postheroisches management - Revue
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<strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management Heft 10<br />
<strong>postheroisches</strong> <strong>management</strong><br />
ISSN 1864-726X € 25,–<br />
9 783896 707796
Bernhard Krusche, Falk Busse Editorial<br />
Inter-Face. So müsste diese Ausgabe eigentlich heißen. Denn es gibt Schnittstellen,<br />
die sich aufdrängen, Schnittstellen, die Teil unserer Lebenswelt geworden<br />
sind, und Schnittstellen, die wir nur sehr selten als solche wahrnehmen.<br />
Zu welcher Kategorie das Smartphone, das menschliche Gesicht<br />
oder der Knauf einer Tür gehören, können Sie für sich entscheiden. Julius<br />
von Bismarck, Featured Artist dieser <strong>Revue</strong>, lädt mit seiner Arbeit dazu ein,<br />
über eben jene Kategorien nachzusinnen. Ein Künstler, der den Leuten –<br />
metaphorisch gesprochen – Einwegspiegel in die Taschen steckt. Für diese<br />
Ausgabe macht er nicht nur Bilder, sondern spricht auch mit Natascha<br />
Adamowsky: warum er die Kunst selbst als Schnittstelle, als Übersetzer<br />
sieht. Und was es sein darf: Schnitt und/oder Stelle?<br />
Die Einladung, sich mit diesem Gedanken näher zu beschäftigen, möchten<br />
auch wir aussprechen. Wir waren bei der Beschäftigung mit dem Thema<br />
dieser <strong>Revue</strong> fasziniert von dem Gedanken, dass Interfaces nicht (nur) die<br />
flachen Glasscheiben sind, die als Screens verkleidet die Tore zu anderen<br />
Welten öffnen, quasi der schmale Grat zwischen realer Virtualität und virtueller<br />
Realität. Unsere entfachte Neugier zog ihre Spuren zu Begegnungen,<br />
die uns das Thema in seiner Vielschichtigkeit vor Augen führten. Etwa mit<br />
Designern, die sich unsicher sind, wo Interfaces anfangen und wo sie aufhören.<br />
Oder zu den Texten von Harrison C.White, der bereits Anfang der 80er<br />
Jahre ganze Märkte als Interfaces beschrieb, entlang derer Krümmungen und<br />
Verwerfungen sich soziale Strukturen ausdifferenzieren. Wie man sich das<br />
vorstellen kann? In etwa so: Ein Unternehmen bietet sein Produkt auf<br />
einem Markt an. Der Markt macht dieses Produkt für alle Interessierten<br />
sichtbar, erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Kaufs und verbirgt gleichzeitig<br />
die dahinter liegende Komplexität des Unternehmens, welches womöglich<br />
eine globale Wertschöpfungskette aufrechterhalten muss, um genau<br />
dieses Produkt an den Markt zu bringen. Hierin ähneln sich alle Interfaces –<br />
Märkte, grafische Oberflächen von Computerprogrammen, das menschliche<br />
Gesicht, u. v. m.: Sie verbergen die dahinter liegende Komplexität und erhöhen<br />
die Anschlussfähigkeit weiterer Operationen (technischer, psychischer<br />
oder sozialer Art). Mit Claus Pias gesprochen, invisibilisieren Schnittstellen<br />
die Datenverarbeitung, die psychischen Prozesse des Menschen oder<br />
die Wertschöpfungsprozesse von Organisationen. Sie lassen sie aber auch –<br />
in der gleichen Bewegung – anders zutage treten und damit handhabbar<br />
werden. Eine Organisation fängt an, ihre Produkte auf eben dieses Markt-<br />
Interface auszurichten, die potenziellen Käufer formulieren Vorlieben und<br />
richten damit Erwartungen an den Markt. Wo fängt hier das Interface<br />
»Markt« an? Wo hört es auf?<br />
Wir sind nachdenklich geworden. Und wollen Ihnen mit dieser Ausgabe<br />
der <strong>Revue</strong> die daraus entstandene multiperspektivische Collage zum<br />
Themenschwerpunkt nicht vorenthalten. Wie vorsichtig man dabei gerade<br />
bei dem Begriff »Interface« vorgehen muss, belegt Dirk Baecker in seiner<br />
»Meditation«. Für ihn tun Interfaces vor allem eines: Sie rechnen mit<br />
Widerständen, denn sie formieren sich ja nicht im luftleeren Raum. Interfaces<br />
sind diesbezüglich anschlussfähig für eine Netzwerktheorie, die per<br />
Editorial 3 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
definitionem ohne den Begriff der Grenze auskommt. Grenzen sind etwas<br />
für Systeme, zum Beispiel für formale Organisationen, wie wir sie aus der Geschichte<br />
der letzten Jahrzehnte kennen. Heute haben Organisationen längst<br />
gelernt, ihre Austauschflächen von innen und von außen zu pflegen. Wie<br />
man sich hingegen einen »grenzenlosen« Markt vorzustellen hat, beschreibt<br />
Harrison C. White, Begründer der Netzwerktheorie, in seinem nun<br />
mittlerweile 30 Jahre alten Text Interfaces, den Athanasios Karafillidis zum<br />
Anlass dieser Ausgabe der <strong>Revue</strong> übersetzte. Dass eine solche Übersetzung<br />
alles andere als einfach ist, zeigen die vielen Rezensionen seiner Arbeiten.<br />
Selbst die Kollegen aus Amerika und England tun sich schwer, mit den<br />
anspruchsvollen Texten von White umzugehen. Deswegen haben wir<br />
Athanasios Karafillidis gebeten, es nicht bei einer Übersetzung zu belassen,<br />
sondern den Text auch zu kommentieren. Entstanden ist ein wunderbar<br />
detailreiches Bild von Whites Überlegungen und seiner Rezeption. Zum<br />
Abschluss dieses theoretisch inspirierten Teils der <strong>Revue</strong> bringt dann<br />
Emmanuel Lazega seine Überlegungen und Gedankenfiguren ins Spiel. In<br />
seinem Artikel über Interessenskonflikte in Unternehmen zeigt er, wie<br />
Unternehmen diese nutzen, um zusätzliche Handlungsoptionen und Einfluss<br />
zu gewinnen.<br />
Nach so viel Theorie drängt sich die Praxis förmlich auf. Reinhard<br />
Tötschinger spricht mit dem Architekten Christoph Mayr Fingerle über sein<br />
Projekt des Bibliothekenzentrums Bozen und macht sich anschließend Gedanken<br />
zur Bibliothek der nächsten Gesellschaft. Alexander Müller-Rakow<br />
und Gesche Joost stellen ambitionierte Ansätze vor, bei denen der Körper,<br />
genauer: die Haut selbst zur digitalen Schnittstelle wird. Im Interview mit<br />
Patrick Boltz wird deutlich, dass die Zukunft den multisensualen Interfaces<br />
gehört. Andreas Lange, Direktor des Berliner Computerspielemuseums,<br />
blickt dagegen zurück und stellt seine Meilensteine in der Interface-Entwicklung<br />
vor.<br />
Was das Thema dieses Heftes mit Organisationen zu tun haben könnte,<br />
wird im Beitrag von Silke Seemann deutlich: Wie reaktionsfähig gerade<br />
Unternehmen in einer dynamischen Umwelt agieren können, ist weitgehend<br />
eine Frage der Interfaces, mit denen sie ihre Geschäftsprozesse modellieren.<br />
Das meint auch Hannes Sorger, der sich darüber wundert, warum in<br />
Firmenzentralen eigentlich keine Echtzeit-Konsolen zur Verfügung stehen.<br />
Weniger technisch erklärt Thomas Lackner im Gespräch, welche externen<br />
und internen Ressourcen Siemens nutzt, um produktive Austauschflächen<br />
zu generieren. Dort nennt man das »Open Innovation«. Auch jovoto behauptet<br />
von sich, Plattform für eine »Open Innovation Ecology« zu sein, auf der<br />
Kreative aus aller Welt an öffentlichen Ausschreibungen teilnehmen können,<br />
so verrät uns Bastian Unterberg im Gespräch. Das Auffällige dabei: Die<br />
Kreativen dort kooperieren, anstatt ein klassisches Konkurrenzverhalten an<br />
den Tag zu legen. Außerdem freuen wir uns, dass unsere Kooperation mit<br />
dem Institute for the Future aus Palo Alto intensiver wird und wir in dieser<br />
Ausgabe eine weitere Trendkarte des IFTF präsentieren können: Passend<br />
zum Thema, geht es um die »Robot Renaissance«. Zusätzlich stand uns dazu<br />
Editorial 4 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
auch Devin Fidler Rede und Antwort, der am IFTF für das Programm »Technology<br />
Horizons« verantwortlich ist.<br />
Wo fängt das Interface an, und wo hört es auf? Eines dieser Interfaces, bei<br />
dem sich der Gedanke förmlich aufdrängt, dass sich um es und mit ihm soziale<br />
Strukturen ausdifferenzieren und es dabei das Leben vieler Menschen<br />
tiefgreifend verändert, ist Facebook. Im Gespräch mit Oliver Leistert und<br />
Theo Röhle diskutieren wir die vielfältigen Konsequenzen der dynamischen<br />
Entwicklung des Social Nets. Anschließend reden wir mit Stephen Kovats und<br />
Steffi Winkler über einen alten Bekannten: Was hätte Marshall McLuhan zum<br />
Begriff »Interface« gesagt, und wie aktuell ist sein Denken noch in der heutigen<br />
Zeit? Is the Interface the Message?<br />
Den Abschluss auch dieser Ausgabe markieren unsere drei Kolumnisten.<br />
Dirk Baecker entwickelt eine Form des Kollektivs. Birger P. Priddat plädiert<br />
gewohnt pointiert für die Ausformung einer Schnittstelle zwischen Bürgern<br />
und Wirtschaft, um der Verdrahtung von Politik und Wirtschaft etwas<br />
entgegenzusetzen. Und Fritz B. Simon schreibt über Interface-Fantasien aus<br />
Hollywood. Abgerundet wird das Heft durch einen literarischen Beitrag von<br />
Liane Dirks, die uns, als hätte sie sich mit Julius von Bismarck abgesprochen,<br />
die andere Seite des Einwegspiegels vorhält.<br />
Wir wünschen Ihnen eine auf- und anregende Lektüre!<br />
Für die Herausgeber<br />
Falk Busse & Bernhard Krusche<br />
P.S. Falk Busse, der die letzten Ausgaben der <strong>Revue</strong> als Redaktionsleiter verlässlich<br />
betreut und vorangetrieben hat, wird seine umsichtige und ideenreiche<br />
Redaktionsarbeit vorerst nicht mehr weiterführen. Zu verlockend war<br />
die Aussicht auf neue Herausforderungen. Das gesamte Team dankt ihm<br />
von Herzen für seinen Einsatz und wünscht ihm viel Glück und Erfolg bei<br />
den neuen Abenteuern. Auch in diesem Fall glauben wir fest an ein Wiedersehen:<br />
shine on, you crazy diamond!<br />
Editorial 5 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
Inhalt<br />
3 Editorial von Bernhard Krusche, Falk Busse<br />
8 Featured Artist<br />
Julius von Bismarck<br />
Julius von Bismarck und Natascha Adamowsky im Gespräch<br />
Grenzen, Kunst und Medien<br />
14 Dirk Baecker<br />
Interfaces: Eine Meditation über Trägheit und Widerstand<br />
20 Silke Seemann<br />
Mobility in der Logistik als Kommunikationsproblem<br />
30 Harrison C. White<br />
Interfaces<br />
46 Athanasios Karafillidis<br />
Die Recodierung der Soziologie<br />
Zu Harrison C. Whites Interfaces<br />
60 Reinhard Tötschinger und Christoph Mayr Fingerle im Gespräch<br />
Das Bibliothekenzentrum Bozen. Prototyp einer neuen Zeit?<br />
64 Kommentar von Reinhard Tötschinger<br />
68 Emmanuel Lazega<br />
Time to Shrink to Greatness?<br />
Networks and Conflicts of Interests in Large Professional Firms<br />
78 Alexander Müller-Rakow, Gesche Joost<br />
Hautinterfaces – Der Körper als digitale Schnittstelle<br />
84 Hannes Sorger<br />
Zum Formfaktor aktueller Managementkonsolen<br />
92 Theo Röhle und Oliver Leistert im Gespräch<br />
Facebook: Mehr als ein Umschlagplatz sozialer Beziehungen<br />
100 Thomas Lackner im Gespräch<br />
Von offenen Grenzen und geschlossenen Übergängen<br />
108 Devin Fidler, The Institute for the Future<br />
Robot Renaissance<br />
114 Stephen Kovats und Steffi Winkler im Gespräch<br />
Die Aktualität der Ideen von Marshall McLuhan<br />
Inhalt<br />
6<br />
<strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
120 Andreas Lange<br />
Schnittstellen für den Mainstream<br />
Meilensteine aus dem Computerspielemuseum<br />
122 Patrick Boltz im Gespräch<br />
Multisensuale Interfaces<br />
128 Bastian Unterberg im Gespräch<br />
Kooperation unter Wettbewerbern: Der Fall jovoto<br />
134 Liane Dirks<br />
Schnittstelle / Zauberberg<br />
140 Management für Fortgeschrittene<br />
Was ist ein Kollektiv?<br />
von Dirk Baecker<br />
144 Wozu Wirtschaft?<br />
Interface Politik, Gesellschaft & Wirtschaft:<br />
Nichtwissende Akteure, Komplexität und new interface design<br />
von Birger P. Priddat<br />
148 Hollywood<br />
Dockingstation – Wessen Realität ist härter/weicher?<br />
von Fritz B. Simon<br />
152 Bestellservice, Überblick, Impressum<br />
154 Ausblick<br />
Inhalt 7 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
Julius von Bismarck lebt und arbeitet als Künstler in Berlin.<br />
Natascha Adamowsky ist Professorin für Medienkulturwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.<br />
Sie habilitierte sich mit einer Arbeit zum Thema: »Das Wunder in der Moderne. Zur ästhetischen Kultur moderner<br />
Selbstüberschreitung in Wissenschaft, Technik und den Künsten«. Für ihre Promotion »Spielfiguren in virtuellen<br />
Welten« erhielt sie den Sonderpreis der Löwenclub-Stiftung.<br />
Julius von Bismarck und Natascha Adamowsky im Gespräch über<br />
Grenzen, Kunst und Medien<br />
Natascha Adamowsky: Sie haben als Künstler diese Ausgabe der <strong>Revue</strong> gestaltet.<br />
Wie haben Sie diese Arbeit erlebt? War das eine neue Erfahrung für Sie?<br />
Julius von Bismarck: Es war sehr spannend für mich, in diesem ungewohnten<br />
Kontext Kunst auszuprobieren, denn die Mischung aus den Texten und meinen<br />
Beiträgen entwickelt eine interessante Energie. Ich sehe mich dabei auch nicht<br />
als Dekoration instrumentalisiert. Das Konzept der <strong>Revue</strong> hat mich sehr überzeugt,<br />
weil hier die Themen äußerst vielseitig behandelt werden, ohne Eingrenzung<br />
auf eine bestimmte Fachrichtung, wie das häufig der Fall ist. Es geht<br />
zu viel verloren, wenn die Menschen zu wenig Weitsicht haben und die<br />
Themen nicht nach außen kommuniziert werden. Sie sind ja auch ein Grenzgänger<br />
in gewisser Weise. Ja, es ist mir sehr wichtig, Grenzen zu überschreiten.<br />
Das ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten Aufgaben von Künstlern:<br />
festzustellen, wo man Grenzen überschreiten muss, wo Leute in ihrem Fach zu<br />
bequem geworden sind, wo sie sich nicht austauschen, wo man die Welt aufeinander<br />
knallen lassen muss. Nur so kann eine Gemeinschaft entstehen.<br />
Wenn sich Menschen nur mit ihrem eigenen Fach beschäftigen, ohne dass es<br />
Leute gibt, die den Überblick über das Gesamte behalten, dann lebt sich die<br />
Gesellschaft auseinander. Dann steht man vor Problemen wie der Finanzkrise,<br />
die keiner versteht, weil es nicht nur eines Fachmanns bedarf, um komplexe<br />
Zusammenhänge zu verstehen. Das Großartige an Ihren Arbeiten ist, dass sie<br />
den Betrachter sofort ansprechen und sich beinahe selbst erklären. Häufig sind<br />
sie auch unglaublich witzig. War es Ihre Absicht, die Leute zum Lachen zu<br />
bringen? Das ist eines der Mittel, um Menschen neugierig zu machen. Wenn<br />
ein Werk nicht auf den ersten Blick Interesse erzeugt, dann ist es für den<br />
Betrachter sehr schwer, einen Zugang zu finden. Das ist bei der Werbung nicht<br />
anders als bei der Kunst, auch wenn ich noch andere, zusätzliche Mittel nutze.<br />
Eine Arbeit kann zum Beispiel besonders ästhetisch sein: Die Schönheit, das<br />
klassische Mittel der Kunst, spricht die Leute an, und wenn sie sich deshalb das<br />
Werk ansehen, können sie auch mehr vom Inhalt entdecken. Genauso kann<br />
man den Humor nutzen oder den Schreckmoment, man kann verblüffen oder<br />
man kann verwirren. Wenn man keine dieser Möglichkeiten nutzt, ist es sehr<br />
viel erwartet, dass Leute weiter nachfragen. Es ist auch schade, wenn Kunst<br />
nur im Museum mit stundenlanger Erklärung funktioniert. Damit kann ich<br />
mich nicht identifizieren. Welches Kunstverständnis vertreten Sie? Ich denke,<br />
meine Anfänge in der Kunstszene sind da sehr aussagekräftig. Ich habe Design<br />
und Kommunikation studiert, dann aber gemerkt, dass meine Arbeiten in<br />
keinen angewandten Rahmen passen. Ich wollte mich auch nicht von Auftraggebern<br />
einschränken lassen. Deshalb habe ich gesagt: Na gut, dann nenne ich<br />
es halt Kunst. Das ist sicherlich nicht der typische künstlerische Werdegang.<br />
Aber wie gesagt: Ich bin nicht dieser klassische Museumskünstler. Man ist<br />
zwar auf diese Orte angewiesen, um in der Kunstwelt finanziell überleben zu<br />
können, aber meine Ideen kommen nicht daher, und sie sind auch nicht dafür<br />
gemacht. Es ist selten, dass sich jemand so intensiv mit Technik und vor allem<br />
Medientechnik auseinandersetzt. Wie gehen Sie denn persönlich mit den<br />
neuen Medien um? Ich nutze Interfaces wie Facebook eher begrenzt, hauptsächlich<br />
um Öffentlichkeit für meine Arbeit als Künstler zu generieren. Wenn<br />
Jan Fuhse, 2012. Julius von Bismarck<br />
Julius von Bismarck und Natascha Adamowsky im Gespräch<br />
8 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
Überlappungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 9 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
Überlappungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 10 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
Patrick Boltz, 2012. Julius von Bismarck<br />
ich über Facebook zu einer meiner Ausstellungen einlade, erreiche ich mit drei<br />
Klicks viel mehr Leute, als wenn ich nur per Post einlade, und im Netzwerk<br />
erzählen sie es auch noch weiter. Man kann heutzutage überhaupt nicht mehr<br />
ohne diese Einrichtungen auskommen, wenn man Erfolg haben will. Für mich<br />
als Betrachterin war es sehr angenehm, durch Ihre Werke auf so unaufgeregte<br />
Weise eine neue Idee von dieser Welt zu bekommen und zu sehen, dass auch<br />
andere sich darüber Gedanken machen. Es gibt diese Medienkunstwelt mit<br />
ihren eigenen Festivals, die sich eigentlich nur mit Kunst mit und über neue<br />
Medien beschäftigen. Dort habe ich am Anfang meine Arbeiten ausgestellt und<br />
erste Erfolge gehabt, aber es ist mir schnell zu eng geworden, denn der Blick<br />
für das große Ganze geht auch da verloren. Viele Künstler beschäftigen sich nur<br />
einseitig mit Medientechnik, die Besucher dieser Festivals sind meistens sehr<br />
jung und interessieren sich ohnehin schon für dieses Thema. Aber da kommt<br />
niemand hin, der Angst vor Technik hat. Dabei gibt es viele Menschen, die<br />
Angst davor haben, die nicht verstehen, wie ein Computer oder das Internet<br />
funktioniert, und die nicht wissen, was sie über Facebook denken sollen. Wenn<br />
ich mit Technik arbeite, versuche ich Menschen einen Zugang dazu zu geben,<br />
idealerweise in einem Kontext, der nicht schon komplett technisiert ist. Auch<br />
in meiner eigenen Arbeitsweise versuche ich das umzusetzen, also nicht nur<br />
eine Richtung zu verfolgen, sondern immer kreuz und quer zu gehen. Auch in<br />
der Kunsttheorie entwickeln sich ja solche eingegrenzten Diskurse, die so<br />
spezialisiert sind, dass nur noch sehr wenige folgen können. Und gerade diejenigen,<br />
die man gar nicht versteht, werden dann besonders gelobt. Das ist<br />
gefährlich. Natürlich ist es wichtig, dass sich Leute spezialisieren, aber man<br />
muss auch den Blick für die Relevanz behalten und nicht nur einen Selbstzweck<br />
erfüllen. Den meisten Künstlern ist meiner Meinung nach aber auch ein Hang<br />
zur Selbstkritik mitgegeben: Jeder Künstler verfällt ab und zu in eine Depression,<br />
wo er sich fragt, welchen Sinn seine Arbeit eigentlich hat. Es gibt kein<br />
Standardmodell in der Kunst, nach dem man sich richten kann, sondern man<br />
muss sich ständig neu erfinden. Wenn man nur das weitermacht, womit man<br />
angefangen hat, interessiert das bald niemanden mehr. Wie finden Sie neue<br />
Wege, sich weiterzuentwickeln? Ich bin zum Beispiel die nächsten zwei Monate<br />
für einen Studienaufenthalt am CERN, was die großartigste Chance ist,<br />
die ich seit Jahren bekommen habe. Dort arbeiten die höchstspezialisierten<br />
Menschen der Welt, die sich eigentlich nur noch mit Theorien beschäftigen, die<br />
kein Mensch mehr verstehen kann. Ich war auch schon für ein paar Tage da:<br />
Das ist eine ganz andere Welt, und man braucht unglaublich lange, um zu<br />
verstehen, was sie eigentlich machen. Dafür arbeite ich mich gerade durch<br />
diese Schalen der Verständnistiefe und entdecke immer neue Bilder, mit denen<br />
sie mich als Laien an ihre Arbeit heranführen wollen. Wurden Sie vom CERN<br />
angesprochen? Das lief über eine Ausschreibung. Das CERN hat ja ein gewisses<br />
Problem mit der Öffentlichkeit, denn sie müssen nach außen erklären, was sie<br />
eigentlich tun. Einerseits verbrauchen sie unglaublich viel Geld, und andererseits<br />
haben viele Leute Angst, dass sie dort möglicherweise schwarze Löcher<br />
produzieren und so vielleicht die Welt vernichten. Deswegen arbeiten sie permanent<br />
daran, den Menschen ein Bild von ihrer Arbeit zu geben. Das Problem<br />
Julius von Bismarck und Natascha Adamowsky im Gespräch<br />
11 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
ist nur, dass die restliche Welt eben nicht Physik studiert hat und es den<br />
Wissenschaftlern am CERN dadurch schwerfällt, ihre Forschung zu kommunizieren.<br />
Deshalb haben sie die Hilfe von Künstlern gesucht, und mein Vorschlag<br />
hat ihnen gefallen. Sie sollen also versuchen, das Wissen des CERN durch Kunst<br />
zu verkörpern und zu verbildlichen, damit es für den Großteil der Menschen<br />
überhaupt erst zur Verfügung steht? Ja, denn ihnen fehlen grundsätzlich Worte<br />
und Bilder für das, was sie dort erforschen, da unsere normale Sprache und<br />
unser bildliches Vorstellungsvermögen nicht in der Lage sind, das darzustellen.<br />
Unser bildliches Vorstellungsvermögen ist zweidimensional und dreidimensional,<br />
sodass die mehrdimensionale Physik da schon nicht mehr hineinpasst,<br />
und für Theorien wie die Unschärferelation oder die Doppeldeutigkeit von<br />
Teilchen und Welle haben wir völlig lächerliche Begriffe. Die Wissenschaftler<br />
vom CERN benutzen eine uns erst einmal unzugängliche Sprache: Da gibt es<br />
die SUSY, die supersymmetrische Welt, oder das Hidden Valley, die Welt, die<br />
wir niemals sehen können. Bilder gibt es dafür natürlich überhaupt nicht, sondern<br />
nur Graphen, Linien in einem Koordinatensystem: Bei einem Knick in der<br />
Linie fängt das Hidden Valley an und beim nächsten hört es wieder auf. Ist<br />
diese Arbeit für Sie ein Forschungsprozess oder doch eindeutig Kunst? Man<br />
kann es »künstlerische Forschung« nennen. Meine Arbeit als Künstler ist ja<br />
experimentell: Ich wage mich mit einer Idee oder einer These vor, die beim<br />
Betrachter einen bestimmten Effekt auslösen soll. Meistens hat das Werk dann<br />
eine völlig andere und unerwartete Wirkung, aber das ist gerade der spannendste<br />
Moment. Wichtig ist nur, dass ich überhaupt einen Effekt erziele. In<br />
diesen Punkten kann man die künstlerische und die wissenschaftliche Arbeit<br />
durchaus vergleichen. Auch die Motivation dafür ist ähnlich. Wissenschaftler<br />
und Künstler arbeiten nicht hauptsächlich für Geld oder aus Spaß am Handwerk,<br />
sondern sie stellen Fragen nach dem, was dahinter ist. Zumindest ist das<br />
meine Motivation. Deswegen fühle ich mich den Wissenschaften sehr nah, auch<br />
wenn ich eine ganz andere Vorgehensweise habe. Ich arbeite mit anderen<br />
Medien und bin auch nicht der Wahrheit verpflichtet, d. h., ich kann auch die<br />
Unwahrheit als Mittel nutzen, was in der Wissenschaft ja nicht erlaubt ist. Ich<br />
kann querschießen und haarsträubende Sachen machen, weil ich als Künstler<br />
frei bin. Wissen Sie schon, ob bei diesem Forschungsprojekt am Ende ein<br />
Kunstwerk entstehen wird? Sie möchten gern ein Kunstwerk haben, das einerseits<br />
ihre Inhalte nach außen für die Öffentlichkeit kommuniziert, andererseits<br />
den Wissenschaftlern selbst eine neue Idee von sich gibt. Ich weiß aber<br />
noch nicht genau, in welche Richtung ich gehen werde: Vielleicht gestalte ich<br />
ein Kunstwerk, vielleicht wird es ein Experiment oder ein Text, oder ich organisiere<br />
etwas direkt mit den Wissenschaftlern dort. In der Vorbereitung habe<br />
ich jedenfalls alle Freiheiten: Ich habe jede Woche Termine mit den wichtigsten<br />
Wissenschaftlern und kann mit ihnen so viel reden, wie ich will. Dieses Konzept,<br />
sich von jemandem, der aus einem ganz anderen Feld kommt, anregen<br />
und bereichern zu lassen, ist sehr faszinierend. Dadurch können solche Zusammenhänge<br />
hergestellt werden, über die wir vorhin gesprochen haben. Haben<br />
Sie auch woanders solche Kontakte bemerkt? Mir fällt es momentan an vielen<br />
Orten auf. Am Institut für Raumexperimente, wo ich studiere, wurde zum<br />
Julius von Bismarck und Natascha Adamowsky im Gespräch 12 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
Beispiel gerade ein Stipendium für einen Politiker ausgeschrieben. Kunst und<br />
Wissenschaft versucht man schon an vielen Orten zu vereinen, weil klar geworden<br />
ist, dass das für beide Seiten fruchtbar ist. Aber Kunst und Politik lassen<br />
sich kaum aufeinander ein. Es gibt tagespolitische, kritische Kunst auf der<br />
einen Seite und Politiker, die Kunstbudgets kürzen, auf der anderen, aber die<br />
beiden Felder finden selten zusammen. Woran arbeiten Sie gerade selbst? Mein<br />
aktuellstes Projekt nennt sich Punishment I, die Naturbestrafung. Dabei filme<br />
und fotografiere ich, wie ich Naturdenkmäler und -symbole auf der ganzen<br />
Welt auspeitsche. Hauptsächlich habe ich dafür natürliche Schauplätze gewählt,<br />
aber in Rio de Janeiro zum Beispiel habe ich die Jesusstatue ausgepeitscht,<br />
um auch die Bedeutung, die der Natur in diesem Projekt zukommen<br />
soll, deutlich zu machen. Die Natur steht hier als heiliges Symbol des Positiven<br />
dem Menschen gegenüber. Gleichzeitig ist dieses Bild aber auch ein Klischee,<br />
wie es vielfach in der Werbung benutzt wird. Die großen industriellen Firmen<br />
benutzen häufig Naturbilder für ihre Werbungen, grüne Wiesen mit blauem<br />
Himmel. Je mehr Umwelt verschmutzt wird, desto sauberer ist das Naturbild<br />
auf der Werbung. Diese Naturbilder sind leere Symbole geworden, Hülsen für<br />
unsere Orientierungslosigkeit. An diesen arbeite ich mich jetzt ab. Die Bilder<br />
zeigen im Endeffekt dieses Abarbeiten, wie ich endlos auf die Natur peitsche,<br />
bis ich erschöpft bin. Vielen Dank für das Gespräch!<br />
<br />
Julius von Bismarck studierte visuelle Kommunikation<br />
und Kunst in Berlin und New<br />
York – zuletzt am Institut für Raumexperimente<br />
der UdK Berlin. In seinen Arbeiten hinterfragt<br />
von Bismarck neue Technologien, indem<br />
er eigene Apparaturen entwickelt, bestehende<br />
Technologien hackt und so erst ihr »ganzes<br />
Potenzial« ausschöpft. Der von ihm entwickelte<br />
»Image Fulgurator« zum Beispiel projiziert<br />
Bilder, die nur auf den Fotos von umstehenden<br />
Fotografen zu sehen sind. Doch von Bismarck<br />
arbeitet nicht immer mit Technik. Der Eliasson-<br />
Schüler peitschte zum Beispiel in einem Rachefeldzug<br />
durch Europa, Nord- und Südamerika<br />
Naturdenkmäler und symbolische Orte aus.<br />
Im Frühling 2012 verbringt er drei Monate im<br />
Genfer Kernforschungszentrum, um künstlerisch<br />
zu forschen, nachdem er mit dem Prix Ars<br />
Electronica Collide@CERN ausgezeichnet wurde.<br />
Ausstellungen (Auswahl):<br />
2008<br />
· exhibition: Pixelache 08, Kiasma, Museum<br />
of Modern Art, Helsinki, Finland<br />
· award »Golden Nica« with the »Image<br />
Fulgurator« at Prix Ars Electronica, Linz,<br />
Austria<br />
· exhibition: Social intervention, Gallery<br />
Sangsangmadang, Seoul, Korea<br />
2009<br />
· jury selected work: Japan Media Arts Festival<br />
09, Tokio, Japan<br />
· exhibition: Kapelica gallery, Ljubljana,<br />
Slovenia<br />
· award: Prix Ars Electronica. with the<br />
»Perpetual Storrytelling Apparatus«, Austria<br />
· exhibition: Agents & Provocateurs, Institute<br />
of Contemporary Art, Dunaujvaros, Hungary<br />
2010<br />
· award: Beep Electronic Art Award, Spain<br />
· exhibition: Transmediale 2010, Berlin,<br />
Germany<br />
· exhibition: Stadt am Rande, Today Art<br />
Museum, Beijing, China<br />
· exhibition: Kunsthallen Nikolaj, Copenhagen,<br />
Denmark<br />
2011<br />
· performance/film with Dorothee Elmiger/<br />
Index, Cabaret Voltaire, Zurich, Switzerland<br />
· exhibition: Seeing/Knowing, Gund Gallery,<br />
Gambier, USA<br />
· exhibition: URO, IMO Gallery, Copenhagen,<br />
Denmark<br />
· award: Prix aec Collide@CERN, Linz, Austria/<br />
CERN, Switzerland<br />
Julius von Bismarck und Natascha Adamowsky im Gespräch 13 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
Dirk Baecker ist seit Herbst 2007 Lehrstuhlinhaber für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin University<br />
in Friedrichshafen. Zuvor war er Professor für Soziologie an der Universität Witten/Herdecke, und von 1996 bis<br />
2000 hatte er die Reinhard-Mohn-Stiftungsprofessur für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und<br />
gesellschaftlichen Wandel an der Universität Witten/Herdecke inne.<br />
Dirk Baecker<br />
Interfaces: Eine Meditation über Trägheit und Widerstand<br />
Ein Verhältnis mit Verhältnissen<br />
In der Soziologie, so Harrison C. White, solle man besser<br />
von Interfaces als von Grenzen reden (White 1982). Grenzen<br />
seien eher etwas für Naturwissenschaftler, da man<br />
dazu neigt, sie für gegeben zu halten, Sozialwissenschaftler<br />
hingegen wüssten, dass jede Trennlinie für ein<br />
soziales System eine Angelegenheit ist, die aktiv aufrechterhalten,<br />
unterhalten, unterspült, umworben und<br />
bestritten wird. Letztlich gehe es um Profile, die nach<br />
innen und nach außen und mal mehr drinnen und mal<br />
mehr draußen Varianzen miteinander abstimmen, die<br />
das Material sind, in dem das System sich reproduziert.<br />
White meinte, dies sei ein Ausgangspunkt, um eine<br />
Organisationstheorie zu formulieren, die die Organisation<br />
weder zu einem Kollektivakteur reifiziert noch<br />
zu einem kulturellen Regelsystem verharmlost, wie es<br />
in den Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften<br />
üblich sei (daran hat sich seit 1982 nicht sehr viel geändert),<br />
sondern ganz im Gegenteil als ein soziales<br />
System ernst nehme, in dem das Soziale selbst zum<br />
Gegenstand einer Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten<br />
und Unmöglichkeiten der Gestaltung werde.<br />
›Organisation‹ heißt, dass man sich auf seinen Formulierung<br />
von Erwartungen und seinen Umgang mit<br />
Erwartungen hin beobachtbar macht. Man spricht von<br />
›Entscheidungen‹, um eine Handhabe zu haben, die<br />
Erfüllung von Erwartungen positiv und deren Enttäuschung<br />
negativ zu sanktionieren. Das ist in der Familie,<br />
in den Massenmedien und andernorts in der Gesellschaft<br />
anders. Dort werden die Erwartungen in der Schwebe<br />
gehalten, um so oder anders auf sie reagieren und an<br />
sie anschließen zu können. Wer organisiert, gibt seine<br />
Erwartungen preis. Und darauf haben manche nur gewartet.<br />
Wer also noch nicht weiß, was es mit dem Sozialen<br />
auf sich hat, der begebe sich in eine Organisation, hüte<br />
sich jedoch davor, seine Erfahrungen dort zu schnell<br />
auf andere Bereiche zu übertragen. Organisationen sind<br />
Organisationen, weil sie die Komplexität von Erwartungen<br />
und Erwartungserwartungen zugunsten recht<br />
simpler Asymmetrien zwischen denen, von denen etwas<br />
erwartet wird, und denen, die erwarten, reduziert, freilich<br />
nicht ohne sich die Freiheit zu nehmen, diese<br />
Asymmetrie top-down ebenso wie bottom-up zur Geltung<br />
zu bringen. Wir kennen diese Asymmetrien auch<br />
zwischen Lehrer und Schüler, Arzt und Patient, Politi-<br />
Interfaces: Eine Meditation über Trägheit und Widerstand 14 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
.............<br />
Erfolgreiche Unternehmer …<br />
knöpfen sich das Produkt,<br />
die Mitarbeiter, die Manager,<br />
die Lieferanten, die Investoren<br />
und die Kunden vor, bis sie<br />
selber und jeder andere das<br />
Versagen bis ins letzte Detail<br />
verstanden haben.<br />
ker und Wähler, Käufer und Verkäufer, Experte und Laie,<br />
Priester und Gläubiger, Künstler und Betrachter, Reporter<br />
und Zeitungsleser, also fast überall. Aber dies alles<br />
setzt ein mehr oder minder großes Maß an Organisation<br />
voraus und findet in einer Gesellschaft statt, die<br />
immer Mittel hat, die Asymmetrie zu umspielen und auf<br />
Symmetrien hin auszulegen: Symmetrien der Kommunikation.<br />
Organisationen sind Reduktionen des Sozialen,<br />
aber nicht dieses selbst.<br />
Nehmen wir den Gedanken ernst, dass Organisationen<br />
keine Grenzen in irgendeinem verlässlichen Sinne<br />
haben, sondern über Interfaces mit ihrer Umwelt<br />
verbunden sind und über Profile diese Interfaces nach<br />
innen und nach außen beobachtbar und gestaltbar<br />
machen. Niklas Luhmanns Begriff einer Grenze als<br />
einer »steigerbaren Leistung« (Luhmann 1984) ist damit<br />
durchaus kompatibel. Die Pointe an diesem Begriff des<br />
Interface ist, das er den Punkt der Unmöglichkeit der<br />
Gestaltung einer Grenze benennt, die jedoch gestaltet<br />
werden muss, wenn Organisation ihren Namen verdienen<br />
will. Wir haben es demnach hier mit einem Paradox<br />
beziehungsweise, so Peter Littmann und Stephan<br />
A. Jansen, mit einem »Oszillodox« zu tun (Littmann/<br />
Jansen 2000), die nur bewältigt werden können, wenn<br />
man laufend auf beiden Seiten der Grenze agiert und<br />
operiert.<br />
Wie macht man das? Man produziert mehr Varianzen,<br />
als die Verhältnisse sie selber produzieren. Oder<br />
anders: Man macht sich selbst zu einem Verhältnis. Und<br />
wer ist »man«? Die Rolle wechselt. Wer die meisten<br />
Varianzen produzieren kann, hat die größten Chancen,<br />
steht aber auch mitten im Schussfeld. Das sind mal die<br />
Ingenieure, die einen technischen Wandel vorantreiben,<br />
mal die Arbeiter, die mit gewerkschaftlicher Hilfe den<br />
sozialen Frieden definieren, mal die Wissensmanager,<br />
die Recherchen mit Archiven und Controlling verknüpfen,<br />
und mal die Geschäftsführer, die die Bedürfnisse<br />
der Kunden definieren.<br />
Man sieht den Spielraum, den jede Organisation<br />
hat. Man sieht aber auch, dass zwar nicht die Grenze,<br />
geschweige denn Interface und Profil, wohl aber dieser<br />
Spielraum durchaus jenseits der Verfügungsgewalt der<br />
Organisation liegt. Die Kunst der Interfacegestaltung<br />
besteht darin, Verhältnisse zu produzieren, von denen<br />
sich die Verhältnisse beeindrucken lassen. Nur dann<br />
macht der Unterschied einen Unterschied. Nur dann entsteht<br />
Information, mit der sich arbeiten lässt. Alles andere<br />
ist Wind und dann sehr schnell Windstille.<br />
Bleiben wir noch einen Moment bei der Organisation<br />
und ihren Interfaces. Wir werden dann sehen, ob und<br />
wie der Begriff des Interface sich verallgemeinern lässt,<br />
um auch andere Systeme und deren Ärger mit ihrer<br />
Umwelt und den Systemen in dieser Umwelt beschreiben<br />
zu können. Was ist, Hand aufs Herz, die dominante<br />
Erfahrung für jeden Akteur, Manager oder Mitarbeiter,<br />
Kunde oder Investor, Lieferant oder Partner, im Umgang<br />
mit einer Organisation? Richtig, eine doppelte<br />
Trägheit, nämlich die eigene und die der Organisation.<br />
Während die eigenen Pläne schon längst den Kunden<br />
bezirzt, den Markt erobert, die Konkurrenten überrumpelt,<br />
die Mitarbeiter begeistert und die Lieferanten<br />
überzeugt haben, macht keiner richtig mit, entdeckt<br />
man die Mängel in der eigenen Vorbereitung, knicken<br />
die entscheidenden Ressourcen weg, erweist sich die<br />
zündende Idee als Chimäre. Macht nichts, denkt man<br />
sich, her mit dem nächsten Plan, schließlich feiern die<br />
Konkurrenten einen Erfolg nach dem anderen.<br />
Erfolgreiche Unternehmer, das glaubt man zu wissen<br />
(Schumpeter 1912; aber siehe auch nahezu jede<br />
Äußerung von oder über Steve Jobs), reagieren anders.<br />
Sie werden zu pedantischen Laboranten ihres Misserfolgs.<br />
Sie knöpfen sich das Produkt, die Mitarbeiter,<br />
die Manager, die Lieferanten, die Investoren und die<br />
Kunden vor, bis sie selber und jeder andere das Versagen<br />
bis ins letzte Detail verstanden haben. Das ist eine<br />
Zumutung. Dafür muss man gebaut sein, sowohl um es<br />
praktizieren als auch um es aushalten zu können. Aber<br />
Interfaces: Eine Meditation über Trägheit und Widerstand 15 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
nur das schafft in den Verhältnissen die Verhältnisse, Das Interface ist keine einfache Grenze, sondern ein<br />
von denen man dann ausgehen kann.<br />
komplexer Vektor, der sich aus Trägheit und Widerstand<br />
errechnet. Der Widerstand wiederum ist nicht<br />
Warten auf Higgs<br />
nur ein gerichteter der möglicherweise gegnerischen<br />
Worauf, und darauf will ich hier hinaus, verlässt sich Kräfte, sondern auch der ungerichtete einer Reibung,<br />
dieses Vorgehen? Womit rechnet der Unternehmer? die man erst kennenlernt, wenn es für den Ausgangs-<br />
Was, glaubt er, kommt ihm zu Hilfe, wenn schon nichts impuls schon zu spät ist. Deswegen muss man, kaum<br />
mehr zu gehen scheint? Welche Botschaft enthält ein hat man das erste K. o. mit Mühe weggesteckt, schon<br />
Interface, dem man nur durch die Produktion von wieder hinein in den Ring.<br />
Varianzen in Varianzen, durch Varianzen zweiter Ord- Natürlich ist das eine Metaphorik, die nicht jedem<br />
nung also, auf die Spur kommt? Die entscheidende Bot- gefällt. Aber man vergesse nicht, dass wir uns in der<br />
schaft, so nehme ich an, ist die der Trägheit. Denn das Physik in einem Feld bewegen, das auch die schwaschaut<br />
sich normalerweise niemand an. Das behält man chen Kräfte kennt, ja sogar Kräfte zwischen Partikeln,<br />
lieber für sich. Das hat man im Zweifel allenfalls hin- die mit dem Abstand zwischen diesen Partikeln abnehmen<br />
und dennoch unendlich sind. Vermutlich spricht<br />
ter sich.<br />
Aber die Physik weiß es besser, wie dies Jean-Marc man so oder so besser von Feldern als von Kräften, und<br />
Lévy-Leblond (2011) in einem bemerkenswerten Essay dann ist der Boxer nur jemand, der vorführt, wie man<br />
noch einmal herausgearbeitet hat. Hier, und das weckt ein Feld gestaltet und verändert, während man sich in<br />
das Misstrauen des Unternehmers, ist die Trägheit einer ihm bewegt und von ihm bewegt wird. Das gilt für<br />
Masse umso größer, je höher ihre Geschwindigkeit ist. Berater, Therapeuten, Liebhaber, Eltern, Lehrer oder<br />
Bei Lichtgeschwindigkeit wird sie unendlich. Niemand Politiker ganz genauso. Sie alle sind Zerfallsprodukte<br />
kann sie dann aufhalten. Das heißt aber umgekehrt, eines Vektors, der als Interface letztlich nur auf sich<br />
dass Trägheit für den Physiker jenes Moment ist, das die selber zeigt.<br />
Bewegung eines Partikels ins Unendliche fortzusetzen Lässt man sich auf diese Metapher und begriffliche<br />
erlauben würde, gäbe es da nicht Reibungsverluste in Spielerei ein, die nur darin begründet sind, dass sie<br />
der Begegnung mit anderen Partikeln, die die Bewe- den Versuch machen, die vorherrschende Dinglichkeit<br />
gung abbremsen, ablenken und einfangen. Es ist, mit unserer Sprache durch den Hinweis auf Felder aufzulockern,<br />
dann kommen neben der Organisation auch ande-<br />
anderen Worten, der Widerstand, den die Trägheit erfährt,<br />
der einen Hinweis auf die Wirklichkeit enthält. re Interfaces in den Blick. Die hier zitierte Physik dreht<br />
Die Teilchen selber sind im Verhältnis dazu nur ein den Spieß (auch ein Vektor) sogar regelrecht um und<br />
Postulat.<br />
Der Haken eines Boxers wäre tödlich,<br />
würde er nicht durch das Kinn<br />
des Gegners zum K. o. gemäßigt.<br />
......<br />
spricht von Partikeln nicht mehr als Dingen, sondern als<br />
Leeren, die als diese Leere (Horror Vacui) Wechselwirkung<br />
entfalten. Wer denkt da nicht an George Spencer-Brown<br />
(2008), für den eine Gleichung mit re-entry nicht mehr<br />
entweder in den marked state oder den unmarked state<br />
aufgelöst werden kann, während dennoch beides mög-<br />
lich ist? Und wer verfolgt dann nicht mit Spannung<br />
(Spannung!) die Suche im LHC des CERN nach einem<br />
Der Haken eines Boxers wäre tödlich, würde er nicht Higgs-Teilchen, das materiell oder antimateriell (wer will<br />
durch das Kinn des Gegners zum K. o. gemäßigt. Boxen das wissen?) jene Masse mobilisiert, die allen anderen<br />
heißt daher, auf eine Trägheit zu setzen, die mit einem Teilchen fehlt und die sich als physikalische Entspre-<br />
Widerstand rechnet. Wenn der Trainer dem Boxer rät, chung des unmarked state entpuppen könnte?<br />
nicht auf, sondern hinter das Kinn des Gegners zu zie- Aber im Ernst und bevor der böse Blick des Alan<br />
len, dann ist das eine paradoxe Aufforderung, die den Sokal mich ereilt, könnte man auf jeden Fall einmal<br />
Widerstand in die Trägheit hineinrechnet und das den Gedanken des Interface als Vektor von Trägheit und<br />
Resultat als Vektor des K. o.s postuliert.<br />
Widerstand auch an anderen Phänomenen erproben.<br />
Interfaces: Eine Meditation über Trägheit und Widerstand 16 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
Systeme haben wir ja genug. Und für alle gibt es eine<br />
Systemforschung, die dem Gedanken stabiler Grenzen<br />
zutiefst misstraut und diese Grenzen mit wachsender<br />
Leidenschaft als Interfaces erforscht.<br />
Nehmen wir etwa das neurophysiologische System<br />
des Gehirns samt im Organismus verteiltem Nervensystem.<br />
Chris Frith, der britische Neurophysiologe und<br />
Psychologe, hat präzise zeigen können, dass dieses so<br />
unzulässig auf das Gehirn beschränkte Nervensystem<br />
als ein Interface zu verstehen ist, das ständig damit<br />
beschäftigt ist, seine irrigen Vorhersagen über seine<br />
Umwelt und seine Reaktion auf diese Umwelt zu korrigieren<br />
(Frith 2007). Das Einzige, was es dazu braucht und<br />
was es daher vorsichtshalber nie korrigiert, ist die Illusion<br />
des freien Willens. Dieser freie Wille steht für die<br />
Leere der Partikel. Er ist die Voraussetzung dafür, dass<br />
laufend bestimmt werden kann, was noch nicht bestimmt<br />
ist, und wiedergewonnen werden muss, was<br />
gerade aufs Spiel gesetzt wurde. Und er hat die Interfacequalität,<br />
die man hier braucht, da die Freiheit<br />
auf die Innenseite und der Wille auf die Außenseite bezogen<br />
werden kann, ohne das Gegenteil auszuschließen<br />
(Wille drinnen, Freiheit draußen) und ohne sie je dort<br />
verlieren zu können, da es dann mit der Freiheit und<br />
dem Willen vorbei wäre. Die Illusion des freien Willens<br />
ist das Trägheitsprinzip des Nervensystems. Sie zwingt<br />
dieses System in den Kontakt mit der an ihrem Widerstand<br />
ablesbaren Wirklichkeit, ohne dass von Zwang je<br />
die Rede sein könnte.<br />
Oder das Bewusstsein, das man vom Nervensystem<br />
schon deswegen unterscheiden kann und muss, weil es<br />
von diesem so wenig mitbekommt. Das Bewusstsein,<br />
vermutet die Psychologie schon seit Langem (Freud<br />
1991, James 1912, Lacan 1966), ist keine Einheit, sondern<br />
eine Funktion. Es ist das, was etwas »weiß«, wenn<br />
(neben den Archiven, die sich deshalb so großer Beliebtheit<br />
erfreuen) überhaupt etwas existiert, dem ein<br />
Wissen zugesprochen werden kann. Aber das ist natürlich<br />
eine wunderbare Formulierung für eine weitere<br />
Leere, die auch wieder nur darauf setzen kann, dass sie<br />
eine hinreichende Trägheit entfaltet, um am Widerstand,<br />
auf den sie stößt, eine Wirklichkeit erfahrbar<br />
zu machen, die dann als gewusste Wirklichkeit (als<br />
Wahrheit?) gelten kann, solange man nicht genauer<br />
nachschaut (wie es Descartes und Husserl getan haben),<br />
was neben dem Gewussten als Wissendes gelten kann.<br />
Luhmann hat einmal die Vermutung geäußert, dass<br />
wir unser Bewusstsein nur brauchen, um unsere Wahrnehmungen<br />
nicht uns selbst, sondern der Welt zuzuordnen:<br />
Es löscht Informationen über den Ort, wo die<br />
Wahrnehmung tatsächlich stattfindet (Luhmann 1995,<br />
S. 14). Möglicherweise dient es überdies dazu, uns nicht<br />
mit der Kommunikation zu verwechseln, in die wir dennoch<br />
laufend verstrickt sind: Denn es löscht ja auch<br />
Informationen über den Ort, woher die meisten Wahrnehmungen<br />
angeregt worden sind. (Sonst hätten wir<br />
auch die Plagiatsdebatte nicht, die wir gerade führen.)<br />
Das wäre dann allerdings eine Maximalformulierung<br />
für ein Interface, das selbst nicht vorhanden sein darf,<br />
um seine Funktion erfüllen zu können.<br />
...............<br />
Luhmann hat einmal die Vermu-<br />
tung geäußert, dass wir unser<br />
Bewusstsein nur brauchen, um<br />
unsere Wahrnehmungen nicht<br />
uns selbst, sondern der Welt zu-<br />
zuordnen: … Möglicherweise<br />
dient es überdies dazu, uns nicht<br />
mit der Kommunikation zu<br />
verwechseln, in die wir dennoch<br />
laufend verstrickt sind:<br />
Die Lehre der Leere<br />
Und wer sind »wir selbst«? Sicherlich ein Organismus,<br />
besser gesagt: mehrere, solange von »uns« die Rede ist.<br />
Und was ist das, auch ein System? Das kommt darauf<br />
an, wen wir dazu befragen. Mit W. Ross Ashby ist nicht<br />
der Organismus, sondern der Organismus-in-seiner-<br />
Umwelt ein System (Ashby 1960). Das aber heißt, dass<br />
der Organismus eine komplexe Einheit in einer komplexen<br />
Vielfalt ist, also selbst ein Vektor im genannten<br />
Sinne, ein Interface seiner selbst, der wiederum, wie<br />
Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela herausgearbeitet<br />
haben (Maturana 2000), eine Leere, nämlich<br />
die Leere der operationalen Schließung, mit einer Fülle<br />
kombiniert, die nicht er selber ist, nämlich mit Struk-<br />
Interfaces: Eine Meditation über Trägheit und Widerstand 17 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
turen seiner Realisierung im Medium einer Umgebung.<br />
Beides zusammen ist Autopoiesis, die jedoch auf<br />
unmögliche Weise, weil dort das Selbst verloren geht,<br />
identisch ist mit der Produktion von Wirklichkeit. Das<br />
bringt nicht nur den auch deswegen so »radikalen«<br />
Konstruktivismus zur Verzweiflung. Ist das Selbst also<br />
nur im Modus seines Verlusts denkbar? Und was wird<br />
dann aus dem Organismus? Muss man sich für mögliche<br />
Antworten auf diese Frage bei der seit Aristoteles<br />
(1995) notorischen Seelenkunde erkundigen? Man würde<br />
auf Entelechie verwiesen, auf etwas, das sein Ziel<br />
in sich selbst hat, als ein Vektor, der sich als Trägheit<br />
und Widerstand zugleich versteht.<br />
Irgendwie hat man den Eindruck, dass man Interfaces<br />
mit Organisationstheorie, Physik, Neurophysiologie<br />
und Biologie nur lesen kann, wenn man sich darauf<br />
einlässt, nichts in den Händen halten zu können. Ob der<br />
damit einhergehende Eindruck, dass Interfaces in genau<br />
dieser Fassung mit der Wirklichkeit zugleich identisch<br />
sind, über dieses Nichts hinwegtrösten kann, mag man<br />
bezweifeln. Und dass sich dieses Denken auf einer<br />
Schräge abspielt, die schließlich nur noch Higgs vor dem<br />
Abgrund bewahren kann, stimmt auch nicht eben zuversichtlich.<br />
Wenden wir uns also abschließend der Soziologie<br />
zu (nicht ohne das Schlimmste zu ahnen). Vielleicht<br />
zeigt sie uns ja, wer und was wir sind in dieser Welt<br />
der Interfaces. Greifen wir uns die Kultur heraus, damit<br />
wir uns nicht überfordern. Die Kultur gilt doch zurecht<br />
als Feld (Feld?), auf dem sich kultivieren lässt, was wir<br />
für unsere Zivilisation für das Wertvollste halten: Ackerbau,<br />
Weinstöcke, Philosophie, Kunst und Völkervielfalt<br />
(»Diversität«). Seit wir Kultur beobachten, wissen wir,<br />
dass es hier »gärt«, wie Herder, der Altmeister jeder<br />
Kulturwissenschaft formuliert hat (Herder 1990).<br />
Und wo es gärt, da ist ja wohl etwas vorhanden, oder?<br />
Man ahnt die doppelte Antwort. Die Kultur ist das<br />
große, das Megainterface der menschlichen Gesellschaft.<br />
Und sie ist leer! Als Megainterface, natürlich<br />
nicht mit diesem Wort, hat Niklas Luhmann sie bestimmt.<br />
Wie wäre es, so fragt er nicht ohne ein gewisses<br />
diebisches Vergnügen (das er »Skepsis« nennt:<br />
Luhmann 1997, S. 409), wenn wir die Kultur als das<br />
Kondensat des Zusammenwirkens aller Kommunikationsmedien<br />
der Gesellschaft (Sprache, Verbreitungsmedien<br />
und Erfolgsmedien) begreifen? Ein Kondensat,<br />
also ein Niederschlag, setzt immerhin eine Wärmedifferenz<br />
voraus. Aber zwischen was? Offenbar bewegen<br />
wir uns mitten im Interface. Und was darf man sich<br />
unter dem Zusammenwirken aller (!) Kommunikationsmedien<br />
der Gesellschaft vorstellen? In jedem Fall einen<br />
Sinnüberschuss, aber den würde auch ein Medium<br />
alleine bereits bewirken. Wenn Kommunikationsmedien<br />
zusammenwirken, kann es nur um zweierlei gehen, um<br />
die Potenzierung des Überschusses oder um dessen Reduktion<br />
im Medium seiner wechselseitigen Beschränkung.<br />
Da man einen Überschuss nicht potenzieren<br />
kann, denn Überschuss ist Überschuss, haben wir es<br />
wohl eher mit einer wechselseitigen Beschränkung zu<br />
tun, die wir dann auch »Integration« nennen können.<br />
Integration ist ja nicht zuletzt kulturell definiert als<br />
Reduktion von Freiheitsgraden (Anderson 1960).<br />
........<br />
Aha. Kommunikation ist Kom-<br />
munikation im Medium der<br />
Kultur, und diese wiederum ist<br />
ein Niederschlag.<br />
Und worauf kann das Zusammenwirken aller Kommunikationsmedien<br />
reduziert werden? Luhmann gibt<br />
auf diese Frage die Antwort, dass das Kondensat des Zusammenwirkens<br />
aller Kommunikationsmedien, also die<br />
Kultur, das Medium sei, das sich die Kommunikation<br />
selber gibt. Aha. Kommunikation ist Kommunikation<br />
im Medium der Kultur, und diese wiederum ist ein<br />
Niederschlag.<br />
So rätselhaft dies immer noch klingt, so deutlich<br />
ist doch, dass wir jetzt sehr viel mehr wissen als zuvor.<br />
Wir wissen nämlich, dass eine Kommunikation in jedem<br />
einzelnen dieser Medien, also in den Medien der<br />
Sprache, der Schrift, des Buchdrucks, der elektronischen<br />
Medien und der Massenmedien sowie der Macht, des<br />
Geldes, des Glaubens, der Wahrheit, des Rechts, der<br />
Kunst und der Liebe, nur möglich ist, weil und indem<br />
jede einzelne zugleich Rücksicht auf alle anderen<br />
nimmt. Das ist ein Forschungsprogramm! Liebe, Schrift<br />
und Geld! Buchdruck, Macht und Wahrheit! Elektronische<br />
Medien, Kunst und Recht! Man könnte sofort<br />
Interfaces: Eine Meditation über Trägheit und Widerstand 18 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10
ganze Institute und Zeitschriften gründen, um auszubuchstabieren,<br />
was hier an sich wechselseitig ein-<br />
schränkender Kommunikation jeweils möglich ist.<br />
Aber was ist dann diese Kultur anderes als ein<br />
Interface? Luhmann bestimmt für die Antike die Philosophie<br />
und ihren Telos-Begriff und für die Moderne<br />
die Ökonomie und ihren Gleichgewichtsbegriff (nein,<br />
das tut er nicht, Gleichgewicht ja, aber Ökonomie nein,<br />
stattdessen wieder die Philosophie: Descartes) als dieses<br />
Interface. Für die nächste Gesellschaft könnte man dies<br />
durch die Ökologie und ihren Spielbegriff ergänzen<br />
(Bateson 2000), aber dieser Vorschlag steht in Konkurrenz<br />
zu anderen. Und was sind diese Kulturen des Telos,<br />
des Gleichgewichts und des Spiels? Richtig. Trägheiten,<br />
die mit Widerständen rechnen. Und was ist ein Telos, ein<br />
Gleichgewicht, ein Spiel abgesehen von dieser Funktion<br />
eines Vektors im komplexen Raum der Gesellschaft?<br />
Richtig. Sie sind leer.<br />
Gut, dann haben wir auch in der Soziologie keinen<br />
Felsen gefunden, auf den sich eine Kirche bauen ließe.<br />
Aber was ist mit Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Ausbeutung,<br />
höre ich jetzt einige Soziologen rufen? Nichts,<br />
würde ich sagen, das sind Negativfassungen des Telos,<br />
des Gleichgewichts und des Spiels, Belege für Ambiguitätsversagen,<br />
hartnäckige Asymmetrien, die jedoch,<br />
und dafür stehen auch die genannten Soziologen, selbst<br />
wieder nur Material für die Nachregulierung der kulturellen<br />
Integration der Medien sind.<br />
Und was sind diese Kulturen des<br />
Telos, des Gleichgewichts und<br />
des Spiels? Richtig. Trägheiten,<br />
die mit Widerständen rechnen.<br />
Wir sind in der Soziologie mit denselben Befunden<br />
konfrontiert wie in der Physik, in der Neurophysiologie,<br />
in der Biologie und zuvor bereits in der Organisationstheorie.<br />
Interfaces sind Teil jenes Kalküls, das Harrison<br />
C. White als Netzwerkkalkül der Ungewissheit angeschrieben<br />
hat. Vermutlich ist es kein Trost zu wissen,<br />
welche Rechnungen als Errechnungen im Vektorraum<br />
von Trägheit und Widerstand möglich sind, wenn man<br />
zugleich jeden Anhaltspunkt dafür verliert, wer denn<br />
eigentlich diese Rechnungen durchführt. Aber das ist<br />
wieder die Wahl zwischen der blauen und der roten Pille.<br />
Entweder wir schauen auf Einheiten und Identitäten<br />
und lassen es zu, dass die Welt zwischen ihnen unbekannt<br />
wird, oder wir schauen auf die Rechenvorgänge<br />
in der Welt und überlassen es den Einheiten und Identitäten,<br />
ob sie sich dafür rekrutieren lassen oder nicht.<br />
Die Organisationstheorie jedenfalls befindet sich in<br />
guter Gesellschaft. Und das ist auch für Manager, Berater<br />
und Mitarbeiter eine gute Nachricht. Organisationen lassen<br />
sich als Leerstellenkalküle verstehen (Lehmann 2011),<br />
und das bedeutet, dass der Ärger von heute nicht unbedingt<br />
auch der Ärger von morgen ist.<br />
<br />
.........<br />
Anderson, Robert (1960): Reduction of Variants as a Measure of<br />
Cultural Integration, in: Gertrude E. Dole und Robert L. Carneiro<br />
(Hrsg.), Essays in the Science of Culture in Honor of Leslie A. White,<br />
New York: Crowell, S. 50-62.<br />
Aristoteles (1995): Über die Seele, in: ders., Philosophische<br />
Schriften in sechs Bänden, Bd. 6, Hamburg: Meiner.<br />
Ashby, W. Ross (1960): Design for a Brain: The Origin of Adaptive<br />
Behavior, 2., erw. Aufl., New York: Wiley.<br />
Bateson, Gregory (2000): Steps to an Ecology of Mind, Nachdruck<br />
Chicago: Chicago UP.<br />
Freud, Sigmund (1991): Die Traumdeutung, Frankfurt am Main:<br />
Fischer.<br />
Frith, Chris (2007): Making Up the Mind: How the Brain Creates<br />
our Mental Worlds, London: Blackwell.<br />
Herder, Johann Gottfried (1990): Auch eine Philosophie der<br />
Geschichte zur Bildung der Menschheit: Beitrag zu vielen Beiträgen<br />
des Jahrhunderts, hrsg. von Hans Dietrich Irmscher, Stuttgart:<br />
Reclam.<br />
James, William (1912): Does ›Consciousness‹ Exist? In: ders., Essays<br />
in Radical Empiricism, New York: Longman Green & Co.<br />
Lacan, Jacques (1966): Ecrits, Paris: Le Seuil.<br />
Lehmann, Maren (2011): Mit Individualität rechnen: Karriere als<br />
Organisationsproblem, Weilerswist: Velbrück.<br />
Lévy-Leblond, Jean-Marc (2011): Von der Materie: relativistisch,<br />
quantentheoretisch, wechselwirkungstheorietisch, dt. Berlin:<br />
Merve.<br />
Littmann, Peter, und Stephan A. Jansen (2000): Oszillodox:<br />
Virtualisierung – die permanente Neuerfindung der Organisation,<br />
Stuttgart: Klett-Cotta.<br />
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen<br />
Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp.<br />
Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt<br />
am Main: Suhrkamp.<br />
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt<br />
am Main: Suhrkamp.<br />
Maturana, Humberto R. (2000): Biologie der Realität, dt. Frankfurt<br />
am Main: Suhrkamp.<br />
Schumpeter, Joseph (1912): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung,<br />
Leipzig: Duncker & Humblot.<br />
Spencer-Brown, George (2008): Laws of Form, internationale<br />
Ausgabe, Leipzig: Bohmeier.<br />
White, Harrison C. (1982): Interfaces, in: Connections 5, Nr. 1,<br />
S. 5-20 (übersetzt abgedruckt in diesem Heft).<br />
Interfaces: Eine Meditation über Trägheit und Widerstand 19 <strong>Revue</strong> für <strong>postheroisches</strong> Management / Heft 10