarbajew<br />

verkünden, Kasachstan sei kein<br />

Entwicklungsland mehr. Was<br />

ist das kasachische<br />

Erfolgsrezept im Vergleich zu<br />

anderen Staaten Zentralasiens?<br />

Andrea Schmitz: Beträchtliche Erdölreserven und eine<br />

frühe wirtschaftliche Liberalisierung, die es ermöglichte,<br />

Ausländische Direktinvestitionen in größerem Umfang ins<br />

Land zu holen und die Wirtschaft zu modernisieren.<br />

Wachsender Wohlstand, politische Stabilität und eine<br />

pragmatisch-proaktive Außenpolitik - das sind die drei<br />

entscheidenden Erfolgsfaktoren. Diese Kombination<br />

unterscheidet Kasachstan von den anderen Staaten in<br />

Zentralasien.<br />

Zur Person: Dr. Andrea<br />

Schmitz<br />

Dr. Andrea Schmitz ist<br />

wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

der Forschungsgruppe Russland<br />

/ GUS an der Berliner Stiftung<br />

Wissenschaft und Politik (SWP)<br />

und befasst sich mit den Staaten<br />

Zentralasiens.<br />

Sie hat die Region intensiv<br />

bereist und war von 1997-2002<br />

für das Goethe Institut und den<br />

Deutschen Akademischen<br />

Austauschdienst in Kasachstan<br />

tätig.<br />

Zuvor vertrat Schmitz das<br />

Arbeitsgebiet Zentralasien als<br />

wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

und Lehrbeauftragte am Institut<br />

für Ethnologie der Universität<br />

München.<br />

EM: Kasachstan ist ein stabiles Land, sagten Sie.<br />

Allerdings kein demokratisches. In der Astaner<br />

Präsidialrepublik haben Nasarbajew und seine Partei<br />

„Leuchtendes Vaterland“ allein das Sagen. Ist Kasachstan<br />

ein Beispiel dafür, dass auch Nicht-Demokratien durchaus<br />

effizient sein können?<br />

Ihre Publikationen befassen<br />

sich mit den wirtschaftlichen<br />

und politischen Entwicklungen<br />

in Zentralasien und mit der<br />

europäischen, amerikanischen<br />

und russischen Politik in dieser<br />

Region.<br />

Schmitz: In wirtschaftlicher Hinsicht auf jeden Fall. Das gilt aber nicht nur für Kasachstan.<br />

Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass wirtschaftliches Wachstum nicht notwendigerweise<br />

eine demokratische Verfassung voraussetzt. Denken Sie an China, oder einige der<br />

ostasiatischen "Tigerstaaten" - an denen sich Kasachstan im Übrigen auch orientiert.<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 15<br />

„Es ist unsicher, ob das staatliche Stabilisierungsprogramm ausreicht, um die<br />

Wirtschaft zu reanimieren bzw. das erreichte Niveau langfristig zu halten“<br />

EM: Und wie sieht es aus beim privaten Wohlergehen der kasachischen 15-Millionen-<br />

Bevölkerung?<br />

Schmitz: Die Verteilung des Reichtums ist in Kasachstan ausgeglichener als in den<br />

Nachbarstaaten. Das Durchschnittseinkommen ist höher und die Armutsraten sind niedriger<br />

als in den anderen zentralasiatischen Republiken. Es ist aber keinesfalls gewiss, dass das so<br />

bleibt, denn Kasachstan ist von der internationalen Finanzkrise hart getroffen. Die ersten<br />

Auswirkungen zeigen sich bereits in Gestalt von Konkursen und wachsender Arbeitslosigkeit,<br />

gerade auf dem Niedriglohnsektor: auf dem Bau, beim Kleinhandel und in der<br />

Landwirtschaft. Und seit der Abwertung der nationalen Währung gegenüber dem US-Dollar<br />

im Februar sind die Preise kräftig nach oben gegangen. Es ist unsicher, ob das staatliche<br />

Stabilisierungsprogramm ausreicht, um die Wirtschaft zu reanimieren bzw. das erreichte<br />

Niveau langfristig zu halten.<br />

EM: Kann man sagen, dass bei der kasachischen Bevölkerung zumindest derzeit das Streben<br />

nach Prosperität und privatem Wohlstand die Sehnsucht nach demokratischen Verhältnissen<br />

überdeckt?<br />

Schmitz: Unbedingt. Doch das ist andernorts nicht viel anders. Im Gegensatz zu den<br />

Kasachen sind wir allerdings an demokratische Verhältnisse gewöhnt. Die grundlegenden<br />

Menschen- und Bürgerrechte sind in unserem System fest verankert - und vor allem wirksam<br />

einklagbar. Dem ist in Ländern wie Kasachstan nicht so. Demokraten haben es dort schwer.<br />

„Kasachstan beansprucht zunehmend mehr Mitsprache in internationalen<br />

Organisationen“<br />

EM: Die Staatsoberhäupter Deutschlands und Kasachstans, Köhler und Nasarbajew, haben<br />

für das Jahr <strong>2009</strong> ein „Kasachstan-Jahr“ in Deutschland und für 2010 ein „Deutschland-<br />

Jahr“ in Kasachstan ausgerufen. 2010 wird Kasachstan außerdem mit dem OSZE-Vorsitz<br />

international ins Rampenlicht treten. Ist das Land ein verlässlicher Partner für den Westen,<br />

obwohl es keine Demokratie ist?<br />

Schmitz: Wenn man nicht zu viel erwartet: ja. Grundsätzlich haben beide <strong>Seite</strong>n ein starkes,<br />

nicht nur wirtschaftlich motiviertes Interesse an einander. Kasachstan beansprucht<br />

zunehmend mehr Mitsprache in internationalen Organisationen und muss dafür bei den<br />

Europäern um Unterstützung werben. Dies führt fast automatisch dazu, dass sich die<br />

Beziehungen mit dem Westen vertiefen und man sich in Bereichen gemeinsamen Interesses<br />

an einander annähert.<br />

EM: Kasachstan will in den nächsten 5 bis sechs Jahren zu den 50 wettbewerbsfähigsten<br />

Staaten der Welt aufschließen. Wie stehen die Chancen dafür?<br />

Schmitz: Hier hat sich Kasachstan ein sehr hohes Ziel gesteckt. Ob es erreicht wird, hängt<br />

stark davon ab, ob es gelingen wird die Auswirkungen der Finanzkrise möglichst rasch<br />

aufzufangen. Und es hängt auch davon ab, wie sich die Weltwirtschaft insgesamt in den<br />

nächsten Jahren entwickelt. Die Finanzkrise markiert eine Zäsur und ich nehme an, dass sich<br />

auch in Kasachstan die wirtschaftliche Entwicklung verlangsamen wird. Die bestehenden<br />

Zeitpläne sind nicht mehr realistisch.<br />

„Die bedeutenden Rohstoffvorkommen des Landes sind sein größter Trumpf,<br />

aber auch seine Achillesferse“<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 16<br />

EM: Wo liegen Kasachstans Schwachstellen?<br />

Schmitz: Die bedeutenden Rohstoffvorkommen des Landes sind sein größter Trumpf, aber<br />

auch seine Achillesferse. Die Abhängigkeit vom Rohstoffexport macht die Wirtschaft<br />

verwundbar. Aus diesem Grund hat Kasachstan ein Diversifizierungsprogramm aufgelegt,<br />

um vor allem Industrie, Dienstleistungsgewerbe, Infrastruktur und Tourismus<br />

voranzubringen. Westliche Anbieter von Maschinen, Ausrüstungen und technischem Know<br />

How haben hier Chancen. Aber sehr weit gediehen ist das Diversifizierungsprogramm bisher<br />

nicht, die Projekte stagnieren. Ein weiterer Schwachpunkt ist die Korruption. Sie behindert<br />

nicht nur die Entwicklung des kleinen und mittleren Unternehmertums, sondern stellt auch<br />

für ausländische Unternehmen ein Investitionsrisiko dar.<br />

„Die Kasachen machen längst nicht mehr alles, was ihnen westliche Berater<br />

nahe legen“<br />

EM: Interessant wäre dazu noch ein historisches Faktum. Stand eigentlich Kasachstan in<br />

den 90er Jahren, als es wirtschaftlich nicht so gut lief und Geldentwertung dem Land<br />

zusetzte, auch unter starkem westlichen Beratungsdruck wie seinerzeit Russland beim Rubel-<br />

Absturz?<br />

Schmitz: Mit der wirtschaftlichen Privatisierung in den frühen 1990er Jahren kamen die<br />

Investoren, und denen folgten, wie immer, die Berater, vor allem aus den angelsächsischen<br />

Ländern. Da gibt es durchaus Parallelen zu Russland unter Jelzin. Inzwischen ist man aber in<br />

Astana erheblich selbstbewusster geworden. Die Kasachen machen längst nicht mehr alles,<br />

was ihnen westliche Berater nahe legen. Im Gegenteil, inzwischen ist eine gewisse<br />

Beratungsresistenz zu konstatieren, die durch die gegenwärtige Krise noch verstärkt wird.<br />

Man neigt ja in den ehemals sowjetischen Gefilden stark dazu, die Finanzkrise als Symptom<br />

für die generelle Schwäche des westlichen Systems zu werten und Verantwortung<br />

entsprechend zu externalisieren. Das ist zwar begreiflich, und ersteres ist auch in der Sache<br />

nicht falsch, doch man vergisst darüber gelegentlich, dass die postsowjetischen Eliten an den<br />

Dienstleistungen der Consultants, wie sie sich nennen, sehr gut verdient haben. Et vice versa<br />

natürlich.<br />

EM: Der Titel ihres aktuellen Beitrags für die Stiftung Wissenschaft und Politik „Kasachstan:<br />

Neue Führungsmacht im postsowjetischen Raum?“ ist mit einem Fragezeichen versehen.<br />

Welche Chancen bestehen für das Land, sich als Führungsmacht zu etablieren?<br />

Schmitz: Diesem Ziel steht eine ganze Reihe von Hindernissen entgegen. Führungsmächte<br />

definieren sich, erstens, durch ihre hardpower, also ihre militärische und wirtschaftliche<br />

Ausstattung. Zweitens durch ihre Leistungen im regionalen Umfeld, als Vermittler in<br />

Konflikten etwa, oder als Initiatoren von regionalen Kooperationsprojekten. Ein drittes<br />

Kriterium sind ordnungspolitische Leistungen und ideelle Konzepte, die auf das Umfeld<br />

ausstrahlen und das Land zu einem attraktiven Partner für die Nachbarstaaten machen. In<br />

all diesen drei Bereichen sind Kasachstans Kapazitäten eingeschränkt: Die Wirtschaft ist<br />

verwundbarer als es schien, und mit den militärischen Kapazitäten ist es nicht sonderlich<br />

weit her. Das regionale Umfeld ist ein großes Problem. Kasachstan hat sich zwar immer<br />

wieder stark gemacht für die regionale Zusammenarbeit, aber die Staaten des<br />

postsowjetischen Umfeldes, vor allem in seinem zentralasiatischen Teil, haben sich seit ihrer<br />

staatlichen Unabhängigkeit so unterschiedlich entwickelt, dass man gerade in Bezug auf die<br />

drängendsten Probleme der Region, wie etwa die Nutzung und Verteilung des Wassers, kaum<br />

zu einer gemeinsamen Position findet. Die Verhandlungsmacht Kasachstans ist hier<br />

eindeutig begrenzt, das konzeptionelle Angebot zu mager, um die Nachbarn zu überzeugen.<br />

Auch die kasachischen Banken vergaben großzügige Kredite und stecken nun<br />

selbst in der Klemme<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 17<br />

EM: Kasachstan engagiert sich heute als Investor in Nachbarländern wie Kirgisien und<br />

Georgien – wird es dadurch nicht zu einem Führungsstaat per excellence in der Region?<br />

Schmitz: Kaum. Dass Kasachstan in seiner Nachbarschaft zunehmend selbst als Investor<br />

auftritt, ist allerdings eine sehr interessante Entwicklung, die eine weit reichende Integration<br />

der kasachischen Ökonomie in die Weltwirtschaft bezeugt. Zwischen 2004 und 2007 sind die<br />

kasachischen Direktinvestitionen in Kirgisien von 16 Millionen US-Dollar auf 133 Millionen<br />

gestiegen. Dieser starke Anstieg war aber nur deshalb möglich, weil die kasachischen Banken<br />

großzügige Kredite vergaben - die sie ihrerseits durch Anleihen bei ausländischen<br />

Geldinstituten finanzierten. So gesehen hat auch die kasachische Wirtschaft von der<br />

Spekulationsblase auf dem Kapitalmarkt stark profitiert. Jetzt aber müssen diese Kredite<br />

zurückgezahlt, müssen Schulden beglichen werden und ich gehe davon aus, dass die<br />

kasachischen Auslandsinvestitionen in den nächsten Jahren rückläufig sein und sich auf<br />

einzelne strategische Projekte im Bereich der Energiewirtschaft konzentrieren werden.<br />

EM: Welche Rolle will und kann Kasachstan in der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

(EurasEC) spielen und weshalb geht es eine eigene Zollunion mit Russland und<br />

Weißrussland ein?<br />

Schmitz: Die EurasEC ist auf kasachische Initiative hin gegründet worden. Eine<br />

funktionierende Wirtschaftsunion, die eine bessere Abstimmung der Mitglieder in der<br />

Wirtschafts- und Handelspolitik ermöglicht, wäre für Zentralasien eigentlich sehr sinnvoll.<br />

Bisher hat die EurasEC aber keine große Schubkraft entfaltet. Dazu sind die beteiligten<br />

Staaten zu verschieden im Hinblick auf ihre Ressourcenausstattung und wirtschaftspolitische<br />

Ausrichtung. Die kasachischen Initiativen greifen auch deshalb nicht, weil sich die anderen<br />

Staaten, allen voran Usbekistan, schwer damit tun, eine kasachische Führungsrolle in der<br />

Organisation zu akzeptieren. Aus diesem Grund haben Kasachstan, Russland und<br />

Weißrussland, die wirtschaftlich stärksten Länder innerhalb der EurasEC, die Gründung<br />

einer eigenen Zollunion beschlossen, die bis 2011 in Kraft treten soll.<br />

Eine Wirtschaftsgemeinschaft der zwei Geschwindigkeiten<br />

EM: Ist das dann eine Wirtschaftsgemeinschaft der zwei Geschwindigkeiten, wie sie ja auch<br />

für die EU immer mal wieder überlegt wird?<br />

Schmitz: Ja, das ist ein ganz treffendes Bild. Allerdings verläuft auch die Abstimmung<br />

zwischen Kasachstan, Russland und Belarus nicht störungsfrei. Es gibt zwischen den drei<br />

Staaten erhebliche Differenzen, etwa was die Energiepolitik betrifft. Auch der russische<br />

Dominanzanspruch ist ein Problem.<br />

EM: Kasachstan gehört auch zur immer bedeutender werdenden Schanghaier Organisation<br />

für Zusammenarbeit (SOZ). Welche Rolle spielt darin das riesige Land Kasachstan, welche<br />

Bedeutung hat diese Organisation für Astana?<br />

Schmitz: Die SOZ wird ganz eindeutig von Russland und China dominiert. Für Kasachstan<br />

ist es angesichts dessen wichtig, den Einfluss Russlands und die wirtschaftliche Expansion<br />

Chinas nach Zentralasien zu kontrollieren und auszugleichen. Die SOZ, in der zunehmend<br />

auch wirtschaftliche Fragen verhandelt werden, ist dafür ein wichtiges Instrument. Aber auch<br />

in sicherheitspolitischer Hinsicht ist die SOZ für Kasachstan bedeutsam, denn in der<br />

Auffassung, dass die sicherheitspolitischen Gefährdungen für die Region vor allem von<br />

politischem Extremismus und vom Drogenschmuggel ausgehen, sind sich die Mitglieder der<br />

SOZ sehr einig.<br />

Die kasachische Elite hat oppositionelle Parteien und Gruppierungen sehr<br />

effizient neutralisiert<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 18<br />

EM: Die Kasachen scheinen anders als Georgien, die Ukraine und andere Staaten mit bunten<br />

Revolutionen ziemlich pragmatisch zu sein. Liegt es daran, dass in Kasachstan westliche<br />

Ideen weniger Fuß fassen konnten, oder ist Pragmatismus insgesamt ein Merkmal<br />

kasachischer Politik?<br />

Schmitz: Die Kasachen sind vor allem stabilitätsorientiert. Auch in Kasachstan haben in den<br />

1990er Jahren Nichtregierungsorganisationen und politische Stiftungen aus dem Westen<br />

Demokratisierungsprogramme lanciert. Zeitweise gab es in Kasachstan sogar eine aktive<br />

Opposition, die mit Forderungen nach mehr Demokratie und Rechtstaatlichkeit um<br />

Anhänger warb. Dass sich das nicht in einem Regimewechsel niedergeschlagen hat, so wie in<br />

der Ukraine und in Georgien, liegt einerseits daran, dass die kasachische Elite oppositionelle<br />

Parteien und Gruppierungen sehr effizient neutralisiert hat - entweder durch Kooptierung,<br />

das heißt, indem man die Wortführer der Opposition in den Regierungsapparat integrierte,<br />

oder durch gezielte Repressalien. Da gibt es ja eine breite Palette von Möglichkeiten. Vor<br />

allem rechtliche Instrumente haben sich als sehr wirkungsvoll erwiesen, wie zum Beispiel die<br />

Parteien-, Wahl- und Mediengesetzgebung.<br />

EM: Sie sagten, es läge zum einen an diesen Gründen. Und was ist der andere Grund für<br />

diese Entwicklung?<br />

Schmitz: Der andere Grund dafür, dass Kasachstan bisher politisch stabil blieb, ist die<br />

vergleichsweise erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung des Landes und die wachsende<br />

Prosperität einer relativ breiten Bevölkerungsschicht. Dies wird in erster Linie der Herrschaft<br />

von Präsident Nasarbajew zugeschrieben und beschert dem Regime ein hohes Maß an<br />

Legitimität.<br />

EM: Frau Schmitz, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.<br />

*<br />

Die aktuelle Studie von Dr. Andrea Schmitz finden Sie hier<br />

http://www.swpberlin.org/produkte/swp_studie.php?id=10456&PHPSESSID=990705e895775716f8ed58e74<br />

8687945<br />

Das Interview führte Hans Wagner<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 19<br />

OSTEUROPA<br />

Wirtschaftskrise hausgemacht und importiert<br />

Die osteuropäischen Staaten können für sich in Anspruch nehmen, dass sie<br />

nicht Ursprung der Krise waren, die von den USA ausging und erst nach über<br />

einem Jahr auch für sie negative Folgen zeitigte. Anders als westeuropäische<br />

Banken haben sich die osteuropäischen Institute nicht an den faulen Krediten<br />

vergriffen, die den Auslöser für die Finanzkrise darstellten. Die starke<br />

Abhängigkeit von fremdem Kapital, einer der wichtigsten Faktoren für den<br />

Aufschwung der vergangenen Jahre, bringt die osteuropäischen Länder nun<br />

jedoch arg in Bedrängnis.<br />

Von Michael Derrer<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

ie Länder Osteuropas haben über ihre Verhältnisse gelebt. Zu Zeiten der<br />

Aufbruchstimmung, vor dem Hintergrund des Zuflusses ausländischer Investitionen<br />

und erstarkenden nationaler Währungen, hatten sich viele osteuropäische Unternehmen und<br />

private Haushalte in fremden Währungen verschuldet. Meist in Euro oder Schweizer<br />

Franken. Wieso sollte man die hohen Zinsen in der eigenen Währung bezahlen, wenn die<br />

Kredite in Fremdwährungen so viel günstiger waren?<br />

Rückblickend muss man sich nun fragen, ob das Währungsrisiko wirklich verstanden wurde.<br />

Als Akt kollektiven Fehlverhaltens von Kreditgebern und Kreditnehmern kann diese<br />

Verschuldung in ausländischer Währung mit dem Subprime-Debakel in den USA verglichen<br />

werden.<br />

Die Kreditaufnahme von Haushalten, Banken und Unternehmen hatte derartige Ausmaße,<br />

dass das Volumen der vergebenen Kredite die Einlagen beträchtlich überstieg und aus dem<br />

Ausland, insbesondere durch westeuropäische Banken, finanziert werden musste.<br />

In fast allen Staaten der Region werden mehr als 50 Prozent des Bankkapitals<br />

von ausländischen Anteilseignern gehalten.<br />

Die regionalen Banken Osteuropas - einheimische oder lose beaufsichtigte Niederlassungen<br />

westlicher Banken - hatten in den letzten Jahren sehr gute Erträge erzielt. Der Bedarf der<br />

Privatkunden, Unternehmen und öffentlichen Institutionen nach Giro- und Sparkonten,<br />

Kreditkarten, Hypotheken und Instrumenten zur Unternehmensfinanzierung haben ihre<br />

Expansion beflügelt. In fast allen Staaten der Region werden mehr als 50 Prozent des<br />

Bankkapitals von ausländischen Anteilseignern gehalten. Es dominieren große europäische<br />

Banken und Finanzgruppen, die in Osteuropa gesamthaft 1,3 Billionen US-Dollar an<br />

Kreditforderungen halten.<br />

Jetzt hat sich jedoch die Furcht (oder die Not) im Westen zurückgemeldet, und die<br />

Mutterkonzerne ziehen Kapital aus ihren Tochtergesellschaften ab, um ihre eigenen<br />

Finanzlöcher zu stopfen. Die Refinanzierung auf den internationalen Märkten ist schwieriger<br />

geworden. Bei einer weiteren Abwertung der lokalen Währungen und einem kontinuierlichen<br />

Anstieg der Arbeitslosigkeit könnten viele Haushalte in Zahlungsnot geraten, und es drohen<br />

Kreditausfälle der Firmenkunden. Die Analysten von Goldman Sachs ermittelten die<br />

möglichen Spitzen für notleidende Kredite in den einzelnen Ländern und kamen zu<br />

folgendem Ergebnis:<br />

• Tschechien, Polen, Slowakei und Slowenien: zehn Prozent.<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 20<br />

• Ungarn, Russland und Litauen: zwanzig Prozent.<br />

• Estland, Lettland, Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Ukraine und Kasachstan: 30<br />

Prozent.<br />

Es stellt sich die Frage, ob die westlichen Mutterbanken ihre osteuropäischen Töchter bei<br />

akuter Bedrohung mit Kapital und Liquidität versorgen würden. Sollte eine ausländische<br />

Bank eine Niederlassung in einem osteuropäischen Land fallen lassen, so dass Einleger ihre<br />

Ersparnisse nicht zurück erhalten, würde dies das Vertrauen in das ganze regionale<br />

Bankensystem untergraben.<br />

Die Banken verschärfen nun ihrerseits die Kreditbedingungen gegenüber Unternehmen und<br />

Privatkunden, erhöhen die Zinsen und prüfen fortan Kreditnehmer genauer – neben den<br />

schwindenden Exportmärkten ein signifikanter Dämpfer für das Wirtschaftswachstum.<br />

Von der Finanz- zur Wirtschaftskrise<br />

Das Szenario ähnelt früheren Krisen: In einem Kreditboom werden große Verschuldungen in<br />

ausländischer Währung aufgenommen. Dann kommt ein Schock – in diesem Fall die<br />

Kreditkrise und Anzeichen einer weltweiten Rezession. Das Vertrauen schwindet. Westliche<br />

Banken, Investmentfonds und Immobilienverwalter bauen ihr Engagement in der Region<br />

schnellstmöglich ab. Der massive Rückzug verschlechtert die Zahlungsbilanzen der<br />

betroffenen Länder und setzt deren Währungen unter Druck. Im Zuge der Abwertung wird<br />

der Schuldendienst für Fremdwährungskredite teurer, die Geldzuflüsse sinken, die<br />

Laufzeiten der Kredite sind kürzer, und die Risikoprämien steigen. Die lokalen Banken<br />

werden geschwächt. Es kommt eine Teufelsspirale in Gang. Die staatlichen Finanzen<br />

kollabieren.<br />

Die Situation ist der Asien-Krise von 1997 nicht unähnlich, wobei sich die „ostasiatischen“<br />

Tiger” durch den Export rasch erholen konnten, was in der aktuellen weltwirtschaftlichen<br />

Situation kaum möglich sein wird. Osteuropa hat immerhin den Vorteil, dass das<br />

ausländische Kapital einen größeren Anteil Direktinvestitionen enthält, das nicht von einem<br />

Tag auf den andern abgezogen werden kann.<br />

Die Schuldendienste Ungarns, Lettlands und Rumäniens entsprechen fast deren<br />

gesamten Währungsreserven<br />

Die osteuropäischen Länder müssen allein <strong>2009</strong> rund 400 Milliarden Dollar an<br />

Verbindlichkeiten zurückzahlen – für Ungarn, Lettland und Rumänien entspricht der<br />

Schuldendienst fast ihren gesamten Währungsreserven. In der globalen Rezession fließen<br />

auch weniger ausländische Direktinvestitionen in die Region. Der IWF rettet die<br />

notleidenden Länder vor der Zahlungsunfähigkeit: Ungarn, Ukraine, Lettland, Rumänien,<br />

Serbien, Belarus – die Liste wird immer länger. Die Auflagen des IWF sind bekannt: die<br />

makroökonomischen Ungleichgewichte müssen reduziert werden. Eine Korrektur der<br />

einheimischen Nachfrage wird notwendig, um die Importe und das Leistungsbilanzdefizit zu<br />

verringern. Die Senkung der Gehälter, Renten und Sozialausgaben auf der einen <strong>Seite</strong> und<br />

höhere Steuern auf der anderen gehören zu den typischen Maßnahmen. Es erstaunt nicht,<br />

dass es bereits in mehreren Ländern zu Unruhen auf der Strasse gekommen ist.<br />

Das Wachstumsmodell mit billiger externer Finanzierung ist in Osteuropa bis auf weiteres<br />

nicht mehr möglich. Niedrigere Wachstumsraten oder eine höhere Sparquote wären die<br />

Alternative. Der Anstoß zur Erholung wird jedoch mittelfristig wieder aus dem Ausland<br />

kommen müssen, denn die relativ kleinen osteuropäischen Wirtschaften sind auf den Export<br />

angewiesen. Bis dahin sollten diese Staaten aber die Zeit nutzen, um ihre Wirtschaft neu<br />

auszurichten und um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 21<br />

Es ist wahr, dass die osteuropäischen Länder nicht alle in einen Topf geworfen werden<br />

dürfen – Polen und die Tschechische Republik z.B. stehen in punkto heimmarktgetriebenem<br />

Wachstum, Handelsbilanz, ausländischen Direktinvestitionen, Sparquote und<br />

Auslandsverschuldung besser da als ihre östlichen und südlichen Nachbarn. Die Kredite in<br />

ausländischer Währung machen in Polen z.B. 30 Prozent der privaten Kredite aus – in<br />

Ungarn ist dieser Wert doppelt so hoch. Auf den internationalen Finanzmärkten wird den<br />

Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern und ihrer wirtschaftlichen Verfassung<br />

oftmals nicht genügend Rechnung getragen. Schlechte Meldungen aus einem Land schlagen<br />

sich auf die umliegenden Länder nieder, ob dies nun gerechtfertigt ist oder nicht. So haben<br />

z.B. Ungarns Probleme zum Abwertungsdruck auf den Polnischen Zloty beigetragen.<br />

Berechtigter Glaube an eine europäische Solidarität?<br />

Die EU-Erweiterung war für die westlichen Länder ein lukratives Unterfangen. Die neuen<br />

Mitgliedstaaten importierten massiv Investitions- und Konsumgüter. Die vom westlichen<br />

Finanzkapital über die Vergabe von Krediten generierte Nachfrage wurde von westlichen<br />

Handelsfirmen abgeschöpft.<br />

Der Wirtschaftsabschwung stellt nun die europäische Solidarität auf die Probe. In ihrer<br />

Forderung nach ausländischer Unterstützung verwenden osteuropäische Politiker bereits das<br />

Bild eines „neuen eisernen Vorhangs, der sich zwischen West und Ost schließe“. Sie<br />

verlangen, dass die Regeln des Gemeinsamen Markts, insbesondere der freie Warenverkehr<br />

und die Personenfreizügigkeit, nicht in Frage gestellt werden. Protektionistische Maßnahmen<br />

zur Ankurbelung der Wirtschaft zeigen jedoch bereits Resultate, wenn Automobilhersteller<br />

aus der Slowakei nach Frankreich rückverlagern. In einem Wettbewerb der Subventionen<br />

würden die osteuropäischen Länder gegenüber den reichen westlichen Nachbarn den<br />

Kürzeren ziehen.<br />

Die Osteuropäer werden künftig noch mehr Regionalhilfen beanspruchen, weil sie nicht<br />

mehr so viel Wachstum aus eigener Kraft generieren können. Viele neue EU-Mitgliedstaaten<br />

setzen auf milliardenschwere, durch die EU finanzierte Infrastrukturprojekte als<br />

Konjunkturförderung. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn die<br />

osteuropäischen Länder, die in den letzten Jahren auf freien Markt pochten, mit tiefen<br />

Steuersätzen Firmen anlockten und sich dem Vorwurf des Sozial- und Fiskaldumpings<br />

ausgesetzt sahen, nun westliche Hilfe verlangen.<br />

Der Euro verliert durch Osteuropas Probleme an Wert<br />

Die Regierungen dieser Staaten möchten auch den Euro schneller einführen, um eine größere<br />

Stabilität zu erreichen und weil sie derzeit ihre Zinsen zur Verteidigung ihrer Währung höher<br />

halten müssen als dies aufgrund der konjunkturellen Lage angebracht ist. Die Befürchtung,<br />

dass die westlichen EU-Länder ihren östlichen Nachbarn aus der Patsche helfen müssen, hat<br />

den Euro bereits geschwächt.<br />

Kritiker sagen, dass manche osteuropäischen Länder zu früh in die EU eingetreten sind, für<br />

diesen Schritt aber eigentlich noch nicht bereit waren. Die geliehenen Milliarden wurden für<br />

Bautätigkeit und Konsum verschwendet. Wieso sollte da Westeuropa helfen?<br />

Wenn diese Hilfe erfolgt, so geschieht dies aus purem Eigeninteresse. Denn es ist wesentlich<br />

billiger, jetzt Finanzhilfe zu gewähren, als untätig zuzusehen, wie eine Wirtschaft, etwa in<br />

Ungarn oder Lettland, kollabiert. Die Folgen könnten dramatisch sein, und nicht nur in<br />

finanzwirtschaftlicher Hinsicht. Eine solche Katastrophe könnte nationalistischen und<br />

populistischen Kräften Auftrieb verleihen. Zentrifugale Kräfte könnten in Gang kommen, die<br />

den Bestand der EU in Frage stellen.<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 22<br />

Falls die Märkte, die oftmals verborgenen und verdrängten Gefühlen und Ängsten Ausdruck<br />

verleihen, daran zweifeln, dass die europäische Solidarität existiert, kann das ebenfalls<br />

dramatische Folgen haben. Dass die Finanzsysteme und die Wirtschaften dieser Länder nicht<br />

aufgefangen werden könnten, würde die osteuropäischen Länder immer tiefer nach unten<br />

ziehеn und gewissermaßen zu einer sich selbst erfüllenden Vorhersage werden.<br />

Chancen in der Krise<br />

Strukturbereinigungen haben bekanntlich auch positive <strong>Seite</strong>n. Kleine und mittelständische<br />

Unternehmen im produzierenden Sektor sollten künftig mehr Beachtung und Unterstützung<br />

erhalten, denn sie gehören zu den Strukturen, die nachhaltiges Wachstum ermöglichen.<br />

Der Anstieg von Löhnen und Preisen ist vorerst gebremst und zum Teil im Fallen begriffen.<br />

Somit entstehen wieder mehr Anreize, um in Osteuropa produzieren zu lassen oder selbst zu<br />

investieren. Die Kostenvorteile waren diesen Ländern in den letzten Jahren immer mehr<br />

abhanden gekommen. Die Abwertung der Währungen trägt zur Wettbewerbsfähigkeit bei –<br />

ein Mechanismus, von dem die Slowakei, Slowenien (Euro), Bulgarien und die Baltischen<br />

Länder (lokale Währung an Euro gebunden) jedoch nicht profitieren.<br />

Der Wettbewerbsvorteil westlicher Unternehmen, über einen besseren Zugang zu Krediten<br />

zu verfügen, wird wieder bedeutsamer. Aufgrund der finanziellen Nöte mancher<br />

osteuropäischer Firmen werden auch günstige Übernahmen möglich.<br />

Bei Export und Investitionen aus dem Westen gilt es zu eruieren, ob die betreffende Branche<br />

zu denjenigen mit strukturellem Nachholbedarf und längerfristigem Wachstumspotential<br />

gehört oder ob sie Teil einer Blase war. Wichtiger noch als in den rosigen Zeiten ist es, die<br />

Situation und Dynamik des jeweiligen Marktes (Region, Sektor) zu verstehen und auch<br />

genaue Abklärungen über die Firmen zu tätigen, mit denen man zusammenarbeiten will.<br />

Antizyklisches Handeln kann sich lohnen – beim nächsten Aufschwung ist man vor Ort<br />

bereits etabliert.<br />

Michael Derrer, Mag.res.pol., ist Consultant und Dolmetscher für Osteuropa. Er leitet die<br />

Firma Ascent Swiss Business Management, Dienstleister für westliche Unternehmen in den<br />

osteuropäischen Ländern.<br />

http://www.ascent-ag.ch/<br />

contact@ascent-ag.ch<br />

*<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 23<br />

TSCHECHIEN<br />

Keine Spur von Ostalgie<br />

Zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist in Tschechien eine<br />

junge Generation von Menschen herangewachsen, die den Kommunismus nicht<br />

mehr erlebt hat. Die Freiheiten, die die heutigen Twens genießen, erwuchsen<br />

aus dem epochalen Systemwechsel von 1989. Damals waren ihre Eltern um die<br />

20 und begannen, Neuland zu entdecken. Was verbindet diese beiden<br />

Generationen, was trennt sie? Petr Hefka (41) und seine Tochter Veronika (20)<br />

sind ihrer Heimatstadt am Rande Tschechiens gleichermaßen verbunden. Die<br />

Revolution von 1989, die Petr als 20-Jähriger erlebte, ist seiner Tochter völlig<br />

fremd. Sie ermöglichte ihr ein ganz anderes Leben als ihrem Vater.<br />

Von Barbara Breuer<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

Petr Hefka in seinem<br />

Laden: er ist mit der<br />

Wende vor 20 Jahren<br />

vollauf zufrieden.<br />

etr Hefka steht in seinem Laden zwischen Waschmaschinen,<br />

Fernsehern, Radioweckern. Es ist ein lang gestreckter<br />

Verkaufsraum in der Hauptstraße von Zlaté Hory, Ausdruck<br />

eines gewissen Wohlstandes und letztlich doch nur Mittel zum<br />

Zweck. Dort, in dem gelb getünchten Haus, werden Petr Hefkas<br />

Träume greifbar: Jeder verkaufte Kühlschrank, jeder<br />

Flachbildschirm, der den Raum verlässt, ist ein Flugticket in die<br />

Karibik. Dem 41-Jährigen geht es gut. Sein Geschäft ist das einzige<br />

weit und breit. Zlaté Hory liegt ganz am Rande Mährisch-Schlesiens<br />

und das liegt ganz am Rande Tschechiens. Größere Elektromärkte<br />

findet man erst wieder in Olomouc oder Ostrava, anderthalb<br />

Stunden entfernt. Für die meisten in der Gegend zu weit, also<br />

kommen die Leute zu Petr Hefka.<br />

Dass er eines nicht allzu fernen Tages zum Tauchen auf die<br />

Malediven fliegt, hätte der Starkstrom-Elektriker vor 20 Jahren<br />

nicht zu träumen gewagt. Die Nachrichten von den Unruhen im<br />

(Foto: Breuer)<br />

November 1989 erreichten ihn damals unvermittelt: Während das staatliche Fernsehen den<br />

Bürgern der damaligen Tschechoslowakei noch Normalität vorgaukelte, kam ein Freund aus<br />

Prag zu Besuch nach Zlaté Hory. In dem 4500-Seelen-Ort im Grenzgebiet zu Polen erzählte<br />

er von Studentenstreiks, Demonstrationen und prügelnden Polizisten. „Wir haben das alles<br />

anfangs nicht geglaubt“, erinnert sich Petr Hefka.<br />

Wir bitten Sie, treten Sie ab!<br />

Aber nur wenig später erreicht der Ruf nach Veränderungen auch die Provinz. Petr Hefka<br />

und seine Kollegen von der staatlichen Geoforschung treten in Streikbereitschaft. Sein bester<br />

Freund, ein Student, bringt aus der Industriestadt Ostrava Protestplakate mit. „Sehr geehrte<br />

Genossen“, steht darauf, „Sie haben für Ihre Ideale des 19. Jahrhunderts gelebt, wir werden<br />

für die Natur und den Menschen des 21. Jahrhunderts leben...Rechtfertigen Sie bitte den<br />

Erhalt Ihrer Machtpositionen nicht mit dem Schutz des Sozialismus...Wir bitten Sie, treten<br />

Sie ab!“<br />

Gemeinsam hängen sie die Plakate in der Plattenbausiedlung ihrer Stadt auf. Verstecken,<br />

vorbereiten, aufkleben, abhauen – so verläuft die Aktion. „Wir haben damals natürlich nicht<br />

gedacht: Wir verbreiten jetzt die Protestschreiben und dann fallen die Kommunisten“, sagt<br />

Petr Hefka. Mitgerissen von der Euphorie geht es den jungen Männern eher darum, etwas<br />

Verbotenes, Gefährliches zu tun. Dafür und für Neuigkeiten oder Flugblätter aus der „Welt“,<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 24<br />

also aus Ostrava, spendieren neugierige Mitbürger den beiden in der Kneipe Bier und Rum –<br />

sehr zum Gefallen der jungen „Rebellen“.<br />

Die Tochter war zur Wendezeit ein Jahr alt<br />

„Mama erzählt immer, dass sie damals große Angst um dich hatte“, sagt Veronika Hefková.<br />

Petr Hefkas Tochter war zur Wendezeit gerade ein Jahr alt. Sie kennt die Ereignisse von 1989<br />

nahezu ausschließlich aus den Erzählungen ihrer Eltern. „Wenn ich an 1989 denke, fällt mir<br />

zuerst die Revolution ein, aber so richtig weiß ich gar nicht, was ich mir unter Revolution<br />

vorstellen soll“, sagt sie. „Wir haben zwar im Geschichtsunterricht alles möglich sehr<br />

ausführlich behandelt, aber nichts über die jüngste Zeit gelernt“, erzählt die Abiturientin.<br />

„Ich fühle da eine große Lücke und schäme mich auch ein bisschen dafür, dass ich mich<br />

bisher nicht hingesetzt und mir dazu selbst etwas angelesen habe“, gibt sie zu und wird ein<br />

wenig rot dabei.<br />

Im vergangenen Herbst hat die junge Tschechin angefangen, an der Technischen Universität<br />

in Ostrava Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Zufrieden ist sie nicht. Über einen<br />

Wechsel an eine andere Hochschule denkt sie nach, noch ist sie unschlüssig: „Fünf Jahre sind<br />

ja auch keine Katastrophe, das lässt sich überleben“, redet sie sich zu. Schließlich ist zu<br />

langes Studieren oder Herumtrödeln heutzutage auch in Tschechien verpönt. Zielstrebige<br />

junge Menschen, mit guten Noten, viel Berufserfahrung und fundierten Sprachkenntnissen<br />

werden gebraucht. Das Diktat des Marktes hat die sozialistische Diktatur abgelöst. Jeder ist<br />

heute selbst dafür verantwortlich, inwiefern er die unbegrenzten Möglichkeiten nutzt.<br />

Damals war alles vorgegeben<br />

Damals, als Petr Hefka seine Ausbildung abgeschlossen hatte,<br />

waren die Möglichkeiten noch begrenzt: „Ambitionen gehörten<br />

nicht in die Zeit.“ Und so durchlebte er den Sozialismus wie viele<br />

Tschechoslowaken: „Für uns war durch das System alles<br />

vorgezeichnet. Arbeit, Hochzeit, Wohnung, fertig!“ Da störte es<br />

auch nicht, dass er nach einem Semester von der Hochschule flog.<br />

„Ich bin lieber zu meiner Freundin gefahren, als zu lernen“, sagt er<br />

heute.<br />

Negative Erinnerungen an die Vorwendezeit hat er allerdings keine.<br />

Von der Existenz der „ŠtB“, der Tschechoslowakischen<br />

Staatssicherheit, habe er erst nach 1989 erfahren. „Was das<br />

Veronika Hefková hilft politische System betrifft, lebten die Menschen hier zu 90 Prozent<br />

ihrem Vater im in Unwissenheit“, schätzt Petr Hefka. Ihn versuchten die<br />

Elektroladen aus. kommunistischen Genossen nur einmal während der Ausbildung zu<br />

(Foto: Breuer)<br />

rekrutieren: „Sie wollten mich mit einem sicheren Hochschulplatz<br />

ködern“, sagt Petr Hefka. Vergeblich.<br />

Dabei ist Petr Hefka ein politischer Mensch. Sein Kreuzchen macht er heute bei den<br />

Konservativen. In Zlaté Hory will er auch selbst mitgestalten. Im Stadtrat und -parlament<br />

vertritt er die parteilose Vereinigung „Unabhängige 2006“. Seine Tochter indes kann mit<br />

Politik nicht viel anfangen. „Ich verstehe nicht viel davon“, sagt die 20-Jährige. „Und wenn<br />

ich an Kommunismus denke, dann fällt mir als erstes das Reiseverbot ein und, dass viele<br />

Menschen in Angst gelebt haben“.<br />

Unter anderem deswegen will ihr Vater nicht, „dass die alte Zeit zurück kommt“. Die<br />

romantisierende Verklärung des Lebens in der ehemaligen Tschechoslowakei à la Ostalgie ist<br />

den Tschechen fremd. „Ich kenne niemanden, der so denken würde“, sagt Veronika Hefková.<br />

Trotzdem scheint sie ihren Vater ein wenig zu beneiden: um eine sorglose Jugend, in der alle<br />

Schüler die gleiche Kleidung hatten und in dieselben Urlaubsorte fuhren.<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 25<br />

Neid auf die, die etwas erreichten<br />

Als Veronika Hefková Mitte der 1990er Jahre eingeschult wurde, hatte sich der Kapitalismus<br />

bereits seinen Weg bis in die Klassenzimmer gebahnt. „Ich erinnere mich nur ungern an die<br />

Grundschulzeit, weil ich keine Freunde hatte. Niemand wollte mit mir spielen, ich wurde<br />

ausgeschlossen. Warum, das hat mir nie jemand gesagt.“ Das Kind reagierte mit dem<br />

Rückzug in die Familie, sie spielte vor allem mit dem drei Jahre jüngeren Bruder.<br />

Für den Vater, der sich 1991 in Zlaté Hory mit seinem Elektrogeschäft selbstständig gemacht<br />

hat, ist klar, warum seine Tochter und ihr Bruder so allein waren: „Wenn einige Kinder nie<br />

verreisen und andere mehrmals im Jahr sonnengebräunt aus den Ferien zurück kommen,<br />

entsteht Neid.“ Den bekam auch er zu spüren, als er mit einer Mikrowelle, einem<br />

Fernsehgerät und zehn Videorekordern als kleiner Geschäftsmann startete. „Vor allem meine<br />

ehemaligen Vorgesetzten schienen sich zu fragen, was ich mir da überhaupt erlaube.“<br />

Inzwischen fragt das aber niemand mehr in Zlaté Hory.<br />

Die Samtene Revolution und ihre Folgen, vor allem die wirtschaftlichen, haben auch die<br />

frühere Bergbaustadt verändert. Zlaté Hory, das heißt „Goldene Berge“. Seit 1993 ist das<br />

Geschichte. Damals schloss das Bergwerk der Stadt. 1200 Kilogramm Gold hatten die<br />

Kumpel in den letzten drei Jahren aus dem Gestein geholt. Bis zu 1000 Bergleute waren es in<br />

den besten Zeiten. Die Männer arbeiteten unter Tage, die Frauen in der Textilfabrik. Doch<br />

auch das ist vorbei. Heute ist in der Region jeder Sechste arbeitslos. Aber es ist nicht nur<br />

Niedergang: Ein neuer Skihang soll Touristen anlocken, knapp zwei Millionen Euro hat die<br />

EU ins „Bohemaland“ gepumpt. Nur, allzu viele Arbeitsplätze bringt die Anlage nicht.<br />

Wer sein Glück findet, verlässt die Heimat nicht<br />

Petr Hefka hat die neue Zeit neben Wohlstand vor allem Selbstbewusstsein gebracht. „Ich<br />

finde, wenn jemand fähig und fleißig ist, dann sollte das auch belohnt werden“, sagt er. „Ich<br />

bin Realist und habe Träume, die ich auch erreichen kann“. In einem dieser Träume stehen<br />

Palmen an einem weißen Strand. Und wenn nicht in die Karibik, dann fährt er mit seiner<br />

Frau und den beiden Kindern nach Frankreich, zum Skifahren.<br />

Auch Veronika will die Welt kennen lernen, will studieren in Skandinavien. Im Sommer wird<br />

sie arbeiten, in einem Nationalpark in den USA. Doch sie wird zurückkehren. Veronika<br />

Hefková liebt ihre Heimat und die Berge. Und auch sie träumt, nur liegt ihr Sehnsuchtsort<br />

nicht in der Ferne. Eine kleine Pension oder ein Hotel, hier an den Ausläufern des<br />

Altvatergebirges, das wär’s schon.<br />

Petr Hefka möchte auch nicht woanders leben, so sehr ihn auch manchmal das Fernweh<br />

packt. „Ich bin hier zu 100 Prozent zufrieden.“ Zlaté Hory, die kleine Stadt am Rande<br />

Tschechiens, die Stadt der Goldenen Berge. Für ihn ist der Name mehr als nur eine<br />

Verheißung. Petr Hefka hat sein Glück gefunden.<br />

*<br />

Die Autorin ist Korrespondentin von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in<br />

ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu<br />

allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und<br />

Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen<br />

unter http://www.n-ost.de/.<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 26<br />

DEUTSCHLAND-POLEN<br />

Der Blick der Frauen<br />

Sie leben an derselben Grenze und haben im Sozialismus die gleichen<br />

Erfahrungen gemacht, nur auf unterschiedlichen <strong>Seite</strong>n. Heute begegnen sie<br />

einander auf Märkten und in Geschäften, doch sie wissen kaum etwas<br />

voneinander. Dabei gibt es eine Menge, das die deutschen und polnischen<br />

Frauen entlang von Oder und Neiße verbindet<br />

Von Melanie Longerich und Monika Piotrowska<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

Karolina Machowska bedient<br />

deutsche Kundinnen in ihrem<br />

polnischen Lebensmittelladen<br />

in Uckermünde.<br />

(Foto: Longerich)<br />

in halbes Pfund Schinken und Konfekt, und noch mal<br />

so viel gelben Käse. Karolina Machowska verpackt<br />

alles in einer großen Plastiktüte und reicht sie einer<br />

Kundin über die Ladentheke. Es ist halb zehn Uhr morgens<br />

und die 25-jährige BWL-Studentin aus Sczczecin (Stettin)<br />

hat bereits die Fahrt zum Großmarkt in Polen und die 20<br />

Kilometer lange Fahrt über die Grenze in ihr eigenes<br />

Geschäft im mecklenburgischen Städtchen Ueckermünde<br />

hinter sich. „Ich wollte immer meinen eigenen Laden haben<br />

und finanziell unabhängig sein“, sagt sie. Vor zwei Jahren<br />

eröffnete sie den kleinen Lebensmittelladen mit polnischen<br />

Produkten. Sie wohnt und studiert in Polen, arbeitet lieber<br />

in Deutschland: „Heute ist doch alles möglich“, sagt sie.<br />

Das dachte Christa Zmudzinski auch einmal. „Manchmal fällt mir schon die Decke auf den<br />

Kopf“, erzählt die 61-Jährige und blickt im brandenburgischen Guben von ihrem Balkon aufs<br />

Feld. Da haben früher Häuser gestanden: „Alle weg“, sagt sie. Genau wie ihre Familie: Ihr<br />

Mann fand Arbeit im Schwarzwald, drei der vier Kinder leben heute in ganz Deutschland<br />

verteilt. Da denkt Christa Zmudzinski lieber an alte Zeiten. 1965 war die Facharbeiterin von<br />

Thüringen an die Neiße gezogen, denn das neue Chemiefaserwerk hatte um gut ausgebildete<br />

Menschen aus der ganzen Republik geworben. Um dem Schichtsystem zu entkommen,<br />

kellnerte die bald vierfache Mutter ab den 70er Jahren in verschiedenen Gaststätten der<br />

Handelsorganisation, bis sie selbst die Leitung eines Lokals übernahm.<br />

Wir hatten keine Zeit uns vor der Zukunft zu fürchten<br />

Nach der Wende war damit schnell Schluss. Viele der Gäste des Lokals wurden arbeitslos,<br />

auch die Chefin selbst. Damals habe sie oft gedacht, dass das Leben nun keinen Sinn mehr<br />

mache, erzählt Christa Zmudzinski. „Doch ich wollte meinen Kindern immer Vorbild sein.“<br />

Diese Einstellung hat ihr schließlich aus der Lethargie der Wendezeit geholfen, wie vielen<br />

anderen, vor allem Frauen, auch: „Wir hatten keine Zeit, uns vor der Zukunft zu fürchten.<br />

Wir funktionierten ohne nachzudenken. Für die Familie.“ Ein Satz, der immer wieder fällt –<br />

auf beiden <strong>Seite</strong>n der Grenze.<br />

Vom Wegbrechen der Arbeit waren dort zuerst die Frauen betroffen. Dennoch, ist Hans<br />

Joachim Maaz überzeugt, hätten Frauen den Verlust des Arbeitsplatzes deutlich besser<br />

verkraftet als ihre Männer. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am<br />

Diakoniekrankenhaus in Halle hatte 1990 mit seinem Buch „Der Gefühlsstau – ein<br />

Psychogramm der DDR“ für Aufsehen gesorgt. Da arbeitete er noch als Psychologe in<br />

Frankfurt (Oder). Damals seien viele Frauen zu ihm kommen, weil sie sich schuldig fühlten,<br />

nie Zeit für die Kinder zu haben: „Sie haben gewusst, dass die Verhältnisse in den Krippen<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 27<br />

nicht optimal waren“, sagt er. Als Arbeitslose hätten sie dann vieles nachholen können. Im<br />

Gegensatz zu den Männern, die diese Möglichkeit nie gehabt hätten.<br />

Jede fünfte ist heute arbeitslos<br />

Auf den Feldern und dunklen Kiefernwäldern, die sich abwechselnd am Ufer von Oder und<br />

Neiße entlang ziehen, ist der Lärm der Großstädte fern. „Keimzelle der europäischen<br />

Einigung“ sollte sie mal werden, die deutsch-polnische Grenzregion, sagt der Soziologe<br />

Stanislaw Lisiecki von der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan (Posen), der seit vielen<br />

Jahren in der Gegend forscht. Auch wenn heute darüber niemand mehr spreche – „die<br />

Grenze bleibt Barometer für die gegenseitige Wahrnehmung“, ist Lisiecki überzeugt. Und in<br />

diesem Prozess könnten gerade Frauen eine wichtige Rolle spielen.<br />

Auch wenn, wie Maaz beobachtet, die Frauen im Vergleich zu ihren Männern den neuen<br />

Zeiten besser begegnen, bleibt die Lage für sie kritisch. Im deutschen Grenzgebiet ist laut<br />

Arbeitsmarktstatistik jeder Fünfte arbeitslos. Nicht viel besser sieht es auf der polnischen<br />

<strong>Seite</strong> aus. Auf beiden <strong>Seite</strong>n sind Frauen wie Männer etwa gleich betroffen – zumindest<br />

offiziell. Doch die Dunkelziffer der Frauen, die sich gar nicht erst arbeitslos melden, sei groß,<br />

vermutet Christine Angermann, Beauftragte für Chancengleichheit bei der Cottbuser<br />

Arbeitsagentur.<br />

Während in Deutschland eine Arbeitslose im ersten Jahr noch monatlich 80 Prozent ihres<br />

vormaligen Bruttoeinkommens erhält, sind es in Polen maximal 520 Zloty (110 Euro), oft ist<br />

schon nach einem halben Jahr Schluss. Da wieder herauszukommen, bleibt schwierig: Für<br />

Umschulungen und Qualifizierungsprogramme gibt Polen nach einer Untersuchung aus dem<br />

Jahr 2005 etwa 41 Euro pro Kopf und Jahr aus – der EU-Durchschnitt liegt bei 6.000 Euro.<br />

Staatliche „Muttipolitik“ in den 70er Jahren<br />

Dass Frauen beiderseits der deutsch-polnischen Grenze die schwierigen Wandlungsprozesse<br />

häufig besser bewältigen als ihre Männer, hängt für die Historikerin Helga Schultz mit den<br />

Erfahrungen im Sozialismus zusammen: „Sowohl in der DDR als auch in der Volksrepublik<br />

Polen war das Bild der Mutter von Fürsorge für die Familie und Leistung im Beruf<br />

bestimmt“, sagt sie. Doch die Verankerung der Gleichberechtigung als Staatsziel in der DDR-<br />

Verfassung bewirkte keineswegs eine Abkehr vom traditionellen Rollenbild. Davon ist<br />

Marina Grasse überzeugt: „Daran ist nie gerüttelt worden“, kritisiert sie.<br />

Der Staat habe wegen des anfänglichen Mangels an Arbeitskräften nur nicht auf Frauen<br />

verzichten können, gerade im Grenzgebiet. Deshalb wurde auch in den 70er Jahren die<br />

„Muttipolitik“ eingeführt, wie der Volksmund lakonisch die Sonderregelungen nannte. Jeden<br />

Monat gab es für Mütter einen bezahlten Haushaltstag, zusätzlich Gleitarbeitszeit. „So<br />

musste die Frau die Doppelbelastung alleine tragen. Ihr Gatte wurde nicht in die Pflicht<br />

genommen“, sagt Marina Grasse.<br />

Die Töchtergeneration distanziert sich von der Opferrolle der Frau<br />

Auch in Polen packten die Frauen für den Sozialismus mit an. Doch mehr aus finanziellen<br />

Gründen: Die Gehälter waren damals so niedrig, dass eines kaum reichte, um die Familie<br />

durchzubringen. Am traditionellen Rollenbild änderte das bis heute wenig. Die Gründe dafür<br />

liegen tief in der Geschichte, in der Zeit der polnischen Teilungen. Die Vereinigung von<br />

Freiheitsliebe mit tiefer Religiosität ließ im 18. Jahrhundert den Mythos der „Matka-Polka“<br />

(Mutter Polens) entstehen. Sie steht symbolisch für Kraft und Aufopferung gegenüber der<br />

Familie. Die Männer waren im Krieg, die Frauen mussten Haus und Hof in Eigenregie<br />

bewirtschaften.<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 28<br />

Auch wenn die Töchtergeneration sich heute längst von der Opferrolle der Frau distanziere,<br />

kämpft sie mit den Nachwehen dieses Rollenverständnisses: „Die Frau soll die Hüterin von<br />

Heim und Herd bleiben, sie soll den Kindern eine Mutter, dem Gatten eine fürsorgliche<br />

Ehefrau sein“, beobachtet die 30-jährige Alexandra Kos aus Szczecin (Stettin). Die<br />

Doktorandin der Philosophie ist allein erziehende Mutter eines fünfjährigen Sohnes:<br />

„Frauenpolitische Themen haben in der Provinz keine Chance“, ist Kos überzeugt. Eine<br />

Teilschuld gibt sie den Frauen selbst: „Sich mit gesellschaftspolitischen Themen zu<br />

beschäftigen, ist für viele Zeitverschwendung.“<br />

Was die Zukunft der Frauen in der Region angeht, bleibt Monika Vandreier, Leiterin des<br />

Frauenzentrums Cottbus, dennoch optimistisch. „Es wird sich zwangsläufig etwas ändern<br />

müssen“, ist sie überzeugt. Schon jetzt gehen der Grenzregion – egal ob in Deutschland oder<br />

in Polen – die Fachkräfte aus. Frauen werden bald sehr gefragt sein für Führungspositionen<br />

in der Wirtschaft, Politik und Verwaltung. Nicht anders in Polen. Karolina Machowska<br />

vertraut dennoch lieber auf ihre eigenen Kräfte – und ist damit ein gutes Beispiel für viele<br />

Frauen an der deutsch-polnischen Grenze: „Wenn du gut bist, ist es völlig egal, wo du bist.“<br />

Die Autorinnen sind Korrespondentinnen von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50<br />

Journalisten in ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus<br />

erster Hand zu allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder<br />

Mittel- und Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere<br />

Informationen unter http://www.n-ost.de/.<br />

*<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 29<br />

KROATIEN<br />

Als gäbe es kein Morgen<br />

Die erfolgreiche Anwältin Blaženka Musulin ist 42 und lebt in der kroatischen<br />

Hauptstadt Zagreb. Ihr Sohn Dominik ist 21, studiert Jura und will später<br />

einmal in ihre Fußstapfen treten. Als er geboren wurde, hieß die Amtssprache<br />

im Land noch Serbokroatisch, doch die viel gelobte Völkerfreundschaft<br />

zwischen den Teilrepubliken hatte bereits tiefe Risse bekommen. Als<br />

Jugoslawien schließlich blutig zerbrach, machte Dominik seine gerade ersten<br />

Schritte und seine Mutter hatte ihr frischgebackenes Staatsexamen in der<br />

Tasche. Ein denkbar ungünstiger Start, doch Mutter und Sohn haben es<br />

geschafft.<br />

Von Veronika Wengert<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

ie grauen Bürgerhäuser in der Innenstadt von Zagreb<br />

könnten einen neuen Anstrich vertragen: Schwarze Zickzack-<br />

Graffiti an fast jeder Häuserwand, die in krassem Gegensatz<br />

zu den Stuckschnecken über den Eingangstoren der alten Wiener<br />

Baumeister stehen. Vor solch einer Fassade rangiert Dominik<br />

Musulin gerade seinen Wagen ein. Der 21-Jährige klingelt an einer<br />

Doppelflügeltür mit geschmiedeten Zierstäben. Im Treppenhaus<br />

riecht es nach Bohnerwachs. Dominik nimmt gleich zwei Stufen auf<br />

einmal, vorbei an blühenden Primeltöpfen. Und wird, oben<br />

angekommen, von seiner Mutter bereits erwartet.<br />

Die 42-jährige Blaženka Musulin hat sich ihr Anwaltsbüro hier<br />

Zwei Generationen eingerichtet: eine weitläufige Altbauwohnung mit Stuck und<br />

Jura: Dominik und modernem Flachbildschirm im Warteraum, in dem die Mandanten<br />

seine Mutter Blaženka. mit westlicher Popmusik beschallt werden. Fünf Mitarbeiter<br />

(Foto: Wengert) beschäftigt sie mittlerweile – das Rechtsgeschäft mit<br />

Verkehrsdelikten und Unfällen scheint zu laufen.<br />

Das sei nicht immer so gewesen, sagt Blaženka. Die politische Wende im früheren<br />

Jugoslawien habe Anfang der neunziger Jahre eine Hundertschaft von Rechtsanwälten auf<br />

den freien Markt geschwemmt. Der junge Nationalstaat Kroatien mit seinen knapp<br />

viereinhalb Millionen Einwohnern passte in ein weitaus schlankeres Verwaltungskorsett.<br />

Entsprechend hätten sich viele staatliche Behörden von ihren Anwälten getrennt – sei es nun<br />

aus verwaltungstechnischen oder politischen Gründen. Vielen sei damals nur die<br />

Freiberuflichkeit als Ausweg geblieben. Auf dem Markt war es eng, als sie ihre Kanzlei 1993<br />

eröffnete, erzählt die Anwältin.<br />

„Die soziale Unzufriedenheit und die zunehmenden ethnischen Spannungen<br />

ließen den Vielvölkerstaat zerbrechen, als Dominik noch ein Kleinkind war“<br />

Dominik kennt die Berufsanfänge seiner Mutter nur aus Erzählungen. Er ist in ihre<br />

Fußstapfen getreten und studiert Jura. Das sei das Einzige gewesen, was für ihn in Frage<br />

gekommen sei, sagt er. Als Dominik im Sommer 1988 geboren wurde, trennten Blaženka<br />

noch drei Prüfungen von ihrem ersten Staatsexamen. Die wirtschaftliche Krise im Land<br />

spitzte sich zu und mündete 1989 in einer galoppierenden Inflation. Selbst für einen Laib<br />

Brot wurden auf einmal Beträge mit mehreren Nullstellen vor dem Komma fällig. Die soziale<br />

Unzufriedenheit und die zunehmenden ethnischen Spannungen ließen den Vielvölkerstaat<br />

zerbrechen, als Dominik noch ein Kleinkind war. Was anderswo in einer friedlichen<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 30<br />

Revolution mündete, eskalierte in Jugoslawien – es kam zum Krieg, mitten in Europa.<br />

Zagreb galt als Angelpunkt, viele Menschen aus den umkämpften Landesteilen kamen in die<br />

Hauptstadt. Das Bild der Stadt habe sich seither gewandelt, sagt Blaženka.<br />

Die Studentin von früher und der Student von heute. Gibt es hier überhaupt Parallelen?<br />

Blaženka erinnert sich an Fächer wie Marxismus, mit denen die Studentenschaft auf den<br />

richtigen sozialistischen Pfad gebracht werden sollte. Und an Volkswehr. Das sei bereits an<br />

Schulen unterrichtet worden: Das Wissen um die Verteidigung des Staates, der Ideologie<br />

oder einfach nur sich selbst. Notfalls mit Waffengewalt. Was heute Pädagogen auf die<br />

Barrikaden treiben würde, gehörte für Blaženka und ihre Generation zum Lehrplan:<br />

Schießübungen mit einer wuchtigen russischen Kalaschnikow – und das mit gerade mal 15,<br />

16 Jahren.<br />

Schulausflüge führten meist zu Orten, die für die Partisanen bedeutsam waren. Gotteshäuser<br />

hingegen, selbst berühmte Bauwerke wie die Kathedrale von Šibenik, wurden bei<br />

Exkursionen einfach verschwiegen. „Kirche war im öffentlichen Leben kein Thema“, erinnert<br />

sich Blaženka, die wie die meisten Kroaten katholisch ist. Zu Hause in den eigenen vier<br />

Wänden habe man selbstverständlich christliche Feste wie Weihnachten gefeiert.<br />

Für Mama einst Arbeitscamps – für den Sohn Ferien am Meer<br />

Der 21-jährige Dominik<br />

Musulin studiert Jura in<br />

Zagreb, an der gleichen<br />

Fakultät wie einst seine<br />

Mutter. Er will ebenfalls<br />

Anwalt werden.<br />

In den Semesterferien wurde gemeinsam mit anderen Teens<br />

und Twens mit angepackt – zum Wohl der Gesellschaft.<br />

Dort, wo später einmal eine Schnellstraße entstehen sollte,<br />

ebneten hunderte junger Menschen aus ganz Jugoslawien<br />

Wiesen und Grundstücke. Bei diesen Arbeitscamps, den<br />

„radne akcije“, wurde buchstäblich Völkerfreundschaft<br />

praktiziert, da hier hunderte von jungen Menschen aus allen<br />

Teilrepubliken Jugoslawiens zusammen kamen. Tagsüber<br />

wurde gearbeitet, abends fanden Konzerte und<br />

Kinoveranstaltungen statt – die Blaženka einen Sommer<br />

lang im Organisationskomitee mit plante. Die Camps<br />

wurden sogar als Praktikum angerechnet.<br />

Dominiks Studienzeit prägen unterdessen ganz andere<br />

Dinge: Die neuen Bologna-Bestimmungen werden gerade<br />

umgesetzt, die das kroatische Bildungssystem an das<br />

(Foto: Wengert)<br />

gesamteuropäische anpassen sollen. Denn schließlich hängt Kroatien in der Warteschleife auf<br />

Brüssel. Das bedeutet nun auch für die Studenten eine Umorientierung – und eine<br />

Verlängerung der Studienzeit von vier auf fünf Jahre. An seiner Fakultät sei dies jedoch gut<br />

geregelt worden, während Studenten an anderen Fakultäten ratlos gewesen seien, wann und<br />

ob ein Kolloquium zu belegen sei.<br />

Die Semesterferien verbringt Dominik mit seinen Freunden am Meer oder auch mal beim<br />

Skifahren in Frankreich. Woanders leben? Nein, das wolle er nicht. Kroatien sei für ihn ein<br />

freies und modernes Land, in dem alles möglich sei. In den Zeitungen werde frei berichtet, es<br />

gäbe keine Informationsfilterung oder Zensur. Man könne ausgehen, Spaß haben, das Leben<br />

in Zagreb sei relativ sicher. Und zudem würden hier Freunde und Familie leben, die ihm sehr<br />

wichtig seien, sagt Dominik.<br />

Die Fakultät liegt noch immer am Marschall-Tito-Platz<br />

Auch wenn sich das ideologische Fähnchen im Wind gedreht hat – die Fakultät von Mutter<br />

und Sohn ist die gleiche geblieben. Sie gehört zu den beliebten Fotomotiven von Zagreb-<br />

Touristen: Ein pastellgelbes herrschaftliches Gebäude mit seitlichen Treppenaufgängen,<br />

direkt am Marschall-Tito-Platz gelegen. Ein Ort, der aufgrund seiner Namensgebung immer<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 31<br />

mal wieder die Anhänger und Gegner des ehemaligen jugoslawischen Staatschefs<br />

versammelt. Die einen fordern auf Transparenten die Beibehaltung des alten Namens, die<br />

anderen sind dagegen – und würden das Phänomen Josip Broz Tito am liebsten in der<br />

Mottenkiste der Vergangenheit verschwinden lassen.<br />

An solchen Protesten beteiligt sich Dominik nicht. „Das ist heute einfach Geschichte, im<br />

Bewusstsein meiner Generation ist es völlig vergessen“, sagt er. In manchen Fächern an der<br />

Schule oder Universität, aber auch mal im Fernsehen – da sei Tito ein Thema, sonst nicht.<br />

Dennoch sei er mit seiner Schulklasse vor einigen Jahren in Kumrovec gewesen: ein liebevoll<br />

gepflegtes Ethnodorf mit Maiskolben an den Dachbalken, freilaufenden Hühnern, weiß<br />

getünchten Hauswänden und Pflastersteinen. Hier wurde Tito geboren, sein Holzbett kann in<br />

einer kargen Stube noch besichtigt werden. Es sei ein netter Ausflug gewesen. Dennoch habe<br />

er keinerlei Empfindungen gehabt, weder positiv, noch negativ – da er überhaupt keinen<br />

Bezug zu Tito habe, sagt Dominik. Den heutigen Twens bedeute die Geschichte weitaus<br />

weniger als ihrer Generation früher, hält Blaženka dagegen.<br />

Blaženka erinnert sich noch deutlich an den Sozialismus. In den achtziger Jahren wurde das<br />

Benzin im Land zeitweise knapp. „Damals durften an bestimmten Tagen nur Fahrzeuge mit<br />

geraden, an anderen Tagen die mit ungeraden Nummern fahren“. Diese Restriktionen habe<br />

man unter dem Schlagwort „Stabilisierung der Wirtschaft“ verpackt. Wer Verwandtschaft im<br />

Ausland hatte, ließ sich Nylonstrümpfe, Waschpulver oder Kaffee mitbringen. Denn diese<br />

Produkte waren knapp und extrem teuer.<br />

Was einstmals zählte ist längst vergessen: Tipps für gute Windeln<br />

Zwar habe es in Jugoslawien immer alles gegeben, doch manches sei von minderwertiger<br />

Qualität gewesen. So wie Babywindeln, made in Jugoslavia. „Manchmal riefen die Leute im<br />

Radio an und sagten, dass es in diesem oder jenem Laden noch gute Windeln zu kaufen<br />

gäbe“, erinnert sich Blaženka an 1989, als Dominik noch ein Baby war und die sozialistische<br />

Welt ins Wanken geriet. Wer es sich leisten konnte, fuhr daher zum Einkaufen ins<br />

österreichische Graz oder ins italienische Triest. Windeln, Waschpulver, Damenbinden,<br />

Kaffee, Zucker oder Nylonstrümpfe – die Einkaufsliste war damals lang.<br />

Nachdem das junge Kroatien seit nunmehr bald zwei Jahrzehnten auf eigenen Beinen steht,<br />

haben sich die Bedürfnisse geändert. „Die Menschen in Zagreb kaufen teure Markenkleidung,<br />

neue Autos und Wochenendhäuser am Meer oder in den Bergen“, erzählt Blaženka. Der<br />

Samstag werde im Café verbracht, möglichst auf der Straße, um gesehen zu werden und zu<br />

einer gewissen urbanen Elite zu gehören. Vieles habe sich heutzutage nur auf Äußerlichkeiten<br />

und Statussymbole reduziert. Vielleicht liege es daran, dass die Menschen in Kroatien im<br />

vorigen Jahrhundert mehrfach ihre politischen Ideale, aber auch ihre gesamten Ersparnisse<br />

verloren hätten. Man sei es nicht wirklich gewohnt zu sparen. „Daher verhalten wir uns in<br />

unserem Konsumverhalten vielleicht manchmal, als gäbe es kein Morgen“, sagt Blaženka.<br />

Denn schließlich wisse man nie, was noch komme.<br />

*<br />

Die Autorin ist Korrespondentin von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in<br />

ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu<br />

allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und<br />

Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen<br />

unter www.n-ost.de.<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 32<br />

EURASISCHE SPIRITUALITÄT<br />

Geomantikart von der Wasserscheide<br />

Wie man eine neue Beziehung zum Heimatplaneten Erde herstellt – was die<br />

Faszination der Geomantik ausmacht – welche neuen Möglichkeiten Bücher<br />

und Zeitschriften eröffnen – wie durch eine Geomantiklade ganz eigene<br />

Kraftorte in Haus und Wohnung entstehen – was es mit den Geheimnissen vom<br />

eurasischen Heidenpfad auf sich hat.<br />

Von Hans Wagner<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

Die Zeitschrift für<br />

alle, die sich für<br />

Geomantie<br />

interessieren.<br />

(Foto:<br />

s ist kaum in Worte zu fassen, was wirklich geschieht, wenn<br />

Menschen sich einem „besonderen Ort nähern“. Einige spüren<br />

es, sobald sie das Areal betreten. Andere, wenn sie einen Stein<br />

von dort aufheben, sich an einen Baum lehnen, oder aus der Quelle<br />

trinken, die hier entspringt. Manch einer hat beim unerwarteten<br />

Ausblick, der ihn an einem solchen Ort in seinen Bann schlug und<br />

den vielleicht auch nur er so empfand, seine Zukunft gefunden. So als<br />

hätte diese Stelle nur darauf gewartet, dass er gerade hier sein Haus<br />

baut und seine Familie ansiedelt.<br />

Die „Kräfte“, die dabei wirksam werden, entziehen sich meist der<br />

naturwissenschaftlichen Messbarkeit. Und doch sind sie zu spüren.<br />

Menschen machen Fotos, sammeln Steine auf oder schneiden sich<br />

einen Wanderstecken - genau hier. In vielen Fällen sind sie<br />

keineswegs die ersten, die diese „Wirkung“ verspürt haben. Andere<br />

haben hier schon Spuren hinterlassen. Ob am Steinkreis auf der<br />

Nordseeinsel Amrum, am uralten Wetterbaum auf einem<br />

Bergrücken, oder auf einem Weg durch den Wald, der magisch<br />

starkesleben.de)<br />

anzieht und auf dem man die Schritte aller derer zu spüren glaubt, die ihn vorher bereits<br />

gegangen sind.<br />

Im heimischen Bücherregal liegen dann die Findlinge, die diese geheime Kraft und<br />

Faszination ausstrahlen. Wenn wir sie in die Hand nehmen ist sie wieder zu spüren. Oder<br />

man trägt einen der mitgebrachten Steine bei sich. Die Hände schließen sich mehrmals am<br />

Tag um ihn. Es sind beruhigende Berührungen. Menschen nehmen auf diese Weise<br />

Verbindung mit der Erde auf. Oder sie legen die steinerne Form vor sich hin, erblicken darin<br />

besondere Botschaften. Es ist dies ein Erleben, das Menschen seit der Steinzeit und weit<br />

davor tief berührt. Verehrungswürdige Formen. Orakel. Geomantische Kunst. Geomantikart.<br />

Berührbare Magie. Erlebbar auch in Flurmarken, aufgehäuft an besonderen Schnittpunkten.<br />

In errichteten Stelen und Tempeln. An Kraftorten, heiligen Orten, Kultplätzen.<br />

Die neue Beziehung zu unserem Heimatplaneten<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 33<br />

Geomantiklade,<br />

Schmuckstück im<br />

Bücherregal, als<br />

Schatztruhe und<br />

Buchstütze dienend.<br />

(Foto: starkesleben.de)<br />

Geomantik oder Geomantie zieht immer mehr Menschen in ihren<br />

Bann. Das Gespräch mit der Erde wird in Führungen von Kundigen<br />

gelehrt, oder auch in aller Einsamkeit für sich gesucht.<br />

„Geomantie“, heißt es in der <strong>Verlag</strong>sbeschreibung eines neuen<br />

Buches, könnte man poetisch nennen: „Die Kunst, die Handlinien<br />

der Erde zu lesen“.<br />

„Die neue Beziehung zu unserem Heimatplaneten“ wird in dem<br />

Buch diskutiert, das von Lara Mallien und Johannes Heimrath<br />

herausgegeben wurde. (Drachen <strong>Verlag</strong>, Edition Hagia Chora). „In<br />

der Geomantie geht es um die Beziehung zwischen Mensch und<br />

Erde, zwischen Menschen und Räumen, zwischen Menschen, Orten<br />

und Landschaften – und das alles besitzt eine ethisch-spirituelle<br />

Komponente.“<br />

Geomantik oder Geomantie ist eine spirituelle Wissenschaft, aber<br />

keine „exakte“ Schulwissenschaft, vergleichbar dem Verhältnis von<br />

Schulmedizin und Naturheilkunde und Naturmedizin. Es handelt<br />

sich um empirisches Wissen, das aus der Naturphilosophie kommt und die Naturreligion<br />

berührt, um Erfahrung, Erahnung, Erfühlung, Einfühlungsvermögen (Empathie). Aber<br />

deshalb ist dieses mit emotionaler Intelligenz am ehesten erfassbare Wissen nicht weniger<br />

aussagekräftig als eine Schulwissenschaft, die vielleicht die mineralische Zusammensetzung<br />

von Steinen sezieren kann, aber über wenig Vorstellung von der Beziehung Mensch-Natur<br />

verfügt. Oder wie die Herausgeber des Geomantie-Buches schreiben: Es ist Weisheit, „die das<br />

Erfahrungswissen einer Hebamme vom akademischen Wissen eines Gynäkologen<br />

unterscheidet.“<br />

Wege aus der Einfalt der Sezier-Wissenschaft<br />

Buchtitel aus dem<br />

Drachen-<strong>Verlag</strong>.<br />

(Foto:<br />

Bei Lara Mallien und Johannes Heimrath heißt es: „Der größte Reiz der<br />

Geomantie scheint zu sein, dass sie einen Weg aus dem<br />

Reduktionismus freilegt, den viele noch immer für die Essenz<br />

zeitgemäßer Wissenschaft halten. Die Geomantie kann der<br />

entzauberten Welt einen Teil ihrer magisch-beseelten Qualität<br />

zurückgeben, ohne den Verstand zu beleidigen und ohne einen naivheilen<br />

Urzustand zu beschwören.“<br />

Es sind neue Wege nötig, die aus der Einfalt der Sezier-Wissenschaft<br />

herausführen. Die Autoren John Briggs und David F. Peat haben in<br />

ihrem 1999 erschienen Buch „Die Entdeckung des Chaos“ (dtv-<br />

Taschenbuch) diesen Reduktionismus so beschrieben: „Im<br />

wesentlichen ist der Reduktionismus die Natursicht eines Uhrmachers.<br />

Eine Uhr lässt sich auseinander nehmen und in ihre Bestandteile wie<br />

Zahnräder, Hebelchen, Federn und Triebwerk zerlegen. Sie lässt sich<br />

aus diesen Teilen auch wieder zusammensetzen. Der Reduktionismus<br />

starkesleben.de)<br />

stellt sich auch die Natur als etwas vor, was sich zusammensetzen und auseinander nehmen<br />

lässt. Reduktionisten glauben, dass auch die komplexesten Systeme aus atomaren und<br />

subatomaren Entsprechungen von Federn, Zahnrädchen und Hebeln bestehen, die die Natur<br />

auf unendlich vielfältige, geniale Art kombinierte.“<br />

Aber diese Sicht ist längst nicht mehr zeitgemäß und wird zunehmend durch eine<br />

ganzheitliche Welterfahrung abgelöst, die weiß, dass Leben und Natur mehr ist, als einfach<br />

nur die Summe ihrer Teile.<br />

Und was hat unsere heutige Gesellschaft davon, wenn sie sich mit dem Wesen der Geomantik<br />

auseinandersetzt? Wenn Sie hinter die Geheimnisse unseres Planeten und seiner Beziehung<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 34<br />

zu uns Menschen zu blicken versucht? Hierzu gibt es eine treffende Zusammenfassung in<br />

dem Band „Was ist Geomantie“. Die Herausgeber schreiben: „Wirklich interessant ist die<br />

Frage, was unsere Wahrnehmung der Kräfte eines Orts bei uns persönlich bewirkt, und ob<br />

aus dieser Wahrnehmung die Inspiration für eine Handlung entspringt – sei es ein Haus, das<br />

an diesem Ort entsteht, oder auch nur ein Lied, das hier gesungen wird -, die etwas Schönes<br />

und Lebensförderndes in die Welt bringt. Ein solcher Prozess ist höchst wertvoll, aber nichts,<br />

was sich naturwissenschaftlich fassen ließe.“<br />

Geheimnisse von der Lebenslinie des Kontinents Eurasien<br />

„Eine der faszinierendsten Erscheinungen unserer Erde ist die<br />

Lebenslinie des Kontinents Eurasien, die sich über viele Tausende<br />

von Kilometern von Spanien bis zum Ural erstreckt“, schrieb<br />

Olenin Terek in der Ausgabe EM 10-08. „Von hier werden die<br />

Flüsse der einen Hälfte des Erdteils ins Mittelmeer, ins Schwarze<br />

Meer und ins Kaspische Meer gelenkt, während die andere Hälfte<br />

der Gewässer nach Westen in den Atlantischen Ozean, in Nordund<br />

Ostsee, sowie ins nördliche Eismeer fließt. (Diese Linie setzt<br />

sich weiter fort bis zum Pamirgebirge, zum Indus und an den<br />

Pazifischen Ozean).“<br />

Die große Europäische Wasserscheide ist ein Phänomen, das sich<br />

Erlebte Geomantik auf natürlich auch naturwissenschaftlich, schulwissenschaftlich<br />

dem Heidenpfad der sezieren lässt. Aber wirklich erklärbar ist es nicht. Ihr Sosein bleibt<br />

Europäischen<br />

letztlich ein Rätsel, das sich von Gibraltar im Dunstkreis Afrikas bis<br />

Wasserscheide: an den viele tausend Kilometer entfernten Ural erstreckt. Urmeere,<br />

Buchneuerscheinung Gletschergeschiebe und der Malstrom von Jahrmillionen haben<br />

aus dem Eurasischen daran „gearbeitet“. Heute entstehen darauf immer mehr<br />

<strong>Verlag</strong>.<br />

Wanderwege. Die Schwäbische Alb, über die der Höhenstrom der<br />

(Foto: <strong>Eurasischer</strong> Wasserscheide verläuft, ist eine Art natürlich gewachsener<br />

<strong>Verlag</strong>)<br />

Geopark, ebenso die Frankenhöhe und auch die anderen<br />

Abschnitte dieses Naturwunders.<br />

Es ist schier unausweichlich, dass dort – an solchen Kraftorten, auf derartigen<br />

geomantischen Linien – auch besondere Gedanken und Botschaften sich einfinden. Wie<br />

beispielsweise die „Zwölf Geheimnisse für ein starkes Leben“, die in dem Buch von Friedrich<br />

Georg Wick enthalten sind, das den Titel „Der Heidenschwanz“<br />

(http://www.heidenschwanz.de/) trägt. Leser und Zuhörer, die bei Auftritten des Autors<br />

erstmals davon hören, werden regelmäßig in ihren Bann gezogen.<br />

Es sind einfache Rituale, die ein Leben zum Besseren verändern. Friedrich Georg Wick hat<br />

sie aufgezeichnet und in eine zeitgemäße Sprache übersetzt. Sie lauten: „Gewinne den Tag! –<br />

Teile den Tag! – Stimuliere die Kraft! – Lade Dein Kraftfeld! – Gib Dich dem Leben! – Suche<br />

zwölf Blicke! – Wechsle zwölf Schritte! – Öffne die Spirale! – Suche die Nacht auf! – Sende<br />

Deine Seele! – Zeuge unter einem guten Stern!“ Wick hat auf nur 77 <strong>Seite</strong>n jene uralten<br />

Geheimnisse und kosmischen Zusammenhänge zugänglich gemacht, die den Leser in<br />

Erstaunen versetzen und die wichtig sind, für ein langes und starkes Leben.<br />

Die Geomantiklade als Kraftort in der eigenen Wohnung<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 35<br />

Geomantiklade offen, als<br />

Schatztruhe und Buchstütze<br />

verwendbar.<br />

Zurück zu den Schätzen der Erde, den Findlingen, die<br />

Menschen von ihren geomantischen Wanderungen<br />

mitbringen und die ihnen wert und teuer, nicht selten heilig<br />

sind. Diese intimen Kostbarkeiten bedürfen in Haus und<br />

Wohnung eines würdigen Ortes zu ihrer Aufbewahrung.<br />

Würdig, aber schlicht. Kein „Hausaltar“ aus dem bekannten<br />

Schnäppchenversand (sie werden dort tatsächlich<br />

angeboten), sondern eine persönliche Aufbewahrungsstätte.<br />

Was die Erde schenkt, womit sie verzaubert, findet Platz in<br />

der „Geomantiklade“ von starkesleben.de. Formschön,<br />

genialerweise auch als Buchstütze dienend, als Sockel für ein<br />

Räuchergefäß, und eben zur Aufbewahrung der Findlinge. So<br />

(Foto: starkesleben.de)<br />

wird die kleine Truhe zum Kraftort in der Wohnung. Ein geomantischer Ort im Haus. Fast<br />

eine heilige Stätte.<br />

*<br />

Siehe dazu auch EM 10-08 „Eurasische Spiritualität – vom Heidenpfad zum<br />

Heidenschwanz“, http://www.medizin-welt.info/aktuell/aktuell.asp?newsID=149 „Suche die<br />

Nacht auf“ und http://www.medizin-welt.info/aktuell/aktuell.asp?newsID=148 „Medizin-<br />

Welt SPEZIAL Heilende Blicke“.<br />

Die Zeitschrift „Hagia Chora“ finden Sie unter http://www.hagia-chora.org/<br />

Zu starkesleben.de gelangen Sie über http://www.geomantikart.de/start/ oder<br />

http://www.starkesleben.de/start/<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 36<br />

TÜRKEI<br />

TV-Serie „Güldünya“ – „Rufen Sie an, bevor es zu spät ist!“<br />

Mit einer Fernsehserie, die Fälle von Frauenmisshandlungen dokumentiert,<br />

wurde eine Erste-Hilfe-Hotline in der Türkei landesweit bekannt. Auch wenn<br />

die Serie mittlerweile abgesetzt wurde, hat sie doch das öffentliche Bewusstsein<br />

für die Problematik wecken können.<br />

Von Semiran Kaya<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

ie türkische TV-Serie „Güldünya“ hat in der türkischen Gesellschaft zur<br />

Sensibilisierung im Umgang mit dem Thema Gewalt gegen Frauen und Familien<br />

beigetragen. Gewalt gegen Frauen ist kein Einzelfall in der Türkei. Laut Statistik gehört sie<br />

für jede dritte Frau im Land zum Alltag. Wahrgenommen in der Gesellschaft wird sie aber<br />

erst, wenn Frauen erstochen oder erschossen werden, in vielen Fällen vom Vater, Ehemann<br />

oder Bruder.<br />

Aktuelle Zahlen der türkischen Generaldirektion für Frauen belegen zudem, dass jede vierte<br />

Frau durch die Gewalt vom Ehemann oder Partner verletzt und jede zehnte Frau von ihnen<br />

während der Schwangerschaft geschlagen wird. Kommen also Frauen „nur“ mit ein paar<br />

Brüchen oder Messerstichen davon, haben sie Glück.<br />

Der Fall von Güldünya<br />

Andere, wie Güldünya, überleben die Übergriffe der Männer nicht. Allein in den vergangenen<br />

zwei Märzwochen starben zwölf Frauen an zwölf Tagen durch brutale Männer-Attacken,<br />

meldet das unabhängige Medienportal „bianet“.<br />

Güldünya, eine 22jährige Türkin aus der südostanatolischen Stadt Bitlis, wurde von ihrem<br />

Vetter vergewaltigt und kurz nach der Geburt des Kindes von ihrem 20jährigen Bruder erst<br />

auf offener Straße angeschossen, dann in einem Istanbuler Krankenhaus mit einem<br />

Kopfschuss niedergestreckt.<br />

Heute, nach fünf Jahren, beschäftigt die Menschen noch immer der Mord an Güldünya.<br />

Denn Frauen, die der familiären Gewalt ausgesetzt sind, machen dies zumeist nicht<br />

öffentlich. Genau dies aber tat die gleichnamige Fernsehserie „Güldünya“, zu Deutsch<br />

„Blumenwelt“, und brach damit ein gesellschaftliches Tabu. Denn Zwangsverheiratungen,<br />

Misshandlungen, Vergewaltigungen und Ehrenmorde werden noch immer vertuscht oder nur<br />

mit geringen Strafen geahndet.<br />

Ausweg aus der Misere<br />

Weit verbreitet: Die Gewalt von Männern gegen Frauen gehört in vielen Städten der Türkei<br />

noch immer zum traurigen Alltag. Die Initiatoren, die erste Frauennotrufzentrale der Türkei<br />

und der bekannte Privatsender Star TV, ließen sich vom Istanbuler Frauenhaus „Mor Cati“<br />

beraten. Entsprechend authentisch wurden denn auch die Fälle von Misshandlungen in der<br />

Serie nachgestellt.<br />

Sie alle spielten sich zwar in Istanbul ab, hätten aber genauso gut in jeder beliebigen Stadt in<br />

der Türkei stattfinden können. Denn die Notrufnummer, die die Frauen in der Serie wählten,<br />

ist die echte.<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 37<br />

Wie in der Serie selbst, wurde den Frauen nach jeder Sendung geraten „anzurufen, bevor es<br />

zu spät ist“. Somit konnten sich Frauen aus der gesamten Türkei bei der Hotline melden und<br />

sich - wie in der Serie - einen Ausweg aus ihrer Misere zeigen lassen - ein Sozialexperiment<br />

mit großem Erfolg.<br />

Aufwertung der Frauenarbeit<br />

„Nach der Serie liefen unsere Leitungen heiß. Wir bekamen viel mehr Aufmerksamkeit als<br />

wir durch eigene Aktivitäten hätten erreichen können“, resümiert Merve Arbas von der<br />

Hotline.<br />

Und sie lässt sogleich die Zahlen sprechen, die die psychologisch geschulten Frauen sowie<br />

zwei Anwältinnen sieben Tage die Woche rund um die Uhr in der landesweit ersten<br />

„Notrufzentrale gegen innerfamiliäre Gewalt“ seit Oktober 2007 bewältigt haben: 12.900<br />

Anrufe, davon 3.900 verletzte Frauen und Kinder durch familiäre Gewalt, 220 Notfälle und<br />

220 Frauen, die bis ins Frauenhaus begleitet wurden.<br />

Am meisten aber freut sich Arbas über die weitere Sensibilisierung der örtlichen Polizei als<br />

Folge der TV-Serie: „Wir haben 96 Polizeibeamte im Umgang mit Gewalt in den Familien<br />

geschult und die weit verbreitete Ansicht in der Polizei, 'dein Mann liebt dich, wenn er dich<br />

schlägt', hat durch die Serie weiter an Boden verloren.“<br />

Bildung schützt vor Schlägen nicht<br />

Dass Gewalt bildungsunabhängig ist, sprich, Bildung nicht vor Gewalt schützt, ist die<br />

wichtigste Erkenntnis, die die Frauen durch Güldünya gewinnen konnten, erklärt Fatma<br />

Budak vom Frauenhaus „Mor Cati“. Doch das positive Image der Frauenhäuser, das durch<br />

die Serie vermittelt wird - Frauenhäuser, die bis dahin als Gefängnisse verschrien waren -,<br />

erleichtere die Arbeit.<br />

Mit „Güldünya“ ist die Hotlinenummer bis in den Osten des Landes vorgedrungen. Hier, in<br />

der stark benachteiligten und konservativen Region, erhielten auch die unabhängigen<br />

Frauenvereine Anerkennung und Aufwertung ihrer sonst eher müde belächelten Arbeit.<br />

„Hier gibt es noch viele Ehrenmorde, der letzte geschah vor zehn Tagen“, erzählt Emine Baz<br />

vom Frauenverein in Van. „Im Osten eine Frau zu sein, ist viel härter und schwieriger. Mit<br />

‚Güldünya’ merkten die Frauen, dass sie mit ihrem Schicksal nicht alleine dastehen und<br />

etwas machen konnten. “Lediglich die Tatsache, dass in der Serie ein Mann im Frauenhaus<br />

arbeitete, störte sie.<br />

Mangelnde Courage der Frauen?<br />

„Güldünya“-Regisseur Ömür Atay nimmt diese Kritik gelassen auf und verweist auf all die<br />

Jugendlichen und jungen Männer, die im Namen der Ehre all die Morde oder Gewalttaten<br />

ausüben. Weil aber Öffentlichkeit genau das ist, was die Täter nicht wollen, weiß Atay,<br />

warum die Serie trotz großer Resonanz zu wenige Zuschauerzahlen hatte und deswegen<br />

schließlich eingestellt wurde:<br />

„Männer sind nicht nur im Alltag dominant, sondern auch im Fernsehen. Sie wollen sich<br />

nicht negativ dargestellt wissen. Aber entscheidend ist doch auch, dass sich Frauen nicht<br />

durchsetzen können. Ihnen fehlt meist der Mut.“<br />

Eine Frage des Geldes<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 38<br />

Auch wenn das gerade eingesetzte Umdenken sowie gesellschaftliche Aufklärung zum Thema<br />

familiäre Gewalt durch die Einstellung der Serie nun wieder gestoppt wurde, so hat die Serie<br />

doch einiges bewirkt: die Nummer der einzigen Notrufzentrale kennen mittlerweile nicht nur<br />

die türkischen Zuschauer. Auch türkischsprachige Migranten aus Deutschland, Muslime aus<br />

Frankreich, den USA und dem Iran nutzen das Angebot.<br />

Damit aber nicht auch noch die Hotline eingestellt wird, haben sich 13 berühmte<br />

Sängerinnen - wie die Popdiva Sezen Aksu - zusammengetan und die gleichnamige CD<br />

„Güldünya - Lieder von Frauen für Frauen“ herausgebracht.<br />

Das Konzert hierzu brachte der Frauennotrufzentrale 50.000 Euro ein. „Mor Cati“, das<br />

einzige Frauenhaus Istanbuls aber wird geschlossen. Der Grund: die Finanzierung durch EU-<br />

Gelder ist abgelaufen.<br />

Die „24-Stunden-Notrufzentrale gegen innerfamiliäre Gewalt“ (24 saat acik olan aile ici<br />

siddet acil yardim hatti): Tel: 0090-212-596 96 96<br />

© Qantara.de <strong>2009</strong> – dieser Beitrag wird vom Eurasischen <strong>Magazin</strong> mit freundlicher<br />

Genehmigung von Qantara nachveröffentlicht.<br />

*<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 39<br />

MUSIKWETTBEWERB<br />

Eine Ukrainerin singt für Russland<br />

Russland setzt beim Eurovision-Song-Contest nicht auf nackte Haut sondern auf<br />

Ausdruck und lässt dafür sogar eine Nichtrussin antreten.<br />

Von Ulrich Heyden<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

ei der russischen Vorauswahl für den Eurovision Song<br />

Contest gab die Stimmgewaltige Anastasija Prichodko<br />

ihr Letztes. Am Ende ihres Liedes „Mamo“ („Mama“)<br />

hockte die 21jährige auf den Knien im Zwiegespräch mit<br />

ihrer Mutter. „Du hast meine Seele nicht freigelassen“, klagt<br />

sie und schlägt mit der Hand auf den Boden. „Du hast mir<br />

gesagt, ich soll mir nichts wünschen.“<br />

Der Auftritt der schwarz gelockten Ukrainerin, der am<br />

Vorabend des Internationalen Frauentages vom russischen<br />

Pervyj Kanal übertragen wurde, unterschied sich auffallend<br />

von den übrigen Shows, bei denen immer viel nackte Haut<br />

Anastasija Prichodko<br />

zu sehen ist. Die 21jährige Sängerin aus Kiew, die Russland<br />

beim Eurovision Song Contest vertreten soll, trug ein langes schwarzes Kleid. Ganz anders<br />

noch die Ukrainerin Ruslana, die Siegerin vom Eurovision-Song-Contest 2004, die mit<br />

Leder-Flicken und halbnackt über die Bühne fegte.<br />

Eurovision-Finale diesmal in Moskau<br />

Für die Russen ist es dieses Jahr ganz besonders wichtig, wer das Land vertritt, denn das<br />

Finale des Eurovision-Wettbewerbs wird am 16. Mai das erste Mal in Moskau stattfinden.<br />

25 Prozent der russischen Fernseh-Zuschauer stimmten mit Telefon-Anrufen und SMS-<br />

Nachrichten überraschend für die Schwarzgelockte aus Kiew. Die Konkurrentinnen schafften<br />

es nicht: die blonde Walerija bekam nur 14 Prozent. Die Gruppe „Quatro“ wurde mit 12<br />

Prozent abgeschlagen.<br />

Völlig unbekannt ist Anastasija Prichodko in Russland nicht. Die Ukrainerin mit der starken<br />

Stimme hat bereits beim russischen Talentschuppen „Stern Fabrik“ einen Sieg eingeheimst.<br />

Mit dem Lied „Mamo“, das Anastasija (www.anastasya-prihodko.com) auf Russisch singt,<br />

den Refrain aber auf Ukrainisch, will die Sängerin aus Kiew jetzt den Sieg für Russland beim<br />

Eurovision-Song-Contest <strong>2009</strong> holen. „Die russische Auswahlkommission war mit meiner<br />

prinzipiellen Bedingung einverstanden, Mamo in der russischen Vor-Auswahl auf Ukrainisch<br />

und Russisch zu Singen“, erklärte die Sängerin auf einer Pressekonferenz.<br />

In Kiew durchgefallen<br />

Eigentlich wollte Anastasija beim Eurovision-Song-Contest <strong>2009</strong> die Ukraine vertreten. Doch<br />

beim Auswahlverfahren in Kiew fiel Anastasija durch, weil sie ihren Beitrag „Alles für Dich“<br />

auf Russisch sang und nicht wie vorgeschrieben auf Ukrainisch oder Englisch.<br />

Anastasija Prichodko ist Vollblut-Musikerin. Sie hat an der Kiewer Glier-Musik-Hochschule<br />

mit dem Schwerpunkt ukrainische Volksmusik studiert. Sie spielt nicht nur Klavier, sondern<br />

auch Flöte und Gitarre. Schon als 15jährige träumte sie davon, in der ukrainisch-russischen<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 40<br />

Mädchen-Band „VIA Gra“ zu Singen. Nun hat es endlich geklappt. Sie ist ein Star und bald<br />

auch in Europa bekannt.<br />

Dass in Russland nicht alle mit der Wahl der Ukrainerin einverstanden sein würden, war<br />

abzusehen, aber dass plötzlich eine hitzige Debatte um Anastasija aufkommen würde, damit<br />

hatte Niemand gerechnet. Iosif Prigoschin, Producer der russischen Mitbewerberin Walerija,<br />

forderte eine Wiederholung der Wahl. Man müsse „eine andere Person zur Eurovision<br />

schicken“, schimpfte Prigoschin. „Ein Lied, das in der ukrainischen Sprache vorgetragen<br />

wird, hat mit Russland nichts zu tun.“ Haben wir nicht selbst genug gute Sängerinnen? fragte<br />

eine Kommentatorin im russischen Kanal TV Zentr trotzig.<br />

Umstrittene Äußerungen<br />

Die Debatte wurde auch im Internet geführt. Einer der Prichodko-Gegner hatte im Archiv der<br />

russischen Schlager-Sendung „Stern Fabrik“ gesucht und einige hässliche Äußerungen der<br />

Sängerin gefunden. Bei einem Streit in einer Küche hatte Anastasija vor zwei Jahren frech<br />

verkündet, „ich mag keine Neger und Chinesen“. Plötzlich beschuldigten russische Medien<br />

die Sängerin als Rassistin. Doch in einem Interview mit dem Moskauer Massenblatt<br />

Moskowskije Komsomolez erklärte Prichodko, die Äußerungen von damals täten ihr leid.<br />

„Das waren Emotionen, mit denen ich nicht klar gekommen bin.“ Mit Faschismus und<br />

Rassismus habe sie nichts zu tun. „Wie kann man mich des Faschismus bezichtigen, wenn<br />

mein Großvater, Michail Nikititsch Prichodko im Großen Vaterländischen Krieg kämpfte, mit<br />

dem Orden „Für die Eroberung von Berlin“ ausgezeichnet wurde und seinen Namen an den<br />

Reichstag schrieb?“ Im Übrigen verwies die 21jährige darauf, dass ihr Vater Russe, ihre<br />

Mutter Ukrainerin und ihre beste Freundin Jüdin sei.<br />

Jubel bei russischen Kommentatoren<br />

Kreml-nahe Kommentatoren waren von Anfang an begeistert, dass Russland von einer<br />

Ukrainerin vertreten wird. Dass Russland mit einem Lied in der ukrainischen Sprache<br />

vertreten wird, sei „ganz phantastisch, vom politischen Gesichtspunkt aus“, meinte Maksim<br />

Kononenko, Kommentator der Zeitung „Wsgljad“. Im Übrigen sei ja Ukrainisch auch eine<br />

„sehr schöne Sprache“.<br />

Der Eurovision Song Contest ist dieses Jahr also eine hochpolitische Angelegenheit. Während<br />

die Georgier mit einem Schmäh-Lied auf Putin auftreten wollen, ist eine Ukrainerin, die für<br />

Russland singt, nach dem Gas-Streit im Januar ganz nach dem Geschmack des Kremls. Mit<br />

Anastasija kann man zeigen, dass Russland und die Ukraine eigentlich zusammen gehören.<br />

Die Netzseite von Anastasija Prichodko: http://www.anastasya-prihodko.com/<br />

*<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 41<br />

RUSSLAND<br />

Anschlag auf Oppositions-Politiker in Sotschi<br />

Aktivisten der kremlnahen Jugendorganisation Naschi überschütten den<br />

Oppositions-Politiker Boris Nemzow mit einer Ammoniak-Lösung<br />

Von Ulrich Heyden<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

it ängstlicher Stimme meldete sich der russische Oppositions-Politiker am 22. März<br />

im Telefon-Interview mit „Radio Echo Moskwy“ zu Wort. Das sei „kein schönes<br />

Gefühl“ Ammoniak in den Augen zu haben, erklärte der Politiker, der am Montag Morgen<br />

vor seinem Wahlkampfbüro in Sotschi von drei jungen Leuten mit einer Ammoniak-Lösung<br />

übergossen worden war.<br />

Nemzow, der zu den Bürgermeisterwahlen am 26. <strong>April</strong> in Sotschi kandidieren will, meinte,<br />

Moskauer Mitglieder der kremlnahen Jugendorganisation Naschi ständen hinter dem<br />

Anschlag. „Wir haben sie erkannt“, erklärte Nemzow, der in den 1990er Jahren unter Boris<br />

Jelzin Vizepremier war. Die Ammoniak-Lösung gelangte nicht nur auf die Hände von<br />

Nemzow, eine geringe Menge gelangte auch in seine Augen. In dem Radio-Interview erklärte<br />

Nemzow, es gehe ihm den Umständen entsprechend gut, weil er sich die Augen schnell habe<br />

waschen können. Ammoniak wirkt auf feuchte Körperoberflächen ätzend. Wie Ilja Jaschin,<br />

der Wahlkampfhelfer von Nemzow in seinem Blog berichtete, sei der Oppositionspolitiker<br />

zunächst von einem „Provokations-Transvestiten“ abgelenkt worden, der ihm einen Strauß<br />

Rosen überreichen wollte. Unmittelbar darauf habe man Nemzow dann mit der ätzenden<br />

Flüssigkeit übergossen.<br />

Offener Brief an Präsident Dmitri Medwedjew<br />

Nemzow, der für das neue Oppositionsbündnis Solidarnost kandidiert, hatte am Montag in<br />

einem in der Novaya Gazeta publizierten Offenen Brief an Kreml-Chef Dmitri Medwedew,<br />

dringend darum gebeten, dass die Winterolympiade 2014 an verschiedenen Orten Russlands<br />

und nicht nur in Sotschi stattfindet, denn die Urlaubs-Region Sotschi am Schwarzen Meer<br />

werde durch die massiven Bau-Maßnahmen unweigerlich zerstört. Außerdem seien durch die<br />

aufwendigen Verkehrsverbindungen zwischen dem Schwarzen Meer und den Bergen die<br />

Kosten für die Olympiade in Sotschi fünf bis sechs Mal höher als bei den olympischen<br />

Winterspielen in Salt Lake City, Turin und Lillehammer.<br />

Der Anschlag auf Nemzow zeigt: Die Bürgermeisterwahlen in der Olympia-Stadt werden hart<br />

und spannend. Bereits 14 Personen haben ihre Kandidatur angekündigt, darunter weitere<br />

bekannte Politiker, wie der berüchtigte Ex-Geheimdienst-Major Andrej Lugowoi, der seit<br />

Januar 2008 für Schirinowskis Liberaldemokraten in der Duma sitzt. Der 42jährige machte<br />

2006 international Schlagzeilen. Scotland Yard forderte die Auslieferung von Lugowoi. Der<br />

Duma-Abgeordnete steht im Verdacht, den Kreml-Kritiker Aleksander Litwinenko in London<br />

mit radioaktivem Polonium vergiftet zu haben.<br />

Auch Aleksandr Lebedew, der russische Milliardär und Miteigentümer der kremlkritischen<br />

„Nowaja Gaseta“, hat seine Kandidatur für die Wahlen in Sotschi angekündigt. Lebedew, der<br />

zu den gemäßigten Kreml-Kritikern gehört, erklärte in seinem Blog, es hätten sich viele<br />

Bürger aus Sotschi an ihn gewandt, und gebeten, er solle das „große Knäuel brennender<br />

Probleme“ in der Olympia-Stadt lösen helfen.<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 42<br />

GASSTREIT<br />

Russland fühlt sich hintergangen<br />

Weil die EU Kiew bei der Modernisierung seiner Pipelines helfen will und<br />

Russland nicht mit einbezogen wurde, gibt es Protest aus dem Kreml.<br />

Von Ulrich Heyden<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

utin fährt schweres Geschütz auf und warnt vor einer Isolierung Russlands. Kreml-Chef<br />

Dmitri Medwedew setzte die für den 8. <strong>April</strong> in Moskau geplanten russischukrainischen<br />

Regierungskonsultationen aus. Anlass für die Zuspitzung in den Beziehungen<br />

zwischen Moskau auf der einen und der EU und der Ukraine auf der anderen <strong>Seite</strong> ist ein am<br />

Montag in Brüssel im Beisein des ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko und der<br />

ukrainischen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko unterzeichnetes Dokument, nach dem<br />

die ukrainischen Gas-Transit-Pipelines mit einem 1,9-Mrd.-Euro-Kredit der EU modernisiert<br />

werden sollen.<br />

Im Gegenzug sichert die Ukraine zu, dass europäische Investoren Zutritt zu Pipelines und<br />

Gasspeichern in der Ukraine bekommen. Außerdem verpflichtet sich die Ukraine den<br />

nationalen Gasmarkt bis 2011 nach europäischem Vorbild zu modernisieren. Unmittelbar vor<br />

der Unterzeichnung der Deklaration verließen der russische Energie-Minister Sergej<br />

Schmatko und der stellvertretende Gasprom-Chef Waleri Golubew den Saal. Sie erklärten, es<br />

sei sowieso „schon alles entschieden“, Russland sei in das Projekt nicht mit einbezogen<br />

worden. Gasproms Golubew erklärte, die Summe für die Pipeline-Modernisierung sei viel zu<br />

niedrig angesetzt. Die Ukraine brauche insgesamt 16 Milliarden Dollar.<br />

Man darf die Pläne nicht ohne den Gaslieferanten machen<br />

Wladimir Putin drohte der EU: „Wenn die Interessen Russlands ignoriert werden, sind wir<br />

gezwungen, die Prinzipien in unseren Beziehungen zu überdenken.“ Der Plan der<br />

ukrainischen Ministerpräsidentin, den Gas-Transit aus Russland nach Europa durch eine<br />

Modernisierung der ukrainischen Leitungen um 58,6 Milliarden Kubikmeter jährlich zu<br />

erhöhen, bezeichnete der russische Premier als „sinnlos“, da man solche Pläne nicht ohne<br />

den Gas-Lieferanten machen könne. Die Deklaration sei „undurchdacht“ und<br />

„unprofessionell“. Der russische Premier sprach sich dafür aus, das 2002 auf Regierungs-<br />

Ebene bereits vereinbarte Projekt eines Gas-Transport-Konsortiums der Ukraine, Russlands<br />

und der EU weiter zu verfolgen. Dieses Konsortium von Privat-Unternehmen könnte das<br />

Pipeline-Netz von der Ukraine mieten. So blieben die Pipelines Eigentum der Ukraine.<br />

Der Sprecher des russischen Außenministeriums, Andrej Nesterenko erklärte, sobald Schritte<br />

nicht mit Russland abgestimmt seien, erhöhe dies die „technologischen Risiken und mögliche<br />

Unterbrechungen der Gaslieferungen in die Ukraine und nach Europa“.<br />

Die ukrainische Ministerpräsidentin, Julia Timoschenko, wies die Anschuldigungen von<br />

russischer <strong>Seite</strong> zurück. „Vielleicht gefällt Russland irgendetwas nicht. Aber Schachtjor<br />

(ostukrainischer Fußballclub) hat auch ZSKA bei der Fußball-Europa-Meisterschaft besiegt.<br />

Die Ukraine verteidigte nur ihre Interessen.“<br />

Der Konflikt überdeckt den innerukrainischen Machtkampf<br />

Timoschenko erklärte, die Ukraine und die EU beabsichtigten Russland als Partner in das<br />

Programm zur Pipeline-Modernisierung „mit einzubeziehen“. Wenn Gasprom sich an dem<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 43<br />

Programm beteiligen wolle, „können wir das nur begrüßen“. Der EU-Energie-Kommissar<br />

Andris Piebalgs erklärte, man habe nicht die Absicht, die Position von Gasprom in der<br />

Europäischen Union zu schwächen.<br />

Der neue Konflikt zwischen Russland und der Ukraine im Bunde mit der EU überdeckt den<br />

inner-ukrainischen Machtkampf zwischen Juschtschenko und Timoschenko, die bei<br />

Präsidentschaftswahlen Ende des Jahres gegeneinander antreten. Seit Monaten läuft ein<br />

Machtkampf zwischen den beiden Politikern, der mit harten Bandagen geführt wird. So<br />

hatten am 4. März bewaffnete und maskierte Mitarbeiter des ukrainischen Geheimdienstes<br />

SBU auf Anordnung des ukrainischen Präsidenten die Zentrale des ukrainischen Naftogas-<br />

Konzerns besetzt. Sie forderten das Original des Gas-Vertrages mit Russland, der am 20.<br />

Januar nach zweiwöchiger Gas-Blockade im Beisein von Timoschenko unterzeichnet worden<br />

war und die Gaspreise für die nächsten zehn Jahr festlegt. Juschtschenko kritisiert, dass<br />

Timoschenko gegenüber Russland zurückweicht, nicht nur beim Gaspreis, sondern auch im<br />

letzten Jahr beim Krieg in Georgien.<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 44<br />

MAROKKO<br />

Ceuta und Melilla: Die beiden letzten europäischen<br />

Kolonien in Afrika<br />

Sind Ceuta und Melilla Exponate europäischer Fremdherrschaft oder Teile des<br />

„christlichen“ Spaniens?<br />

Von Mohammed Khallouk<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

Am Gebäude der Kathedrale<br />

von Ceuta kann beim genauen<br />

hinsehen noch erkennen, dass<br />

es sich ursprünglich um eine<br />

Moschee gehandelt hat.<br />

er Prozess der Wiedererlangung der Souveränität<br />

Marokkos begann 1956 mit der Beendigung der<br />

französischen Protektoratsherrschaft und dem Abzug<br />

der Spanier aus der Rifregion. Mit dem „grünen Marsch“<br />

von 1975 und einem bilateralen Abkommen mit Spanien<br />

war er nahezu abgeschlossen. Damit war das letzte größere<br />

zusammenhängende Territorium Afrikas von einer<br />

europäischen Kolonialmacht an einen souveränen<br />

afrikanischen Staat übergegangen. Die Spanier behielten<br />

allerdings bis in die Gegenwart zwei Städte an der<br />

nordafrikanischen Mittelmeerküste unter ihrer<br />

Verwaltungshoheit und erklärten diese beiden von<br />

marokkanischem Staatsgebiet umschossenen Enklaven<br />

Ceuta und Melilla zur „espaniolidad“, d.h. zu einem<br />

elementaren Bestandteil der spanischen Nation.<br />

Die Befreiung der Westsahara hatte auf marokkanischer <strong>Seite</strong> den seit dem<br />

Unabhängigkeitskampf gegen die Protektoratsherrschaft bestehenden Anspruch auf diese<br />

beiden Städte als Teile des „ursprünglichen Marokkos“ noch verstärkt. Von Spanien werden<br />

sie stattdessen mit dem Argument, seit Jahrhunderten zum spanisch-christlichen<br />

Zivilisationsgebiet zu zählen und somit keine Kolonien im klassischen Sinne darzustellen, in<br />

der eigenen Obhut belassen. Man stützt sich auf die nicht zu leugnende Tatsache, dass<br />

sowohl in Ceuta als auch in Melilla die spanische Sprache und das katholische Christentum<br />

ebenso wie auf der als „Peninsula“ bezeichneten iberischen Halbinsel die kulturprägenden<br />

Merkmale der Bevölkerungsmajorität darstellten. Von den christlich-spanisch geprägten<br />

Eliten wird eine Identitätsbeziehung in der bewussten Abgrenzung von den „moros“ gepflegt<br />

- einer abwertenden Bezeichnung für Muslime im allgemeinen und Marokkaner im<br />

besonderen.<br />

Christliches Traditionsbewusstsein bestimmt das der Öffentlichkeit vermittelte Stadtbild<br />

während muslimische Rituale sich auf die mehrheitlich von marokkanischstämmiger<br />

Bevölkerung bewohnten Stadtrandviertel beschränken. Vor diesem Hintergrund erscheint<br />

die Klärung der künftigen territorialen Zuständigkeit kaum ohne Widerstände von der einen<br />

oder anderen <strong>Seite</strong> erreichbar. Noch bedeutender erscheint jedoch die Geschichte und ihre<br />

jeweilige Gewichtung zu sein.<br />

Hispanifizierung statt gleichberechtigtes Miteinander der Kulturen<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 45<br />

Die mittelalterliche<br />

Stadtbefestigung auf einem Hügel<br />

der Stadt Ceuta.<br />

Das Kollektivbewusstsein beider <strong>Seite</strong>n knüpft an eine<br />

seit mittelalterlicher Zeit von der Religion dominierte<br />

Identitätspflege an. Sie stammt aus der Zeit der<br />

Kreuzzüge und der Reconquista, der Rückeroberung des<br />

seinerzeit muslimischen Südspaniens durch die<br />

christlichen Dynastien aus dem Norden des Landes im<br />

14. und 15. Jahrhundert. Dem stand ein von<br />

muslimischer <strong>Seite</strong> mystifizierter „islamischer Djihad“<br />

entgegen, der über lange Zeit hinweg die<br />

Wiederherstellung des maurischen al-andalus zum<br />

Fernziel erklärte.<br />

Kaum war die Rechristanierung der Peninsula vollendet, drangen die christlichen Eroberer<br />

Spaniens und Portugals auf den afrikanischen Kontinent vor und errichteten dort<br />

Küstenkolonien. Darunter eben Ceuta, das unter dem Namen Septa bereits zur Römerzeit als<br />

Stadt existierte und seit der Islamisierung 709 ununterbrochen einen arabischen Charakter<br />

besessen hatte. Dazu gehörte aber auch Melilla, eine phönizische Stadtgründung, die über<br />

Jahrhunderte hinweg einen bedeutenden Grenzposten der von Fes aus regierenden<br />

marokkanischen Dynastien dargestellt hatte. Ceuta wurde bereits 1415 von den Portugiesen<br />

erobert und fiel als Ergebnis eines spanisch-portugiesischen Krieges 1668 an Spanien. Melilla<br />

wurde 1497 von Spanien erobert. Die beiden Küstenkolonien dienten zum einen als<br />

Vorposten zur Absicherung des iberischen Hinterlandes gegen die immer wieder<br />

verkündeten arabischen Rückeroberungsbestrebungen, zum anderen aber auch als<br />

Stützpunkte, von denen aus mehrere erfolglose Versuche einer Kolonisierung des<br />

afrikanischen Kernlandes erfolgten.<br />

Marokkanisch-berberische Bevölkerung als Rekruten für die Fremdenlegion<br />

Die touristisch ausgerichtete<br />

Uferpromenade von Ceuta.<br />

Um die christliche Dominanz in den Städten abzusichern,<br />

war Nichtchristen bis Mitte des 19. Jahrhunderts jegliche<br />

Ansiedlung dort untersagt. Konnten Juden und in geringem<br />

Umfang auch Hindus sich nunmehr hier niederlassen, blieb<br />

dies Muslimen sogar bis kurz vor der Wende zum 20.<br />

Jahrhundert verwehrt und auch hernach konnten sie nicht<br />

ins Stadtzentrum ziehen, sondern ihnen wurden neu zu<br />

erschließende Außenbezirke zugewiesen. Erst die Existenz<br />

des spanischen Protektorats (1912-1956) im angrenzenden<br />

Rifgebiet hob die Grenzsicherungsfunktion aus spanischer<br />

Sicht auf. In der Folge zeigten die Behörden sich einer<br />

Immigration der marokkanisch-berberischen Bevölkerung<br />

gegenüber aufgeschlossener und förderten diese sogar in gewissem Umfang. Dies auch<br />

deshalb, weil man die Einwanderer als Rekruten für die Fremdenlegion und als billige<br />

Arbeitskräfte benötigte.<br />

Die räumliche Segregation blieb jedoch weitgehend erhalten und ging mit einer<br />

sozioökonomischen und politischen Segregation einher. Die Muslime blieben auf bestimmte<br />

Wirtschaftssektoren beschränkt, erhielten nicht den kollektiven Zugang zu schulischer<br />

Allgemeinbildung, die sich für die spanisch-christliche Bevölkerung mehr und mehr zur<br />

Selbstverständlichkeit entwickelte. Juristisch als Ausländer angesehen, blieben ihnen zudem<br />

die spanischen Staatsbürgerrechte bis Ende der 1980er Jahre vorenthalten. Erst die<br />

Massenproteste gegen ein 1986 geplantes Ausländergesetz erreichten die Zusicherung,<br />

spanische Ausweise und infolge dessen die vollen Staatsbürgerrechte erlangen zu können.<br />

Das geplante Gesetz hatte vorgesehen, dass die hier bereits seit mehreren Generationen<br />

lebenden Muslime als „Nichtspanier“ ohne bürokratische Hindernisse hätten ausgewiesen<br />

werden können.<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 46<br />

Die Verpflichtung zur Akzeptanz einer von christlichen Ritualen bestimmten<br />

Staatsrechtsordnung erweist sich jedoch nach wie vor als kaum zu überwindende Hürde, da<br />

man sich nicht nur ethnisch und religiös-kulturell als Marokkaner empfindet, sondern die<br />

Städte ebenso als Teil der marokkanischen, an der Scharia orientierten Nation auffasst. Es<br />

handelt sich hierbei um ein Bewusstsein, das in Marokko in der Zivilbevölkerung beständig<br />

aufrecht erhalten wird und von radikalen Islamisten als Zurückweisung jeglicher origin<br />

nichtislamischer Normvorschriften interpretiert wird. Die Massenproteste gegen die<br />

Zementierung der rechtlichen Sonderstellung der Marokkaner über die in den 80er Jahren<br />

geplanten Ausländergesetze, die in den nachfolgenden Jahren, sich nun gegen den<br />

erschwerten Zugang zu staatlicher Ausbildung und soziökonomischen Ressourcen richtend,<br />

in eine Bürgerbewegung hineinmündeten, dienten in Marokko folglich als Legitimation für<br />

die Aufrechterhaltung des Besitzanspruchs auf die beiden spanischen Enklaven.<br />

Spanische Staatsbürgerschaft – Verrat am Islam?<br />

Die alte Festung dient heute<br />

als Restaurant.<br />

Denjenigen Marokkanern, die sich mittlerweile zur<br />

Übernahme der spanischen Staatsbürgerschaft entschieden<br />

haben, wird daher von islamistischer <strong>Seite</strong> nicht selten ein<br />

Verrat am Islam und der marokkanischen Identität<br />

vorgehalten. Zugleich sieht man sich von der christlichen<br />

Stadtbevölkerung dem Vorwurf gegenüber, lediglich die<br />

sozialrechtlichen Vergünstigungen des spanischen Staates<br />

in Anspruch zu nehmen, jedoch keine Bereitschaft zu<br />

zeigen, sich in die „spanisch-christliche Gesellschaft“ zu<br />

integrieren und im Sinne Spaniens zu verpflichten.<br />

Politische Instrumentalisierung und soziale<br />

Ungleichheit erschweren die Lösungssuche<br />

Die divergenten Identitätsbeziehungen, die geographische Lage als von marokkanischem<br />

Territorium umschlossene Enklaven und nicht zuletzt die Instrumentalisierung der nach wie<br />

vor ungeklärten Zukunft der beiden Städte sowohl von <strong>Seite</strong>n der Islamisten als auch<br />

rechtsgerichteter spanischer Eliten für ihre These einer permanenten Rivalität zwischen der<br />

vom Christentum geprägten westlichen und der vom Islam dominierten marokkanischen<br />

Kultur lassen eine endgültige Klärung der politisch-territorialen Zugehörigkeit in absehbarer<br />

Zeit für unausweichlich erscheinen.<br />

Wessen Anspruch auf die Hoheit über die beiden Städte erweist sich nun aber als<br />

rechtmäßig? Beide <strong>Seite</strong>n argumentieren vordergründig mit der Historie, wobei man die von<br />

der anderen Kultur und Religion bestimmte, Jahrhunderte währende Epoche entweder<br />

ignoriert oder für die zivilisatorische Entwicklung der Städte als unbedeutend auffasst. Wird<br />

in spanischen Geschichtsbüchern die arabisch-maurische Epoche, die immerhin fast<br />

siebenhundert Jahre andauerte, nur als kurze „Zwischenphase“ in einer „christlich<br />

dominierten Stadthistorie“ herabgewürdigt, so beginnt in der Darstellung mancher<br />

marokkanischer Historiker mit der Übergabe an Portugiesen und Spanier im 15. Jahrhundert<br />

die „Dekadenz“ und der zivilisatorische „Rückschritt“.<br />

Nach Auffassung vieler christlich geprägter Stadtbewohner, stellen die „moros“ nur eine<br />

geringer gebildete und zivilisierte ethnische Minorität dar, der ein förderlicher Beitrag zur<br />

Stadtkultur abgesprochen wird Vor allem radikale Islamisten unterstellen der christlichen<br />

Majorität generell, dass sie die Nichtchristen kulturell beherrschen und ihrer islamischen<br />

Identität zu distanzieren beabsichtigen. Sie versuchten auf diese Weise die Mitte des 20.<br />

Jahrhunderts offiziell für beendet erklärte Kolonialpolitik fortzusetzen.<br />

Die marokkanischen Nachbarprovinzen profitieren gegenwärtig von den Enklaven, über die<br />

der illegale Warenaustausch mit der EU erfolgt. Der fortdauernde Verweis der<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 47<br />

marokkanischen Regierung auf die „fortbestehenden Kolonien“ wird nicht zuletzt für<br />

Zugeständnisse Madrids und Brüssels in anderen Konflikten wie der illegalen Einwanderung<br />

nach Europa und Handelsstreitigkeiten als Druckmittel eingesetzt. Eine Funktion, die mit<br />

der Eingliederung in den marokkanischen Staatsverband verloren ginge.<br />

Friedliche Bewältigung oder Aufrechterhaltung des Status Quo?<br />

Ceuta und Melilla: Die beiden<br />

letzten europäischen Kolonien in<br />

Afrika<br />

Dennoch belegt gerade jene Instrumentalisierung wie<br />

notwendig die Übergabe dieser beiden letzten von einem<br />

europäischen Staat beherrschten afrikanischen Enklaven<br />

ist. Hinzu kommt, dass durch die Einbeziehung der<br />

Städte als „vollständig integrierter Bestandteil in EU und<br />

NATO“ der Eindruck einer Südbedrohung Europas und<br />

vor allem Spaniens durch die afrikanisch-muslimische<br />

Kultur aufrechterhalten wird. Auf diese Weise erfolgt<br />

gleichermaßen eine Instrumentalisierung für ein exklusiv<br />

verstandenes „europäisches Modell“, das sich gegen<br />

Kultureinflüsse von außen absichern müsse.<br />

Voraussetzung für die Akzeptanz der Übergabe der beiden Enklaven an Marokko bei der<br />

christlich-spanisch geprägten Bevölkerung ist jedoch, dass auf beiden <strong>Seite</strong>n die divergente<br />

Kultur und Religion nicht mehr als Instrument zur Abgrenzung eingesetzt werden kann.<br />

Eventuell erscheint ein Sonderstatus innerhalb des marokkanischen Rechtsgebiets ein<br />

erstrebenswertes Ziel, wie dies gegenwärtig auch für die Westsahara angestrebt wird.<br />

Erfolgreiche Beispiele dieser Art sind zahlreich, nicht zuletzt in Europa, wo ethnische<br />

Minoritäten wie die Südtiroler in Italien weitgehende Autonomie erhalten haben, so dass sie<br />

die Zugehörigkeit zu einem Staat mit mehrheitlich anderer Ethnie und Sprache in keiner<br />

Weise als Benachteiligung sehen. Als entscheidend wird sich allerdings erweisen, ob es<br />

gelingt, dem islamischen wie christlichen Gleichheitsideal entsprechend Chancengleichheit<br />

vor allem hinsichtlich des kollektiven gleichberechtigten Zugangs zu moderner<br />

Allgemeinbildung und beruflicher Karriere herzustellen. Anstatt jährlich Millionen Euro aus<br />

Madrid und Brüssel an Subventionen in die Infrastruktur von zwei jenseits der europäischen<br />

Grenzen gelegene Städte hineinzustecken, von denen nicht einmal alle Stadtbewohner dort<br />

profitieren, könnte man ganz Marokko an moderner Infrastruktur, wie sie in Europa<br />

vorhanden ist, teilhaben lassen. Diese würde den christlichen und muslimischen<br />

Bevölkerungsteilen gleichermaßen dienen und die alte Verbindung der beiden Städte zum<br />

Hinterland für legale Wirtschaftszweige attraktiv werden lassen.<br />

Ein Rückgang der Armutsmigration wie des informellen Sektors wäre ebenso die Folge wie<br />

die Erkenntnis der christlich geprägten Bewohner, dass ihre muslimischen Nachbarn, mit<br />

modernen Ressourcen ausgestattet, gleichermaßen zu Fortschritt und Entwicklung<br />

beizutragen in der Lage sind. Einer Überheblichkeit einhergehend mit der Aufrechterhaltung<br />

eines kolonialen Herrschaftsanspruchs wäre damit die Basis entzogen.<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 48<br />

GELESEN<br />

„Glückseligkeit“ von Zülfü Livaneli<br />

Der bekannte türkische Musiker Zülfü Livaneli hat ein Buch vorgelegt, das ein<br />

Gesellschaftsbild der Türkei in Romanform zeichnet. Zülfü hatte 1971 nach dem<br />

Militärputsch und einer dreimonatigen Gefangenschaft seine türkische Heimat<br />

verlassen müssen. Nach Stationen in Paris, Stockholm und Athen wurde der als<br />

„Poet des friedlichen Aufstandes“ bezeichnete Künstler nach seiner Rückkehr<br />

in die Türkei gefeiert. Sein Buch ist eine eindringlich geschriebene<br />

Emanzipationsgeschichte.<br />

Von Eberhart Wagenknecht<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

uf einer gemeinsamen Reise sieht eine<br />

Schwester das ganze Elend ihres Bruders. Er ist<br />

bereit, sich für demokratische Ideale zu opfern<br />

und, sie wagt es nicht, ihm die Wahrheit ins Gesicht<br />

zu sagen: „Eigentlich hätte sie ihm noch so vieles<br />

sagen wollen, doch sie hatte plötzlich geschwiegen.<br />

Sie hatte ihrem Bruder nicht das Herz schwermachen<br />

wollen und hatte zurückgehalten, was sie sonst noch<br />

bewegte: ‚Liest du keine Zeitungen, schaust du nicht<br />

fern? Überall auf den Titelseiten siehst du nur<br />

Mädchen mit nackten Brüsten, Transvestiten, die als<br />

Sängerinnen auftreten, Huren, die Wasserski fahren<br />

und schamlos lächeln. Das, was du unser Volk nennst,<br />

besteht nicht mehr aus einzelnen Menschen. Es ist<br />

„Glückseligkeit“ von Zülfü Livaneli<br />

wie eine Herde, eine Herde von Versklavten. Keiner<br />

ist mehr eine Persönlichkeit – man hat ihnen die<br />

Selbstachtung und das Ehrgefühl genommen.“<br />

Weder das Volk noch die Regierung schere sich auch nur ein bisschen um die, die für<br />

Demokratie kämpfen wollen, sagte die Schwester. Ihr Bruder und seine Freunde hungerten<br />

sich im Gefängnis zu Tode. Leider nahm dies niemand zu Kenntnis. Ihre Mitstreiter<br />

außerhalb des Gefängnisses gingen hin und töteten Polizeibeamte, die wenig verdienten,<br />

kaum über die Runden kamen. Sie spielten ein blutiges und zugleich sinnloses Spiel.<br />

Doppelmoral und Verlogenheit<br />

Eine bedrückende Szene eröffnet den Roman. Das Mädchen Meryem, deren Mutter bei ihrer<br />

Geburt gestorben ist, wird im Alter von 15 Jahren vom Scheich ihres ostanatolischen Dorfes<br />

vergewaltigt. Klagen ist sinnlos, das weiß sie.<br />

Schon hier zeigt der Autor die Spaltung der türkischen Gesellschaft und zeigt dem Leser<br />

Doppelmoral und Verlogenheit auf. Die Türkei Zülfü Livanelis versucht den Spagat zwischen<br />

beginnender Modernität in der Stadt und einer Rückständigkeit der ländlichen Gebiete, die<br />

für viele Menschen kaum aushaltbar ist.<br />

Während sich Meryem ihrem Schicksal ergibt, träumt ihr Vetter Cemal den Traum einer<br />

unschuldigen Braut. Eine solche Geschichte macht unter den Soldaten die Runde, die in den<br />

Bergen gegen Anhänger der PKK kämpfen. Das Schicksal von Cemal und seinem einstigen<br />

kurdischen Jugendfreund zeigt die Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen, die<br />

ungelöst bleiben.<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 49<br />

Cemal leidet unter der Kälte in den Bergen, hat ständig den Tod vor Augen und seine<br />

Schwester ist zu Hause in den Keller eingesperrt. Sie soll nach dem Willen der Familie<br />

sterben, nachdem sie entehrt worden ist. Als Cemal aus dem Krieg zurückkehrt, soll er sie<br />

nach Istanbul bringen, um sie zu ermorden. Doch dort stoßen die beiden auf eine Türkei, die<br />

ihnen unbekannt ist, und ihre Anschauungen geraten völlig ins Wanken.<br />

Soziologieprofessor mit Midlife-Krise<br />

Die dritte Geschichte innerhalb des Romans rankt sich um den liberalen Soziologieprofessor<br />

Irfan Kurudal aus Istanbul, der seine Midlife-Krise erlebt und die alten Werte der<br />

islamischen Tradition dahinschwinden sieht. Die drei höchst unterschiedlichen Schicksale<br />

von Meryem, Cemal und Professor Kuruda führt Livaneli zu einer Geschichte zusammen. Die<br />

15-jährige Meryem steht im Zentrum. Sie weiß nichts von der Welt, nur dass sie als Frau alle<br />

Schuld auf sich zu nehmen hat. Bis sie erkennt, dass die Welt nicht hinter ihrem<br />

ostanatolischen Dorf endet und ein unumkehrbarer Prozess der Emanzipation beginnt.<br />

An der Ägäis stoßen die drei Personen schließlich aufeinander. Bei jedem von ihnen löst ihre<br />

Begegnung eine Entwicklung aus, die sie herausführt aus der Engstirnigkeit von religiösem<br />

Fundamentalismus, militantem Nationalismus und pseudoliberalen Ansichten. Dieser<br />

Roman um Ehrenmord und Frauenunterdrückung, Pubertät und verblendetem Idealismus<br />

lässt die Widersprüche der heutigen Türkei im Verlauf der ergreifenden<br />

Emanzipationsgeschichte lebendig werden - in schrillen Farben und sanften Tönen und stets<br />

eindringlich geschrieben.<br />

Rezension zu: „Glückseligkeit“ von Zülfü Livaneli, <strong>Verlag</strong> Klett-Cotta, 2008, 309 <strong>Seite</strong>n,<br />

22,90 Euro, ISBN 978-3608937923“.<br />

*<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 50<br />

GELESEN<br />

„Die Rückkehr Asiens. Das Ende der westlichen<br />

Dominanz“ von Kishore Mahbubani<br />

„Vor allem ein Grund ist ausschlaggebend dafür, warum sich der Westen nicht<br />

über die große Demokratisierung des menschlichen Geistes freuen kann: Er ist<br />

sich nur zu deutlich bewusst, dass der große Tag der Abrechnung kommen wird,<br />

wenn sich dieser Trend fortsetzt.“ (Kishore Mahbubani)<br />

Von Johann von Arnsberg<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

„Die Rückkehr Asiens. Das<br />

Ende der westlichen<br />

Dominanz“ von Kishore<br />

Mahbubani<br />

eden Morgen erscheinen noch heute in chinesischen<br />

Kleinstädten die Fäkaliensammler. Dann stehen die<br />

transportablen Toiletten auf den Gehwegen und werden<br />

geleert. Dieses Bild verschwindet nur langsam aus den<br />

Altbauvierteln der Vororte.<br />

Die Vereinten Nationen haben ermittelt, dass trotz allen<br />

Fortschritts immer noch weniger als die Hälfte aller Asiaten<br />

Zugang zu einer Toilette hat. Deshalb sieht Kishore Mahbubani<br />

hierin ein wichtiges Merkmal für die Entwicklung der<br />

asiatischen Gesellschaften.<br />

„Die private Verfügbarkeit von Wasserklosetts könnte der beste<br />

Indikator dafür sein, wie viele der 6,5 Millionen Menschen auf<br />

der Welt noch in vormoderner Zeit leben und wie viele sie<br />

bereits hinter sich gelassen haben. Nach einer offiziellen Schätzung besitzen nur 15 Prozent<br />

der Weltbevölkerung Wasserklosetts.“<br />

Westlicher mittelständischer Wohlstand ist der große Traum<br />

Doch der Aufstieg Asiens ist eindrucksvoll. Für den singapurischen Politikwissenschaftler<br />

Kishore Mahbubani geht das Zeitalter der westlichen Dominanz unaufhaltsam zu Ende. „Die<br />

Zahl der Menschen, die den westlichen Traum von einem bequemen Mittelschichtleben<br />

verfolgen, war noch nie so groß wie heute“, schreibt er.<br />

Und der Autor liefert auch eine Reihe sehr einleuchtender Beispiele für seine Behauptung.<br />

Eines davon im Kapitel „Warum Asien jetzt aufsteigt“: „Als die jungen Leute die Dörfer<br />

verließen, um in Nike-Schuhfabriken zu arbeiten, hatten Haushalte, die daran gewöhnt<br />

waren, mit einem Jahreseinkommen von 467 US-Dollar ihren Lebensunterhalt zu bestreiten,<br />

plötzlich 4300 US-Dollar zur Verfügung“, schreibt er. Deshalb gäbe es in China keine<br />

Antiglobalisierungsbewegung. „Für die jungen Chinesen, die in ihnen arbeiteten, waren die<br />

Nike-Fabriken, die die Globalisierungsgegner der WTO-Tagung in Seattle im Jahr 1999 so<br />

vehement verurteilten, ein Ort der Befreiung. Zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte<br />

konnten sich bäuerliche Chinesen vorstellen, aus der elenden Plackerei des Landlebens<br />

auszubrechen. Für den menschlichen Geist ist nichts befreiender als die Erkenntnis, dass es<br />

eine Hoffnung gibt.“<br />

Bildung als Chance für den großen Sprung<br />

In Asien verlassen Jahr für Jahr mehr Ingenieure die Hochschulen als in allen westlichen<br />

Ländern zusammen. Immer noch gehen fähige junge Leute nach Amerika, aber immer mehr<br />

kommen hinterher, reich an Erfahrungen, zurück in die Heimat, wo sie, wie in Indien, in die<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 51<br />

Informationstechnologie einsteigen. Oder, wie in China, nicht mehr nur kopieren, sondern<br />

für eigene Innovationen sorgen.<br />

Überall in Asien trifft man heute auf Stolz und Selbstbewusstsein, Optimismus und<br />

Zukunftsgläubigkeit – kein Wunder bei wirtschaftlichen Wachstumsraten von beinahe zehn<br />

Prozent in Indien und China. Millionen von Menschen entkommen in jedem Jahr der<br />

Armutsfalle, lernen lesen und schreiben.<br />

Das ganze Buch durchzieht die Forderung nach einer neuen Weltordnung. Die Wiederkehr<br />

Asiens als globaler Spieler bringe Vorteile für die Welt insgesamt. Die asiatische Renaissance<br />

fuße auf europäischen Idealen und Ideen, die zu einer gerechteren Verteilung von Vermögen<br />

und Macht führen könnten.<br />

Mit der Rückkehr Asiens werde die Welt ein Stück friedlicher. Manchmal klingt es bei<br />

Mahbubani so als wolle ganz Asien ein besserer Westen werden. Aber auch der Tatsache<br />

dass Asien nicht länger als Objekt der Geschichte behandelt werden könne, gewinnt der<br />

Autor sehr positive Züge ab. Der Umgang der USA mit der UNO werde dann nicht mehr<br />

länger ein beherrschender sein können. Die militärische Supermacht werde sich mäßigen<br />

müssen. Die westliche Doppelmoral hinsichtlich ihrer demokratischen Ideale ließe sich nicht<br />

auf ewig aufrechterhalten.<br />

Der Politikwissenschaftler aus Singapur hält vielen westlichen Organisationen und Staaten<br />

den Spiegel vor. Sein Blick auf das heraufziehende Asien des 21. Jahrhundert muss indes<br />

niemand Angst machen – auch wenn der Autor ein paar markige Sätze fallen lässt, etwa die<br />

vom „Tag der Abrechnung“.<br />

Rezension zu „Die Rückkehr Asiens. Das Ende der westlichen Dominanz“ von Kishore<br />

Mahbubani, Propyläen <strong>Verlag</strong>, Berlin 2008, 333 <strong>Seite</strong>n, Personenregister,<br />

Abkürzungsverzeichnis und umfangreichen Quellenangaben, 22,90 Euro, ISBN-13: 978-<br />

3549073513.<br />

Siehe dazu auch EM-Interview „Asien nutzt seine Chance!“<br />

*<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 52<br />

GELESEN<br />

„Die Demokratie und ihre Feinde: Wer gestaltet die neue<br />

Weltordnung?“ von Robert Kagan<br />

Das Machtspiel geht weiter. Für den US-Schriftsteller und Polit-Denker Robert<br />

Kagan ist die Welt zum Großmachtnationalismus alter Prägung zurückgekehrt.<br />

Von Rudolf Maresch<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

Robert Kagan, „Die Demokratie und<br />

ihre Feinde: Wer gestaltet die neue<br />

Weltordnung?“<br />

st die Geschichte zu Ende oder nicht? Hat das<br />

Ende des Kalten Krieges eine neue Ära in der<br />

Menschheitsentwicklung eingeläutet? Oder sind<br />

die ehernen Gesetze von Geschichte und Politik, die<br />

Kämpfe um Einfluss, Ansehen und Rang, nach wie<br />

vor intakt? Werden Rivalität und Konkurrenz unter<br />

den großen Mächten auch dieses Jahrhundert<br />

prägen? Oder gibt es Hoffnung auf eine Kantische<br />

Friedensordnung, wo die Weltmächte sich als<br />

gleichwertige Partner achten und ihr Handeln eher an<br />

Recht und Gesetz als an Macht und Stärke<br />

ausrichten?<br />

Eherne Gesetze<br />

Es war Samuel Huntington, der schon bald, nachdem<br />

Francis Fukuyama die Losung vom end of history<br />

ausgegeben hatte, die Idee vom weltweiten Siegeszug<br />

der Demokratie ins Reich der Träume verwies. Trotz einer Vielzahl neuer Demokratien, die<br />

sich im Osten Europas konstituiert hatten, sah er längst neue Bruchlinien und Konflikte am<br />

Horizont, dort, wo unterschiedliche Kulturen aufeinander prallten und sich unversöhnlich<br />

gegenüberstünden.<br />

Und die blutigen Ereignisse in Zentralasien, im Mittleren Osten oder am Kaukasus scheinen<br />

ihm da Recht zu geben. Die Geschichte hatte höchstens eine kleine Auszeit genommen. Diese<br />

„geopolitische Verschnaufpause“, so Robert Kagan, hochgeschätzter Kolumnist des Wall<br />

Street Journal, US-Korrespondent bei der NATO in Brüssel und außenpolitischer Berater<br />

John McCains, vor fünf Jahren in seiner bekanntesten Streitschrift Macht und Ohnmacht, ist<br />

aber spätestens mit dem Angriff auf die Zwillingstürme passé.<br />

Die „neue Weltordnung“, die Fukuyama und Bush-Vater verkündet hatten, sei „Trugbild“<br />

geblieben. Die Erwartung, dass sich die Demokratie zwangsläufig durchsetzen werde, habe<br />

sich nicht erfüllt. Stattdessen sei das „Zeitalter der Geopolitik“ zurückgekehrt und mit ihr<br />

jener „Großmachtnationalismus“, der schon das 19. und 20. Jahrhundert geprägt hat. Im<br />

Brennpunkt stünden wieder politische Interessen, die von Macht diktiert werden, und nicht<br />

Geoökonomie, Ideologieschwund und harmonischer Austausch unter den Nationen.<br />

Den Grund hierfür sieht er im rasanten wirtschaftlichen Aufstieg, den Russland und China<br />

genommen haben. Er zwingt der liberalen Welt einen neuen Antagonismus „welthistorischen<br />

Ausmaßes“ auf. So lautet in etwa die Kernthese seines neuen Essays: The Return of History<br />

and the End of Dreams, der vom deutschen <strong>Verlag</strong> den irreführenden Titel: Die Demokratie<br />

und ihre Feinde bekommen hat.<br />

Demokratie vs. Autokratie<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 53<br />

Nach der schlimmen Erfahrung, die es mit dem Wirtschaftsmodell der Chicago-Boys<br />

gemacht hat, habe Putins Russland seine Liebe zum politischen Kurs des Westens wieder<br />

verloren und sich dem Autokratismus neu verschrieben. Gestärkt durch die Milliarden, die es<br />

aus dem Öl- und Gasgeschäft bezieht, sei das Land zu den Ambitionen einer Großmacht<br />

zurückgekehrt, das globale Interessen und globalem Einfluss an seinen Grenzen verfolge.<br />

Ähnliches gelte für das „Reich der Mitte“. Seitdem China den Turbokapitalismus als neues<br />

Aufbauprogramm entdeckt habe, baue es seine Wirtschaftsmacht und militärischen<br />

Ansprüche stetig aus. Selten habe sich eine Nation derart schwungvoll vom Zustand der<br />

Schwäche in einen Zustand der Stärke entwickelt wie China.<br />

Der wirtschaftliche Höhenflug der Beiden beweise, dass sich Wohlstand und Autokratie<br />

keinesfalls widersprechen müssen. Prosperität und Sicherheit lassen sich herstellen, ohne<br />

dass ein Land gezwungen wird, den Preis politischer Liberalisierung zu zahlen. Damit würde<br />

die alte Rivalität zwischen Liberalismus und Absolutismus neu angeheizt, die man längst für<br />

überwunden gehalten hatte. Sollten sich andere Länder die Erfolge Russlands und Chinas<br />

zum Vorbild nehmen, könnte das zu einem globalen Wettbewerb führen, bei dem der Westen<br />

sein „Monopol auf den Globalisierungsprozess“ gänzlich verlieren könnte.<br />

Um sich für diese ideologische Auseinandersetzung zu wappnen, sollten sich laut Kagan die<br />

großen Demokratien dieser Welt zu einer machtvollen Allianz zusammenschließen. Ein<br />

solcher „Bund der Demokratien“ sollte die UN ergänzen, aber nicht ersetzen. Was diese<br />

„Achse der Guten“ allerdings politisch zusätzlich bewirken sollte; ob Länder wie Indien,<br />

Indonesien oder Japan sich einer solchen US-geführten Liga vorbehaltlos anschließen; und<br />

ob dazu auch so zweifelhafte Demokratien wie Pakistan, Ägypten oder Saudi-Arabien zählen,<br />

darüber schweigt sich der Machtpolitiker beharrlich aus.<br />

Von der Realität geküsst<br />

Wer den politischen Weg des Autors kennt, den werden seine jetzige Haltung, Einstellung<br />

und Positionierung überraschen. Noch vor mehr als zehn Jahren hatte er, zusammen mit<br />

seinem neokonservativen Förderer Bill Kristol, in Foreign Affairs das genaue Gegenteil<br />

verkündet. Seinerzeit war er noch der Ansicht, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die<br />

Welt grundlegend verändert hat. Die USA hätten eine globale Hegemonie erreicht, wie sie<br />

einst nur noch „das alte Rom im Mittelmeerraum innehatte“. Die „Geopolitik“, deren<br />

Rückkehr der Autor nun feiert, hätte sich erledigt, weil die Weltmacht aufgrund ihrer Macht<br />

und Stärke fortan in der Lage wäre, alle „Monster dieser Welt“ zu beseitigen oder zumindest<br />

zurechtzustutzen. Im Focus hatte er damals „Bagdad und Belgrad, Pjöngjang und Beijing“.<br />

Die Unabhängigkeitserklärung, die nicht die Besonderheiten einer Kultur wiedergibt,<br />

sondern universale Geltung beansprucht, lieferte ihm die Berechtigung dafür.<br />

Vom Dreiklang aus Preemption, Regime Change und Demokratie-Export, dem er lange Zeit<br />

gehuldigt hatte, lesen wir nichts mehr. Während am Hindukusch und im Zweistromland<br />

immer noch Kriege toben und US-Soldaten sterben, ist der Machtanalytiker längst zu den<br />

Konfliktfeldern von morgen weitergezogen. Mit keiner Silbe geht Kagan auf den Schlamassel<br />

ein, den die neokonservative Politik im Irak oder in Afghanistan angerichtet hat. Sowohl der<br />

Irak, den er noch 2003 als „historischen Pivot“ bezeichnet hat, als auch den Irak-Feldzug,<br />

den er so leidenschaftlich gefordert und unterstützt hat, werden konsequent ignoriert.<br />

Das neokonservative Geschwätz von gestern, es interessiert ihn nicht mehr. Der<br />

Gipfelstürmer von einst hat längst die <strong>Seite</strong>n gewechselt und ist ins Lager der politischen<br />

Realisten „desertiert“. „Die Realisten“, lesen wir, die Augen verwundert reibend, „hätten ein<br />

wesentlich klareres Verständnis von der unverwechselbaren Natur des Menschen“. Als<br />

Gewährsleute für den Kampf gegen den neuen Autokratismus gelten jetzt die „Realisten“<br />

Henry Morgenthau jr. und der Theologe Reinhold Niebuhr, aber auch Dean Acheson, der als<br />

Vater der Truman-Doktrin und Architekt der US-Containmentpolitik gilt.<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 54<br />

Das Ende des amerikanischen Zeitalters<br />

Trotz aller politischen und militärischen Rückschläge bleiben die USA für Kagan auch<br />

weiterhin die „unverzichtbare Nation“. „Wie leben“, zitiert er einen chinesischen Strategen,<br />

„in einer Welt, in der eine einzige Supermacht und mehrere Großmächte nebeneinander<br />

existieren“. Angesichts des Zerfalls der US-dominierten Finanzweltordnung ist das eine eher<br />

gewagte Behauptung und optimistische Perspektive. Der Rest der Welt sitzt längst nicht<br />

mehr, wie Acheson zu Beginn des Kalten Krieges noch formulieren konnte, „im<br />

Dienstwagen“, während die USA die „Lokomotive an der Spitze der Menschheit“ bilden.<br />

Mit dem Börsencrash steht in Frage, ob „die Sache Amerikas“ wirklich „die Sache der ganzen<br />

Menschheit“ (B. Franklin) ist und die Weltmacht die Hoheit über den Globalisierungsprozess<br />

behalten kann. Vieles spricht dafür, dass er „das Ende des amerikanischen Zeitalters“, das<br />

Fareed Zakaria jüngst prognostiziert hat, nochmals beschleunigt hat.<br />

Rezension zu: Robert Kagan, „Die Demokratie und ihre Feinde: Wer gestaltet die neue<br />

Weltordnung?“, Siedler <strong>Verlag</strong> München 2008, 128 <strong>Seite</strong>n, 16,95 Euro, ISBN-978-<br />

3886808908.<br />

*<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 55<br />

GELESEN<br />

„Der Kaukasus. Geschichte - Kultur – Politik“, von Marie-<br />

Carin von Gumppenberg und Udo Steinbach<br />

Der Kernthese des Buches, dass von einer wirklichen Konfrontation der<br />

Großmächte USA und Russland im Kaukasus keine Rede sein könne, muss mit<br />

aller Vehemenz widersprochen werden. Dennoch kann das von Marie-Carin von<br />

Gumppenberg und Udo Steinbach herausgegebene Buch als eine gute<br />

Überblicksdarstellung empfohlen werden, die ein kaleidoskopartiges Bild vom<br />

„Pulverfass“ Kaukasus und seiner kulturellen Vielfalt liefert.<br />

Von Michail Logvinov und Marcus Lange<br />

EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />

essourcen und geostrategische Absicherung<br />

gegenüber den islamischen Staaten und<br />

Russland sowie umgekehrt gegen die westliche<br />

Vormacht erklären das Engagement der Großmächte<br />

im Kaukasus. Der äußere Einfluss fremder Mächte<br />

gehört zu einer der Konstanten der Entwicklung in<br />

der Kaukasus-Region. Die zweite Variable macht die<br />

innere Entwicklung aus, die in Europa, Amerika und<br />

auch in Russland fehl wahrgenommen oder durch ein<br />

Prisma des spezifischen Teilwissens gesehen wird.<br />

„Der Kaukasus. Geschichte - Kultur -<br />

Politik“ von Marie-Carin von<br />

Gumppenberg und Udo Steinbach<br />

Deshalb machte sich ein Autorenkollektiv des von<br />

Marie-Carin von Gumppenberg und Udo Steinbach<br />

herausgegebenen Buches zur Aufgabe, „das<br />

skizzenhafte, häufig auch überzeichnete Bild vom<br />

Kaukasus mit Fakten zu untermauern oder, wo nötig,<br />

mit Argumenten zurückzuweisen und<br />

Fehlwahrnehmungen beim Namen zu nennen“ (S. 9).<br />

Länder der real existierenden Synthese „Europas“ und „Asiens“<br />

Auf über 250 <strong>Seite</strong>n schildert das hochkarätige Wissenschaftlerteam die Länder der realexistierenden<br />

Synthese „Europas“ und „Asiens“ (Armenien, Georgien, Aserbaidschan) sowie<br />

die Region des Nordkaukasus und die Großmächte Iran und Türkei. Im zweiten Teil des<br />

Buches werden regionale Konflikte - um Abchasien, Berg-Karabach, Südossetien und<br />

Auseinandersetzungen im Nordkaukasus - und konfliktträchtige Situationen analysiert. Ein<br />

dritter Teil widmet sich den vielfältigen Kulturen der kaukasischen Völker.<br />

Die Autoren machen deutlich, der südliche Kaukasus fungiere seit langem als eine „global“ zu<br />

bezeichnende Transitregion, in der die Großmächte ihre Ansprüche geltend machen und um<br />

die Ressourcen wie Transportwege ringen.<br />

Die Strategien der großen „Spieler im Kaukasus“ - zu denen die Autoren die USA und<br />

Russland zählen - seien „nicht nur konträr oder auf eine Konfrontation programmiert.<br />

Jedoch kann man auch nicht von einem kooperativen Verhältnis gesprochen werden“ (S. 10).<br />

„Kontrolle durch Stabilität“<br />

Das Interesse der USA bestünde vorrangig in der Sicherung des Energietransports. Die<br />

Autoren umreißen ihre Politik mit den Worten „Kontrolle durch Stabilität“ (S.10). Die<br />

© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 56<br />

russische Politik - ein Interesse an der „Stabilität durch Kontrolle“ - sei auf die Begrenzung<br />

des amerikanisch-westlichen Einflusses gerichtet.<br />

Während Russland die Schadensminimierung mit deutlich zu erkennbaren „postkolonialen<br />

Phantomschmerzen“ vornehme, betrieben die USA eine breit angelegte Außenpolitik<br />

gegenüber dem Südkaukasus, dem die russische <strong>Seite</strong> kaum Gleichwertiges entgegenzusetzen<br />

habe. Dies sei der Grund, warum Moskau von der Strategie der „kontrollierten Instabilität“<br />

Gebrauch macht, so die Autoren.<br />

Die Politik der EU könne als „Stabilität durch Partnerschaft“ bezeichnet werden. „Sie steht in<br />

einer deutlichen Interessenkonkurrenz mit den USA, hat jedoch ein vitales Interesse an einer<br />

guten Nachbarschaft zu Russland, das für die USA schon aufgrund ihrer geopolitischen<br />

Situation nicht solche Dringlichkeit besitzt“ (S. 11).<br />

Aserbaidschan und Georgien haben den größten Vorteil aus dem Interesse der<br />

westlichen Staatengemeinschaft gezogen<br />

Im Kapitel „Energie und Sicherheit - das „neue Spiel“ um die Ressourcen“ ist nachzulesen,<br />

welch eine große Bedeutung die westlichen Mächte den energiepolitischen Erwägungen<br />

beimessen. So wurde z.B. Armenien aus sicherheitspolitischen Gründen zum Verlierer des<br />

Great Game. Aserbaidschan und Georgien haben den größten Vorteil aus dem Interesse der<br />

westlichen Staatengemeinschaft gezogen. Georgien sei dennoch der eigentliche Gewinner, so<br />

Markus Brach von Gumppenberg (S. 173).<br />

„Als reines Transitland für das kaspische Öl und Gas verfügt es selbst nicht über<br />

nennenswerte ökonomische Gewinne aus dem Ölgeschäft. Für die westliche<br />

Staatengemeinschaft ist jedoch die politische und wirtschaftliche Stabilität dieses Landes von<br />

großer Wichtigkeit“ (ebd.).<br />

Die Kernthese des Buches, dass von einer wirklichen Konfrontation der Großmächte USA<br />

und Russland im Kaukasus keine Rede sein könne, muss mit aller Vehemenz widersprochen<br />

werden. Dennoch könnte das von Marie-Carin von Gumppenberg und Udo Steinbach<br />

herausgegebene Buch als eine gute Überblicksdarstellung empfohlen werden, die ein<br />

kaleidoskopartiges Bild vom „Pulverfass“ Kaukasus und seiner kulturellen Vielfalt liefert.<br />

Rezension zu „Der Kaukasus. Geschichte - Kultur - Politik“ von Marie-Carin von<br />

Gumppenberg und Udo Steinbach, <strong>Verlag</strong> C.H. Beck, 2008, 256 <strong>Seite</strong>n, 12,95 Euro, ISBN<br />

978-3406568008.<br />

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© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>

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