Eurasisches Magazin â April 2009 · Seite 1 © Eurasischer Verlag ...
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© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong><br />
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 1
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong><br />
Die Netzzeitschrift, die Europa und Asien zusammenbringt<br />
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 2<br />
Ausgabe 04-09<br />
2. <strong>April</strong> <strong>2009</strong><br />
Inhalt<br />
ZUR NEUEN AUSGABE .....................................................................................................................3<br />
TERMINE 04-<strong>2009</strong> .........................................................................................................................4<br />
EURASIEN-TICKER 04-<strong>2009</strong>...........................................................................................................6<br />
„ASIEN NUTZT SEINE CHANCE!“ ......................................................................................................9<br />
„KASACHSTAN ZEIGT, DASS WIRTSCHAFTLICHES WACHSTUM NICHT NOTWENDIGERWEISE EINE<br />
DEMOKRATISCHE VERFASSUNG VORAUSSETZT“............................................................................. 14<br />
WIRTSCHAFTSKRISE HAUSGEMACHT UND IMPORTIERT ................................................................. 19<br />
KEINE SPUR VON OSTALGIE ..........................................................................................................23<br />
DER BLICK DER FRAUEN ...............................................................................................................26<br />
ALS GÄBE ES KEIN MORGEN ..........................................................................................................29<br />
GEOMANTIKART VON DER WASSERSCHEIDE..................................................................................32<br />
TV-SERIE „GÜLDÜNYA“ – „RUFEN SIE AN, BEVOR ES ZU SPÄT IST!“ ..............................................36<br />
EINE UKRAINERIN SINGT FÜR RUSSLAND......................................................................................39<br />
ANSCHLAG AUF OPPOSITIONS-POLITIKER IN SOTSCHI .................................................................. 41<br />
RUSSLAND FÜHLT SICH HINTERGANGEN .......................................................................................42<br />
CEUTA UND MELILLA: DIE BEIDEN LETZTEN EUROPÄISCHEN KOLONIEN IN AFRIKA .....................44<br />
„GLÜCKSELIGKEIT“ VON ZÜLFÜ LIVANELI.................................................................................... 48<br />
„DIE RÜCKKEHR ASIENS. DAS ENDE DER WESTLICHEN DOMINANZ“ VON KISHORE MAHBUBANI 50<br />
„DIE DEMOKRATIE UND IHRE FEINDE: WER GESTALTET DIE NEUE WELTORDNUNG?“ VON ROBERT<br />
KAGAN ..........................................................................................................................................52<br />
„DER KAUKASUS. GESCHICHTE - KULTUR – POLITIK“, VON MARIE-CARIN VON GUMPPENBERG UND<br />
UDO STEINBACH ...........................................................................................................................55<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 3<br />
Zur neuen Ausgabe<br />
Von EM Redaktion<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
önnen nichtdemokratische Staaten wirtschaftlich effizient sein? Kann es<br />
autokratischen Regierungen gelingen, sich auf dem Weltmarkt zu behaupten und für<br />
ihre Bevölkerungen Wohlstand zu schaffen? Diese Frage wird gleich in vier Beiträgen<br />
dieser Ausgabe erörtert, obschon dies keinerlei Absicht war. Es hängt vielmehr vor allem mit<br />
der Rolle der asiatischen Staaten zusammen, die wenig demokratisch aber wirtschaftlich<br />
immer erfolgreicher sind.<br />
Im EM-Interview sagt die Expertin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, Dr.<br />
Andrea Schmitz: „Kasachstan zeigt, dass wirtschaftliches Wachstum nicht notwendigerweise<br />
eine demokratische Verfassung voraussetzt“. Die Kasachen seien pragmatisch und vor allem<br />
stabilitätsorientiert. Das wäre ein Grund, weshalb „bunte Revolutionen“ in dem<br />
zentralasiatischen Flächenstaat bislang nicht Fuß fassen konnten. Ein anderer sei die<br />
erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung des Landes und der wachsende Wohlstand breiter<br />
Bevölkerungsschichten. Dies werde in erster Linie der Herrschaft von Präsident Nasarbajew<br />
zugeschrieben und beschere dem Regime ein hohes Maß an Legitimität.<br />
„Asien nutzt seine Chance!“, da ist sich die Wirtschaftswissenschaftlerin Dr. Hanne<br />
Seelmann-Holzmann sicher. Und sie sagt: „Ich bin keinesfalls davon überzeugt, dass die<br />
Demokratie überall ersehnt wird, wie das der Westen unterstellt - Warum soll z.B. die<br />
Mehrzahl der Chinesen an ihrer kommunistischen Regierung zweifeln? - Wenn China im<br />
März <strong>2009</strong> über zwei Billionen US-Dollar an Devisenreserven verfügt, eine Ablösung des<br />
US-Dollars als Leitwährung fordert und dem IWF Kredite geben kann, so sind das einfach<br />
Fakten.“<br />
In den beiden Buchrezensionen „Die Rückkehr Asiens. Das Ende der westlichen Dominanz“<br />
von Kishore Mahbubani und „Die Demokratie und ihre Feinde: Wer gestaltet die neue<br />
Weltordnung?“ von Robert Kagan wird das Thema ebenfalls vertieft.<br />
In einem neuen Beitrag über „Eurasische Spiritualität - Geomantikart von der<br />
Wasserscheide“ berichtet Hans Wagner „Wie man eine neue Beziehung zum Heimatplaneten<br />
Erde herstellt – was die Faszination der Geomantik ausmacht – welche neuen Möglichkeiten<br />
Bücher und Zeitschriften eröffnen – wie durch eine Geomantiklade ganz eigene Kraftorte in<br />
Haus und Wohnung entstehen – was es mit den Geheimnissen vom eurasischen Heidenpfad<br />
auf sich hat.“<br />
Für die kommende Ausgabe haben wir unter anderem eine Rezension zur Neuerscheinung<br />
über „Die Amazonen. Töchter von Liebe und Krieg“ aus dem Theiss-<strong>Verlag</strong> vorgesehen.<br />
*<br />
Ihre EM-Redaktionsmannschaft<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 4<br />
Termine 04-<strong>2009</strong><br />
„Buddhas erbarmungsvoller Helfer“ · „Glanz des Hauses Habsburg.“ · „Die<br />
Türken und die Preußen“ · „Dionysos: Verwandlung und Ekstase“<br />
Von EM Redaktion<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
Berlin bis 19.04.: Ausstellung „Die Glasamphora aus Olbia – Original und Nachbildung“ –<br />
Infos hier<br />
Berlin bis 24.05.: Ausstellung „Transformationen des Mitgefühls – Buddhas<br />
erbarmungsvoller Helfer“ – Infos hier<br />
Berlin bis 01.06.: Ausstellung „Glanz des Hauses Habsburg. Die Medaillen der römischdeutschen<br />
Kaiser und der Kaiser von Österreich 1500 bis 1918“ – Infos hier<br />
Berlin bis 14.06.: Ausstellung „Die Kunst der Interpretation – Italienische<br />
Reproduktionsgraphik von Mantegna bis Carracci“ – Infos hier<br />
Berlin bis 14.06.: Ausstellung „Die Türken und die Preußen: Türkische Kunst, die<br />
Reformen des Osmanischen Reiches und die deutsch-türkische Freundschaft“ – Infos hier<br />
Berlin bis 21.06.: Ausstellung „Dionysos: Verwandlung und Ekstase“ – Infos hier<br />
Berlin bis 26.04.: Ausstellung „Gerettet – Die Inventarbücher der archäologischen<br />
Sammlung des ehemaligen Prussia-Museums in Königsberg“ – Infos hier<br />
Berlin bis 05.07.: Ausstellung „Tuchintarsien in Europa von 1500 bis heute“ – Infos hier<br />
Berlin bis 05.07.: Ausstellung „Die Rückkehr der Götter: Berlins verborgener Olymp“ –<br />
Infos hier<br />
Berlin 09.04. bis 10.08.: Ausstellung „Gandhara – Das buddhistische Erbe Pakistans.<br />
Legenden, Klöster und Paradiese“ – Infos hier<br />
Berlin 06.05. bis 31.08.: Ausstellung „ZeitRäume – Milet in Kaiserzeit und Spätantike“ –<br />
Infos hier<br />
Bonn bis 26.07.: Fotoausstellung „Tschechische Fotografie des 20. Jahrhunderts“ – Infos<br />
hier<br />
Dresden 03.04.: Diavortrag zu einer 25.000 Kilometer langen Reise entlang der<br />
imaginären Grenze zwischen Europa und Asien – Infos hier<br />
Dresden bis 08.04.: Ausstellung „Ganz normale Helden – Schicksale inhaftierter<br />
Oppositioneller in der DDR und der Volksrepublik Polen zu Zeiten des Kalten Krieges“ –<br />
Infos hier<br />
Hamburg bis 30.12.: Ausstellung „Masken der Südsee“ – Infos hier<br />
Hamburg bis 30.12.: Ausstellung „Mit Kamel und Kamera – Historische Orient-Fotografie<br />
1864-1970“ – Infos hier<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 5<br />
Hamburg bis 10.08.10: Ausstellung „Ein Hauch von Ewigkeit. Die Kultur des Alten<br />
Ägyptens“ – Infos hier<br />
Hamburg bis 24.06.11: Ausstellung „Ein Traum von Bali“ – Infos hier<br />
Heidelberg bis 01.06.: Ausstellung „Den Spuren der Götter folgen. Rituale und religiöse<br />
Ästhetik in Orissa“ – Infos hier<br />
Kalkriese/ Detmold ab 15.05.: Ausstellung „Imperium, Konflikt, Mythos. 2000 Jahre<br />
Varusschlacht“ – Infos hier<br />
Köln bis 26.04.: Ausstellung „Feuer und Erde: Chinesische Frühkeramik von 3500 v. Chr.<br />
bis 1400 n. Chr.“ – Infos hier<br />
Köln bis 27.09.: Ausstellung „Kunst des esoterischen Buddhismus“ – Infos hier<br />
Köln 19.06.-15.11.: Ausstellung „Europa brennt: Kunst der Völkerwanderungszeit“ – Infos<br />
hier<br />
Linz 15. bis 29.04.: Ausstellung „Unterwegs: South Caucasus and Europe“ – Infos hier<br />
München bis 02.05.: Ausstellung „ Spuren der Heiligkeit. Mystischer Islam in Pakistan<br />
Fotografien von Lukas Werth“ – Infos hier<br />
München bis 04.10.: Ausstellung „Mazu – Chinesische Göttin der Seefahrt. Kolorierte<br />
Holzschnitte von Lin Chih-hsin. Begleitet von Pilgerstäben des Künstlers Ludwig Denk“ -<br />
Infos hier<br />
München bis 02.05.10: Ausstellung „Sufi-Poster-Art aus Pakistan. Sonderschau in der<br />
Ravi Gallery“ – Infos hier<br />
Selb 16. bis 19.04.: Filmfest: „32. Grenzland-Filmtage“ – Infos hier<br />
Speyer bis 12.07.: Ausstellung „Die Wikinger“ – Infos hier<br />
Wien bis 22.04.-29.03.10: Ausstellung „Japan für alle Jahreszeiten“ – Infos hier<br />
Wiesbaden bis 22. bis 28.04.: Filmfest „Go East – 9. Festival des mittel- und<br />
osteuropäischen Films“ – Infos hier<br />
Wolfsburg bis 24.05.: Ausstellung „Auf der Spitze des Eisbergs. Neue Fotografie aus<br />
Finnland“ – Infos hier<br />
Zürich bis 06.09.: Indien-Ausstellung „Naga – Schmuck und Asche“ – Infos hier<br />
Zürich bis 26.04.: Ausstellung „Drachen, Lotos, Schneelöwen – Teppiche vom Dach der<br />
Welt“ – Infos hier<br />
Zürich bis 24.09: Ausstellung „Geschichten aus der Schattenwelt: Figuren aus China,<br />
Indien und der Türkei“ – Infos hier<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 6<br />
Eurasien-Ticker 04-<strong>2009</strong><br />
Vortrag der Eurasien-Fahrer · Der Peking-Mensch ist viel älter als gedacht ·<br />
Tatort Adria - Vogeljagd auf dem Balkan · China: Junge Dinosaurier rotteten<br />
sich zusammen · 9. goEast - Festival des mittel- und osteuropäischen Films ·<br />
Russland stellt Polar-Streitkräfte auf · Schneller essen in Russland ·<br />
Hunderttausende US-Waffen in den Händen Taliban<br />
Von EM Redaktion<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
Vortrag der Eurasien-Fahrer<br />
EM - Sie haben als erste die imaginäre Linie zwischen Asien und Europa bereist, die man in<br />
der Neuzeit als „Grenze“ bezeichnet. Am Freitag, 3. <strong>April</strong> <strong>2009</strong> um 20.30 Uhr werden<br />
Stefanie Gunkel und Thomas Heinze in der Globetrotter-Filiale in Dresden (World Trade<br />
Center) einen Diavortrag mit Computergestützter Überblendtechnik über ihre 25.000<br />
Kilometer lange Reise halten und ihr Reisebuch vorstellen.<br />
Weitere Infos unter: http://www.heinze-thomas.de/<br />
Der Peking-Mensch ist viel älter als gedacht<br />
EM - Die Überreste des in einer Höhle in China gefundenen Peking-Menschen sind einer<br />
neuen Studie zufolge rund 780.000 Jahre alt und damit 200.000 Jahre älter als Forscher<br />
ursprünglich vermutet hatten. Forscher konnten die Funde aus den 1920er Jahren mit Hilfe<br />
moderner Methoden jetzt neu datieren. Die neuen Erkenntnisse liefern auch Hinweise auf<br />
eine parallele Wanderungsbewegung der Urmenschen durch Eurasien.<br />
Bisher ging die Mehrzahl der Wissenschaftler davon aus, dass Angehörige der Hominiden-<br />
Art Homo erectus, zu der Peking-Menschen gezählt werden, vor etwa zwei Millionen Jahren<br />
von Afrika über die arabische Halbinsel in Richtung des indischen Subkontinents und<br />
entlang der asiatischen Küsten wanderten. Die nun veröffentlichten Erkenntnisse deuteten<br />
darauf hin, dass es eine parallele Wanderungsbewegung durch den eurasischen Kontinent<br />
etwa über das Gebiet des heutigen Georgien gegeben habe, wo der Homo erectus schon vor<br />
1,8 Millionen Jahren angekommen sei.<br />
Tatort Adria - Vogeljagd auf dem Balkan<br />
EM - Es ist wieder soweit. Die Zugvögel kehren aus ihren Winterquartieren im Süden<br />
Europas und aus Afrika zu uns zurück. „Doch wie viele davon tatsächlich ankommen, das<br />
gleicht einem Lotteriespiel“, sagt Prof. Dr. Hartmut Vogtmann, Präsident der<br />
Naturschutzstiftung EuroNatur. „Besonders die Adria-Zugroute entpuppt sich als ein<br />
regelrechter Gefahrenparcour.“ Dies zeigt eine umfassende, von EuroNatur erstellte Analyse<br />
der aktuellen Vogeljagd-Situation auf dem Balkan. Die Veröffentlichung des Berichts ist Teil<br />
der Kampagne „Tatort Adria – Vogeljagd auf dem Balkan“.<br />
Wie groß der Handlungsbedarf ist, zeigen die Ergebnisse des Berichts. „Vogeljäger lauern den<br />
Tieren auf und lassen die östliche Adriaküste jährlich für weit über zwei Millionen Zugvögel<br />
zur Todesfalle werden“, sagt EuroNatur-Projektleiter und Vogelexperte Dr. Martin<br />
Schneider-Jacoby, der maßgeblich an der Erstellung des Papiers beteiligt war. Pro Jäger<br />
fallen mindestens zehn Vögel pro Jahr vom Himmel, und das ist nur die Spitze des Eisbergs.<br />
Hinzu kommt die Dunkelziffer, die auf das Konto von meist italienischen Jagdtouristen und<br />
einer großen Zahl Wilderer geht. Unter den abgeschossenen Arten sind nicht nur seltene<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 7<br />
Wat- und Wasservögel wie Bekassine, Kranich und Löffler, sondern auch für unsere<br />
Kulturlandschaften so typische Arten wie Feldlerche, Wiedehopf und Wachtel lassen hier ihr<br />
Leben. „Wer meint, die Geschehnisse auf dem Balkan wären weit weg, der irrt. Denn wenn an<br />
der Adria die Vögel vom Himmel fallen, wird es auf unseren Äckern still“, warnt Schneider-<br />
Jacoby.<br />
Hintergrundinformationen: http://www.euronatur.org/Daten-Fakten.927.0.html<br />
China: Junge Dinosaurier rotteten sich zusammen<br />
EM - Ein internationales Paläontologenteam hat in der Wüste Gobi in China die Fossilien<br />
von 25 Jungsauriern freigelegt. Die 90 Millionen Jahre alten Versteinerungen stammen von<br />
der Art Sinornithomimus dongi, so die Wissenschaftsredaktion des Deutschlandfunks in der<br />
Sendung Forschung aktuell. Da die Forscher auch fossile Reste von Muschelkrebsen fanden<br />
gehen sie davon aus, dass die drei bis fünf Meter großen Tiere im Morast versunken sind.<br />
Die Anordnung der dicht beisammen liegenden Skelette lässt darauf schließen, dass es sich<br />
um eine Herde handelte, die zeitgleich ums Leben kam, schreiben die Forscher im Fachblatt<br />
„Acta Palaeontologica Polonica“. Sie vermuten, dass sich die halbwüchsigen Dinosaurier in<br />
Gruppen zusammentaten, da sie auf sich allein gestellt waren, während ihre Eltern bereits<br />
wieder mit Paarung, Nestbau und Brutpflege beschäftigt waren.<br />
9. goEast - Festival des mittel- und osteuropäischen Films<br />
EM – Vom 22. bis 28. <strong>April</strong> findet das 9. goEast-Festival in Wiesbaden statt.<br />
Akkreditierungen sind noch bis 15. <strong>April</strong> möglich. Der Ticket-Vorverkauf begann am 30.März<br />
in der Tourist Information in Wiesbaden (0611 / 172 978-0). Einzelkarten für goEast kosten 6<br />
(ermäßigt 5) Euro. Ein Festivalpass, der zum Besuch aller Filme und Veranstaltungen<br />
berechtigt, ist für 40 (35) Euro erhältlich. Tageskarten kosten 16 (12) Euro. Das goEast-<br />
Programmheft <strong>2009</strong> mit allen Informationen: http://www.filmfestival-goeast.de/<br />
Russland stellt Polar-Streitkräfte auf<br />
EM - Der russische Sicherheitsrat plant den Aufbau spezieller Arktis-Streitkräfte für sein<br />
Interessensgebiet am Nordpüol. Das geht aus der neuen russischen Sicherheitsdoktrin für die<br />
Arktis hervor. Dem Grundsatzpapier zufolge sollen die geplanten russischen Arktis-<br />
Streitkräfte in der Lage sein, „die militärische Sicherheit in unterschiedlichen militärpolitischen<br />
Situationen sicherzustellen“. Bis 2016 sollen die Grenzen der russischen Zone am<br />
Nordpol in Verhandlungen mit den fünf Nordpol-Anrainern geregelt werden. Am Nordpol<br />
vermuten Experten 20 Prozent der weltweit noch unerschlossenen Öl- und Gasvorkommen.<br />
Schneller essen in Russland<br />
EM - Im Westen kennt Rostislav Ordovsky kaum jemand. Dabei ist Rostik, wie ihn seine<br />
Freunde nennen, Russlands größter Gastronom – und der einzige, der McDonald’s im wilden<br />
Osten bedrängt, berichtet Gregor Kessler in der „Financial Times Deutschland“.<br />
Experten schätzten die Zahl der Schnellrestaurants in Russland auf etwa 400 – eines pro<br />
350. 000 Einwohner. Etwa 200 davon betreibe McDonald’s, 160 Rostik gemeinsam mit<br />
seinem Partner Yum. Wer hier verdienen wolle, der müsse jetzt investieren, sage Rostik. „Das<br />
ist eine Chance, wie man sie nur einmal im Leben bekommt. Vor einem Jahr waren die guten<br />
Innenstadtlagen unbezahlbar, in zwei Jahren werden sie es wieder sein. Man muss sich in<br />
den nächsten 18 Monaten breitmachen.“<br />
Der Konkurrent McDonald’s täte genau das, berichtet die FTD. „Ende Februar kündigte das<br />
Unternehmen an, <strong>2009</strong> mindestens 40 neue Filialen in Russland zu eröffnen und dafür etwa<br />
120 Millionen US-Dollar zu investieren.“ Russland habe als Fast-Food-Markt ein riesiges<br />
Potential zum Wachsen.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 8<br />
Der Kampf um die Fast-Food-Russen bleibt spannend. „Das Geschäft mit Burgern, Pizza und<br />
frittiertem Hähnchen in Russland ist so vielversprechend wie schwierig. 15 Jahre mühte sich<br />
Kentucky Fried Chicken, im russischen Markt Fuß zu fassen. Der Erfolg war mäßig. Burger<br />
King bekam Ende der 80er-Jahre nach zweijährigen Vorbereitungen doch wieder kalte Füße<br />
– bis heute hat die Burgerkette keine einzige Filiale in Russland.“ Hygienegründe, mangelnde<br />
Infrastruktur, Bürokratie und organisiertes Verbrechen gälten als Hauptprobleme für die<br />
Branche.<br />
Hunderttausende US-Waffen in den Händen Taliban<br />
EM – Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Al Kaida-Kämpfer mit US-Grantwerfern gegen die<br />
Truppen der NATO vorgehen. Die Amerikaner vermissen große Mengen Waffen in<br />
Afghanistan.<br />
Das Kriegsgerät wird in den Händen der Taliban vermutet. Es sind amerikanische Waffen,<br />
mit denen die einheimischen Sicherheitskräfte versorgt wurden. Das geht aus einem Bericht<br />
hervor, den die Untersuchungsbehörde des Kongresses (GAO) in Washington veröffentlichte.<br />
Die vermissten Waffen umfassen ein Arsenal von Maschinengewehren bis zu Granatwerfern.<br />
Insgesamt habe es das US-Verteidigungsministerium aufgrund von Nachlässigkeit und<br />
Personalmangel versäumt, komplett Buch über 87.000 Waffen zu führen, heißt es in dem<br />
Report. Die US-Waffen entsprächen ungefähr einem Drittel aller Waffen, die an die<br />
afghanischen Sicherheitskräfte geliefert worden seien. Ihr Verbleib lasse sich nun nicht mehr<br />
zurückverfolgen. Ebenso unklar sei der Verbleib von weiteren 135.000 Waffen, die den<br />
afghanischen Sicherheitskräften von anderen NATO-Ländern übergeben wurden.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 9<br />
EM-INTERVIEW<br />
„Asien nutzt seine Chance!“<br />
„Chinesen kaufen erstmals mehr Autos als Amerikaner“ – „Chinesen bestellen<br />
für zehn Milliarden Dollar bei deutschen Unternehmen“ – „China ist die letzte<br />
große Volkswirtschaft, die wächst“ - „Asien wird Konjunkturlokomotive der<br />
Welt“: Das sind Schlagzeilen der internationalen Presse aus dem März <strong>2009</strong>.<br />
Wir sprachen mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Dr. Hanne Seelmann-<br />
Holzmann über „Die Rückkehr Asiens und das Ende der westlichen Dominanz“.<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
urasisches <strong>Magazin</strong>: Kishore Mahbubani,<br />
Politikwissenschaftler aus Singapur, hat ein<br />
bemerkenswertes Buch geschrieben mit dem Titel<br />
„Die Rückkehr Asiens: Das Ende der westlichen<br />
Dominanz“. Er sagt: Dass der Westen die Welt zwei<br />
Jahrhunderte dominiert hat, war eine Anomalie der<br />
Geschichte. Ihr Arbeitsfeld ist Asien. Sehen Sie das auch<br />
so?<br />
Hanne Seelmann-Holzmann: Europa erlebte ab dem<br />
16. Jahrhundert eine technisch-industrielle Revolution.<br />
Sie hat verschiedene Ursachen, wie etwa die<br />
Bauernbefreiung oder die Französische Revolution im<br />
politischen Bereich, wissenschaftliche Erkenntnisse und<br />
technische Erfindungen. Diese Entwicklungen wurden<br />
unterstützt durch ein wirtschaftsfreundliches Denken, wie<br />
zum Beispiel das protestantische Arbeitsethos. Die damit<br />
verbundenen wirtschaftlichen Erfolge – zusammen mit<br />
dem grundsätzlichen Überlegenheitsgefühl christlichabendländischen<br />
Denkens - bewirkten, dass der Westen in<br />
den letzten zwei Jahrhunderten eine dominante Macht<br />
war. Mahbubani weist ja darauf hin, dass zwischen dem<br />
10. und dem 15. Jahrhundert die asiatischen Länder, wie<br />
etwa China, Indien oder Japan in wirtschaftlicher Hinsicht<br />
mit Europa gleichauf lagen. Ich sehe allerdings keine<br />
Anomalie der Geschichte in der westlichen Dominanz,<br />
sondern einfach den wirtschaftlichen Vorsprung, bedingt<br />
durch die geschickte Nutzung oben erwähnter Parameter.<br />
Der Westen ist dominant in internationalen<br />
Organisationen<br />
EM: Der Asiate Mahbubani hat eine auffallend sanfte<br />
Diktion für seine uns Westlern gegenüber doch<br />
ungeheuerliche Prophezeiung. Er sagt uns nichts weniger<br />
als den Niedergang voraus und wählt dafür die Worte: Die<br />
Asiaten wollen den Westen nicht dominieren, sondern ihn<br />
imitieren. Wie ist das zu begreifen?<br />
Zur Person: Dr. Hanne<br />
Seelmann-Holzmann<br />
Dr. Hanne<br />
Seelmann-<br />
Holzmann ist<br />
Soziologin und<br />
Wirtschaftswisse<br />
nschaftlerin. Sie<br />
hat eine Reihe<br />
von<br />
Forschungsprojekten zum<br />
Kulturvergleich Asien – Europa<br />
durchgeführt, u. a. finanziert<br />
durch die Deutsche<br />
Forschungsgemeinschaft und<br />
die VW-Stiftung.<br />
Die Wissenschaftlerin bereiste<br />
mehrfach die südostasiatischen<br />
Länder Singapur, Malaysia,<br />
Thailand, Indonesien und<br />
Vietnam. Ihre Studien führten<br />
sie außerdem nach China,<br />
Indien, Japan und Südkorea.<br />
Seit 1994 ist Dr. Seelmann als<br />
selbständige<br />
Unternehmensberaterin tätig.<br />
Dr. Seelmann Consultants<br />
bietet Strategieberatung und<br />
Prozessbegleitung für das<br />
Asiengeschäft. Frau Dr.<br />
Seelmann ist Autorin mehrer<br />
Fachbücher und Gastdozentin<br />
an der International Business<br />
School in Nürnberg.<br />
http://www.seelmannconsultants.de/<br />
Seelmann: Für Mahbubani gehört dazu vor allem die Beseitigung von Hunger und der<br />
Zugang zu Wasser. Zum Beispiel die hygienische Revolution der Wassertoiletten. Allgemein<br />
ist es die Erhöhung materiellen Wohlstandes und damit mehr Wahlmöglichkeiten für das<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 10<br />
eigene Leben und für die nachzuahmenden Dinge. Mahbubani sieht die Europäische<br />
Gemeinschaft als einen Garanten für Frieden zwischen den europäischen Staaten. Auch das<br />
zu imitieren empfiehlt er den asiatischen Nationen. Und dann ermahnt er natürlich den<br />
Westen, die dort so hoch geschätzten demokratischen Werte auch umzusetzen und zum<br />
Beispiel in den internationalen Organisationen wie IWF oder Vereinte Nationen<br />
Führungspositionen endlich mit Vertretern asiatischer oder afrikanischer Staaten zu<br />
besetzen. Das würde eben bedeuten, die westliche Dominanz zu beenden. Mit einem Satz<br />
könnte man sagen: Mahbubani fordert gleiche Rechte in wirtschaftlicher und politischer<br />
Hinsicht auch für die asiatischen Staaten.<br />
EM: Ist das die asiatische Form des Kampfes der Kulturen?<br />
Seelmann: Für mich ist das kein Ausdruck eines Kampfes der Kulturen, sondern einfach die<br />
konsequente Folge neuer weltwirtschaftlicher Machtverhältnisse. Wenn China im März <strong>2009</strong><br />
über zwei Billionen US Dollar an Devisenreserven verfügt, eine Ablösung des US Dollars als<br />
Leitwährung fordert und dem IWF Kredite geben kann, so sind das einfach Fakten. „Wer<br />
zahlt, schafft an“, sagt man auch bei uns. Auch die neue amerikanische Regierung hat<br />
erkannt, dass eine multipolare Weltwirtschaft entstanden ist, die neue politische Strategien<br />
fordert.<br />
Die Legitimität unterschiedlicher Weltsichten<br />
EM: Der US-Amerikaner Samuel Huntington war es, der einen Zivilisationenkampf<br />
vorhersagte. Von Kampf ist bei Mahbubani kaum die Rede, sondern von Friedenskultur, von<br />
Bildung, sozialer Gerechtigkeit, Rechtsstaat und Partnerschaft – alles Begriffe aus dem<br />
westlichen Denken. Will Asien zum besseren Westen aufsteigen?<br />
Seelmann: Die Sichtweise und Prognose Huntingtons erscheint mir als typischer Ausdruck<br />
westlichen Denkens, das stark mit Entweder-oder-Kategorien arbeitet. Deshalb geht es erst<br />
einmal um Kampf, wenn zwei Denksysteme aufeinander treffen – noch dazu wenn eines<br />
davon einen großen Dominanzanspruch hat. Alle asiatischen Philosophien propagieren das<br />
Sowohl-als-auch-Konzept. Sie sprechen anderen Deutungssystemen durchaus Legitimität zu,<br />
anerkennen ein gleichberechtigtes Nebeneinander. Ganz pragmatisch formulierte das einmal<br />
der frühere Premierminister von Singapur, Lee Kuan Yew, als er sagte: „Ihr müsst uns nicht<br />
lieben. Ihr müsst nur mit uns Geschäfte machen.“ Äußerungen von Mahbubani – der ja auch<br />
aus Singapur stammt – sind Ausdruck solcher Einstellungen. Er betont einfach die<br />
Legitimität unterschiedlicher Weltsichten. Und das kann dem Westen ganz schön wehtun,<br />
z.B. wenn er anführt, dass wir es zu akzeptieren haben, wenn ein Land die Scharia als<br />
Grundlage der Rechtssprechung einführt. Ich möchte zum Beispiel nicht akzeptieren, dass<br />
eine vergewaltigte Frau als Täterin dargestellt und dann auch noch zu Tode gesteinigt werden<br />
kann.<br />
Die international tätigen Unternehmen sind nicht zu beneiden<br />
EM: Wie sollte man sich als Westen, als westlicher Unternehmer vor allem, verhalten? Sie<br />
hatten in einem vielbeachteten Interview im Dezember 2004 gesagt: „Was unsere<br />
Unternehmer in China machen, ist Harakiri“. Und was machen unsere Unternehmer heute?<br />
Seelmann: Das ist sehr unterschiedlich. Gerade in China sind westliche Unternehmen<br />
manchmal - auch durch eigene Sorglosigkeit - in eine schlimme Zwickmühle geraten.<br />
Chinesische Partner – und da sind natürlich Ministerien oder Staatsbetriebe am deutlichsten<br />
– fordern offen und vehement technisches Know-How, machen den Technologietransfer zum<br />
Teil zur Bedingung für eine weitere Kundenbeziehung. Einige meiner Kunden sprechen von<br />
Erpressung. Ganz allgemein kann man sagen, dass das wachsende Selbstbewusstsein in<br />
Asien, aber auch in Afrika oder Russland, die Arbeit für die westlichen Unternehmen nicht<br />
leichter macht. Denn sie werden verstärkt in ihrer betrieblichen Organisation Forderungen<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 11<br />
berücksichtigen müssen, wie die nach kulturangepasster Mitarbeiterführung, Vertriebspolitik<br />
etc. Und richtig spannend wird es, wenn es um eine Anpassung ethischer<br />
Unternehmensgrundsätze geht: da ist von Korruption bis zur Akzeptanz von Kinderarbeit<br />
alles zu finden. Die international tätigen Unternehmen sind nicht zu beneiden. Auf der einen<br />
<strong>Seite</strong> sollen sie mit ihrem Engagement Arbeitsplätze in einer hoch exportabhängigen<br />
Volkswirtschaft sichern. Auf der anderen <strong>Seite</strong> wachen gerade im Westen Presse und eine<br />
kritische Verbraucherschaft darüber, dass dies alles politically correct erfolgt. Diesen Spagat<br />
erfolgreich zu meistern wird in den nächsten Jahren die Hauptaufgabe westlicher<br />
Unternehmen darstellen.<br />
„Im interkulturellen Handeln werden sich die westlichen Menschen aufgrund<br />
ihrer Denkstrukturen, aber auch ihrer politischen Überzeugungen schwer tun,<br />
Zusammenarbeit für beide Partner befriedigend zu definieren“<br />
EM: „Yes we can“ kann eigentlich kaum mehr jemand hören – es erinnert angesichts der<br />
Situation des Westens inzwischen eher an das Pfeifen im Walde. Mahbubani schreibt, der<br />
Westen verliert seinen Optimismus. Hat er Recht?<br />
Seelmann: Wir wissen ja, dass es in Bezug auf die Optimismusausprägung auch im Westen<br />
Unterschiede gibt. Die politischen oder wirtschaftlichen Kräfte im Westen, die das Ausmaß<br />
der globalen Veränderungen erkannt haben, sind zumindest verunsichert. Denn wir waren ja<br />
in den letzten Jahrhunderten eher in der Durchsetzung unserer Werte und Lösungswege<br />
geübt, als darin, mit anderen starken Partnern friedlich verhandeln zu müssen. Der<br />
Paradigmenwechsel, der von einigen Wissenschaftlern prognostiziert wird, muss gar nicht so<br />
dramatisch ausfallen. Es geht zuerst einmal darum, die Schnittmengen interkulturellen<br />
Handelns - z.B. in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit - für beide Partner befriedigend zu<br />
definieren. Und da werden sich die westlichen Menschen aufgrund ihrer Denkstrukturen,<br />
aber auch ihrer politischen Überzeugungen schwer tun. Manchmal denke ich ganz<br />
optimistisch, dass man in den USA die besten Voraussetzungen für die Bewältigung dieser<br />
Aufgabe geschaffen hat, indem man einen Präsidenten mit afrikanischen Wurzeln,<br />
Kenntnissen des Islams, aufgewachsen in den USA, Indonesien und Hawaii wählte.<br />
EM: Vielleicht. Optimismus scheint jedenfalls längst die bevorzugte Bewusstseinsverfassung<br />
Asiens zu sein. Die Zahl der Menschen, die den westlichen Traum von einem bequemen<br />
Mittelschichtleben verfolgen, war noch nie so groß wie heute, schreibt Mahbubani. Wie<br />
kommt das?<br />
Seelmann: Viele Menschen in Asien erleben eine historisch einmalige Situation. Noch nie<br />
hatten sie – auch in China! – so viele Möglichkeiten, ihre materielle Situation aus eigener<br />
Kraft zu verbessern. Wir sehen, dass viele Menschen in China, Südostasien, früher bereits in<br />
Japan, diese Chancen mit beiden Händen nutzen. In Indien profitieren bisher am meisten die<br />
privilegierten Schichten von der wirtschaftlichen Öffnung. Dort ist das Kastenwesen nach wie<br />
vor ein Hemmschuh für gleichberechtigte Teilnahme am wirtschaftlichen Fortschritt.<br />
„Der Leistungsanspruch, aber auch die persönliche Leistungsbereitschaft der<br />
Kinder, kann überhaupt nicht mit dem verglichen werden, wie das im Westen<br />
größtenteils praktiziert wird“<br />
EM: Liegt es möglicherweise auch daran, dass Asiaten heute bereit sind, sich dafür mehr<br />
anzustrengen? Während im Westen oft Bildungsanforderungen zurückgenommen werden,<br />
um den Nachwuchs nicht überzustrapazieren, scheint dies in Asien kein Problem zu sein?<br />
Seelmann: Vor allem in den konfuzianisch geprägten Ländern, also China, Taiwan, Korea,<br />
Japan, Singapur, wird eine gute Ausbildung der Kinder nach wie vor – oder sogar verstärkt –<br />
als Schlüssel für den wirtschaftlichen Erfolg gesehen. Und der Leistungsanspruch, aber auch<br />
die persönliche Leistungsbereitschaft der Kinder, kann überhaupt nicht mit dem verglichen<br />
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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 12<br />
werden, wie das im Westen größtenteils praktiziert wird. Ich bin aber auch gegen eine<br />
Glorifizierung des intellektuellen Leistungsvermögens in diesen asiatischen Ländern.<br />
Bestimmte Fähigkeiten wie eigenständiges, kreatives, innovatives Denken können aufgrund<br />
des Schulsystems nicht selbstverständlich erwartet werden. Ich wünsche mir auch hier, dass<br />
wir uns auf unsere Stärken besinnen und den Kindern vermitteln, wie viel Spaß Leistung<br />
macht. Wir sollten allerdings öfter an die auch im Westen bekannte Erziehungserfahrung<br />
denken: „Wer dich schont, betrügt dich!“<br />
„Ich bin keinesfalls davon überzeugt, dass die Demokratie überall ersehnt wird,<br />
wie das der Westen unterstellt“<br />
EM: Wenn der Geist der Demokratisierung stärker wird und immer mehr Menschen ihr<br />
Schicksal in die eigenen Hände nehmen, werden sie in zunehmendem Maß die<br />
undemokratische Weltordnung, in der sie leben, in Frage stellen. Also die westliche. Diese<br />
Voraussage Mahbubanis gipfelt in dem Satz, dass „der Tag er Abrechnung“ kommen wird.<br />
Wie kann man sich diesen Tag vorstellen?<br />
Seelmann: Ich bin keinesfalls davon überzeugt, dass überall die Demokratie ersehnt wird,<br />
wie das der Westen unterstellt. Warum soll z.B. die Mehrzahl der Chinesen an ihrer<br />
kommunistischen Regierung zweifeln? Und wenn ich mir die Wahlbeteiligung in Europa<br />
oder den USA ansehe, ebenso wie das politische Wissen von Normalbürgern, dann frage ich<br />
mich, wie weit auch hier Anspruch und Realität auseinanderklaffen. Manchmal tauchen in<br />
Mahbubanis Buch solche martialischen Töne auf. Ich hatte oft den Verdacht, dass diese<br />
Formulierungen eher den absatzsteigernden Zweck hatten, Aufmerksamkeit bei der<br />
westlichen Presse zu erzielen. Ich glaube nicht, dass man in Asien die „Abrechnung“ mit dem<br />
Westen anstrebt. Man will einfach die eigene wirtschaftliche, vielleicht auch politische<br />
Position stärken und weiter ausbauen. Der Westen kann so lange davon profitieren, so lange<br />
er für dieses Ziel nützlich ist und z.B. technologische Lösungen anbieten kann. Sorgen wir<br />
also dafür, dass uns viele Länder der Welt noch lange brauchen!“<br />
„Ich würde jedem Studenten einen Studienaufenthalt in Asien empfehlen“<br />
EM: Angesichts der sanften Sicht Mahbubanis dürfen wir wohl zugrundelegen, dass damit<br />
nicht die Vergeltung für Hiroshima und Nagasaki gemeint ist. Aber vielleicht werden in nicht<br />
allzu ferner Zeit europäische Bildungsbürger beginnen, ihre Kinder auf Hochschulen in<br />
Peking, Singapur oder Mumbai zu schicken, statt wie gewohnt auf britische Internate oder<br />
auf amerikanische Colleges, wie unser Autor Rudolf Maresch geschrieben hat. Halten Sie das<br />
auch für realistisch?<br />
Seelmann: Gegenwärtig sehe ich keine chinesischen oder indischen Eliteuniversitäten. Auf<br />
dieser Ebene dominiert nach wie vor der Westen. Ich würde aber unabhängig davon jedem<br />
Studenten einen Studienaufenthalt in Asien empfehlen, damit er die Dynamik und den<br />
Aufstiegswillen von zweieinhalb Milliarden Menschen hautnah erlebt. Gerade zukünftige<br />
Führungskräfte müssen frühzeitig begreifen, dass der Nabel der Welt nicht mehr nur im<br />
Westen liegen wird.<br />
EM: Maresch meint, dass westliche Eltern dies nicht nur deshalb tun werden, weil sie dort<br />
eine bessere Ausbildung für ihre Sprösslinge erwarten, sondern auch, weil sie sich mehr und<br />
besser mit russischen, chinesischen oder indischen Lebensweisen oder Gewohnheiten<br />
bekannt und vertraut machen können. Ist das unsere ideale Bildungszukunft – lernen von<br />
Asien - und nicht mehr die bisher favorisierten westlichen Institute und Universitäten?<br />
Seelmann: Es gibt viel, was Kulturen voneinander lernen können. Ich arbeite gerade an<br />
einem Buch, das sich auch mit dem Thema der Kulturintelligenz beschäftigt.<br />
Kulturintelligenz ist für mich eine Kombination aus interkultureller Kompetenz und<br />
zusätzlich der Fähigkeit, die Synergieeffekte unterschiedlicher Kulturen konkret nutzen zu<br />
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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 13<br />
können. Dies wird der entscheidende Wettbewerbsvorteil in der multipolaren Welt sein, nur<br />
so können wir alle Chancen nutzen. Ich rate also den jungen Leuten: schwärmt aus! Dieses<br />
Motto hat übrigens die chinesische Regierung für ihre chinesischen Unternehmen<br />
ausgegeben.<br />
EM: Frau Seelmann, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.<br />
Siehe auch: Gelesen „Die Rückkehr Asiens: Das Ende der westlichen Dominanz“.<br />
*<br />
Das Interview führte Hans Wagner<br />
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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 14<br />
EM-INTERVIEW<br />
„Kasachstan zeigt, dass wirtschaftliches Wachstum<br />
nicht notwendigerweise eine demokratische Verfassung<br />
voraussetzt“<br />
Im EM-Interview sagt die Expertin der Berliner Stiftung Wissenschaft und<br />
Politik, Dr. Andrea Schmitz: „Kasachstan zeigt, dass wirtschaftliches Wachstum<br />
nicht notwendigerweise eine demokratische Verfassung voraussetzt“. Die<br />
Kasachen seien pragmatisch und vor allem stabilitätsorientiert. Das wäre ein<br />
Grund, weshalb „bunte Revolutionen“ in dem zentralasiatischen Flächenstaat<br />
bislang nicht Fuß fassen konnten. Ein anderer sei die erfolgreiche<br />
Wirtschaftsentwicklung des Landes und der wachsende Wohlstand breiter<br />
Bevölkerungsschichten. Dies werde in erster Linie der Herrschaft von Präsident<br />
Nasarbajew zugeschrieben und beschere dem Regime ein hohes Maß an<br />
Legitimität.<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
Dr. Andrea Schmitz<br />
urasisches <strong>Magazin</strong>:<br />
Kasachstan wurde schon<br />
zu Zeiten von<br />
Bundeskanzler Schröder als<br />
wichtiger Partner in<br />
Zentralasien betrachtet und<br />
gefördert. 2007 konnte<br />
Präsident Nasarbajew<br />
verkünden, Kasachstan sei kein<br />
Entwicklungsland mehr. Was<br />
ist das kasachische<br />
Erfolgsrezept im Vergleich zu<br />
anderen Staaten Zentralasiens?<br />
Andrea Schmitz: Beträchtliche Erdölreserven und eine<br />
frühe wirtschaftliche Liberalisierung, die es ermöglichte,<br />
Ausländische Direktinvestitionen in größerem Umfang ins<br />
Land zu holen und die Wirtschaft zu modernisieren.<br />
Wachsender Wohlstand, politische Stabilität und eine<br />
pragmatisch-proaktive Außenpolitik - das sind die drei<br />
entscheidenden Erfolgsfaktoren. Diese Kombination<br />
unterscheidet Kasachstan von den anderen Staaten in<br />
Zentralasien.<br />
Zur Person: Dr. Andrea<br />
Schmitz<br />
Dr. Andrea Schmitz ist<br />
wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
der Forschungsgruppe Russland<br />
/ GUS an der Berliner Stiftung<br />
Wissenschaft und Politik (SWP)<br />
und befasst sich mit den Staaten<br />
Zentralasiens.<br />
Sie hat die Region intensiv<br />
bereist und war von 1997-2002<br />
für das Goethe Institut und den<br />
Deutschen Akademischen<br />
Austauschdienst in Kasachstan<br />
tätig.<br />
Zuvor vertrat Schmitz das<br />
Arbeitsgebiet Zentralasien als<br />
wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
und Lehrbeauftragte am Institut<br />
für Ethnologie der Universität<br />
München.<br />
EM: Kasachstan ist ein stabiles Land, sagten Sie.<br />
Allerdings kein demokratisches. In der Astaner<br />
Präsidialrepublik haben Nasarbajew und seine Partei<br />
„Leuchtendes Vaterland“ allein das Sagen. Ist Kasachstan<br />
ein Beispiel dafür, dass auch Nicht-Demokratien durchaus<br />
effizient sein können?<br />
Ihre Publikationen befassen<br />
sich mit den wirtschaftlichen<br />
und politischen Entwicklungen<br />
in Zentralasien und mit der<br />
europäischen, amerikanischen<br />
und russischen Politik in dieser<br />
Region.<br />
Schmitz: In wirtschaftlicher Hinsicht auf jeden Fall. Das gilt aber nicht nur für Kasachstan.<br />
Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass wirtschaftliches Wachstum nicht notwendigerweise<br />
eine demokratische Verfassung voraussetzt. Denken Sie an China, oder einige der<br />
ostasiatischen "Tigerstaaten" - an denen sich Kasachstan im Übrigen auch orientiert.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 15<br />
„Es ist unsicher, ob das staatliche Stabilisierungsprogramm ausreicht, um die<br />
Wirtschaft zu reanimieren bzw. das erreichte Niveau langfristig zu halten“<br />
EM: Und wie sieht es aus beim privaten Wohlergehen der kasachischen 15-Millionen-<br />
Bevölkerung?<br />
Schmitz: Die Verteilung des Reichtums ist in Kasachstan ausgeglichener als in den<br />
Nachbarstaaten. Das Durchschnittseinkommen ist höher und die Armutsraten sind niedriger<br />
als in den anderen zentralasiatischen Republiken. Es ist aber keinesfalls gewiss, dass das so<br />
bleibt, denn Kasachstan ist von der internationalen Finanzkrise hart getroffen. Die ersten<br />
Auswirkungen zeigen sich bereits in Gestalt von Konkursen und wachsender Arbeitslosigkeit,<br />
gerade auf dem Niedriglohnsektor: auf dem Bau, beim Kleinhandel und in der<br />
Landwirtschaft. Und seit der Abwertung der nationalen Währung gegenüber dem US-Dollar<br />
im Februar sind die Preise kräftig nach oben gegangen. Es ist unsicher, ob das staatliche<br />
Stabilisierungsprogramm ausreicht, um die Wirtschaft zu reanimieren bzw. das erreichte<br />
Niveau langfristig zu halten.<br />
EM: Kann man sagen, dass bei der kasachischen Bevölkerung zumindest derzeit das Streben<br />
nach Prosperität und privatem Wohlstand die Sehnsucht nach demokratischen Verhältnissen<br />
überdeckt?<br />
Schmitz: Unbedingt. Doch das ist andernorts nicht viel anders. Im Gegensatz zu den<br />
Kasachen sind wir allerdings an demokratische Verhältnisse gewöhnt. Die grundlegenden<br />
Menschen- und Bürgerrechte sind in unserem System fest verankert - und vor allem wirksam<br />
einklagbar. Dem ist in Ländern wie Kasachstan nicht so. Demokraten haben es dort schwer.<br />
„Kasachstan beansprucht zunehmend mehr Mitsprache in internationalen<br />
Organisationen“<br />
EM: Die Staatsoberhäupter Deutschlands und Kasachstans, Köhler und Nasarbajew, haben<br />
für das Jahr <strong>2009</strong> ein „Kasachstan-Jahr“ in Deutschland und für 2010 ein „Deutschland-<br />
Jahr“ in Kasachstan ausgerufen. 2010 wird Kasachstan außerdem mit dem OSZE-Vorsitz<br />
international ins Rampenlicht treten. Ist das Land ein verlässlicher Partner für den Westen,<br />
obwohl es keine Demokratie ist?<br />
Schmitz: Wenn man nicht zu viel erwartet: ja. Grundsätzlich haben beide <strong>Seite</strong>n ein starkes,<br />
nicht nur wirtschaftlich motiviertes Interesse an einander. Kasachstan beansprucht<br />
zunehmend mehr Mitsprache in internationalen Organisationen und muss dafür bei den<br />
Europäern um Unterstützung werben. Dies führt fast automatisch dazu, dass sich die<br />
Beziehungen mit dem Westen vertiefen und man sich in Bereichen gemeinsamen Interesses<br />
an einander annähert.<br />
EM: Kasachstan will in den nächsten 5 bis sechs Jahren zu den 50 wettbewerbsfähigsten<br />
Staaten der Welt aufschließen. Wie stehen die Chancen dafür?<br />
Schmitz: Hier hat sich Kasachstan ein sehr hohes Ziel gesteckt. Ob es erreicht wird, hängt<br />
stark davon ab, ob es gelingen wird die Auswirkungen der Finanzkrise möglichst rasch<br />
aufzufangen. Und es hängt auch davon ab, wie sich die Weltwirtschaft insgesamt in den<br />
nächsten Jahren entwickelt. Die Finanzkrise markiert eine Zäsur und ich nehme an, dass sich<br />
auch in Kasachstan die wirtschaftliche Entwicklung verlangsamen wird. Die bestehenden<br />
Zeitpläne sind nicht mehr realistisch.<br />
„Die bedeutenden Rohstoffvorkommen des Landes sind sein größter Trumpf,<br />
aber auch seine Achillesferse“<br />
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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 16<br />
EM: Wo liegen Kasachstans Schwachstellen?<br />
Schmitz: Die bedeutenden Rohstoffvorkommen des Landes sind sein größter Trumpf, aber<br />
auch seine Achillesferse. Die Abhängigkeit vom Rohstoffexport macht die Wirtschaft<br />
verwundbar. Aus diesem Grund hat Kasachstan ein Diversifizierungsprogramm aufgelegt,<br />
um vor allem Industrie, Dienstleistungsgewerbe, Infrastruktur und Tourismus<br />
voranzubringen. Westliche Anbieter von Maschinen, Ausrüstungen und technischem Know<br />
How haben hier Chancen. Aber sehr weit gediehen ist das Diversifizierungsprogramm bisher<br />
nicht, die Projekte stagnieren. Ein weiterer Schwachpunkt ist die Korruption. Sie behindert<br />
nicht nur die Entwicklung des kleinen und mittleren Unternehmertums, sondern stellt auch<br />
für ausländische Unternehmen ein Investitionsrisiko dar.<br />
„Die Kasachen machen längst nicht mehr alles, was ihnen westliche Berater<br />
nahe legen“<br />
EM: Interessant wäre dazu noch ein historisches Faktum. Stand eigentlich Kasachstan in<br />
den 90er Jahren, als es wirtschaftlich nicht so gut lief und Geldentwertung dem Land<br />
zusetzte, auch unter starkem westlichen Beratungsdruck wie seinerzeit Russland beim Rubel-<br />
Absturz?<br />
Schmitz: Mit der wirtschaftlichen Privatisierung in den frühen 1990er Jahren kamen die<br />
Investoren, und denen folgten, wie immer, die Berater, vor allem aus den angelsächsischen<br />
Ländern. Da gibt es durchaus Parallelen zu Russland unter Jelzin. Inzwischen ist man aber in<br />
Astana erheblich selbstbewusster geworden. Die Kasachen machen längst nicht mehr alles,<br />
was ihnen westliche Berater nahe legen. Im Gegenteil, inzwischen ist eine gewisse<br />
Beratungsresistenz zu konstatieren, die durch die gegenwärtige Krise noch verstärkt wird.<br />
Man neigt ja in den ehemals sowjetischen Gefilden stark dazu, die Finanzkrise als Symptom<br />
für die generelle Schwäche des westlichen Systems zu werten und Verantwortung<br />
entsprechend zu externalisieren. Das ist zwar begreiflich, und ersteres ist auch in der Sache<br />
nicht falsch, doch man vergisst darüber gelegentlich, dass die postsowjetischen Eliten an den<br />
Dienstleistungen der Consultants, wie sie sich nennen, sehr gut verdient haben. Et vice versa<br />
natürlich.<br />
EM: Der Titel ihres aktuellen Beitrags für die Stiftung Wissenschaft und Politik „Kasachstan:<br />
Neue Führungsmacht im postsowjetischen Raum?“ ist mit einem Fragezeichen versehen.<br />
Welche Chancen bestehen für das Land, sich als Führungsmacht zu etablieren?<br />
Schmitz: Diesem Ziel steht eine ganze Reihe von Hindernissen entgegen. Führungsmächte<br />
definieren sich, erstens, durch ihre hardpower, also ihre militärische und wirtschaftliche<br />
Ausstattung. Zweitens durch ihre Leistungen im regionalen Umfeld, als Vermittler in<br />
Konflikten etwa, oder als Initiatoren von regionalen Kooperationsprojekten. Ein drittes<br />
Kriterium sind ordnungspolitische Leistungen und ideelle Konzepte, die auf das Umfeld<br />
ausstrahlen und das Land zu einem attraktiven Partner für die Nachbarstaaten machen. In<br />
all diesen drei Bereichen sind Kasachstans Kapazitäten eingeschränkt: Die Wirtschaft ist<br />
verwundbarer als es schien, und mit den militärischen Kapazitäten ist es nicht sonderlich<br />
weit her. Das regionale Umfeld ist ein großes Problem. Kasachstan hat sich zwar immer<br />
wieder stark gemacht für die regionale Zusammenarbeit, aber die Staaten des<br />
postsowjetischen Umfeldes, vor allem in seinem zentralasiatischen Teil, haben sich seit ihrer<br />
staatlichen Unabhängigkeit so unterschiedlich entwickelt, dass man gerade in Bezug auf die<br />
drängendsten Probleme der Region, wie etwa die Nutzung und Verteilung des Wassers, kaum<br />
zu einer gemeinsamen Position findet. Die Verhandlungsmacht Kasachstans ist hier<br />
eindeutig begrenzt, das konzeptionelle Angebot zu mager, um die Nachbarn zu überzeugen.<br />
Auch die kasachischen Banken vergaben großzügige Kredite und stecken nun<br />
selbst in der Klemme<br />
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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 17<br />
EM: Kasachstan engagiert sich heute als Investor in Nachbarländern wie Kirgisien und<br />
Georgien – wird es dadurch nicht zu einem Führungsstaat per excellence in der Region?<br />
Schmitz: Kaum. Dass Kasachstan in seiner Nachbarschaft zunehmend selbst als Investor<br />
auftritt, ist allerdings eine sehr interessante Entwicklung, die eine weit reichende Integration<br />
der kasachischen Ökonomie in die Weltwirtschaft bezeugt. Zwischen 2004 und 2007 sind die<br />
kasachischen Direktinvestitionen in Kirgisien von 16 Millionen US-Dollar auf 133 Millionen<br />
gestiegen. Dieser starke Anstieg war aber nur deshalb möglich, weil die kasachischen Banken<br />
großzügige Kredite vergaben - die sie ihrerseits durch Anleihen bei ausländischen<br />
Geldinstituten finanzierten. So gesehen hat auch die kasachische Wirtschaft von der<br />
Spekulationsblase auf dem Kapitalmarkt stark profitiert. Jetzt aber müssen diese Kredite<br />
zurückgezahlt, müssen Schulden beglichen werden und ich gehe davon aus, dass die<br />
kasachischen Auslandsinvestitionen in den nächsten Jahren rückläufig sein und sich auf<br />
einzelne strategische Projekte im Bereich der Energiewirtschaft konzentrieren werden.<br />
EM: Welche Rolle will und kann Kasachstan in der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />
(EurasEC) spielen und weshalb geht es eine eigene Zollunion mit Russland und<br />
Weißrussland ein?<br />
Schmitz: Die EurasEC ist auf kasachische Initiative hin gegründet worden. Eine<br />
funktionierende Wirtschaftsunion, die eine bessere Abstimmung der Mitglieder in der<br />
Wirtschafts- und Handelspolitik ermöglicht, wäre für Zentralasien eigentlich sehr sinnvoll.<br />
Bisher hat die EurasEC aber keine große Schubkraft entfaltet. Dazu sind die beteiligten<br />
Staaten zu verschieden im Hinblick auf ihre Ressourcenausstattung und wirtschaftspolitische<br />
Ausrichtung. Die kasachischen Initiativen greifen auch deshalb nicht, weil sich die anderen<br />
Staaten, allen voran Usbekistan, schwer damit tun, eine kasachische Führungsrolle in der<br />
Organisation zu akzeptieren. Aus diesem Grund haben Kasachstan, Russland und<br />
Weißrussland, die wirtschaftlich stärksten Länder innerhalb der EurasEC, die Gründung<br />
einer eigenen Zollunion beschlossen, die bis 2011 in Kraft treten soll.<br />
Eine Wirtschaftsgemeinschaft der zwei Geschwindigkeiten<br />
EM: Ist das dann eine Wirtschaftsgemeinschaft der zwei Geschwindigkeiten, wie sie ja auch<br />
für die EU immer mal wieder überlegt wird?<br />
Schmitz: Ja, das ist ein ganz treffendes Bild. Allerdings verläuft auch die Abstimmung<br />
zwischen Kasachstan, Russland und Belarus nicht störungsfrei. Es gibt zwischen den drei<br />
Staaten erhebliche Differenzen, etwa was die Energiepolitik betrifft. Auch der russische<br />
Dominanzanspruch ist ein Problem.<br />
EM: Kasachstan gehört auch zur immer bedeutender werdenden Schanghaier Organisation<br />
für Zusammenarbeit (SOZ). Welche Rolle spielt darin das riesige Land Kasachstan, welche<br />
Bedeutung hat diese Organisation für Astana?<br />
Schmitz: Die SOZ wird ganz eindeutig von Russland und China dominiert. Für Kasachstan<br />
ist es angesichts dessen wichtig, den Einfluss Russlands und die wirtschaftliche Expansion<br />
Chinas nach Zentralasien zu kontrollieren und auszugleichen. Die SOZ, in der zunehmend<br />
auch wirtschaftliche Fragen verhandelt werden, ist dafür ein wichtiges Instrument. Aber auch<br />
in sicherheitspolitischer Hinsicht ist die SOZ für Kasachstan bedeutsam, denn in der<br />
Auffassung, dass die sicherheitspolitischen Gefährdungen für die Region vor allem von<br />
politischem Extremismus und vom Drogenschmuggel ausgehen, sind sich die Mitglieder der<br />
SOZ sehr einig.<br />
Die kasachische Elite hat oppositionelle Parteien und Gruppierungen sehr<br />
effizient neutralisiert<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 18<br />
EM: Die Kasachen scheinen anders als Georgien, die Ukraine und andere Staaten mit bunten<br />
Revolutionen ziemlich pragmatisch zu sein. Liegt es daran, dass in Kasachstan westliche<br />
Ideen weniger Fuß fassen konnten, oder ist Pragmatismus insgesamt ein Merkmal<br />
kasachischer Politik?<br />
Schmitz: Die Kasachen sind vor allem stabilitätsorientiert. Auch in Kasachstan haben in den<br />
1990er Jahren Nichtregierungsorganisationen und politische Stiftungen aus dem Westen<br />
Demokratisierungsprogramme lanciert. Zeitweise gab es in Kasachstan sogar eine aktive<br />
Opposition, die mit Forderungen nach mehr Demokratie und Rechtstaatlichkeit um<br />
Anhänger warb. Dass sich das nicht in einem Regimewechsel niedergeschlagen hat, so wie in<br />
der Ukraine und in Georgien, liegt einerseits daran, dass die kasachische Elite oppositionelle<br />
Parteien und Gruppierungen sehr effizient neutralisiert hat - entweder durch Kooptierung,<br />
das heißt, indem man die Wortführer der Opposition in den Regierungsapparat integrierte,<br />
oder durch gezielte Repressalien. Da gibt es ja eine breite Palette von Möglichkeiten. Vor<br />
allem rechtliche Instrumente haben sich als sehr wirkungsvoll erwiesen, wie zum Beispiel die<br />
Parteien-, Wahl- und Mediengesetzgebung.<br />
EM: Sie sagten, es läge zum einen an diesen Gründen. Und was ist der andere Grund für<br />
diese Entwicklung?<br />
Schmitz: Der andere Grund dafür, dass Kasachstan bisher politisch stabil blieb, ist die<br />
vergleichsweise erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung des Landes und die wachsende<br />
Prosperität einer relativ breiten Bevölkerungsschicht. Dies wird in erster Linie der Herrschaft<br />
von Präsident Nasarbajew zugeschrieben und beschert dem Regime ein hohes Maß an<br />
Legitimität.<br />
EM: Frau Schmitz, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.<br />
*<br />
Die aktuelle Studie von Dr. Andrea Schmitz finden Sie hier<br />
http://www.swpberlin.org/produkte/swp_studie.php?id=10456&PHPSESSID=990705e895775716f8ed58e74<br />
8687945<br />
Das Interview führte Hans Wagner<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 19<br />
OSTEUROPA<br />
Wirtschaftskrise hausgemacht und importiert<br />
Die osteuropäischen Staaten können für sich in Anspruch nehmen, dass sie<br />
nicht Ursprung der Krise waren, die von den USA ausging und erst nach über<br />
einem Jahr auch für sie negative Folgen zeitigte. Anders als westeuropäische<br />
Banken haben sich die osteuropäischen Institute nicht an den faulen Krediten<br />
vergriffen, die den Auslöser für die Finanzkrise darstellten. Die starke<br />
Abhängigkeit von fremdem Kapital, einer der wichtigsten Faktoren für den<br />
Aufschwung der vergangenen Jahre, bringt die osteuropäischen Länder nun<br />
jedoch arg in Bedrängnis.<br />
Von Michael Derrer<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
ie Länder Osteuropas haben über ihre Verhältnisse gelebt. Zu Zeiten der<br />
Aufbruchstimmung, vor dem Hintergrund des Zuflusses ausländischer Investitionen<br />
und erstarkenden nationaler Währungen, hatten sich viele osteuropäische Unternehmen und<br />
private Haushalte in fremden Währungen verschuldet. Meist in Euro oder Schweizer<br />
Franken. Wieso sollte man die hohen Zinsen in der eigenen Währung bezahlen, wenn die<br />
Kredite in Fremdwährungen so viel günstiger waren?<br />
Rückblickend muss man sich nun fragen, ob das Währungsrisiko wirklich verstanden wurde.<br />
Als Akt kollektiven Fehlverhaltens von Kreditgebern und Kreditnehmern kann diese<br />
Verschuldung in ausländischer Währung mit dem Subprime-Debakel in den USA verglichen<br />
werden.<br />
Die Kreditaufnahme von Haushalten, Banken und Unternehmen hatte derartige Ausmaße,<br />
dass das Volumen der vergebenen Kredite die Einlagen beträchtlich überstieg und aus dem<br />
Ausland, insbesondere durch westeuropäische Banken, finanziert werden musste.<br />
In fast allen Staaten der Region werden mehr als 50 Prozent des Bankkapitals<br />
von ausländischen Anteilseignern gehalten.<br />
Die regionalen Banken Osteuropas - einheimische oder lose beaufsichtigte Niederlassungen<br />
westlicher Banken - hatten in den letzten Jahren sehr gute Erträge erzielt. Der Bedarf der<br />
Privatkunden, Unternehmen und öffentlichen Institutionen nach Giro- und Sparkonten,<br />
Kreditkarten, Hypotheken und Instrumenten zur Unternehmensfinanzierung haben ihre<br />
Expansion beflügelt. In fast allen Staaten der Region werden mehr als 50 Prozent des<br />
Bankkapitals von ausländischen Anteilseignern gehalten. Es dominieren große europäische<br />
Banken und Finanzgruppen, die in Osteuropa gesamthaft 1,3 Billionen US-Dollar an<br />
Kreditforderungen halten.<br />
Jetzt hat sich jedoch die Furcht (oder die Not) im Westen zurückgemeldet, und die<br />
Mutterkonzerne ziehen Kapital aus ihren Tochtergesellschaften ab, um ihre eigenen<br />
Finanzlöcher zu stopfen. Die Refinanzierung auf den internationalen Märkten ist schwieriger<br />
geworden. Bei einer weiteren Abwertung der lokalen Währungen und einem kontinuierlichen<br />
Anstieg der Arbeitslosigkeit könnten viele Haushalte in Zahlungsnot geraten, und es drohen<br />
Kreditausfälle der Firmenkunden. Die Analysten von Goldman Sachs ermittelten die<br />
möglichen Spitzen für notleidende Kredite in den einzelnen Ländern und kamen zu<br />
folgendem Ergebnis:<br />
• Tschechien, Polen, Slowakei und Slowenien: zehn Prozent.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 20<br />
• Ungarn, Russland und Litauen: zwanzig Prozent.<br />
• Estland, Lettland, Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Ukraine und Kasachstan: 30<br />
Prozent.<br />
Es stellt sich die Frage, ob die westlichen Mutterbanken ihre osteuropäischen Töchter bei<br />
akuter Bedrohung mit Kapital und Liquidität versorgen würden. Sollte eine ausländische<br />
Bank eine Niederlassung in einem osteuropäischen Land fallen lassen, so dass Einleger ihre<br />
Ersparnisse nicht zurück erhalten, würde dies das Vertrauen in das ganze regionale<br />
Bankensystem untergraben.<br />
Die Banken verschärfen nun ihrerseits die Kreditbedingungen gegenüber Unternehmen und<br />
Privatkunden, erhöhen die Zinsen und prüfen fortan Kreditnehmer genauer – neben den<br />
schwindenden Exportmärkten ein signifikanter Dämpfer für das Wirtschaftswachstum.<br />
Von der Finanz- zur Wirtschaftskrise<br />
Das Szenario ähnelt früheren Krisen: In einem Kreditboom werden große Verschuldungen in<br />
ausländischer Währung aufgenommen. Dann kommt ein Schock – in diesem Fall die<br />
Kreditkrise und Anzeichen einer weltweiten Rezession. Das Vertrauen schwindet. Westliche<br />
Banken, Investmentfonds und Immobilienverwalter bauen ihr Engagement in der Region<br />
schnellstmöglich ab. Der massive Rückzug verschlechtert die Zahlungsbilanzen der<br />
betroffenen Länder und setzt deren Währungen unter Druck. Im Zuge der Abwertung wird<br />
der Schuldendienst für Fremdwährungskredite teurer, die Geldzuflüsse sinken, die<br />
Laufzeiten der Kredite sind kürzer, und die Risikoprämien steigen. Die lokalen Banken<br />
werden geschwächt. Es kommt eine Teufelsspirale in Gang. Die staatlichen Finanzen<br />
kollabieren.<br />
Die Situation ist der Asien-Krise von 1997 nicht unähnlich, wobei sich die „ostasiatischen“<br />
Tiger” durch den Export rasch erholen konnten, was in der aktuellen weltwirtschaftlichen<br />
Situation kaum möglich sein wird. Osteuropa hat immerhin den Vorteil, dass das<br />
ausländische Kapital einen größeren Anteil Direktinvestitionen enthält, das nicht von einem<br />
Tag auf den andern abgezogen werden kann.<br />
Die Schuldendienste Ungarns, Lettlands und Rumäniens entsprechen fast deren<br />
gesamten Währungsreserven<br />
Die osteuropäischen Länder müssen allein <strong>2009</strong> rund 400 Milliarden Dollar an<br />
Verbindlichkeiten zurückzahlen – für Ungarn, Lettland und Rumänien entspricht der<br />
Schuldendienst fast ihren gesamten Währungsreserven. In der globalen Rezession fließen<br />
auch weniger ausländische Direktinvestitionen in die Region. Der IWF rettet die<br />
notleidenden Länder vor der Zahlungsunfähigkeit: Ungarn, Ukraine, Lettland, Rumänien,<br />
Serbien, Belarus – die Liste wird immer länger. Die Auflagen des IWF sind bekannt: die<br />
makroökonomischen Ungleichgewichte müssen reduziert werden. Eine Korrektur der<br />
einheimischen Nachfrage wird notwendig, um die Importe und das Leistungsbilanzdefizit zu<br />
verringern. Die Senkung der Gehälter, Renten und Sozialausgaben auf der einen <strong>Seite</strong> und<br />
höhere Steuern auf der anderen gehören zu den typischen Maßnahmen. Es erstaunt nicht,<br />
dass es bereits in mehreren Ländern zu Unruhen auf der Strasse gekommen ist.<br />
Das Wachstumsmodell mit billiger externer Finanzierung ist in Osteuropa bis auf weiteres<br />
nicht mehr möglich. Niedrigere Wachstumsraten oder eine höhere Sparquote wären die<br />
Alternative. Der Anstoß zur Erholung wird jedoch mittelfristig wieder aus dem Ausland<br />
kommen müssen, denn die relativ kleinen osteuropäischen Wirtschaften sind auf den Export<br />
angewiesen. Bis dahin sollten diese Staaten aber die Zeit nutzen, um ihre Wirtschaft neu<br />
auszurichten und um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 21<br />
Es ist wahr, dass die osteuropäischen Länder nicht alle in einen Topf geworfen werden<br />
dürfen – Polen und die Tschechische Republik z.B. stehen in punkto heimmarktgetriebenem<br />
Wachstum, Handelsbilanz, ausländischen Direktinvestitionen, Sparquote und<br />
Auslandsverschuldung besser da als ihre östlichen und südlichen Nachbarn. Die Kredite in<br />
ausländischer Währung machen in Polen z.B. 30 Prozent der privaten Kredite aus – in<br />
Ungarn ist dieser Wert doppelt so hoch. Auf den internationalen Finanzmärkten wird den<br />
Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern und ihrer wirtschaftlichen Verfassung<br />
oftmals nicht genügend Rechnung getragen. Schlechte Meldungen aus einem Land schlagen<br />
sich auf die umliegenden Länder nieder, ob dies nun gerechtfertigt ist oder nicht. So haben<br />
z.B. Ungarns Probleme zum Abwertungsdruck auf den Polnischen Zloty beigetragen.<br />
Berechtigter Glaube an eine europäische Solidarität?<br />
Die EU-Erweiterung war für die westlichen Länder ein lukratives Unterfangen. Die neuen<br />
Mitgliedstaaten importierten massiv Investitions- und Konsumgüter. Die vom westlichen<br />
Finanzkapital über die Vergabe von Krediten generierte Nachfrage wurde von westlichen<br />
Handelsfirmen abgeschöpft.<br />
Der Wirtschaftsabschwung stellt nun die europäische Solidarität auf die Probe. In ihrer<br />
Forderung nach ausländischer Unterstützung verwenden osteuropäische Politiker bereits das<br />
Bild eines „neuen eisernen Vorhangs, der sich zwischen West und Ost schließe“. Sie<br />
verlangen, dass die Regeln des Gemeinsamen Markts, insbesondere der freie Warenverkehr<br />
und die Personenfreizügigkeit, nicht in Frage gestellt werden. Protektionistische Maßnahmen<br />
zur Ankurbelung der Wirtschaft zeigen jedoch bereits Resultate, wenn Automobilhersteller<br />
aus der Slowakei nach Frankreich rückverlagern. In einem Wettbewerb der Subventionen<br />
würden die osteuropäischen Länder gegenüber den reichen westlichen Nachbarn den<br />
Kürzeren ziehen.<br />
Die Osteuropäer werden künftig noch mehr Regionalhilfen beanspruchen, weil sie nicht<br />
mehr so viel Wachstum aus eigener Kraft generieren können. Viele neue EU-Mitgliedstaaten<br />
setzen auf milliardenschwere, durch die EU finanzierte Infrastrukturprojekte als<br />
Konjunkturförderung. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn die<br />
osteuropäischen Länder, die in den letzten Jahren auf freien Markt pochten, mit tiefen<br />
Steuersätzen Firmen anlockten und sich dem Vorwurf des Sozial- und Fiskaldumpings<br />
ausgesetzt sahen, nun westliche Hilfe verlangen.<br />
Der Euro verliert durch Osteuropas Probleme an Wert<br />
Die Regierungen dieser Staaten möchten auch den Euro schneller einführen, um eine größere<br />
Stabilität zu erreichen und weil sie derzeit ihre Zinsen zur Verteidigung ihrer Währung höher<br />
halten müssen als dies aufgrund der konjunkturellen Lage angebracht ist. Die Befürchtung,<br />
dass die westlichen EU-Länder ihren östlichen Nachbarn aus der Patsche helfen müssen, hat<br />
den Euro bereits geschwächt.<br />
Kritiker sagen, dass manche osteuropäischen Länder zu früh in die EU eingetreten sind, für<br />
diesen Schritt aber eigentlich noch nicht bereit waren. Die geliehenen Milliarden wurden für<br />
Bautätigkeit und Konsum verschwendet. Wieso sollte da Westeuropa helfen?<br />
Wenn diese Hilfe erfolgt, so geschieht dies aus purem Eigeninteresse. Denn es ist wesentlich<br />
billiger, jetzt Finanzhilfe zu gewähren, als untätig zuzusehen, wie eine Wirtschaft, etwa in<br />
Ungarn oder Lettland, kollabiert. Die Folgen könnten dramatisch sein, und nicht nur in<br />
finanzwirtschaftlicher Hinsicht. Eine solche Katastrophe könnte nationalistischen und<br />
populistischen Kräften Auftrieb verleihen. Zentrifugale Kräfte könnten in Gang kommen, die<br />
den Bestand der EU in Frage stellen.<br />
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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 22<br />
Falls die Märkte, die oftmals verborgenen und verdrängten Gefühlen und Ängsten Ausdruck<br />
verleihen, daran zweifeln, dass die europäische Solidarität existiert, kann das ebenfalls<br />
dramatische Folgen haben. Dass die Finanzsysteme und die Wirtschaften dieser Länder nicht<br />
aufgefangen werden könnten, würde die osteuropäischen Länder immer tiefer nach unten<br />
ziehеn und gewissermaßen zu einer sich selbst erfüllenden Vorhersage werden.<br />
Chancen in der Krise<br />
Strukturbereinigungen haben bekanntlich auch positive <strong>Seite</strong>n. Kleine und mittelständische<br />
Unternehmen im produzierenden Sektor sollten künftig mehr Beachtung und Unterstützung<br />
erhalten, denn sie gehören zu den Strukturen, die nachhaltiges Wachstum ermöglichen.<br />
Der Anstieg von Löhnen und Preisen ist vorerst gebremst und zum Teil im Fallen begriffen.<br />
Somit entstehen wieder mehr Anreize, um in Osteuropa produzieren zu lassen oder selbst zu<br />
investieren. Die Kostenvorteile waren diesen Ländern in den letzten Jahren immer mehr<br />
abhanden gekommen. Die Abwertung der Währungen trägt zur Wettbewerbsfähigkeit bei –<br />
ein Mechanismus, von dem die Slowakei, Slowenien (Euro), Bulgarien und die Baltischen<br />
Länder (lokale Währung an Euro gebunden) jedoch nicht profitieren.<br />
Der Wettbewerbsvorteil westlicher Unternehmen, über einen besseren Zugang zu Krediten<br />
zu verfügen, wird wieder bedeutsamer. Aufgrund der finanziellen Nöte mancher<br />
osteuropäischer Firmen werden auch günstige Übernahmen möglich.<br />
Bei Export und Investitionen aus dem Westen gilt es zu eruieren, ob die betreffende Branche<br />
zu denjenigen mit strukturellem Nachholbedarf und längerfristigem Wachstumspotential<br />
gehört oder ob sie Teil einer Blase war. Wichtiger noch als in den rosigen Zeiten ist es, die<br />
Situation und Dynamik des jeweiligen Marktes (Region, Sektor) zu verstehen und auch<br />
genaue Abklärungen über die Firmen zu tätigen, mit denen man zusammenarbeiten will.<br />
Antizyklisches Handeln kann sich lohnen – beim nächsten Aufschwung ist man vor Ort<br />
bereits etabliert.<br />
Michael Derrer, Mag.res.pol., ist Consultant und Dolmetscher für Osteuropa. Er leitet die<br />
Firma Ascent Swiss Business Management, Dienstleister für westliche Unternehmen in den<br />
osteuropäischen Ländern.<br />
http://www.ascent-ag.ch/<br />
contact@ascent-ag.ch<br />
*<br />
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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 23<br />
TSCHECHIEN<br />
Keine Spur von Ostalgie<br />
Zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist in Tschechien eine<br />
junge Generation von Menschen herangewachsen, die den Kommunismus nicht<br />
mehr erlebt hat. Die Freiheiten, die die heutigen Twens genießen, erwuchsen<br />
aus dem epochalen Systemwechsel von 1989. Damals waren ihre Eltern um die<br />
20 und begannen, Neuland zu entdecken. Was verbindet diese beiden<br />
Generationen, was trennt sie? Petr Hefka (41) und seine Tochter Veronika (20)<br />
sind ihrer Heimatstadt am Rande Tschechiens gleichermaßen verbunden. Die<br />
Revolution von 1989, die Petr als 20-Jähriger erlebte, ist seiner Tochter völlig<br />
fremd. Sie ermöglichte ihr ein ganz anderes Leben als ihrem Vater.<br />
Von Barbara Breuer<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
Petr Hefka in seinem<br />
Laden: er ist mit der<br />
Wende vor 20 Jahren<br />
vollauf zufrieden.<br />
etr Hefka steht in seinem Laden zwischen Waschmaschinen,<br />
Fernsehern, Radioweckern. Es ist ein lang gestreckter<br />
Verkaufsraum in der Hauptstraße von Zlaté Hory, Ausdruck<br />
eines gewissen Wohlstandes und letztlich doch nur Mittel zum<br />
Zweck. Dort, in dem gelb getünchten Haus, werden Petr Hefkas<br />
Träume greifbar: Jeder verkaufte Kühlschrank, jeder<br />
Flachbildschirm, der den Raum verlässt, ist ein Flugticket in die<br />
Karibik. Dem 41-Jährigen geht es gut. Sein Geschäft ist das einzige<br />
weit und breit. Zlaté Hory liegt ganz am Rande Mährisch-Schlesiens<br />
und das liegt ganz am Rande Tschechiens. Größere Elektromärkte<br />
findet man erst wieder in Olomouc oder Ostrava, anderthalb<br />
Stunden entfernt. Für die meisten in der Gegend zu weit, also<br />
kommen die Leute zu Petr Hefka.<br />
Dass er eines nicht allzu fernen Tages zum Tauchen auf die<br />
Malediven fliegt, hätte der Starkstrom-Elektriker vor 20 Jahren<br />
nicht zu träumen gewagt. Die Nachrichten von den Unruhen im<br />
(Foto: Breuer)<br />
November 1989 erreichten ihn damals unvermittelt: Während das staatliche Fernsehen den<br />
Bürgern der damaligen Tschechoslowakei noch Normalität vorgaukelte, kam ein Freund aus<br />
Prag zu Besuch nach Zlaté Hory. In dem 4500-Seelen-Ort im Grenzgebiet zu Polen erzählte<br />
er von Studentenstreiks, Demonstrationen und prügelnden Polizisten. „Wir haben das alles<br />
anfangs nicht geglaubt“, erinnert sich Petr Hefka.<br />
Wir bitten Sie, treten Sie ab!<br />
Aber nur wenig später erreicht der Ruf nach Veränderungen auch die Provinz. Petr Hefka<br />
und seine Kollegen von der staatlichen Geoforschung treten in Streikbereitschaft. Sein bester<br />
Freund, ein Student, bringt aus der Industriestadt Ostrava Protestplakate mit. „Sehr geehrte<br />
Genossen“, steht darauf, „Sie haben für Ihre Ideale des 19. Jahrhunderts gelebt, wir werden<br />
für die Natur und den Menschen des 21. Jahrhunderts leben...Rechtfertigen Sie bitte den<br />
Erhalt Ihrer Machtpositionen nicht mit dem Schutz des Sozialismus...Wir bitten Sie, treten<br />
Sie ab!“<br />
Gemeinsam hängen sie die Plakate in der Plattenbausiedlung ihrer Stadt auf. Verstecken,<br />
vorbereiten, aufkleben, abhauen – so verläuft die Aktion. „Wir haben damals natürlich nicht<br />
gedacht: Wir verbreiten jetzt die Protestschreiben und dann fallen die Kommunisten“, sagt<br />
Petr Hefka. Mitgerissen von der Euphorie geht es den jungen Männern eher darum, etwas<br />
Verbotenes, Gefährliches zu tun. Dafür und für Neuigkeiten oder Flugblätter aus der „Welt“,<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 24<br />
also aus Ostrava, spendieren neugierige Mitbürger den beiden in der Kneipe Bier und Rum –<br />
sehr zum Gefallen der jungen „Rebellen“.<br />
Die Tochter war zur Wendezeit ein Jahr alt<br />
„Mama erzählt immer, dass sie damals große Angst um dich hatte“, sagt Veronika Hefková.<br />
Petr Hefkas Tochter war zur Wendezeit gerade ein Jahr alt. Sie kennt die Ereignisse von 1989<br />
nahezu ausschließlich aus den Erzählungen ihrer Eltern. „Wenn ich an 1989 denke, fällt mir<br />
zuerst die Revolution ein, aber so richtig weiß ich gar nicht, was ich mir unter Revolution<br />
vorstellen soll“, sagt sie. „Wir haben zwar im Geschichtsunterricht alles möglich sehr<br />
ausführlich behandelt, aber nichts über die jüngste Zeit gelernt“, erzählt die Abiturientin.<br />
„Ich fühle da eine große Lücke und schäme mich auch ein bisschen dafür, dass ich mich<br />
bisher nicht hingesetzt und mir dazu selbst etwas angelesen habe“, gibt sie zu und wird ein<br />
wenig rot dabei.<br />
Im vergangenen Herbst hat die junge Tschechin angefangen, an der Technischen Universität<br />
in Ostrava Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Zufrieden ist sie nicht. Über einen<br />
Wechsel an eine andere Hochschule denkt sie nach, noch ist sie unschlüssig: „Fünf Jahre sind<br />
ja auch keine Katastrophe, das lässt sich überleben“, redet sie sich zu. Schließlich ist zu<br />
langes Studieren oder Herumtrödeln heutzutage auch in Tschechien verpönt. Zielstrebige<br />
junge Menschen, mit guten Noten, viel Berufserfahrung und fundierten Sprachkenntnissen<br />
werden gebraucht. Das Diktat des Marktes hat die sozialistische Diktatur abgelöst. Jeder ist<br />
heute selbst dafür verantwortlich, inwiefern er die unbegrenzten Möglichkeiten nutzt.<br />
Damals war alles vorgegeben<br />
Damals, als Petr Hefka seine Ausbildung abgeschlossen hatte,<br />
waren die Möglichkeiten noch begrenzt: „Ambitionen gehörten<br />
nicht in die Zeit.“ Und so durchlebte er den Sozialismus wie viele<br />
Tschechoslowaken: „Für uns war durch das System alles<br />
vorgezeichnet. Arbeit, Hochzeit, Wohnung, fertig!“ Da störte es<br />
auch nicht, dass er nach einem Semester von der Hochschule flog.<br />
„Ich bin lieber zu meiner Freundin gefahren, als zu lernen“, sagt er<br />
heute.<br />
Negative Erinnerungen an die Vorwendezeit hat er allerdings keine.<br />
Von der Existenz der „ŠtB“, der Tschechoslowakischen<br />
Staatssicherheit, habe er erst nach 1989 erfahren. „Was das<br />
Veronika Hefková hilft politische System betrifft, lebten die Menschen hier zu 90 Prozent<br />
ihrem Vater im in Unwissenheit“, schätzt Petr Hefka. Ihn versuchten die<br />
Elektroladen aus. kommunistischen Genossen nur einmal während der Ausbildung zu<br />
(Foto: Breuer)<br />
rekrutieren: „Sie wollten mich mit einem sicheren Hochschulplatz<br />
ködern“, sagt Petr Hefka. Vergeblich.<br />
Dabei ist Petr Hefka ein politischer Mensch. Sein Kreuzchen macht er heute bei den<br />
Konservativen. In Zlaté Hory will er auch selbst mitgestalten. Im Stadtrat und -parlament<br />
vertritt er die parteilose Vereinigung „Unabhängige 2006“. Seine Tochter indes kann mit<br />
Politik nicht viel anfangen. „Ich verstehe nicht viel davon“, sagt die 20-Jährige. „Und wenn<br />
ich an Kommunismus denke, dann fällt mir als erstes das Reiseverbot ein und, dass viele<br />
Menschen in Angst gelebt haben“.<br />
Unter anderem deswegen will ihr Vater nicht, „dass die alte Zeit zurück kommt“. Die<br />
romantisierende Verklärung des Lebens in der ehemaligen Tschechoslowakei à la Ostalgie ist<br />
den Tschechen fremd. „Ich kenne niemanden, der so denken würde“, sagt Veronika Hefková.<br />
Trotzdem scheint sie ihren Vater ein wenig zu beneiden: um eine sorglose Jugend, in der alle<br />
Schüler die gleiche Kleidung hatten und in dieselben Urlaubsorte fuhren.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 25<br />
Neid auf die, die etwas erreichten<br />
Als Veronika Hefková Mitte der 1990er Jahre eingeschult wurde, hatte sich der Kapitalismus<br />
bereits seinen Weg bis in die Klassenzimmer gebahnt. „Ich erinnere mich nur ungern an die<br />
Grundschulzeit, weil ich keine Freunde hatte. Niemand wollte mit mir spielen, ich wurde<br />
ausgeschlossen. Warum, das hat mir nie jemand gesagt.“ Das Kind reagierte mit dem<br />
Rückzug in die Familie, sie spielte vor allem mit dem drei Jahre jüngeren Bruder.<br />
Für den Vater, der sich 1991 in Zlaté Hory mit seinem Elektrogeschäft selbstständig gemacht<br />
hat, ist klar, warum seine Tochter und ihr Bruder so allein waren: „Wenn einige Kinder nie<br />
verreisen und andere mehrmals im Jahr sonnengebräunt aus den Ferien zurück kommen,<br />
entsteht Neid.“ Den bekam auch er zu spüren, als er mit einer Mikrowelle, einem<br />
Fernsehgerät und zehn Videorekordern als kleiner Geschäftsmann startete. „Vor allem meine<br />
ehemaligen Vorgesetzten schienen sich zu fragen, was ich mir da überhaupt erlaube.“<br />
Inzwischen fragt das aber niemand mehr in Zlaté Hory.<br />
Die Samtene Revolution und ihre Folgen, vor allem die wirtschaftlichen, haben auch die<br />
frühere Bergbaustadt verändert. Zlaté Hory, das heißt „Goldene Berge“. Seit 1993 ist das<br />
Geschichte. Damals schloss das Bergwerk der Stadt. 1200 Kilogramm Gold hatten die<br />
Kumpel in den letzten drei Jahren aus dem Gestein geholt. Bis zu 1000 Bergleute waren es in<br />
den besten Zeiten. Die Männer arbeiteten unter Tage, die Frauen in der Textilfabrik. Doch<br />
auch das ist vorbei. Heute ist in der Region jeder Sechste arbeitslos. Aber es ist nicht nur<br />
Niedergang: Ein neuer Skihang soll Touristen anlocken, knapp zwei Millionen Euro hat die<br />
EU ins „Bohemaland“ gepumpt. Nur, allzu viele Arbeitsplätze bringt die Anlage nicht.<br />
Wer sein Glück findet, verlässt die Heimat nicht<br />
Petr Hefka hat die neue Zeit neben Wohlstand vor allem Selbstbewusstsein gebracht. „Ich<br />
finde, wenn jemand fähig und fleißig ist, dann sollte das auch belohnt werden“, sagt er. „Ich<br />
bin Realist und habe Träume, die ich auch erreichen kann“. In einem dieser Träume stehen<br />
Palmen an einem weißen Strand. Und wenn nicht in die Karibik, dann fährt er mit seiner<br />
Frau und den beiden Kindern nach Frankreich, zum Skifahren.<br />
Auch Veronika will die Welt kennen lernen, will studieren in Skandinavien. Im Sommer wird<br />
sie arbeiten, in einem Nationalpark in den USA. Doch sie wird zurückkehren. Veronika<br />
Hefková liebt ihre Heimat und die Berge. Und auch sie träumt, nur liegt ihr Sehnsuchtsort<br />
nicht in der Ferne. Eine kleine Pension oder ein Hotel, hier an den Ausläufern des<br />
Altvatergebirges, das wär’s schon.<br />
Petr Hefka möchte auch nicht woanders leben, so sehr ihn auch manchmal das Fernweh<br />
packt. „Ich bin hier zu 100 Prozent zufrieden.“ Zlaté Hory, die kleine Stadt am Rande<br />
Tschechiens, die Stadt der Goldenen Berge. Für ihn ist der Name mehr als nur eine<br />
Verheißung. Petr Hefka hat sein Glück gefunden.<br />
*<br />
Die Autorin ist Korrespondentin von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in<br />
ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu<br />
allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und<br />
Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen<br />
unter http://www.n-ost.de/.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 26<br />
DEUTSCHLAND-POLEN<br />
Der Blick der Frauen<br />
Sie leben an derselben Grenze und haben im Sozialismus die gleichen<br />
Erfahrungen gemacht, nur auf unterschiedlichen <strong>Seite</strong>n. Heute begegnen sie<br />
einander auf Märkten und in Geschäften, doch sie wissen kaum etwas<br />
voneinander. Dabei gibt es eine Menge, das die deutschen und polnischen<br />
Frauen entlang von Oder und Neiße verbindet<br />
Von Melanie Longerich und Monika Piotrowska<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
Karolina Machowska bedient<br />
deutsche Kundinnen in ihrem<br />
polnischen Lebensmittelladen<br />
in Uckermünde.<br />
(Foto: Longerich)<br />
in halbes Pfund Schinken und Konfekt, und noch mal<br />
so viel gelben Käse. Karolina Machowska verpackt<br />
alles in einer großen Plastiktüte und reicht sie einer<br />
Kundin über die Ladentheke. Es ist halb zehn Uhr morgens<br />
und die 25-jährige BWL-Studentin aus Sczczecin (Stettin)<br />
hat bereits die Fahrt zum Großmarkt in Polen und die 20<br />
Kilometer lange Fahrt über die Grenze in ihr eigenes<br />
Geschäft im mecklenburgischen Städtchen Ueckermünde<br />
hinter sich. „Ich wollte immer meinen eigenen Laden haben<br />
und finanziell unabhängig sein“, sagt sie. Vor zwei Jahren<br />
eröffnete sie den kleinen Lebensmittelladen mit polnischen<br />
Produkten. Sie wohnt und studiert in Polen, arbeitet lieber<br />
in Deutschland: „Heute ist doch alles möglich“, sagt sie.<br />
Das dachte Christa Zmudzinski auch einmal. „Manchmal fällt mir schon die Decke auf den<br />
Kopf“, erzählt die 61-Jährige und blickt im brandenburgischen Guben von ihrem Balkon aufs<br />
Feld. Da haben früher Häuser gestanden: „Alle weg“, sagt sie. Genau wie ihre Familie: Ihr<br />
Mann fand Arbeit im Schwarzwald, drei der vier Kinder leben heute in ganz Deutschland<br />
verteilt. Da denkt Christa Zmudzinski lieber an alte Zeiten. 1965 war die Facharbeiterin von<br />
Thüringen an die Neiße gezogen, denn das neue Chemiefaserwerk hatte um gut ausgebildete<br />
Menschen aus der ganzen Republik geworben. Um dem Schichtsystem zu entkommen,<br />
kellnerte die bald vierfache Mutter ab den 70er Jahren in verschiedenen Gaststätten der<br />
Handelsorganisation, bis sie selbst die Leitung eines Lokals übernahm.<br />
Wir hatten keine Zeit uns vor der Zukunft zu fürchten<br />
Nach der Wende war damit schnell Schluss. Viele der Gäste des Lokals wurden arbeitslos,<br />
auch die Chefin selbst. Damals habe sie oft gedacht, dass das Leben nun keinen Sinn mehr<br />
mache, erzählt Christa Zmudzinski. „Doch ich wollte meinen Kindern immer Vorbild sein.“<br />
Diese Einstellung hat ihr schließlich aus der Lethargie der Wendezeit geholfen, wie vielen<br />
anderen, vor allem Frauen, auch: „Wir hatten keine Zeit, uns vor der Zukunft zu fürchten.<br />
Wir funktionierten ohne nachzudenken. Für die Familie.“ Ein Satz, der immer wieder fällt –<br />
auf beiden <strong>Seite</strong>n der Grenze.<br />
Vom Wegbrechen der Arbeit waren dort zuerst die Frauen betroffen. Dennoch, ist Hans<br />
Joachim Maaz überzeugt, hätten Frauen den Verlust des Arbeitsplatzes deutlich besser<br />
verkraftet als ihre Männer. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am<br />
Diakoniekrankenhaus in Halle hatte 1990 mit seinem Buch „Der Gefühlsstau – ein<br />
Psychogramm der DDR“ für Aufsehen gesorgt. Da arbeitete er noch als Psychologe in<br />
Frankfurt (Oder). Damals seien viele Frauen zu ihm kommen, weil sie sich schuldig fühlten,<br />
nie Zeit für die Kinder zu haben: „Sie haben gewusst, dass die Verhältnisse in den Krippen<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 27<br />
nicht optimal waren“, sagt er. Als Arbeitslose hätten sie dann vieles nachholen können. Im<br />
Gegensatz zu den Männern, die diese Möglichkeit nie gehabt hätten.<br />
Jede fünfte ist heute arbeitslos<br />
Auf den Feldern und dunklen Kiefernwäldern, die sich abwechselnd am Ufer von Oder und<br />
Neiße entlang ziehen, ist der Lärm der Großstädte fern. „Keimzelle der europäischen<br />
Einigung“ sollte sie mal werden, die deutsch-polnische Grenzregion, sagt der Soziologe<br />
Stanislaw Lisiecki von der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan (Posen), der seit vielen<br />
Jahren in der Gegend forscht. Auch wenn heute darüber niemand mehr spreche – „die<br />
Grenze bleibt Barometer für die gegenseitige Wahrnehmung“, ist Lisiecki überzeugt. Und in<br />
diesem Prozess könnten gerade Frauen eine wichtige Rolle spielen.<br />
Auch wenn, wie Maaz beobachtet, die Frauen im Vergleich zu ihren Männern den neuen<br />
Zeiten besser begegnen, bleibt die Lage für sie kritisch. Im deutschen Grenzgebiet ist laut<br />
Arbeitsmarktstatistik jeder Fünfte arbeitslos. Nicht viel besser sieht es auf der polnischen<br />
<strong>Seite</strong> aus. Auf beiden <strong>Seite</strong>n sind Frauen wie Männer etwa gleich betroffen – zumindest<br />
offiziell. Doch die Dunkelziffer der Frauen, die sich gar nicht erst arbeitslos melden, sei groß,<br />
vermutet Christine Angermann, Beauftragte für Chancengleichheit bei der Cottbuser<br />
Arbeitsagentur.<br />
Während in Deutschland eine Arbeitslose im ersten Jahr noch monatlich 80 Prozent ihres<br />
vormaligen Bruttoeinkommens erhält, sind es in Polen maximal 520 Zloty (110 Euro), oft ist<br />
schon nach einem halben Jahr Schluss. Da wieder herauszukommen, bleibt schwierig: Für<br />
Umschulungen und Qualifizierungsprogramme gibt Polen nach einer Untersuchung aus dem<br />
Jahr 2005 etwa 41 Euro pro Kopf und Jahr aus – der EU-Durchschnitt liegt bei 6.000 Euro.<br />
Staatliche „Muttipolitik“ in den 70er Jahren<br />
Dass Frauen beiderseits der deutsch-polnischen Grenze die schwierigen Wandlungsprozesse<br />
häufig besser bewältigen als ihre Männer, hängt für die Historikerin Helga Schultz mit den<br />
Erfahrungen im Sozialismus zusammen: „Sowohl in der DDR als auch in der Volksrepublik<br />
Polen war das Bild der Mutter von Fürsorge für die Familie und Leistung im Beruf<br />
bestimmt“, sagt sie. Doch die Verankerung der Gleichberechtigung als Staatsziel in der DDR-<br />
Verfassung bewirkte keineswegs eine Abkehr vom traditionellen Rollenbild. Davon ist<br />
Marina Grasse überzeugt: „Daran ist nie gerüttelt worden“, kritisiert sie.<br />
Der Staat habe wegen des anfänglichen Mangels an Arbeitskräften nur nicht auf Frauen<br />
verzichten können, gerade im Grenzgebiet. Deshalb wurde auch in den 70er Jahren die<br />
„Muttipolitik“ eingeführt, wie der Volksmund lakonisch die Sonderregelungen nannte. Jeden<br />
Monat gab es für Mütter einen bezahlten Haushaltstag, zusätzlich Gleitarbeitszeit. „So<br />
musste die Frau die Doppelbelastung alleine tragen. Ihr Gatte wurde nicht in die Pflicht<br />
genommen“, sagt Marina Grasse.<br />
Die Töchtergeneration distanziert sich von der Opferrolle der Frau<br />
Auch in Polen packten die Frauen für den Sozialismus mit an. Doch mehr aus finanziellen<br />
Gründen: Die Gehälter waren damals so niedrig, dass eines kaum reichte, um die Familie<br />
durchzubringen. Am traditionellen Rollenbild änderte das bis heute wenig. Die Gründe dafür<br />
liegen tief in der Geschichte, in der Zeit der polnischen Teilungen. Die Vereinigung von<br />
Freiheitsliebe mit tiefer Religiosität ließ im 18. Jahrhundert den Mythos der „Matka-Polka“<br />
(Mutter Polens) entstehen. Sie steht symbolisch für Kraft und Aufopferung gegenüber der<br />
Familie. Die Männer waren im Krieg, die Frauen mussten Haus und Hof in Eigenregie<br />
bewirtschaften.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 28<br />
Auch wenn die Töchtergeneration sich heute längst von der Opferrolle der Frau distanziere,<br />
kämpft sie mit den Nachwehen dieses Rollenverständnisses: „Die Frau soll die Hüterin von<br />
Heim und Herd bleiben, sie soll den Kindern eine Mutter, dem Gatten eine fürsorgliche<br />
Ehefrau sein“, beobachtet die 30-jährige Alexandra Kos aus Szczecin (Stettin). Die<br />
Doktorandin der Philosophie ist allein erziehende Mutter eines fünfjährigen Sohnes:<br />
„Frauenpolitische Themen haben in der Provinz keine Chance“, ist Kos überzeugt. Eine<br />
Teilschuld gibt sie den Frauen selbst: „Sich mit gesellschaftspolitischen Themen zu<br />
beschäftigen, ist für viele Zeitverschwendung.“<br />
Was die Zukunft der Frauen in der Region angeht, bleibt Monika Vandreier, Leiterin des<br />
Frauenzentrums Cottbus, dennoch optimistisch. „Es wird sich zwangsläufig etwas ändern<br />
müssen“, ist sie überzeugt. Schon jetzt gehen der Grenzregion – egal ob in Deutschland oder<br />
in Polen – die Fachkräfte aus. Frauen werden bald sehr gefragt sein für Führungspositionen<br />
in der Wirtschaft, Politik und Verwaltung. Nicht anders in Polen. Karolina Machowska<br />
vertraut dennoch lieber auf ihre eigenen Kräfte – und ist damit ein gutes Beispiel für viele<br />
Frauen an der deutsch-polnischen Grenze: „Wenn du gut bist, ist es völlig egal, wo du bist.“<br />
Die Autorinnen sind Korrespondentinnen von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50<br />
Journalisten in ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus<br />
erster Hand zu allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder<br />
Mittel- und Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere<br />
Informationen unter http://www.n-ost.de/.<br />
*<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 29<br />
KROATIEN<br />
Als gäbe es kein Morgen<br />
Die erfolgreiche Anwältin Blaženka Musulin ist 42 und lebt in der kroatischen<br />
Hauptstadt Zagreb. Ihr Sohn Dominik ist 21, studiert Jura und will später<br />
einmal in ihre Fußstapfen treten. Als er geboren wurde, hieß die Amtssprache<br />
im Land noch Serbokroatisch, doch die viel gelobte Völkerfreundschaft<br />
zwischen den Teilrepubliken hatte bereits tiefe Risse bekommen. Als<br />
Jugoslawien schließlich blutig zerbrach, machte Dominik seine gerade ersten<br />
Schritte und seine Mutter hatte ihr frischgebackenes Staatsexamen in der<br />
Tasche. Ein denkbar ungünstiger Start, doch Mutter und Sohn haben es<br />
geschafft.<br />
Von Veronika Wengert<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
ie grauen Bürgerhäuser in der Innenstadt von Zagreb<br />
könnten einen neuen Anstrich vertragen: Schwarze Zickzack-<br />
Graffiti an fast jeder Häuserwand, die in krassem Gegensatz<br />
zu den Stuckschnecken über den Eingangstoren der alten Wiener<br />
Baumeister stehen. Vor solch einer Fassade rangiert Dominik<br />
Musulin gerade seinen Wagen ein. Der 21-Jährige klingelt an einer<br />
Doppelflügeltür mit geschmiedeten Zierstäben. Im Treppenhaus<br />
riecht es nach Bohnerwachs. Dominik nimmt gleich zwei Stufen auf<br />
einmal, vorbei an blühenden Primeltöpfen. Und wird, oben<br />
angekommen, von seiner Mutter bereits erwartet.<br />
Die 42-jährige Blaženka Musulin hat sich ihr Anwaltsbüro hier<br />
Zwei Generationen eingerichtet: eine weitläufige Altbauwohnung mit Stuck und<br />
Jura: Dominik und modernem Flachbildschirm im Warteraum, in dem die Mandanten<br />
seine Mutter Blaženka. mit westlicher Popmusik beschallt werden. Fünf Mitarbeiter<br />
(Foto: Wengert) beschäftigt sie mittlerweile – das Rechtsgeschäft mit<br />
Verkehrsdelikten und Unfällen scheint zu laufen.<br />
Das sei nicht immer so gewesen, sagt Blaženka. Die politische Wende im früheren<br />
Jugoslawien habe Anfang der neunziger Jahre eine Hundertschaft von Rechtsanwälten auf<br />
den freien Markt geschwemmt. Der junge Nationalstaat Kroatien mit seinen knapp<br />
viereinhalb Millionen Einwohnern passte in ein weitaus schlankeres Verwaltungskorsett.<br />
Entsprechend hätten sich viele staatliche Behörden von ihren Anwälten getrennt – sei es nun<br />
aus verwaltungstechnischen oder politischen Gründen. Vielen sei damals nur die<br />
Freiberuflichkeit als Ausweg geblieben. Auf dem Markt war es eng, als sie ihre Kanzlei 1993<br />
eröffnete, erzählt die Anwältin.<br />
„Die soziale Unzufriedenheit und die zunehmenden ethnischen Spannungen<br />
ließen den Vielvölkerstaat zerbrechen, als Dominik noch ein Kleinkind war“<br />
Dominik kennt die Berufsanfänge seiner Mutter nur aus Erzählungen. Er ist in ihre<br />
Fußstapfen getreten und studiert Jura. Das sei das Einzige gewesen, was für ihn in Frage<br />
gekommen sei, sagt er. Als Dominik im Sommer 1988 geboren wurde, trennten Blaženka<br />
noch drei Prüfungen von ihrem ersten Staatsexamen. Die wirtschaftliche Krise im Land<br />
spitzte sich zu und mündete 1989 in einer galoppierenden Inflation. Selbst für einen Laib<br />
Brot wurden auf einmal Beträge mit mehreren Nullstellen vor dem Komma fällig. Die soziale<br />
Unzufriedenheit und die zunehmenden ethnischen Spannungen ließen den Vielvölkerstaat<br />
zerbrechen, als Dominik noch ein Kleinkind war. Was anderswo in einer friedlichen<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 30<br />
Revolution mündete, eskalierte in Jugoslawien – es kam zum Krieg, mitten in Europa.<br />
Zagreb galt als Angelpunkt, viele Menschen aus den umkämpften Landesteilen kamen in die<br />
Hauptstadt. Das Bild der Stadt habe sich seither gewandelt, sagt Blaženka.<br />
Die Studentin von früher und der Student von heute. Gibt es hier überhaupt Parallelen?<br />
Blaženka erinnert sich an Fächer wie Marxismus, mit denen die Studentenschaft auf den<br />
richtigen sozialistischen Pfad gebracht werden sollte. Und an Volkswehr. Das sei bereits an<br />
Schulen unterrichtet worden: Das Wissen um die Verteidigung des Staates, der Ideologie<br />
oder einfach nur sich selbst. Notfalls mit Waffengewalt. Was heute Pädagogen auf die<br />
Barrikaden treiben würde, gehörte für Blaženka und ihre Generation zum Lehrplan:<br />
Schießübungen mit einer wuchtigen russischen Kalaschnikow – und das mit gerade mal 15,<br />
16 Jahren.<br />
Schulausflüge führten meist zu Orten, die für die Partisanen bedeutsam waren. Gotteshäuser<br />
hingegen, selbst berühmte Bauwerke wie die Kathedrale von Šibenik, wurden bei<br />
Exkursionen einfach verschwiegen. „Kirche war im öffentlichen Leben kein Thema“, erinnert<br />
sich Blaženka, die wie die meisten Kroaten katholisch ist. Zu Hause in den eigenen vier<br />
Wänden habe man selbstverständlich christliche Feste wie Weihnachten gefeiert.<br />
Für Mama einst Arbeitscamps – für den Sohn Ferien am Meer<br />
Der 21-jährige Dominik<br />
Musulin studiert Jura in<br />
Zagreb, an der gleichen<br />
Fakultät wie einst seine<br />
Mutter. Er will ebenfalls<br />
Anwalt werden.<br />
In den Semesterferien wurde gemeinsam mit anderen Teens<br />
und Twens mit angepackt – zum Wohl der Gesellschaft.<br />
Dort, wo später einmal eine Schnellstraße entstehen sollte,<br />
ebneten hunderte junger Menschen aus ganz Jugoslawien<br />
Wiesen und Grundstücke. Bei diesen Arbeitscamps, den<br />
„radne akcije“, wurde buchstäblich Völkerfreundschaft<br />
praktiziert, da hier hunderte von jungen Menschen aus allen<br />
Teilrepubliken Jugoslawiens zusammen kamen. Tagsüber<br />
wurde gearbeitet, abends fanden Konzerte und<br />
Kinoveranstaltungen statt – die Blaženka einen Sommer<br />
lang im Organisationskomitee mit plante. Die Camps<br />
wurden sogar als Praktikum angerechnet.<br />
Dominiks Studienzeit prägen unterdessen ganz andere<br />
Dinge: Die neuen Bologna-Bestimmungen werden gerade<br />
umgesetzt, die das kroatische Bildungssystem an das<br />
(Foto: Wengert)<br />
gesamteuropäische anpassen sollen. Denn schließlich hängt Kroatien in der Warteschleife auf<br />
Brüssel. Das bedeutet nun auch für die Studenten eine Umorientierung – und eine<br />
Verlängerung der Studienzeit von vier auf fünf Jahre. An seiner Fakultät sei dies jedoch gut<br />
geregelt worden, während Studenten an anderen Fakultäten ratlos gewesen seien, wann und<br />
ob ein Kolloquium zu belegen sei.<br />
Die Semesterferien verbringt Dominik mit seinen Freunden am Meer oder auch mal beim<br />
Skifahren in Frankreich. Woanders leben? Nein, das wolle er nicht. Kroatien sei für ihn ein<br />
freies und modernes Land, in dem alles möglich sei. In den Zeitungen werde frei berichtet, es<br />
gäbe keine Informationsfilterung oder Zensur. Man könne ausgehen, Spaß haben, das Leben<br />
in Zagreb sei relativ sicher. Und zudem würden hier Freunde und Familie leben, die ihm sehr<br />
wichtig seien, sagt Dominik.<br />
Die Fakultät liegt noch immer am Marschall-Tito-Platz<br />
Auch wenn sich das ideologische Fähnchen im Wind gedreht hat – die Fakultät von Mutter<br />
und Sohn ist die gleiche geblieben. Sie gehört zu den beliebten Fotomotiven von Zagreb-<br />
Touristen: Ein pastellgelbes herrschaftliches Gebäude mit seitlichen Treppenaufgängen,<br />
direkt am Marschall-Tito-Platz gelegen. Ein Ort, der aufgrund seiner Namensgebung immer<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 31<br />
mal wieder die Anhänger und Gegner des ehemaligen jugoslawischen Staatschefs<br />
versammelt. Die einen fordern auf Transparenten die Beibehaltung des alten Namens, die<br />
anderen sind dagegen – und würden das Phänomen Josip Broz Tito am liebsten in der<br />
Mottenkiste der Vergangenheit verschwinden lassen.<br />
An solchen Protesten beteiligt sich Dominik nicht. „Das ist heute einfach Geschichte, im<br />
Bewusstsein meiner Generation ist es völlig vergessen“, sagt er. In manchen Fächern an der<br />
Schule oder Universität, aber auch mal im Fernsehen – da sei Tito ein Thema, sonst nicht.<br />
Dennoch sei er mit seiner Schulklasse vor einigen Jahren in Kumrovec gewesen: ein liebevoll<br />
gepflegtes Ethnodorf mit Maiskolben an den Dachbalken, freilaufenden Hühnern, weiß<br />
getünchten Hauswänden und Pflastersteinen. Hier wurde Tito geboren, sein Holzbett kann in<br />
einer kargen Stube noch besichtigt werden. Es sei ein netter Ausflug gewesen. Dennoch habe<br />
er keinerlei Empfindungen gehabt, weder positiv, noch negativ – da er überhaupt keinen<br />
Bezug zu Tito habe, sagt Dominik. Den heutigen Twens bedeute die Geschichte weitaus<br />
weniger als ihrer Generation früher, hält Blaženka dagegen.<br />
Blaženka erinnert sich noch deutlich an den Sozialismus. In den achtziger Jahren wurde das<br />
Benzin im Land zeitweise knapp. „Damals durften an bestimmten Tagen nur Fahrzeuge mit<br />
geraden, an anderen Tagen die mit ungeraden Nummern fahren“. Diese Restriktionen habe<br />
man unter dem Schlagwort „Stabilisierung der Wirtschaft“ verpackt. Wer Verwandtschaft im<br />
Ausland hatte, ließ sich Nylonstrümpfe, Waschpulver oder Kaffee mitbringen. Denn diese<br />
Produkte waren knapp und extrem teuer.<br />
Was einstmals zählte ist längst vergessen: Tipps für gute Windeln<br />
Zwar habe es in Jugoslawien immer alles gegeben, doch manches sei von minderwertiger<br />
Qualität gewesen. So wie Babywindeln, made in Jugoslavia. „Manchmal riefen die Leute im<br />
Radio an und sagten, dass es in diesem oder jenem Laden noch gute Windeln zu kaufen<br />
gäbe“, erinnert sich Blaženka an 1989, als Dominik noch ein Baby war und die sozialistische<br />
Welt ins Wanken geriet. Wer es sich leisten konnte, fuhr daher zum Einkaufen ins<br />
österreichische Graz oder ins italienische Triest. Windeln, Waschpulver, Damenbinden,<br />
Kaffee, Zucker oder Nylonstrümpfe – die Einkaufsliste war damals lang.<br />
Nachdem das junge Kroatien seit nunmehr bald zwei Jahrzehnten auf eigenen Beinen steht,<br />
haben sich die Bedürfnisse geändert. „Die Menschen in Zagreb kaufen teure Markenkleidung,<br />
neue Autos und Wochenendhäuser am Meer oder in den Bergen“, erzählt Blaženka. Der<br />
Samstag werde im Café verbracht, möglichst auf der Straße, um gesehen zu werden und zu<br />
einer gewissen urbanen Elite zu gehören. Vieles habe sich heutzutage nur auf Äußerlichkeiten<br />
und Statussymbole reduziert. Vielleicht liege es daran, dass die Menschen in Kroatien im<br />
vorigen Jahrhundert mehrfach ihre politischen Ideale, aber auch ihre gesamten Ersparnisse<br />
verloren hätten. Man sei es nicht wirklich gewohnt zu sparen. „Daher verhalten wir uns in<br />
unserem Konsumverhalten vielleicht manchmal, als gäbe es kein Morgen“, sagt Blaženka.<br />
Denn schließlich wisse man nie, was noch komme.<br />
*<br />
Die Autorin ist Korrespondentin von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in<br />
ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu<br />
allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und<br />
Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen<br />
unter www.n-ost.de.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 32<br />
EURASISCHE SPIRITUALITÄT<br />
Geomantikart von der Wasserscheide<br />
Wie man eine neue Beziehung zum Heimatplaneten Erde herstellt – was die<br />
Faszination der Geomantik ausmacht – welche neuen Möglichkeiten Bücher<br />
und Zeitschriften eröffnen – wie durch eine Geomantiklade ganz eigene<br />
Kraftorte in Haus und Wohnung entstehen – was es mit den Geheimnissen vom<br />
eurasischen Heidenpfad auf sich hat.<br />
Von Hans Wagner<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
Die Zeitschrift für<br />
alle, die sich für<br />
Geomantie<br />
interessieren.<br />
(Foto:<br />
s ist kaum in Worte zu fassen, was wirklich geschieht, wenn<br />
Menschen sich einem „besonderen Ort nähern“. Einige spüren<br />
es, sobald sie das Areal betreten. Andere, wenn sie einen Stein<br />
von dort aufheben, sich an einen Baum lehnen, oder aus der Quelle<br />
trinken, die hier entspringt. Manch einer hat beim unerwarteten<br />
Ausblick, der ihn an einem solchen Ort in seinen Bann schlug und<br />
den vielleicht auch nur er so empfand, seine Zukunft gefunden. So als<br />
hätte diese Stelle nur darauf gewartet, dass er gerade hier sein Haus<br />
baut und seine Familie ansiedelt.<br />
Die „Kräfte“, die dabei wirksam werden, entziehen sich meist der<br />
naturwissenschaftlichen Messbarkeit. Und doch sind sie zu spüren.<br />
Menschen machen Fotos, sammeln Steine auf oder schneiden sich<br />
einen Wanderstecken - genau hier. In vielen Fällen sind sie<br />
keineswegs die ersten, die diese „Wirkung“ verspürt haben. Andere<br />
haben hier schon Spuren hinterlassen. Ob am Steinkreis auf der<br />
Nordseeinsel Amrum, am uralten Wetterbaum auf einem<br />
Bergrücken, oder auf einem Weg durch den Wald, der magisch<br />
starkesleben.de)<br />
anzieht und auf dem man die Schritte aller derer zu spüren glaubt, die ihn vorher bereits<br />
gegangen sind.<br />
Im heimischen Bücherregal liegen dann die Findlinge, die diese geheime Kraft und<br />
Faszination ausstrahlen. Wenn wir sie in die Hand nehmen ist sie wieder zu spüren. Oder<br />
man trägt einen der mitgebrachten Steine bei sich. Die Hände schließen sich mehrmals am<br />
Tag um ihn. Es sind beruhigende Berührungen. Menschen nehmen auf diese Weise<br />
Verbindung mit der Erde auf. Oder sie legen die steinerne Form vor sich hin, erblicken darin<br />
besondere Botschaften. Es ist dies ein Erleben, das Menschen seit der Steinzeit und weit<br />
davor tief berührt. Verehrungswürdige Formen. Orakel. Geomantische Kunst. Geomantikart.<br />
Berührbare Magie. Erlebbar auch in Flurmarken, aufgehäuft an besonderen Schnittpunkten.<br />
In errichteten Stelen und Tempeln. An Kraftorten, heiligen Orten, Kultplätzen.<br />
Die neue Beziehung zu unserem Heimatplaneten<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 33<br />
Geomantiklade,<br />
Schmuckstück im<br />
Bücherregal, als<br />
Schatztruhe und<br />
Buchstütze dienend.<br />
(Foto: starkesleben.de)<br />
Geomantik oder Geomantie zieht immer mehr Menschen in ihren<br />
Bann. Das Gespräch mit der Erde wird in Führungen von Kundigen<br />
gelehrt, oder auch in aller Einsamkeit für sich gesucht.<br />
„Geomantie“, heißt es in der <strong>Verlag</strong>sbeschreibung eines neuen<br />
Buches, könnte man poetisch nennen: „Die Kunst, die Handlinien<br />
der Erde zu lesen“.<br />
„Die neue Beziehung zu unserem Heimatplaneten“ wird in dem<br />
Buch diskutiert, das von Lara Mallien und Johannes Heimrath<br />
herausgegeben wurde. (Drachen <strong>Verlag</strong>, Edition Hagia Chora). „In<br />
der Geomantie geht es um die Beziehung zwischen Mensch und<br />
Erde, zwischen Menschen und Räumen, zwischen Menschen, Orten<br />
und Landschaften – und das alles besitzt eine ethisch-spirituelle<br />
Komponente.“<br />
Geomantik oder Geomantie ist eine spirituelle Wissenschaft, aber<br />
keine „exakte“ Schulwissenschaft, vergleichbar dem Verhältnis von<br />
Schulmedizin und Naturheilkunde und Naturmedizin. Es handelt<br />
sich um empirisches Wissen, das aus der Naturphilosophie kommt und die Naturreligion<br />
berührt, um Erfahrung, Erahnung, Erfühlung, Einfühlungsvermögen (Empathie). Aber<br />
deshalb ist dieses mit emotionaler Intelligenz am ehesten erfassbare Wissen nicht weniger<br />
aussagekräftig als eine Schulwissenschaft, die vielleicht die mineralische Zusammensetzung<br />
von Steinen sezieren kann, aber über wenig Vorstellung von der Beziehung Mensch-Natur<br />
verfügt. Oder wie die Herausgeber des Geomantie-Buches schreiben: Es ist Weisheit, „die das<br />
Erfahrungswissen einer Hebamme vom akademischen Wissen eines Gynäkologen<br />
unterscheidet.“<br />
Wege aus der Einfalt der Sezier-Wissenschaft<br />
Buchtitel aus dem<br />
Drachen-<strong>Verlag</strong>.<br />
(Foto:<br />
Bei Lara Mallien und Johannes Heimrath heißt es: „Der größte Reiz der<br />
Geomantie scheint zu sein, dass sie einen Weg aus dem<br />
Reduktionismus freilegt, den viele noch immer für die Essenz<br />
zeitgemäßer Wissenschaft halten. Die Geomantie kann der<br />
entzauberten Welt einen Teil ihrer magisch-beseelten Qualität<br />
zurückgeben, ohne den Verstand zu beleidigen und ohne einen naivheilen<br />
Urzustand zu beschwören.“<br />
Es sind neue Wege nötig, die aus der Einfalt der Sezier-Wissenschaft<br />
herausführen. Die Autoren John Briggs und David F. Peat haben in<br />
ihrem 1999 erschienen Buch „Die Entdeckung des Chaos“ (dtv-<br />
Taschenbuch) diesen Reduktionismus so beschrieben: „Im<br />
wesentlichen ist der Reduktionismus die Natursicht eines Uhrmachers.<br />
Eine Uhr lässt sich auseinander nehmen und in ihre Bestandteile wie<br />
Zahnräder, Hebelchen, Federn und Triebwerk zerlegen. Sie lässt sich<br />
aus diesen Teilen auch wieder zusammensetzen. Der Reduktionismus<br />
starkesleben.de)<br />
stellt sich auch die Natur als etwas vor, was sich zusammensetzen und auseinander nehmen<br />
lässt. Reduktionisten glauben, dass auch die komplexesten Systeme aus atomaren und<br />
subatomaren Entsprechungen von Federn, Zahnrädchen und Hebeln bestehen, die die Natur<br />
auf unendlich vielfältige, geniale Art kombinierte.“<br />
Aber diese Sicht ist längst nicht mehr zeitgemäß und wird zunehmend durch eine<br />
ganzheitliche Welterfahrung abgelöst, die weiß, dass Leben und Natur mehr ist, als einfach<br />
nur die Summe ihrer Teile.<br />
Und was hat unsere heutige Gesellschaft davon, wenn sie sich mit dem Wesen der Geomantik<br />
auseinandersetzt? Wenn Sie hinter die Geheimnisse unseres Planeten und seiner Beziehung<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 34<br />
zu uns Menschen zu blicken versucht? Hierzu gibt es eine treffende Zusammenfassung in<br />
dem Band „Was ist Geomantie“. Die Herausgeber schreiben: „Wirklich interessant ist die<br />
Frage, was unsere Wahrnehmung der Kräfte eines Orts bei uns persönlich bewirkt, und ob<br />
aus dieser Wahrnehmung die Inspiration für eine Handlung entspringt – sei es ein Haus, das<br />
an diesem Ort entsteht, oder auch nur ein Lied, das hier gesungen wird -, die etwas Schönes<br />
und Lebensförderndes in die Welt bringt. Ein solcher Prozess ist höchst wertvoll, aber nichts,<br />
was sich naturwissenschaftlich fassen ließe.“<br />
Geheimnisse von der Lebenslinie des Kontinents Eurasien<br />
„Eine der faszinierendsten Erscheinungen unserer Erde ist die<br />
Lebenslinie des Kontinents Eurasien, die sich über viele Tausende<br />
von Kilometern von Spanien bis zum Ural erstreckt“, schrieb<br />
Olenin Terek in der Ausgabe EM 10-08. „Von hier werden die<br />
Flüsse der einen Hälfte des Erdteils ins Mittelmeer, ins Schwarze<br />
Meer und ins Kaspische Meer gelenkt, während die andere Hälfte<br />
der Gewässer nach Westen in den Atlantischen Ozean, in Nordund<br />
Ostsee, sowie ins nördliche Eismeer fließt. (Diese Linie setzt<br />
sich weiter fort bis zum Pamirgebirge, zum Indus und an den<br />
Pazifischen Ozean).“<br />
Die große Europäische Wasserscheide ist ein Phänomen, das sich<br />
Erlebte Geomantik auf natürlich auch naturwissenschaftlich, schulwissenschaftlich<br />
dem Heidenpfad der sezieren lässt. Aber wirklich erklärbar ist es nicht. Ihr Sosein bleibt<br />
Europäischen<br />
letztlich ein Rätsel, das sich von Gibraltar im Dunstkreis Afrikas bis<br />
Wasserscheide: an den viele tausend Kilometer entfernten Ural erstreckt. Urmeere,<br />
Buchneuerscheinung Gletschergeschiebe und der Malstrom von Jahrmillionen haben<br />
aus dem Eurasischen daran „gearbeitet“. Heute entstehen darauf immer mehr<br />
<strong>Verlag</strong>.<br />
Wanderwege. Die Schwäbische Alb, über die der Höhenstrom der<br />
(Foto: <strong>Eurasischer</strong> Wasserscheide verläuft, ist eine Art natürlich gewachsener<br />
<strong>Verlag</strong>)<br />
Geopark, ebenso die Frankenhöhe und auch die anderen<br />
Abschnitte dieses Naturwunders.<br />
Es ist schier unausweichlich, dass dort – an solchen Kraftorten, auf derartigen<br />
geomantischen Linien – auch besondere Gedanken und Botschaften sich einfinden. Wie<br />
beispielsweise die „Zwölf Geheimnisse für ein starkes Leben“, die in dem Buch von Friedrich<br />
Georg Wick enthalten sind, das den Titel „Der Heidenschwanz“<br />
(http://www.heidenschwanz.de/) trägt. Leser und Zuhörer, die bei Auftritten des Autors<br />
erstmals davon hören, werden regelmäßig in ihren Bann gezogen.<br />
Es sind einfache Rituale, die ein Leben zum Besseren verändern. Friedrich Georg Wick hat<br />
sie aufgezeichnet und in eine zeitgemäße Sprache übersetzt. Sie lauten: „Gewinne den Tag! –<br />
Teile den Tag! – Stimuliere die Kraft! – Lade Dein Kraftfeld! – Gib Dich dem Leben! – Suche<br />
zwölf Blicke! – Wechsle zwölf Schritte! – Öffne die Spirale! – Suche die Nacht auf! – Sende<br />
Deine Seele! – Zeuge unter einem guten Stern!“ Wick hat auf nur 77 <strong>Seite</strong>n jene uralten<br />
Geheimnisse und kosmischen Zusammenhänge zugänglich gemacht, die den Leser in<br />
Erstaunen versetzen und die wichtig sind, für ein langes und starkes Leben.<br />
Die Geomantiklade als Kraftort in der eigenen Wohnung<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 35<br />
Geomantiklade offen, als<br />
Schatztruhe und Buchstütze<br />
verwendbar.<br />
Zurück zu den Schätzen der Erde, den Findlingen, die<br />
Menschen von ihren geomantischen Wanderungen<br />
mitbringen und die ihnen wert und teuer, nicht selten heilig<br />
sind. Diese intimen Kostbarkeiten bedürfen in Haus und<br />
Wohnung eines würdigen Ortes zu ihrer Aufbewahrung.<br />
Würdig, aber schlicht. Kein „Hausaltar“ aus dem bekannten<br />
Schnäppchenversand (sie werden dort tatsächlich<br />
angeboten), sondern eine persönliche Aufbewahrungsstätte.<br />
Was die Erde schenkt, womit sie verzaubert, findet Platz in<br />
der „Geomantiklade“ von starkesleben.de. Formschön,<br />
genialerweise auch als Buchstütze dienend, als Sockel für ein<br />
Räuchergefäß, und eben zur Aufbewahrung der Findlinge. So<br />
(Foto: starkesleben.de)<br />
wird die kleine Truhe zum Kraftort in der Wohnung. Ein geomantischer Ort im Haus. Fast<br />
eine heilige Stätte.<br />
*<br />
Siehe dazu auch EM 10-08 „Eurasische Spiritualität – vom Heidenpfad zum<br />
Heidenschwanz“, http://www.medizin-welt.info/aktuell/aktuell.asp?newsID=149 „Suche die<br />
Nacht auf“ und http://www.medizin-welt.info/aktuell/aktuell.asp?newsID=148 „Medizin-<br />
Welt SPEZIAL Heilende Blicke“.<br />
Die Zeitschrift „Hagia Chora“ finden Sie unter http://www.hagia-chora.org/<br />
Zu starkesleben.de gelangen Sie über http://www.geomantikart.de/start/ oder<br />
http://www.starkesleben.de/start/<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 36<br />
TÜRKEI<br />
TV-Serie „Güldünya“ – „Rufen Sie an, bevor es zu spät ist!“<br />
Mit einer Fernsehserie, die Fälle von Frauenmisshandlungen dokumentiert,<br />
wurde eine Erste-Hilfe-Hotline in der Türkei landesweit bekannt. Auch wenn<br />
die Serie mittlerweile abgesetzt wurde, hat sie doch das öffentliche Bewusstsein<br />
für die Problematik wecken können.<br />
Von Semiran Kaya<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
ie türkische TV-Serie „Güldünya“ hat in der türkischen Gesellschaft zur<br />
Sensibilisierung im Umgang mit dem Thema Gewalt gegen Frauen und Familien<br />
beigetragen. Gewalt gegen Frauen ist kein Einzelfall in der Türkei. Laut Statistik gehört sie<br />
für jede dritte Frau im Land zum Alltag. Wahrgenommen in der Gesellschaft wird sie aber<br />
erst, wenn Frauen erstochen oder erschossen werden, in vielen Fällen vom Vater, Ehemann<br />
oder Bruder.<br />
Aktuelle Zahlen der türkischen Generaldirektion für Frauen belegen zudem, dass jede vierte<br />
Frau durch die Gewalt vom Ehemann oder Partner verletzt und jede zehnte Frau von ihnen<br />
während der Schwangerschaft geschlagen wird. Kommen also Frauen „nur“ mit ein paar<br />
Brüchen oder Messerstichen davon, haben sie Glück.<br />
Der Fall von Güldünya<br />
Andere, wie Güldünya, überleben die Übergriffe der Männer nicht. Allein in den vergangenen<br />
zwei Märzwochen starben zwölf Frauen an zwölf Tagen durch brutale Männer-Attacken,<br />
meldet das unabhängige Medienportal „bianet“.<br />
Güldünya, eine 22jährige Türkin aus der südostanatolischen Stadt Bitlis, wurde von ihrem<br />
Vetter vergewaltigt und kurz nach der Geburt des Kindes von ihrem 20jährigen Bruder erst<br />
auf offener Straße angeschossen, dann in einem Istanbuler Krankenhaus mit einem<br />
Kopfschuss niedergestreckt.<br />
Heute, nach fünf Jahren, beschäftigt die Menschen noch immer der Mord an Güldünya.<br />
Denn Frauen, die der familiären Gewalt ausgesetzt sind, machen dies zumeist nicht<br />
öffentlich. Genau dies aber tat die gleichnamige Fernsehserie „Güldünya“, zu Deutsch<br />
„Blumenwelt“, und brach damit ein gesellschaftliches Tabu. Denn Zwangsverheiratungen,<br />
Misshandlungen, Vergewaltigungen und Ehrenmorde werden noch immer vertuscht oder nur<br />
mit geringen Strafen geahndet.<br />
Ausweg aus der Misere<br />
Weit verbreitet: Die Gewalt von Männern gegen Frauen gehört in vielen Städten der Türkei<br />
noch immer zum traurigen Alltag. Die Initiatoren, die erste Frauennotrufzentrale der Türkei<br />
und der bekannte Privatsender Star TV, ließen sich vom Istanbuler Frauenhaus „Mor Cati“<br />
beraten. Entsprechend authentisch wurden denn auch die Fälle von Misshandlungen in der<br />
Serie nachgestellt.<br />
Sie alle spielten sich zwar in Istanbul ab, hätten aber genauso gut in jeder beliebigen Stadt in<br />
der Türkei stattfinden können. Denn die Notrufnummer, die die Frauen in der Serie wählten,<br />
ist die echte.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 37<br />
Wie in der Serie selbst, wurde den Frauen nach jeder Sendung geraten „anzurufen, bevor es<br />
zu spät ist“. Somit konnten sich Frauen aus der gesamten Türkei bei der Hotline melden und<br />
sich - wie in der Serie - einen Ausweg aus ihrer Misere zeigen lassen - ein Sozialexperiment<br />
mit großem Erfolg.<br />
Aufwertung der Frauenarbeit<br />
„Nach der Serie liefen unsere Leitungen heiß. Wir bekamen viel mehr Aufmerksamkeit als<br />
wir durch eigene Aktivitäten hätten erreichen können“, resümiert Merve Arbas von der<br />
Hotline.<br />
Und sie lässt sogleich die Zahlen sprechen, die die psychologisch geschulten Frauen sowie<br />
zwei Anwältinnen sieben Tage die Woche rund um die Uhr in der landesweit ersten<br />
„Notrufzentrale gegen innerfamiliäre Gewalt“ seit Oktober 2007 bewältigt haben: 12.900<br />
Anrufe, davon 3.900 verletzte Frauen und Kinder durch familiäre Gewalt, 220 Notfälle und<br />
220 Frauen, die bis ins Frauenhaus begleitet wurden.<br />
Am meisten aber freut sich Arbas über die weitere Sensibilisierung der örtlichen Polizei als<br />
Folge der TV-Serie: „Wir haben 96 Polizeibeamte im Umgang mit Gewalt in den Familien<br />
geschult und die weit verbreitete Ansicht in der Polizei, 'dein Mann liebt dich, wenn er dich<br />
schlägt', hat durch die Serie weiter an Boden verloren.“<br />
Bildung schützt vor Schlägen nicht<br />
Dass Gewalt bildungsunabhängig ist, sprich, Bildung nicht vor Gewalt schützt, ist die<br />
wichtigste Erkenntnis, die die Frauen durch Güldünya gewinnen konnten, erklärt Fatma<br />
Budak vom Frauenhaus „Mor Cati“. Doch das positive Image der Frauenhäuser, das durch<br />
die Serie vermittelt wird - Frauenhäuser, die bis dahin als Gefängnisse verschrien waren -,<br />
erleichtere die Arbeit.<br />
Mit „Güldünya“ ist die Hotlinenummer bis in den Osten des Landes vorgedrungen. Hier, in<br />
der stark benachteiligten und konservativen Region, erhielten auch die unabhängigen<br />
Frauenvereine Anerkennung und Aufwertung ihrer sonst eher müde belächelten Arbeit.<br />
„Hier gibt es noch viele Ehrenmorde, der letzte geschah vor zehn Tagen“, erzählt Emine Baz<br />
vom Frauenverein in Van. „Im Osten eine Frau zu sein, ist viel härter und schwieriger. Mit<br />
‚Güldünya’ merkten die Frauen, dass sie mit ihrem Schicksal nicht alleine dastehen und<br />
etwas machen konnten. “Lediglich die Tatsache, dass in der Serie ein Mann im Frauenhaus<br />
arbeitete, störte sie.<br />
Mangelnde Courage der Frauen?<br />
„Güldünya“-Regisseur Ömür Atay nimmt diese Kritik gelassen auf und verweist auf all die<br />
Jugendlichen und jungen Männer, die im Namen der Ehre all die Morde oder Gewalttaten<br />
ausüben. Weil aber Öffentlichkeit genau das ist, was die Täter nicht wollen, weiß Atay,<br />
warum die Serie trotz großer Resonanz zu wenige Zuschauerzahlen hatte und deswegen<br />
schließlich eingestellt wurde:<br />
„Männer sind nicht nur im Alltag dominant, sondern auch im Fernsehen. Sie wollen sich<br />
nicht negativ dargestellt wissen. Aber entscheidend ist doch auch, dass sich Frauen nicht<br />
durchsetzen können. Ihnen fehlt meist der Mut.“<br />
Eine Frage des Geldes<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 38<br />
Auch wenn das gerade eingesetzte Umdenken sowie gesellschaftliche Aufklärung zum Thema<br />
familiäre Gewalt durch die Einstellung der Serie nun wieder gestoppt wurde, so hat die Serie<br />
doch einiges bewirkt: die Nummer der einzigen Notrufzentrale kennen mittlerweile nicht nur<br />
die türkischen Zuschauer. Auch türkischsprachige Migranten aus Deutschland, Muslime aus<br />
Frankreich, den USA und dem Iran nutzen das Angebot.<br />
Damit aber nicht auch noch die Hotline eingestellt wird, haben sich 13 berühmte<br />
Sängerinnen - wie die Popdiva Sezen Aksu - zusammengetan und die gleichnamige CD<br />
„Güldünya - Lieder von Frauen für Frauen“ herausgebracht.<br />
Das Konzert hierzu brachte der Frauennotrufzentrale 50.000 Euro ein. „Mor Cati“, das<br />
einzige Frauenhaus Istanbuls aber wird geschlossen. Der Grund: die Finanzierung durch EU-<br />
Gelder ist abgelaufen.<br />
Die „24-Stunden-Notrufzentrale gegen innerfamiliäre Gewalt“ (24 saat acik olan aile ici<br />
siddet acil yardim hatti): Tel: 0090-212-596 96 96<br />
© Qantara.de <strong>2009</strong> – dieser Beitrag wird vom Eurasischen <strong>Magazin</strong> mit freundlicher<br />
Genehmigung von Qantara nachveröffentlicht.<br />
*<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 39<br />
MUSIKWETTBEWERB<br />
Eine Ukrainerin singt für Russland<br />
Russland setzt beim Eurovision-Song-Contest nicht auf nackte Haut sondern auf<br />
Ausdruck und lässt dafür sogar eine Nichtrussin antreten.<br />
Von Ulrich Heyden<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
ei der russischen Vorauswahl für den Eurovision Song<br />
Contest gab die Stimmgewaltige Anastasija Prichodko<br />
ihr Letztes. Am Ende ihres Liedes „Mamo“ („Mama“)<br />
hockte die 21jährige auf den Knien im Zwiegespräch mit<br />
ihrer Mutter. „Du hast meine Seele nicht freigelassen“, klagt<br />
sie und schlägt mit der Hand auf den Boden. „Du hast mir<br />
gesagt, ich soll mir nichts wünschen.“<br />
Der Auftritt der schwarz gelockten Ukrainerin, der am<br />
Vorabend des Internationalen Frauentages vom russischen<br />
Pervyj Kanal übertragen wurde, unterschied sich auffallend<br />
von den übrigen Shows, bei denen immer viel nackte Haut<br />
Anastasija Prichodko<br />
zu sehen ist. Die 21jährige Sängerin aus Kiew, die Russland<br />
beim Eurovision Song Contest vertreten soll, trug ein langes schwarzes Kleid. Ganz anders<br />
noch die Ukrainerin Ruslana, die Siegerin vom Eurovision-Song-Contest 2004, die mit<br />
Leder-Flicken und halbnackt über die Bühne fegte.<br />
Eurovision-Finale diesmal in Moskau<br />
Für die Russen ist es dieses Jahr ganz besonders wichtig, wer das Land vertritt, denn das<br />
Finale des Eurovision-Wettbewerbs wird am 16. Mai das erste Mal in Moskau stattfinden.<br />
25 Prozent der russischen Fernseh-Zuschauer stimmten mit Telefon-Anrufen und SMS-<br />
Nachrichten überraschend für die Schwarzgelockte aus Kiew. Die Konkurrentinnen schafften<br />
es nicht: die blonde Walerija bekam nur 14 Prozent. Die Gruppe „Quatro“ wurde mit 12<br />
Prozent abgeschlagen.<br />
Völlig unbekannt ist Anastasija Prichodko in Russland nicht. Die Ukrainerin mit der starken<br />
Stimme hat bereits beim russischen Talentschuppen „Stern Fabrik“ einen Sieg eingeheimst.<br />
Mit dem Lied „Mamo“, das Anastasija (www.anastasya-prihodko.com) auf Russisch singt,<br />
den Refrain aber auf Ukrainisch, will die Sängerin aus Kiew jetzt den Sieg für Russland beim<br />
Eurovision-Song-Contest <strong>2009</strong> holen. „Die russische Auswahlkommission war mit meiner<br />
prinzipiellen Bedingung einverstanden, Mamo in der russischen Vor-Auswahl auf Ukrainisch<br />
und Russisch zu Singen“, erklärte die Sängerin auf einer Pressekonferenz.<br />
In Kiew durchgefallen<br />
Eigentlich wollte Anastasija beim Eurovision-Song-Contest <strong>2009</strong> die Ukraine vertreten. Doch<br />
beim Auswahlverfahren in Kiew fiel Anastasija durch, weil sie ihren Beitrag „Alles für Dich“<br />
auf Russisch sang und nicht wie vorgeschrieben auf Ukrainisch oder Englisch.<br />
Anastasija Prichodko ist Vollblut-Musikerin. Sie hat an der Kiewer Glier-Musik-Hochschule<br />
mit dem Schwerpunkt ukrainische Volksmusik studiert. Sie spielt nicht nur Klavier, sondern<br />
auch Flöte und Gitarre. Schon als 15jährige träumte sie davon, in der ukrainisch-russischen<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 40<br />
Mädchen-Band „VIA Gra“ zu Singen. Nun hat es endlich geklappt. Sie ist ein Star und bald<br />
auch in Europa bekannt.<br />
Dass in Russland nicht alle mit der Wahl der Ukrainerin einverstanden sein würden, war<br />
abzusehen, aber dass plötzlich eine hitzige Debatte um Anastasija aufkommen würde, damit<br />
hatte Niemand gerechnet. Iosif Prigoschin, Producer der russischen Mitbewerberin Walerija,<br />
forderte eine Wiederholung der Wahl. Man müsse „eine andere Person zur Eurovision<br />
schicken“, schimpfte Prigoschin. „Ein Lied, das in der ukrainischen Sprache vorgetragen<br />
wird, hat mit Russland nichts zu tun.“ Haben wir nicht selbst genug gute Sängerinnen? fragte<br />
eine Kommentatorin im russischen Kanal TV Zentr trotzig.<br />
Umstrittene Äußerungen<br />
Die Debatte wurde auch im Internet geführt. Einer der Prichodko-Gegner hatte im Archiv der<br />
russischen Schlager-Sendung „Stern Fabrik“ gesucht und einige hässliche Äußerungen der<br />
Sängerin gefunden. Bei einem Streit in einer Küche hatte Anastasija vor zwei Jahren frech<br />
verkündet, „ich mag keine Neger und Chinesen“. Plötzlich beschuldigten russische Medien<br />
die Sängerin als Rassistin. Doch in einem Interview mit dem Moskauer Massenblatt<br />
Moskowskije Komsomolez erklärte Prichodko, die Äußerungen von damals täten ihr leid.<br />
„Das waren Emotionen, mit denen ich nicht klar gekommen bin.“ Mit Faschismus und<br />
Rassismus habe sie nichts zu tun. „Wie kann man mich des Faschismus bezichtigen, wenn<br />
mein Großvater, Michail Nikititsch Prichodko im Großen Vaterländischen Krieg kämpfte, mit<br />
dem Orden „Für die Eroberung von Berlin“ ausgezeichnet wurde und seinen Namen an den<br />
Reichstag schrieb?“ Im Übrigen verwies die 21jährige darauf, dass ihr Vater Russe, ihre<br />
Mutter Ukrainerin und ihre beste Freundin Jüdin sei.<br />
Jubel bei russischen Kommentatoren<br />
Kreml-nahe Kommentatoren waren von Anfang an begeistert, dass Russland von einer<br />
Ukrainerin vertreten wird. Dass Russland mit einem Lied in der ukrainischen Sprache<br />
vertreten wird, sei „ganz phantastisch, vom politischen Gesichtspunkt aus“, meinte Maksim<br />
Kononenko, Kommentator der Zeitung „Wsgljad“. Im Übrigen sei ja Ukrainisch auch eine<br />
„sehr schöne Sprache“.<br />
Der Eurovision Song Contest ist dieses Jahr also eine hochpolitische Angelegenheit. Während<br />
die Georgier mit einem Schmäh-Lied auf Putin auftreten wollen, ist eine Ukrainerin, die für<br />
Russland singt, nach dem Gas-Streit im Januar ganz nach dem Geschmack des Kremls. Mit<br />
Anastasija kann man zeigen, dass Russland und die Ukraine eigentlich zusammen gehören.<br />
Die Netzseite von Anastasija Prichodko: http://www.anastasya-prihodko.com/<br />
*<br />
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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 41<br />
RUSSLAND<br />
Anschlag auf Oppositions-Politiker in Sotschi<br />
Aktivisten der kremlnahen Jugendorganisation Naschi überschütten den<br />
Oppositions-Politiker Boris Nemzow mit einer Ammoniak-Lösung<br />
Von Ulrich Heyden<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
it ängstlicher Stimme meldete sich der russische Oppositions-Politiker am 22. März<br />
im Telefon-Interview mit „Radio Echo Moskwy“ zu Wort. Das sei „kein schönes<br />
Gefühl“ Ammoniak in den Augen zu haben, erklärte der Politiker, der am Montag Morgen<br />
vor seinem Wahlkampfbüro in Sotschi von drei jungen Leuten mit einer Ammoniak-Lösung<br />
übergossen worden war.<br />
Nemzow, der zu den Bürgermeisterwahlen am 26. <strong>April</strong> in Sotschi kandidieren will, meinte,<br />
Moskauer Mitglieder der kremlnahen Jugendorganisation Naschi ständen hinter dem<br />
Anschlag. „Wir haben sie erkannt“, erklärte Nemzow, der in den 1990er Jahren unter Boris<br />
Jelzin Vizepremier war. Die Ammoniak-Lösung gelangte nicht nur auf die Hände von<br />
Nemzow, eine geringe Menge gelangte auch in seine Augen. In dem Radio-Interview erklärte<br />
Nemzow, es gehe ihm den Umständen entsprechend gut, weil er sich die Augen schnell habe<br />
waschen können. Ammoniak wirkt auf feuchte Körperoberflächen ätzend. Wie Ilja Jaschin,<br />
der Wahlkampfhelfer von Nemzow in seinem Blog berichtete, sei der Oppositionspolitiker<br />
zunächst von einem „Provokations-Transvestiten“ abgelenkt worden, der ihm einen Strauß<br />
Rosen überreichen wollte. Unmittelbar darauf habe man Nemzow dann mit der ätzenden<br />
Flüssigkeit übergossen.<br />
Offener Brief an Präsident Dmitri Medwedjew<br />
Nemzow, der für das neue Oppositionsbündnis Solidarnost kandidiert, hatte am Montag in<br />
einem in der Novaya Gazeta publizierten Offenen Brief an Kreml-Chef Dmitri Medwedew,<br />
dringend darum gebeten, dass die Winterolympiade 2014 an verschiedenen Orten Russlands<br />
und nicht nur in Sotschi stattfindet, denn die Urlaubs-Region Sotschi am Schwarzen Meer<br />
werde durch die massiven Bau-Maßnahmen unweigerlich zerstört. Außerdem seien durch die<br />
aufwendigen Verkehrsverbindungen zwischen dem Schwarzen Meer und den Bergen die<br />
Kosten für die Olympiade in Sotschi fünf bis sechs Mal höher als bei den olympischen<br />
Winterspielen in Salt Lake City, Turin und Lillehammer.<br />
Der Anschlag auf Nemzow zeigt: Die Bürgermeisterwahlen in der Olympia-Stadt werden hart<br />
und spannend. Bereits 14 Personen haben ihre Kandidatur angekündigt, darunter weitere<br />
bekannte Politiker, wie der berüchtigte Ex-Geheimdienst-Major Andrej Lugowoi, der seit<br />
Januar 2008 für Schirinowskis Liberaldemokraten in der Duma sitzt. Der 42jährige machte<br />
2006 international Schlagzeilen. Scotland Yard forderte die Auslieferung von Lugowoi. Der<br />
Duma-Abgeordnete steht im Verdacht, den Kreml-Kritiker Aleksander Litwinenko in London<br />
mit radioaktivem Polonium vergiftet zu haben.<br />
Auch Aleksandr Lebedew, der russische Milliardär und Miteigentümer der kremlkritischen<br />
„Nowaja Gaseta“, hat seine Kandidatur für die Wahlen in Sotschi angekündigt. Lebedew, der<br />
zu den gemäßigten Kreml-Kritikern gehört, erklärte in seinem Blog, es hätten sich viele<br />
Bürger aus Sotschi an ihn gewandt, und gebeten, er solle das „große Knäuel brennender<br />
Probleme“ in der Olympia-Stadt lösen helfen.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 42<br />
GASSTREIT<br />
Russland fühlt sich hintergangen<br />
Weil die EU Kiew bei der Modernisierung seiner Pipelines helfen will und<br />
Russland nicht mit einbezogen wurde, gibt es Protest aus dem Kreml.<br />
Von Ulrich Heyden<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
utin fährt schweres Geschütz auf und warnt vor einer Isolierung Russlands. Kreml-Chef<br />
Dmitri Medwedew setzte die für den 8. <strong>April</strong> in Moskau geplanten russischukrainischen<br />
Regierungskonsultationen aus. Anlass für die Zuspitzung in den Beziehungen<br />
zwischen Moskau auf der einen und der EU und der Ukraine auf der anderen <strong>Seite</strong> ist ein am<br />
Montag in Brüssel im Beisein des ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko und der<br />
ukrainischen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko unterzeichnetes Dokument, nach dem<br />
die ukrainischen Gas-Transit-Pipelines mit einem 1,9-Mrd.-Euro-Kredit der EU modernisiert<br />
werden sollen.<br />
Im Gegenzug sichert die Ukraine zu, dass europäische Investoren Zutritt zu Pipelines und<br />
Gasspeichern in der Ukraine bekommen. Außerdem verpflichtet sich die Ukraine den<br />
nationalen Gasmarkt bis 2011 nach europäischem Vorbild zu modernisieren. Unmittelbar vor<br />
der Unterzeichnung der Deklaration verließen der russische Energie-Minister Sergej<br />
Schmatko und der stellvertretende Gasprom-Chef Waleri Golubew den Saal. Sie erklärten, es<br />
sei sowieso „schon alles entschieden“, Russland sei in das Projekt nicht mit einbezogen<br />
worden. Gasproms Golubew erklärte, die Summe für die Pipeline-Modernisierung sei viel zu<br />
niedrig angesetzt. Die Ukraine brauche insgesamt 16 Milliarden Dollar.<br />
Man darf die Pläne nicht ohne den Gaslieferanten machen<br />
Wladimir Putin drohte der EU: „Wenn die Interessen Russlands ignoriert werden, sind wir<br />
gezwungen, die Prinzipien in unseren Beziehungen zu überdenken.“ Der Plan der<br />
ukrainischen Ministerpräsidentin, den Gas-Transit aus Russland nach Europa durch eine<br />
Modernisierung der ukrainischen Leitungen um 58,6 Milliarden Kubikmeter jährlich zu<br />
erhöhen, bezeichnete der russische Premier als „sinnlos“, da man solche Pläne nicht ohne<br />
den Gas-Lieferanten machen könne. Die Deklaration sei „undurchdacht“ und<br />
„unprofessionell“. Der russische Premier sprach sich dafür aus, das 2002 auf Regierungs-<br />
Ebene bereits vereinbarte Projekt eines Gas-Transport-Konsortiums der Ukraine, Russlands<br />
und der EU weiter zu verfolgen. Dieses Konsortium von Privat-Unternehmen könnte das<br />
Pipeline-Netz von der Ukraine mieten. So blieben die Pipelines Eigentum der Ukraine.<br />
Der Sprecher des russischen Außenministeriums, Andrej Nesterenko erklärte, sobald Schritte<br />
nicht mit Russland abgestimmt seien, erhöhe dies die „technologischen Risiken und mögliche<br />
Unterbrechungen der Gaslieferungen in die Ukraine und nach Europa“.<br />
Die ukrainische Ministerpräsidentin, Julia Timoschenko, wies die Anschuldigungen von<br />
russischer <strong>Seite</strong> zurück. „Vielleicht gefällt Russland irgendetwas nicht. Aber Schachtjor<br />
(ostukrainischer Fußballclub) hat auch ZSKA bei der Fußball-Europa-Meisterschaft besiegt.<br />
Die Ukraine verteidigte nur ihre Interessen.“<br />
Der Konflikt überdeckt den innerukrainischen Machtkampf<br />
Timoschenko erklärte, die Ukraine und die EU beabsichtigten Russland als Partner in das<br />
Programm zur Pipeline-Modernisierung „mit einzubeziehen“. Wenn Gasprom sich an dem<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 43<br />
Programm beteiligen wolle, „können wir das nur begrüßen“. Der EU-Energie-Kommissar<br />
Andris Piebalgs erklärte, man habe nicht die Absicht, die Position von Gasprom in der<br />
Europäischen Union zu schwächen.<br />
Der neue Konflikt zwischen Russland und der Ukraine im Bunde mit der EU überdeckt den<br />
inner-ukrainischen Machtkampf zwischen Juschtschenko und Timoschenko, die bei<br />
Präsidentschaftswahlen Ende des Jahres gegeneinander antreten. Seit Monaten läuft ein<br />
Machtkampf zwischen den beiden Politikern, der mit harten Bandagen geführt wird. So<br />
hatten am 4. März bewaffnete und maskierte Mitarbeiter des ukrainischen Geheimdienstes<br />
SBU auf Anordnung des ukrainischen Präsidenten die Zentrale des ukrainischen Naftogas-<br />
Konzerns besetzt. Sie forderten das Original des Gas-Vertrages mit Russland, der am 20.<br />
Januar nach zweiwöchiger Gas-Blockade im Beisein von Timoschenko unterzeichnet worden<br />
war und die Gaspreise für die nächsten zehn Jahr festlegt. Juschtschenko kritisiert, dass<br />
Timoschenko gegenüber Russland zurückweicht, nicht nur beim Gaspreis, sondern auch im<br />
letzten Jahr beim Krieg in Georgien.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 44<br />
MAROKKO<br />
Ceuta und Melilla: Die beiden letzten europäischen<br />
Kolonien in Afrika<br />
Sind Ceuta und Melilla Exponate europäischer Fremdherrschaft oder Teile des<br />
„christlichen“ Spaniens?<br />
Von Mohammed Khallouk<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
Am Gebäude der Kathedrale<br />
von Ceuta kann beim genauen<br />
hinsehen noch erkennen, dass<br />
es sich ursprünglich um eine<br />
Moschee gehandelt hat.<br />
er Prozess der Wiedererlangung der Souveränität<br />
Marokkos begann 1956 mit der Beendigung der<br />
französischen Protektoratsherrschaft und dem Abzug<br />
der Spanier aus der Rifregion. Mit dem „grünen Marsch“<br />
von 1975 und einem bilateralen Abkommen mit Spanien<br />
war er nahezu abgeschlossen. Damit war das letzte größere<br />
zusammenhängende Territorium Afrikas von einer<br />
europäischen Kolonialmacht an einen souveränen<br />
afrikanischen Staat übergegangen. Die Spanier behielten<br />
allerdings bis in die Gegenwart zwei Städte an der<br />
nordafrikanischen Mittelmeerküste unter ihrer<br />
Verwaltungshoheit und erklärten diese beiden von<br />
marokkanischem Staatsgebiet umschossenen Enklaven<br />
Ceuta und Melilla zur „espaniolidad“, d.h. zu einem<br />
elementaren Bestandteil der spanischen Nation.<br />
Die Befreiung der Westsahara hatte auf marokkanischer <strong>Seite</strong> den seit dem<br />
Unabhängigkeitskampf gegen die Protektoratsherrschaft bestehenden Anspruch auf diese<br />
beiden Städte als Teile des „ursprünglichen Marokkos“ noch verstärkt. Von Spanien werden<br />
sie stattdessen mit dem Argument, seit Jahrhunderten zum spanisch-christlichen<br />
Zivilisationsgebiet zu zählen und somit keine Kolonien im klassischen Sinne darzustellen, in<br />
der eigenen Obhut belassen. Man stützt sich auf die nicht zu leugnende Tatsache, dass<br />
sowohl in Ceuta als auch in Melilla die spanische Sprache und das katholische Christentum<br />
ebenso wie auf der als „Peninsula“ bezeichneten iberischen Halbinsel die kulturprägenden<br />
Merkmale der Bevölkerungsmajorität darstellten. Von den christlich-spanisch geprägten<br />
Eliten wird eine Identitätsbeziehung in der bewussten Abgrenzung von den „moros“ gepflegt<br />
- einer abwertenden Bezeichnung für Muslime im allgemeinen und Marokkaner im<br />
besonderen.<br />
Christliches Traditionsbewusstsein bestimmt das der Öffentlichkeit vermittelte Stadtbild<br />
während muslimische Rituale sich auf die mehrheitlich von marokkanischstämmiger<br />
Bevölkerung bewohnten Stadtrandviertel beschränken. Vor diesem Hintergrund erscheint<br />
die Klärung der künftigen territorialen Zuständigkeit kaum ohne Widerstände von der einen<br />
oder anderen <strong>Seite</strong> erreichbar. Noch bedeutender erscheint jedoch die Geschichte und ihre<br />
jeweilige Gewichtung zu sein.<br />
Hispanifizierung statt gleichberechtigtes Miteinander der Kulturen<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 45<br />
Die mittelalterliche<br />
Stadtbefestigung auf einem Hügel<br />
der Stadt Ceuta.<br />
Das Kollektivbewusstsein beider <strong>Seite</strong>n knüpft an eine<br />
seit mittelalterlicher Zeit von der Religion dominierte<br />
Identitätspflege an. Sie stammt aus der Zeit der<br />
Kreuzzüge und der Reconquista, der Rückeroberung des<br />
seinerzeit muslimischen Südspaniens durch die<br />
christlichen Dynastien aus dem Norden des Landes im<br />
14. und 15. Jahrhundert. Dem stand ein von<br />
muslimischer <strong>Seite</strong> mystifizierter „islamischer Djihad“<br />
entgegen, der über lange Zeit hinweg die<br />
Wiederherstellung des maurischen al-andalus zum<br />
Fernziel erklärte.<br />
Kaum war die Rechristanierung der Peninsula vollendet, drangen die christlichen Eroberer<br />
Spaniens und Portugals auf den afrikanischen Kontinent vor und errichteten dort<br />
Küstenkolonien. Darunter eben Ceuta, das unter dem Namen Septa bereits zur Römerzeit als<br />
Stadt existierte und seit der Islamisierung 709 ununterbrochen einen arabischen Charakter<br />
besessen hatte. Dazu gehörte aber auch Melilla, eine phönizische Stadtgründung, die über<br />
Jahrhunderte hinweg einen bedeutenden Grenzposten der von Fes aus regierenden<br />
marokkanischen Dynastien dargestellt hatte. Ceuta wurde bereits 1415 von den Portugiesen<br />
erobert und fiel als Ergebnis eines spanisch-portugiesischen Krieges 1668 an Spanien. Melilla<br />
wurde 1497 von Spanien erobert. Die beiden Küstenkolonien dienten zum einen als<br />
Vorposten zur Absicherung des iberischen Hinterlandes gegen die immer wieder<br />
verkündeten arabischen Rückeroberungsbestrebungen, zum anderen aber auch als<br />
Stützpunkte, von denen aus mehrere erfolglose Versuche einer Kolonisierung des<br />
afrikanischen Kernlandes erfolgten.<br />
Marokkanisch-berberische Bevölkerung als Rekruten für die Fremdenlegion<br />
Die touristisch ausgerichtete<br />
Uferpromenade von Ceuta.<br />
Um die christliche Dominanz in den Städten abzusichern,<br />
war Nichtchristen bis Mitte des 19. Jahrhunderts jegliche<br />
Ansiedlung dort untersagt. Konnten Juden und in geringem<br />
Umfang auch Hindus sich nunmehr hier niederlassen, blieb<br />
dies Muslimen sogar bis kurz vor der Wende zum 20.<br />
Jahrhundert verwehrt und auch hernach konnten sie nicht<br />
ins Stadtzentrum ziehen, sondern ihnen wurden neu zu<br />
erschließende Außenbezirke zugewiesen. Erst die Existenz<br />
des spanischen Protektorats (1912-1956) im angrenzenden<br />
Rifgebiet hob die Grenzsicherungsfunktion aus spanischer<br />
Sicht auf. In der Folge zeigten die Behörden sich einer<br />
Immigration der marokkanisch-berberischen Bevölkerung<br />
gegenüber aufgeschlossener und förderten diese sogar in gewissem Umfang. Dies auch<br />
deshalb, weil man die Einwanderer als Rekruten für die Fremdenlegion und als billige<br />
Arbeitskräfte benötigte.<br />
Die räumliche Segregation blieb jedoch weitgehend erhalten und ging mit einer<br />
sozioökonomischen und politischen Segregation einher. Die Muslime blieben auf bestimmte<br />
Wirtschaftssektoren beschränkt, erhielten nicht den kollektiven Zugang zu schulischer<br />
Allgemeinbildung, die sich für die spanisch-christliche Bevölkerung mehr und mehr zur<br />
Selbstverständlichkeit entwickelte. Juristisch als Ausländer angesehen, blieben ihnen zudem<br />
die spanischen Staatsbürgerrechte bis Ende der 1980er Jahre vorenthalten. Erst die<br />
Massenproteste gegen ein 1986 geplantes Ausländergesetz erreichten die Zusicherung,<br />
spanische Ausweise und infolge dessen die vollen Staatsbürgerrechte erlangen zu können.<br />
Das geplante Gesetz hatte vorgesehen, dass die hier bereits seit mehreren Generationen<br />
lebenden Muslime als „Nichtspanier“ ohne bürokratische Hindernisse hätten ausgewiesen<br />
werden können.<br />
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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 46<br />
Die Verpflichtung zur Akzeptanz einer von christlichen Ritualen bestimmten<br />
Staatsrechtsordnung erweist sich jedoch nach wie vor als kaum zu überwindende Hürde, da<br />
man sich nicht nur ethnisch und religiös-kulturell als Marokkaner empfindet, sondern die<br />
Städte ebenso als Teil der marokkanischen, an der Scharia orientierten Nation auffasst. Es<br />
handelt sich hierbei um ein Bewusstsein, das in Marokko in der Zivilbevölkerung beständig<br />
aufrecht erhalten wird und von radikalen Islamisten als Zurückweisung jeglicher origin<br />
nichtislamischer Normvorschriften interpretiert wird. Die Massenproteste gegen die<br />
Zementierung der rechtlichen Sonderstellung der Marokkaner über die in den 80er Jahren<br />
geplanten Ausländergesetze, die in den nachfolgenden Jahren, sich nun gegen den<br />
erschwerten Zugang zu staatlicher Ausbildung und soziökonomischen Ressourcen richtend,<br />
in eine Bürgerbewegung hineinmündeten, dienten in Marokko folglich als Legitimation für<br />
die Aufrechterhaltung des Besitzanspruchs auf die beiden spanischen Enklaven.<br />
Spanische Staatsbürgerschaft – Verrat am Islam?<br />
Die alte Festung dient heute<br />
als Restaurant.<br />
Denjenigen Marokkanern, die sich mittlerweile zur<br />
Übernahme der spanischen Staatsbürgerschaft entschieden<br />
haben, wird daher von islamistischer <strong>Seite</strong> nicht selten ein<br />
Verrat am Islam und der marokkanischen Identität<br />
vorgehalten. Zugleich sieht man sich von der christlichen<br />
Stadtbevölkerung dem Vorwurf gegenüber, lediglich die<br />
sozialrechtlichen Vergünstigungen des spanischen Staates<br />
in Anspruch zu nehmen, jedoch keine Bereitschaft zu<br />
zeigen, sich in die „spanisch-christliche Gesellschaft“ zu<br />
integrieren und im Sinne Spaniens zu verpflichten.<br />
Politische Instrumentalisierung und soziale<br />
Ungleichheit erschweren die Lösungssuche<br />
Die divergenten Identitätsbeziehungen, die geographische Lage als von marokkanischem<br />
Territorium umschlossene Enklaven und nicht zuletzt die Instrumentalisierung der nach wie<br />
vor ungeklärten Zukunft der beiden Städte sowohl von <strong>Seite</strong>n der Islamisten als auch<br />
rechtsgerichteter spanischer Eliten für ihre These einer permanenten Rivalität zwischen der<br />
vom Christentum geprägten westlichen und der vom Islam dominierten marokkanischen<br />
Kultur lassen eine endgültige Klärung der politisch-territorialen Zugehörigkeit in absehbarer<br />
Zeit für unausweichlich erscheinen.<br />
Wessen Anspruch auf die Hoheit über die beiden Städte erweist sich nun aber als<br />
rechtmäßig? Beide <strong>Seite</strong>n argumentieren vordergründig mit der Historie, wobei man die von<br />
der anderen Kultur und Religion bestimmte, Jahrhunderte währende Epoche entweder<br />
ignoriert oder für die zivilisatorische Entwicklung der Städte als unbedeutend auffasst. Wird<br />
in spanischen Geschichtsbüchern die arabisch-maurische Epoche, die immerhin fast<br />
siebenhundert Jahre andauerte, nur als kurze „Zwischenphase“ in einer „christlich<br />
dominierten Stadthistorie“ herabgewürdigt, so beginnt in der Darstellung mancher<br />
marokkanischer Historiker mit der Übergabe an Portugiesen und Spanier im 15. Jahrhundert<br />
die „Dekadenz“ und der zivilisatorische „Rückschritt“.<br />
Nach Auffassung vieler christlich geprägter Stadtbewohner, stellen die „moros“ nur eine<br />
geringer gebildete und zivilisierte ethnische Minorität dar, der ein förderlicher Beitrag zur<br />
Stadtkultur abgesprochen wird Vor allem radikale Islamisten unterstellen der christlichen<br />
Majorität generell, dass sie die Nichtchristen kulturell beherrschen und ihrer islamischen<br />
Identität zu distanzieren beabsichtigen. Sie versuchten auf diese Weise die Mitte des 20.<br />
Jahrhunderts offiziell für beendet erklärte Kolonialpolitik fortzusetzen.<br />
Die marokkanischen Nachbarprovinzen profitieren gegenwärtig von den Enklaven, über die<br />
der illegale Warenaustausch mit der EU erfolgt. Der fortdauernde Verweis der<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 47<br />
marokkanischen Regierung auf die „fortbestehenden Kolonien“ wird nicht zuletzt für<br />
Zugeständnisse Madrids und Brüssels in anderen Konflikten wie der illegalen Einwanderung<br />
nach Europa und Handelsstreitigkeiten als Druckmittel eingesetzt. Eine Funktion, die mit<br />
der Eingliederung in den marokkanischen Staatsverband verloren ginge.<br />
Friedliche Bewältigung oder Aufrechterhaltung des Status Quo?<br />
Ceuta und Melilla: Die beiden<br />
letzten europäischen Kolonien in<br />
Afrika<br />
Dennoch belegt gerade jene Instrumentalisierung wie<br />
notwendig die Übergabe dieser beiden letzten von einem<br />
europäischen Staat beherrschten afrikanischen Enklaven<br />
ist. Hinzu kommt, dass durch die Einbeziehung der<br />
Städte als „vollständig integrierter Bestandteil in EU und<br />
NATO“ der Eindruck einer Südbedrohung Europas und<br />
vor allem Spaniens durch die afrikanisch-muslimische<br />
Kultur aufrechterhalten wird. Auf diese Weise erfolgt<br />
gleichermaßen eine Instrumentalisierung für ein exklusiv<br />
verstandenes „europäisches Modell“, das sich gegen<br />
Kultureinflüsse von außen absichern müsse.<br />
Voraussetzung für die Akzeptanz der Übergabe der beiden Enklaven an Marokko bei der<br />
christlich-spanisch geprägten Bevölkerung ist jedoch, dass auf beiden <strong>Seite</strong>n die divergente<br />
Kultur und Religion nicht mehr als Instrument zur Abgrenzung eingesetzt werden kann.<br />
Eventuell erscheint ein Sonderstatus innerhalb des marokkanischen Rechtsgebiets ein<br />
erstrebenswertes Ziel, wie dies gegenwärtig auch für die Westsahara angestrebt wird.<br />
Erfolgreiche Beispiele dieser Art sind zahlreich, nicht zuletzt in Europa, wo ethnische<br />
Minoritäten wie die Südtiroler in Italien weitgehende Autonomie erhalten haben, so dass sie<br />
die Zugehörigkeit zu einem Staat mit mehrheitlich anderer Ethnie und Sprache in keiner<br />
Weise als Benachteiligung sehen. Als entscheidend wird sich allerdings erweisen, ob es<br />
gelingt, dem islamischen wie christlichen Gleichheitsideal entsprechend Chancengleichheit<br />
vor allem hinsichtlich des kollektiven gleichberechtigten Zugangs zu moderner<br />
Allgemeinbildung und beruflicher Karriere herzustellen. Anstatt jährlich Millionen Euro aus<br />
Madrid und Brüssel an Subventionen in die Infrastruktur von zwei jenseits der europäischen<br />
Grenzen gelegene Städte hineinzustecken, von denen nicht einmal alle Stadtbewohner dort<br />
profitieren, könnte man ganz Marokko an moderner Infrastruktur, wie sie in Europa<br />
vorhanden ist, teilhaben lassen. Diese würde den christlichen und muslimischen<br />
Bevölkerungsteilen gleichermaßen dienen und die alte Verbindung der beiden Städte zum<br />
Hinterland für legale Wirtschaftszweige attraktiv werden lassen.<br />
Ein Rückgang der Armutsmigration wie des informellen Sektors wäre ebenso die Folge wie<br />
die Erkenntnis der christlich geprägten Bewohner, dass ihre muslimischen Nachbarn, mit<br />
modernen Ressourcen ausgestattet, gleichermaßen zu Fortschritt und Entwicklung<br />
beizutragen in der Lage sind. Einer Überheblichkeit einhergehend mit der Aufrechterhaltung<br />
eines kolonialen Herrschaftsanspruchs wäre damit die Basis entzogen.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 48<br />
GELESEN<br />
„Glückseligkeit“ von Zülfü Livaneli<br />
Der bekannte türkische Musiker Zülfü Livaneli hat ein Buch vorgelegt, das ein<br />
Gesellschaftsbild der Türkei in Romanform zeichnet. Zülfü hatte 1971 nach dem<br />
Militärputsch und einer dreimonatigen Gefangenschaft seine türkische Heimat<br />
verlassen müssen. Nach Stationen in Paris, Stockholm und Athen wurde der als<br />
„Poet des friedlichen Aufstandes“ bezeichnete Künstler nach seiner Rückkehr<br />
in die Türkei gefeiert. Sein Buch ist eine eindringlich geschriebene<br />
Emanzipationsgeschichte.<br />
Von Eberhart Wagenknecht<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
uf einer gemeinsamen Reise sieht eine<br />
Schwester das ganze Elend ihres Bruders. Er ist<br />
bereit, sich für demokratische Ideale zu opfern<br />
und, sie wagt es nicht, ihm die Wahrheit ins Gesicht<br />
zu sagen: „Eigentlich hätte sie ihm noch so vieles<br />
sagen wollen, doch sie hatte plötzlich geschwiegen.<br />
Sie hatte ihrem Bruder nicht das Herz schwermachen<br />
wollen und hatte zurückgehalten, was sie sonst noch<br />
bewegte: ‚Liest du keine Zeitungen, schaust du nicht<br />
fern? Überall auf den Titelseiten siehst du nur<br />
Mädchen mit nackten Brüsten, Transvestiten, die als<br />
Sängerinnen auftreten, Huren, die Wasserski fahren<br />
und schamlos lächeln. Das, was du unser Volk nennst,<br />
besteht nicht mehr aus einzelnen Menschen. Es ist<br />
„Glückseligkeit“ von Zülfü Livaneli<br />
wie eine Herde, eine Herde von Versklavten. Keiner<br />
ist mehr eine Persönlichkeit – man hat ihnen die<br />
Selbstachtung und das Ehrgefühl genommen.“<br />
Weder das Volk noch die Regierung schere sich auch nur ein bisschen um die, die für<br />
Demokratie kämpfen wollen, sagte die Schwester. Ihr Bruder und seine Freunde hungerten<br />
sich im Gefängnis zu Tode. Leider nahm dies niemand zu Kenntnis. Ihre Mitstreiter<br />
außerhalb des Gefängnisses gingen hin und töteten Polizeibeamte, die wenig verdienten,<br />
kaum über die Runden kamen. Sie spielten ein blutiges und zugleich sinnloses Spiel.<br />
Doppelmoral und Verlogenheit<br />
Eine bedrückende Szene eröffnet den Roman. Das Mädchen Meryem, deren Mutter bei ihrer<br />
Geburt gestorben ist, wird im Alter von 15 Jahren vom Scheich ihres ostanatolischen Dorfes<br />
vergewaltigt. Klagen ist sinnlos, das weiß sie.<br />
Schon hier zeigt der Autor die Spaltung der türkischen Gesellschaft und zeigt dem Leser<br />
Doppelmoral und Verlogenheit auf. Die Türkei Zülfü Livanelis versucht den Spagat zwischen<br />
beginnender Modernität in der Stadt und einer Rückständigkeit der ländlichen Gebiete, die<br />
für viele Menschen kaum aushaltbar ist.<br />
Während sich Meryem ihrem Schicksal ergibt, träumt ihr Vetter Cemal den Traum einer<br />
unschuldigen Braut. Eine solche Geschichte macht unter den Soldaten die Runde, die in den<br />
Bergen gegen Anhänger der PKK kämpfen. Das Schicksal von Cemal und seinem einstigen<br />
kurdischen Jugendfreund zeigt die Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen, die<br />
ungelöst bleiben.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 49<br />
Cemal leidet unter der Kälte in den Bergen, hat ständig den Tod vor Augen und seine<br />
Schwester ist zu Hause in den Keller eingesperrt. Sie soll nach dem Willen der Familie<br />
sterben, nachdem sie entehrt worden ist. Als Cemal aus dem Krieg zurückkehrt, soll er sie<br />
nach Istanbul bringen, um sie zu ermorden. Doch dort stoßen die beiden auf eine Türkei, die<br />
ihnen unbekannt ist, und ihre Anschauungen geraten völlig ins Wanken.<br />
Soziologieprofessor mit Midlife-Krise<br />
Die dritte Geschichte innerhalb des Romans rankt sich um den liberalen Soziologieprofessor<br />
Irfan Kurudal aus Istanbul, der seine Midlife-Krise erlebt und die alten Werte der<br />
islamischen Tradition dahinschwinden sieht. Die drei höchst unterschiedlichen Schicksale<br />
von Meryem, Cemal und Professor Kuruda führt Livaneli zu einer Geschichte zusammen. Die<br />
15-jährige Meryem steht im Zentrum. Sie weiß nichts von der Welt, nur dass sie als Frau alle<br />
Schuld auf sich zu nehmen hat. Bis sie erkennt, dass die Welt nicht hinter ihrem<br />
ostanatolischen Dorf endet und ein unumkehrbarer Prozess der Emanzipation beginnt.<br />
An der Ägäis stoßen die drei Personen schließlich aufeinander. Bei jedem von ihnen löst ihre<br />
Begegnung eine Entwicklung aus, die sie herausführt aus der Engstirnigkeit von religiösem<br />
Fundamentalismus, militantem Nationalismus und pseudoliberalen Ansichten. Dieser<br />
Roman um Ehrenmord und Frauenunterdrückung, Pubertät und verblendetem Idealismus<br />
lässt die Widersprüche der heutigen Türkei im Verlauf der ergreifenden<br />
Emanzipationsgeschichte lebendig werden - in schrillen Farben und sanften Tönen und stets<br />
eindringlich geschrieben.<br />
Rezension zu: „Glückseligkeit“ von Zülfü Livaneli, <strong>Verlag</strong> Klett-Cotta, 2008, 309 <strong>Seite</strong>n,<br />
22,90 Euro, ISBN 978-3608937923“.<br />
*<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 50<br />
GELESEN<br />
„Die Rückkehr Asiens. Das Ende der westlichen<br />
Dominanz“ von Kishore Mahbubani<br />
„Vor allem ein Grund ist ausschlaggebend dafür, warum sich der Westen nicht<br />
über die große Demokratisierung des menschlichen Geistes freuen kann: Er ist<br />
sich nur zu deutlich bewusst, dass der große Tag der Abrechnung kommen wird,<br />
wenn sich dieser Trend fortsetzt.“ (Kishore Mahbubani)<br />
Von Johann von Arnsberg<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
„Die Rückkehr Asiens. Das<br />
Ende der westlichen<br />
Dominanz“ von Kishore<br />
Mahbubani<br />
eden Morgen erscheinen noch heute in chinesischen<br />
Kleinstädten die Fäkaliensammler. Dann stehen die<br />
transportablen Toiletten auf den Gehwegen und werden<br />
geleert. Dieses Bild verschwindet nur langsam aus den<br />
Altbauvierteln der Vororte.<br />
Die Vereinten Nationen haben ermittelt, dass trotz allen<br />
Fortschritts immer noch weniger als die Hälfte aller Asiaten<br />
Zugang zu einer Toilette hat. Deshalb sieht Kishore Mahbubani<br />
hierin ein wichtiges Merkmal für die Entwicklung der<br />
asiatischen Gesellschaften.<br />
„Die private Verfügbarkeit von Wasserklosetts könnte der beste<br />
Indikator dafür sein, wie viele der 6,5 Millionen Menschen auf<br />
der Welt noch in vormoderner Zeit leben und wie viele sie<br />
bereits hinter sich gelassen haben. Nach einer offiziellen Schätzung besitzen nur 15 Prozent<br />
der Weltbevölkerung Wasserklosetts.“<br />
Westlicher mittelständischer Wohlstand ist der große Traum<br />
Doch der Aufstieg Asiens ist eindrucksvoll. Für den singapurischen Politikwissenschaftler<br />
Kishore Mahbubani geht das Zeitalter der westlichen Dominanz unaufhaltsam zu Ende. „Die<br />
Zahl der Menschen, die den westlichen Traum von einem bequemen Mittelschichtleben<br />
verfolgen, war noch nie so groß wie heute“, schreibt er.<br />
Und der Autor liefert auch eine Reihe sehr einleuchtender Beispiele für seine Behauptung.<br />
Eines davon im Kapitel „Warum Asien jetzt aufsteigt“: „Als die jungen Leute die Dörfer<br />
verließen, um in Nike-Schuhfabriken zu arbeiten, hatten Haushalte, die daran gewöhnt<br />
waren, mit einem Jahreseinkommen von 467 US-Dollar ihren Lebensunterhalt zu bestreiten,<br />
plötzlich 4300 US-Dollar zur Verfügung“, schreibt er. Deshalb gäbe es in China keine<br />
Antiglobalisierungsbewegung. „Für die jungen Chinesen, die in ihnen arbeiteten, waren die<br />
Nike-Fabriken, die die Globalisierungsgegner der WTO-Tagung in Seattle im Jahr 1999 so<br />
vehement verurteilten, ein Ort der Befreiung. Zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte<br />
konnten sich bäuerliche Chinesen vorstellen, aus der elenden Plackerei des Landlebens<br />
auszubrechen. Für den menschlichen Geist ist nichts befreiender als die Erkenntnis, dass es<br />
eine Hoffnung gibt.“<br />
Bildung als Chance für den großen Sprung<br />
In Asien verlassen Jahr für Jahr mehr Ingenieure die Hochschulen als in allen westlichen<br />
Ländern zusammen. Immer noch gehen fähige junge Leute nach Amerika, aber immer mehr<br />
kommen hinterher, reich an Erfahrungen, zurück in die Heimat, wo sie, wie in Indien, in die<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 51<br />
Informationstechnologie einsteigen. Oder, wie in China, nicht mehr nur kopieren, sondern<br />
für eigene Innovationen sorgen.<br />
Überall in Asien trifft man heute auf Stolz und Selbstbewusstsein, Optimismus und<br />
Zukunftsgläubigkeit – kein Wunder bei wirtschaftlichen Wachstumsraten von beinahe zehn<br />
Prozent in Indien und China. Millionen von Menschen entkommen in jedem Jahr der<br />
Armutsfalle, lernen lesen und schreiben.<br />
Das ganze Buch durchzieht die Forderung nach einer neuen Weltordnung. Die Wiederkehr<br />
Asiens als globaler Spieler bringe Vorteile für die Welt insgesamt. Die asiatische Renaissance<br />
fuße auf europäischen Idealen und Ideen, die zu einer gerechteren Verteilung von Vermögen<br />
und Macht führen könnten.<br />
Mit der Rückkehr Asiens werde die Welt ein Stück friedlicher. Manchmal klingt es bei<br />
Mahbubani so als wolle ganz Asien ein besserer Westen werden. Aber auch der Tatsache<br />
dass Asien nicht länger als Objekt der Geschichte behandelt werden könne, gewinnt der<br />
Autor sehr positive Züge ab. Der Umgang der USA mit der UNO werde dann nicht mehr<br />
länger ein beherrschender sein können. Die militärische Supermacht werde sich mäßigen<br />
müssen. Die westliche Doppelmoral hinsichtlich ihrer demokratischen Ideale ließe sich nicht<br />
auf ewig aufrechterhalten.<br />
Der Politikwissenschaftler aus Singapur hält vielen westlichen Organisationen und Staaten<br />
den Spiegel vor. Sein Blick auf das heraufziehende Asien des 21. Jahrhundert muss indes<br />
niemand Angst machen – auch wenn der Autor ein paar markige Sätze fallen lässt, etwa die<br />
vom „Tag der Abrechnung“.<br />
Rezension zu „Die Rückkehr Asiens. Das Ende der westlichen Dominanz“ von Kishore<br />
Mahbubani, Propyläen <strong>Verlag</strong>, Berlin 2008, 333 <strong>Seite</strong>n, Personenregister,<br />
Abkürzungsverzeichnis und umfangreichen Quellenangaben, 22,90 Euro, ISBN-13: 978-<br />
3549073513.<br />
Siehe dazu auch EM-Interview „Asien nutzt seine Chance!“<br />
*<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 52<br />
GELESEN<br />
„Die Demokratie und ihre Feinde: Wer gestaltet die neue<br />
Weltordnung?“ von Robert Kagan<br />
Das Machtspiel geht weiter. Für den US-Schriftsteller und Polit-Denker Robert<br />
Kagan ist die Welt zum Großmachtnationalismus alter Prägung zurückgekehrt.<br />
Von Rudolf Maresch<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
Robert Kagan, „Die Demokratie und<br />
ihre Feinde: Wer gestaltet die neue<br />
Weltordnung?“<br />
st die Geschichte zu Ende oder nicht? Hat das<br />
Ende des Kalten Krieges eine neue Ära in der<br />
Menschheitsentwicklung eingeläutet? Oder sind<br />
die ehernen Gesetze von Geschichte und Politik, die<br />
Kämpfe um Einfluss, Ansehen und Rang, nach wie<br />
vor intakt? Werden Rivalität und Konkurrenz unter<br />
den großen Mächten auch dieses Jahrhundert<br />
prägen? Oder gibt es Hoffnung auf eine Kantische<br />
Friedensordnung, wo die Weltmächte sich als<br />
gleichwertige Partner achten und ihr Handeln eher an<br />
Recht und Gesetz als an Macht und Stärke<br />
ausrichten?<br />
Eherne Gesetze<br />
Es war Samuel Huntington, der schon bald, nachdem<br />
Francis Fukuyama die Losung vom end of history<br />
ausgegeben hatte, die Idee vom weltweiten Siegeszug<br />
der Demokratie ins Reich der Träume verwies. Trotz einer Vielzahl neuer Demokratien, die<br />
sich im Osten Europas konstituiert hatten, sah er längst neue Bruchlinien und Konflikte am<br />
Horizont, dort, wo unterschiedliche Kulturen aufeinander prallten und sich unversöhnlich<br />
gegenüberstünden.<br />
Und die blutigen Ereignisse in Zentralasien, im Mittleren Osten oder am Kaukasus scheinen<br />
ihm da Recht zu geben. Die Geschichte hatte höchstens eine kleine Auszeit genommen. Diese<br />
„geopolitische Verschnaufpause“, so Robert Kagan, hochgeschätzter Kolumnist des Wall<br />
Street Journal, US-Korrespondent bei der NATO in Brüssel und außenpolitischer Berater<br />
John McCains, vor fünf Jahren in seiner bekanntesten Streitschrift Macht und Ohnmacht, ist<br />
aber spätestens mit dem Angriff auf die Zwillingstürme passé.<br />
Die „neue Weltordnung“, die Fukuyama und Bush-Vater verkündet hatten, sei „Trugbild“<br />
geblieben. Die Erwartung, dass sich die Demokratie zwangsläufig durchsetzen werde, habe<br />
sich nicht erfüllt. Stattdessen sei das „Zeitalter der Geopolitik“ zurückgekehrt und mit ihr<br />
jener „Großmachtnationalismus“, der schon das 19. und 20. Jahrhundert geprägt hat. Im<br />
Brennpunkt stünden wieder politische Interessen, die von Macht diktiert werden, und nicht<br />
Geoökonomie, Ideologieschwund und harmonischer Austausch unter den Nationen.<br />
Den Grund hierfür sieht er im rasanten wirtschaftlichen Aufstieg, den Russland und China<br />
genommen haben. Er zwingt der liberalen Welt einen neuen Antagonismus „welthistorischen<br />
Ausmaßes“ auf. So lautet in etwa die Kernthese seines neuen Essays: The Return of History<br />
and the End of Dreams, der vom deutschen <strong>Verlag</strong> den irreführenden Titel: Die Demokratie<br />
und ihre Feinde bekommen hat.<br />
Demokratie vs. Autokratie<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 53<br />
Nach der schlimmen Erfahrung, die es mit dem Wirtschaftsmodell der Chicago-Boys<br />
gemacht hat, habe Putins Russland seine Liebe zum politischen Kurs des Westens wieder<br />
verloren und sich dem Autokratismus neu verschrieben. Gestärkt durch die Milliarden, die es<br />
aus dem Öl- und Gasgeschäft bezieht, sei das Land zu den Ambitionen einer Großmacht<br />
zurückgekehrt, das globale Interessen und globalem Einfluss an seinen Grenzen verfolge.<br />
Ähnliches gelte für das „Reich der Mitte“. Seitdem China den Turbokapitalismus als neues<br />
Aufbauprogramm entdeckt habe, baue es seine Wirtschaftsmacht und militärischen<br />
Ansprüche stetig aus. Selten habe sich eine Nation derart schwungvoll vom Zustand der<br />
Schwäche in einen Zustand der Stärke entwickelt wie China.<br />
Der wirtschaftliche Höhenflug der Beiden beweise, dass sich Wohlstand und Autokratie<br />
keinesfalls widersprechen müssen. Prosperität und Sicherheit lassen sich herstellen, ohne<br />
dass ein Land gezwungen wird, den Preis politischer Liberalisierung zu zahlen. Damit würde<br />
die alte Rivalität zwischen Liberalismus und Absolutismus neu angeheizt, die man längst für<br />
überwunden gehalten hatte. Sollten sich andere Länder die Erfolge Russlands und Chinas<br />
zum Vorbild nehmen, könnte das zu einem globalen Wettbewerb führen, bei dem der Westen<br />
sein „Monopol auf den Globalisierungsprozess“ gänzlich verlieren könnte.<br />
Um sich für diese ideologische Auseinandersetzung zu wappnen, sollten sich laut Kagan die<br />
großen Demokratien dieser Welt zu einer machtvollen Allianz zusammenschließen. Ein<br />
solcher „Bund der Demokratien“ sollte die UN ergänzen, aber nicht ersetzen. Was diese<br />
„Achse der Guten“ allerdings politisch zusätzlich bewirken sollte; ob Länder wie Indien,<br />
Indonesien oder Japan sich einer solchen US-geführten Liga vorbehaltlos anschließen; und<br />
ob dazu auch so zweifelhafte Demokratien wie Pakistan, Ägypten oder Saudi-Arabien zählen,<br />
darüber schweigt sich der Machtpolitiker beharrlich aus.<br />
Von der Realität geküsst<br />
Wer den politischen Weg des Autors kennt, den werden seine jetzige Haltung, Einstellung<br />
und Positionierung überraschen. Noch vor mehr als zehn Jahren hatte er, zusammen mit<br />
seinem neokonservativen Förderer Bill Kristol, in Foreign Affairs das genaue Gegenteil<br />
verkündet. Seinerzeit war er noch der Ansicht, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die<br />
Welt grundlegend verändert hat. Die USA hätten eine globale Hegemonie erreicht, wie sie<br />
einst nur noch „das alte Rom im Mittelmeerraum innehatte“. Die „Geopolitik“, deren<br />
Rückkehr der Autor nun feiert, hätte sich erledigt, weil die Weltmacht aufgrund ihrer Macht<br />
und Stärke fortan in der Lage wäre, alle „Monster dieser Welt“ zu beseitigen oder zumindest<br />
zurechtzustutzen. Im Focus hatte er damals „Bagdad und Belgrad, Pjöngjang und Beijing“.<br />
Die Unabhängigkeitserklärung, die nicht die Besonderheiten einer Kultur wiedergibt,<br />
sondern universale Geltung beansprucht, lieferte ihm die Berechtigung dafür.<br />
Vom Dreiklang aus Preemption, Regime Change und Demokratie-Export, dem er lange Zeit<br />
gehuldigt hatte, lesen wir nichts mehr. Während am Hindukusch und im Zweistromland<br />
immer noch Kriege toben und US-Soldaten sterben, ist der Machtanalytiker längst zu den<br />
Konfliktfeldern von morgen weitergezogen. Mit keiner Silbe geht Kagan auf den Schlamassel<br />
ein, den die neokonservative Politik im Irak oder in Afghanistan angerichtet hat. Sowohl der<br />
Irak, den er noch 2003 als „historischen Pivot“ bezeichnet hat, als auch den Irak-Feldzug,<br />
den er so leidenschaftlich gefordert und unterstützt hat, werden konsequent ignoriert.<br />
Das neokonservative Geschwätz von gestern, es interessiert ihn nicht mehr. Der<br />
Gipfelstürmer von einst hat längst die <strong>Seite</strong>n gewechselt und ist ins Lager der politischen<br />
Realisten „desertiert“. „Die Realisten“, lesen wir, die Augen verwundert reibend, „hätten ein<br />
wesentlich klareres Verständnis von der unverwechselbaren Natur des Menschen“. Als<br />
Gewährsleute für den Kampf gegen den neuen Autokratismus gelten jetzt die „Realisten“<br />
Henry Morgenthau jr. und der Theologe Reinhold Niebuhr, aber auch Dean Acheson, der als<br />
Vater der Truman-Doktrin und Architekt der US-Containmentpolitik gilt.<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 54<br />
Das Ende des amerikanischen Zeitalters<br />
Trotz aller politischen und militärischen Rückschläge bleiben die USA für Kagan auch<br />
weiterhin die „unverzichtbare Nation“. „Wie leben“, zitiert er einen chinesischen Strategen,<br />
„in einer Welt, in der eine einzige Supermacht und mehrere Großmächte nebeneinander<br />
existieren“. Angesichts des Zerfalls der US-dominierten Finanzweltordnung ist das eine eher<br />
gewagte Behauptung und optimistische Perspektive. Der Rest der Welt sitzt längst nicht<br />
mehr, wie Acheson zu Beginn des Kalten Krieges noch formulieren konnte, „im<br />
Dienstwagen“, während die USA die „Lokomotive an der Spitze der Menschheit“ bilden.<br />
Mit dem Börsencrash steht in Frage, ob „die Sache Amerikas“ wirklich „die Sache der ganzen<br />
Menschheit“ (B. Franklin) ist und die Weltmacht die Hoheit über den Globalisierungsprozess<br />
behalten kann. Vieles spricht dafür, dass er „das Ende des amerikanischen Zeitalters“, das<br />
Fareed Zakaria jüngst prognostiziert hat, nochmals beschleunigt hat.<br />
Rezension zu: Robert Kagan, „Die Demokratie und ihre Feinde: Wer gestaltet die neue<br />
Weltordnung?“, Siedler <strong>Verlag</strong> München 2008, 128 <strong>Seite</strong>n, 16,95 Euro, ISBN-978-<br />
3886808908.<br />
*<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 55<br />
GELESEN<br />
„Der Kaukasus. Geschichte - Kultur – Politik“, von Marie-<br />
Carin von Gumppenberg und Udo Steinbach<br />
Der Kernthese des Buches, dass von einer wirklichen Konfrontation der<br />
Großmächte USA und Russland im Kaukasus keine Rede sein könne, muss mit<br />
aller Vehemenz widersprochen werden. Dennoch kann das von Marie-Carin von<br />
Gumppenberg und Udo Steinbach herausgegebene Buch als eine gute<br />
Überblicksdarstellung empfohlen werden, die ein kaleidoskopartiges Bild vom<br />
„Pulverfass“ Kaukasus und seiner kulturellen Vielfalt liefert.<br />
Von Michail Logvinov und Marcus Lange<br />
EM 04-09 · 02.04.<strong>2009</strong><br />
essourcen und geostrategische Absicherung<br />
gegenüber den islamischen Staaten und<br />
Russland sowie umgekehrt gegen die westliche<br />
Vormacht erklären das Engagement der Großmächte<br />
im Kaukasus. Der äußere Einfluss fremder Mächte<br />
gehört zu einer der Konstanten der Entwicklung in<br />
der Kaukasus-Region. Die zweite Variable macht die<br />
innere Entwicklung aus, die in Europa, Amerika und<br />
auch in Russland fehl wahrgenommen oder durch ein<br />
Prisma des spezifischen Teilwissens gesehen wird.<br />
„Der Kaukasus. Geschichte - Kultur -<br />
Politik“ von Marie-Carin von<br />
Gumppenberg und Udo Steinbach<br />
Deshalb machte sich ein Autorenkollektiv des von<br />
Marie-Carin von Gumppenberg und Udo Steinbach<br />
herausgegebenen Buches zur Aufgabe, „das<br />
skizzenhafte, häufig auch überzeichnete Bild vom<br />
Kaukasus mit Fakten zu untermauern oder, wo nötig,<br />
mit Argumenten zurückzuweisen und<br />
Fehlwahrnehmungen beim Namen zu nennen“ (S. 9).<br />
Länder der real existierenden Synthese „Europas“ und „Asiens“<br />
Auf über 250 <strong>Seite</strong>n schildert das hochkarätige Wissenschaftlerteam die Länder der realexistierenden<br />
Synthese „Europas“ und „Asiens“ (Armenien, Georgien, Aserbaidschan) sowie<br />
die Region des Nordkaukasus und die Großmächte Iran und Türkei. Im zweiten Teil des<br />
Buches werden regionale Konflikte - um Abchasien, Berg-Karabach, Südossetien und<br />
Auseinandersetzungen im Nordkaukasus - und konfliktträchtige Situationen analysiert. Ein<br />
dritter Teil widmet sich den vielfältigen Kulturen der kaukasischen Völker.<br />
Die Autoren machen deutlich, der südliche Kaukasus fungiere seit langem als eine „global“ zu<br />
bezeichnende Transitregion, in der die Großmächte ihre Ansprüche geltend machen und um<br />
die Ressourcen wie Transportwege ringen.<br />
Die Strategien der großen „Spieler im Kaukasus“ - zu denen die Autoren die USA und<br />
Russland zählen - seien „nicht nur konträr oder auf eine Konfrontation programmiert.<br />
Jedoch kann man auch nicht von einem kooperativen Verhältnis gesprochen werden“ (S. 10).<br />
„Kontrolle durch Stabilität“<br />
Das Interesse der USA bestünde vorrangig in der Sicherung des Energietransports. Die<br />
Autoren umreißen ihre Politik mit den Worten „Kontrolle durch Stabilität“ (S.10). Die<br />
© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>
<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – <strong>April</strong> <strong>2009</strong> · <strong>Seite</strong> 56<br />
russische Politik - ein Interesse an der „Stabilität durch Kontrolle“ - sei auf die Begrenzung<br />
des amerikanisch-westlichen Einflusses gerichtet.<br />
Während Russland die Schadensminimierung mit deutlich zu erkennbaren „postkolonialen<br />
Phantomschmerzen“ vornehme, betrieben die USA eine breit angelegte Außenpolitik<br />
gegenüber dem Südkaukasus, dem die russische <strong>Seite</strong> kaum Gleichwertiges entgegenzusetzen<br />
habe. Dies sei der Grund, warum Moskau von der Strategie der „kontrollierten Instabilität“<br />
Gebrauch macht, so die Autoren.<br />
Die Politik der EU könne als „Stabilität durch Partnerschaft“ bezeichnet werden. „Sie steht in<br />
einer deutlichen Interessenkonkurrenz mit den USA, hat jedoch ein vitales Interesse an einer<br />
guten Nachbarschaft zu Russland, das für die USA schon aufgrund ihrer geopolitischen<br />
Situation nicht solche Dringlichkeit besitzt“ (S. 11).<br />
Aserbaidschan und Georgien haben den größten Vorteil aus dem Interesse der<br />
westlichen Staatengemeinschaft gezogen<br />
Im Kapitel „Energie und Sicherheit - das „neue Spiel“ um die Ressourcen“ ist nachzulesen,<br />
welch eine große Bedeutung die westlichen Mächte den energiepolitischen Erwägungen<br />
beimessen. So wurde z.B. Armenien aus sicherheitspolitischen Gründen zum Verlierer des<br />
Great Game. Aserbaidschan und Georgien haben den größten Vorteil aus dem Interesse der<br />
westlichen Staatengemeinschaft gezogen. Georgien sei dennoch der eigentliche Gewinner, so<br />
Markus Brach von Gumppenberg (S. 173).<br />
„Als reines Transitland für das kaspische Öl und Gas verfügt es selbst nicht über<br />
nennenswerte ökonomische Gewinne aus dem Ölgeschäft. Für die westliche<br />
Staatengemeinschaft ist jedoch die politische und wirtschaftliche Stabilität dieses Landes von<br />
großer Wichtigkeit“ (ebd.).<br />
Die Kernthese des Buches, dass von einer wirklichen Konfrontation der Großmächte USA<br />
und Russland im Kaukasus keine Rede sein könne, muss mit aller Vehemenz widersprochen<br />
werden. Dennoch könnte das von Marie-Carin von Gumppenberg und Udo Steinbach<br />
herausgegebene Buch als eine gute Überblicksdarstellung empfohlen werden, die ein<br />
kaleidoskopartiges Bild vom „Pulverfass“ Kaukasus und seiner kulturellen Vielfalt liefert.<br />
Rezension zu „Der Kaukasus. Geschichte - Kultur - Politik“ von Marie-Carin von<br />
Gumppenberg und Udo Steinbach, <strong>Verlag</strong> C.H. Beck, 2008, 256 <strong>Seite</strong>n, 12,95 Euro, ISBN<br />
978-3406568008.<br />
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© <strong>Eurasischer</strong> <strong>Verlag</strong> Hans Wagner <strong>2009</strong>