Newtons Gravitationsgesetz â aus Formeln wird eine Idee
Newtons Gravitationsgesetz â aus Formeln wird eine Idee
Newtons Gravitationsgesetz â aus Formeln wird eine Idee
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Newtons</strong><br />
<strong>Gravitationsgesetz</strong> – <strong>aus</strong> <strong>Formeln</strong><br />
<strong>wird</strong> <strong>eine</strong> <strong>Idee</strong><br />
Vor Newton hatte Kepler bereits die fundamentalen Gesetzmäßigkeiten der Planetenbewegungen gefunden,<br />
allerdings ihre Ursachen nicht erkennen können. Newton gelang es, die Keplerschen Gesetze<br />
auf <strong>eine</strong> gemeinsame Ursache zurückzuführen — die universelle Gravitation. Wie kam Newton zum<br />
<strong>Gravitationsgesetz</strong><br />
Von I. Bernhard Cohen 1<br />
Der Höhepunkt der wissenschaftlichen Revolution, <strong>aus</strong> der die neuzeitliche Physik hervorging, war Isaac <strong>Newtons</strong> Entdeckung des<br />
<strong>Gravitationsgesetz</strong>es: Alle Objekte ziehen einander mit <strong>eine</strong>r Kraft an, die direkt proportional zum Produkt ihrer Massen und umgekehrt<br />
proportional zum Quadrat ihres Abstandes ist. Mit s<strong>eine</strong>r mathematischen Formulierung dieses Naturgesetzes konnte Newton die<br />
wichtigsten damals bekannten Erscheinungen im Universum beschreiben und zeigen, daß die Physik der Bewegungsabläufe auf der Erde<br />
und die Physik der Planetenbewegungen ein und dasselbe sind. Mit der Vorstellung von <strong>eine</strong>r allgem<strong>eine</strong>n Massenanziehung ließen sich<br />
die wichtigsten physikalischen Probleme, die zu <strong>Newtons</strong> Zeit diskutiert wurden, in <strong>eine</strong>m Zuge lösen: so wurde deutlich, welche<br />
Ursachen die drei Gesetze haben, die Johannes Kepler für die Planetenbewegung aufgestellt hatte, wie die Gezeiten entstehen, und wie<br />
Galileo Galileis merkwürdige Beobachtung zu erklären ist, daß die Strecke, die ein freifallendes Objekt pro Zeiteinheit zurücklegt, nicht<br />
von s<strong>eine</strong>m Gewicht abhängt. Newton hatte mit s<strong>eine</strong>r einheitlichen Beschreibung dieser bis dahin als grundverschieden angesehenen<br />
Phänomene Keplers Ziel erreicht, <strong>eine</strong> Physik zu entwickeln, die von den Ursachen der beobachteten Gesetzmäßigkeiten <strong>aus</strong>geht.<br />
Die Entdeckung der universellen Gravitation, die zu <strong>eine</strong>m Grundpfeiler, ja gerade zum Paradigma erfolgreicher Wissenschaft wurde,<br />
war k<strong>eine</strong>swegs nur die Folge <strong>eine</strong>s einmaligen genialen Geistesblitzes, sondern das Ergebnis systematischer Übungen in der Kunst des<br />
Problemlösens. Newton kam nicht durch Induktion zu s<strong>eine</strong>m <strong>Gravitationsgesetz</strong>, das heißt, indem er von einzelnen beobachteten<br />
Gesetzmäßigkeiten abstrahierte und sie verallgem<strong>eine</strong>rte; s<strong>eine</strong> mathematische Formulierung war vielmehr das Ergebnis <strong>eine</strong>r logischen<br />
Deduktion, bei der er von bereits existierenden <strong>Idee</strong>n <strong>aus</strong>ging. Die Entdeckung der universellen Massenanziehung verdeutlicht etwas, das<br />
m<strong>eine</strong>s Erachtens jeden bedeutenden wissenschaftlichen Durchbruch <strong>aus</strong>zeichnet, <strong>eine</strong>rlei ob es sich um <strong>eine</strong> einfache Neuerung oder <strong>eine</strong><br />
dramatische Revolution handelt. Bereits existierende Begriffe werden so umgeformt, daß etwas Neues entsteht.<br />
Newton entwickelte das Konzept der universellen Massenanziehung in den ersten Monaten des Jahres 1685 im Alter von<br />
zweiundvierzig Jahren. Die meisten berühmten Physiker waren zu dem Zeitpunkt, als sie ihre größte Entdeckung machten, sehr viel<br />
jünger. Anders bei Newton: er selbst bezeichnete die Jahre um 1685 als die fruchtbarsten s<strong>eine</strong>s Entdeckerlebens. Welche Überlegungen<br />
Newton damals geleitet haben und wann er das <strong>Gravitationsgesetz</strong> in s<strong>eine</strong>r endgültigen Form entdeckte, läßt sich anhand der historischen<br />
Dokumente rekonstruieren.<br />
Komponenten der Bewegung: Zentrifugalkraft, Zentripetalkraft und das Trägheitsprinzip<br />
Die ersten Schritte auf dem Wege zur Entdeckung der allgem<strong>eine</strong>n Massenanziehung fallen in die Jahre 1679 und 1680. In dieser Zeit<br />
berichtete Robert Hooke Newton über <strong>eine</strong> neue Methode, Bewegungen längs gekrümmter Bahnen zu beschreiben. Hooke hatte entdeckt,<br />
daß die Bewegung <strong>eine</strong>s Körpers, der <strong>eine</strong> Kreisbahn oder <strong>eine</strong> andere gekrümmte Bahn durchläuft, von zwei Komponenten bestimmt ist –<br />
<strong>eine</strong>r Inertial- oder Trägheitskomponente und <strong>eine</strong>r Zentripetalkomponente. Die Inertialkomponente treibt den Körper tangential zur<br />
gekrümmten Bahn nach vorn, so daß er in gerader Linie davonflöge, wenn ihn die Zentripetalkomponente, die „zentrumsuchende"<br />
Komponente, nicht daran hindern würde: Sie „zieht" den Körper ständig zum Krümmungsmittelpunkt der Bahnkurve, beispielsweise bei<br />
<strong>eine</strong>r Kreisbahn zum Kreismittelpunkt. Läuft ein Körper wie beispielsweise der Mond auf <strong>eine</strong>r stabilen konzentrischen Bahn um, so<br />
passen beide Komponenten gerade so zusammen, daß der Körper weder tangential zu s<strong>eine</strong>r Umlaufbahn davonfliegt, noch in immer enger<br />
werdenden Spiralen zum Bahnmittelpunkt stürzt.<br />
Die Vorstellung von <strong>eine</strong>r „zentrumsuchenden" Kraft ersetzte schließlich den älteren und mißverständlichen Begriff der<br />
„zentrummeidenden" Zentrifugalkraft. Rene Descartes und Christiaan Huygens hatten die Bewegungen längs gekrümmter Bahnen anhand<br />
von Zentrifugalkräften beschrieben. Descartes hatte zum Beispiel die Bewegung <strong>eine</strong>s Balles betrachtet, der auf der Innenfläche <strong>eine</strong>s<br />
hohlen Zylinders rollt, und außerdem versucht zu klären, warum man ein Gefäß mit Wasser im Kreis schleudern kann, ohne daß das<br />
Wasser her<strong>aus</strong>läuft. Es schien, als würden der Ball und das Wasser das Zentrum des Systems fliehen, und daher führte Descartes beide<br />
Bewegungen auf den Einfluß <strong>eine</strong>r Zentrifugalkraft zurück. Heute wissen wir, daß es <strong>eine</strong> solche Kraft nicht gibt – jedenfalls läßt sich <strong>eine</strong><br />
zentrumfliehende Kraft bei den bekannten Wechselwirkungen zwischen physikalischen Objekten nicht <strong>aus</strong>machen. Die Zentrifugalkraft ist<br />
jedoch lediglich <strong>eine</strong> Scheinkraft, und der Eindruck, daß <strong>eine</strong> solche Kraft wirke, entsteht allein dadurch, daß man das bewegte Objekt von<br />
<strong>eine</strong>m rotierenden Bezugssystem <strong>aus</strong> betrachtet (Bild 3).<br />
1 Über den Autor: siehe Anhang<br />
Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981 101
Mit dem Wandel der Vorstellungen von Zentrifugal- und Zentripetalkräften rückte die grundlegende Rolle des zentralen Körpers in<br />
<strong>eine</strong>m Planetensystem stärker in den Blickpunkt. Das Konzept der Zentrifugalkraft war auf das kreisende Objekt zugeschnitten, dessen<br />
Bemühen, das Zentrum zu fliehen, nicht von den Eigenschaften des zentralen Körpers abzuhängen schien. Die Vorstellung von <strong>eine</strong>r<br />
Zentripetalkraft ist dagegen eng mit dem zentralen Körper verknüpft, denn der Körper ist demnach als Ursache dafür anzusehen, daß das<br />
kreisende Objekt zum Zentrum gelenkt oder, was mathematisch betrachtet dasselbe ist, von ihm angezogen <strong>wird</strong>. Die Wechselbeziehung<br />
zwischen <strong>eine</strong>m zentralen (anziehenden) Körper und <strong>eine</strong>m umlaufenden (angezogenen) Objekt ist offensichtlich gerade das Problem, das<br />
in jeder Gravitationstheorie <strong>eine</strong> fundamentale Rolle spielt.<br />
Hookes Methode, Bewegungen längs gekrümmter Bahnen zu beschreiben, ist <strong>eine</strong> vergleichsweise einfache Anwendung des<br />
cartesianischen Trägheitsprinzips. Es mag daher überraschen, daß Newton noch 1679 auf diese Zusammenhänge hingewiesen werden<br />
mußte, obwohl er das Trägheitsprinzip bereits zwanzig Jahre zuvor weitgehend akzeptiert hatte. Doch war Newton (wie Descartes und<br />
Huygens) von der Vorstellung beherrscht, daß Objekte dem Zentrum, das sie umkreisen, <strong>aus</strong>weichen, und konnte daher die Auswirkungen<br />
des Trägheitsprinzips nicht überblicken.<br />
<strong>Newtons</strong> Briefwechsel mit Hooke<br />
In <strong>eine</strong>m Brief vom 24. November 1679 schlug Hooke Newton vor, in <strong>eine</strong>r privaten „philosophischen“ Korrespondenz über<br />
wissenschaftliche Probleme zu diskutieren, mit denen sie sich gerade beschäftigten. Sechs Jahre zuvor hatten beide über <strong>Newtons</strong><br />
Experimente und Theorien zur Dispersion des Lichtes in <strong>eine</strong>m Prisma und zur Entstehung der Farben öffentlich gestritten. Hooke war<br />
<strong>eine</strong>r der vielen Forscher, die <strong>Newtons</strong> Optik ablehnten. Die Tatsache, daß er s<strong>eine</strong> Arbeit verteidigen mußte, brachte Newton so sehr <strong>aus</strong><br />
der Ruhe, daß er schwor, die „Philosophie“ (gemeint war die Physik) aufzugeben, weil sie so „zänkisch wie ein Weib“ sei, daß ein Mann,<br />
der jemals etwas mit ihr zu tun gehabt habe, den Rest s<strong>eine</strong>s Lebens darauf verwenden müsse, s<strong>eine</strong> Meinung zu verteidigen.<br />
Hooke, der inzwischen Sekretär der Royal Society in London geworden war, wandte sich ungeachtet der früheren Auseinandersetzungen<br />
in freundlichem und wohlwollendem Ton an Newton. Er ermunterte Newton, zu den vorgetragenen Hypothesen und Meinungen Stellung<br />
zu nehmen und insbesondere auch über die Planetenbewegungen zu diskutieren, die sich nach Meinung Hookes <strong>aus</strong> <strong>eine</strong>r „direkten<br />
tangentialen Bewegung und <strong>eine</strong>r anziehenden Bewegung in Richtung des Zentralkörpers" zusammensetzen. Dieser Brief war offensichtlich<br />
für Newton der erste Hinweis darauf, daß sich Bewegungen längs gekrümmter Bahnen in <strong>eine</strong> Inertialkom-ponente und <strong>eine</strong><br />
Zentripetalkomponente zerlegen lassen. Es ist unklar, inwieweit Newton den Ansatz Hookes damals verstanden hat, denn er beschrieb die<br />
Kreisbewegung auch später noch häufig als Folge <strong>eine</strong>r Zentrifugalkraft.<br />
In s<strong>eine</strong>m Brief vom 24. November 1679 äußerte Hooke die Vermutung, daß die Zentripetalkraft, die <strong>eine</strong>n Planeten zur Sonne hinzieht,<br />
dem Quadrat des Abstandes umgekehrt proportional sei. An diesem Punkt kam Hooke jedoch nicht weiter, denn er konnte die Bedeutung<br />
s<strong>eine</strong>r eigenen tiefen Einsicht nicht erkennen und daher nicht den entscheidenden Schritt von der intuitiven Vorahnung und Vermutung zur<br />
exakten Wissenschaft vollziehen. Hooke fehlte das mathematische Genie <strong>Newtons</strong>, und überdies konnte er die Tragweite des Keplerschen<br />
Flächensatzes für die Planetenbewegungen nicht richtig einschätzen. Der Flächensatz besagt, daß der Radiusvektor, der die Sonne und den<br />
Planeten verbindet, in gleichen Zeitabschnitten gleiche Flächen überstreicht. Dieser Zusammenhang bildete die Grundlage für <strong>Newtons</strong><br />
Berechnungen, <strong>aus</strong> denen er s<strong>eine</strong> Himmelsmechanik entwickelte.<br />
Am 28. November schrieb Newton an Hooke, er habe – soweit er sich erinnere – erstmals in dessen Brief vom 24. November etwas von<br />
der Hypothese erfahren, daß sich die Bewegungen der Planeten <strong>aus</strong> <strong>eine</strong>r direkten Bewegung in Richtung der Tangente zur Kurve und<br />
<strong>eine</strong>r anziehenden Bewegung in Richtung Sonne zusammensetze. Nachdem Newton zugegeben hatte, daß Hookes Überlegungen neu für<br />
ihn waren, wechselte er sofort das Thema und stellte die Frage, wie sich die Erdrotation auf ein freifallendes Objekt <strong>aus</strong>wirkt und auf<br />
welcher Bahn sich ein solches Objekt bewegen würde, wenn es die rotierende Erde durchqueren könnte. Newton zog den falschen Schluß,<br />
daß die Bahnkurve <strong>eine</strong> Spirale sei.<br />
In s<strong>eine</strong>m Antwortbrief vom 9. Dezember geht Hooke auf <strong>Newtons</strong> Irrtum ein und erklärt, daß der Weg „<strong>eine</strong>r Ellipse ähneln würde".<br />
Hooke wartete darauf, daß Newton auf das Problem der Planetenbewegung eingehen würde und schnitt das Thema erneut an: Er vermute,<br />
schrieb er, daß die genaue Beschreibung <strong>eine</strong>s Objektes, das durch die Erde falle, und s<strong>eine</strong> eigene Beschreibung der Planetenbewegung<br />
das gleiche Problem zum Gegenstand hätten, nämlich „konzentrische Bewegungen, die <strong>aus</strong> <strong>eine</strong>r direkten Bewegung und <strong>eine</strong>r<br />
anziehenden auf das Zentrum hin zusammengesetzt sind“.<br />
Am 13. Dezember 1679 antwortete Newton vorsichtig auf Hookes Korrektur, ging aber nicht auf den Vorschlag zur Beschreibung der<br />
Kreisbewegungen ein. Hooke gab nicht auf. In <strong>eine</strong>m Brief vom 6. Januar 1680 (Bild 4) kam er auf s<strong>eine</strong> Thesen über die<br />
Kreisbewegungen zurück und wiederholte s<strong>eine</strong> Vermutung, daß die anziehende Zentripetalkraft umgekehrt proportional zum Quadrat des<br />
Abstandes vom Zentrum ist. Aus dieser Vermutung zog Hooke den falschen Schluß, daß die Geschwindigkeit des umlaufenden Körpers<br />
umgekehrt proportional zu s<strong>eine</strong>r Entfernung vom Zentrum sei. In Wirklichkeit gilt dies nur, wenn sich der Planet im Aphel oder im<br />
Perihel befindet (Bild 5). Dann behauptete er, daß s<strong>eine</strong> Analyse „alle Erscheinungen des Himmels verständlich und korrekt wiedergibt“.<br />
Newton antwortete nicht.<br />
Am 17. Januar schickte Hooke <strong>eine</strong>n kurzen ergänzenden Brief, in dem er schrieb: „Jetzt bleibt zu klären, welche Eigenschaften <strong>eine</strong><br />
gekrümmte Bahnkurve (die nicht kreisförmig oder konzentrisch sein muß) haben würde, wenn sie durch <strong>eine</strong> zentrale anziehende Kraft<br />
hervorgerufen <strong>wird</strong>, die die Geschwindigkeiten von der Tangentiallinie oder der geradlinigen Bewegung abweichen läßt und zwar in <strong>eine</strong>r<br />
doppelten Beziehung zum Kehrwert des Abstandes.“ Mit anderen Worten: Angenommen <strong>eine</strong><br />
Bild 2 (nächste Seite): Diese Zeichnung des Sonnensystems stammt von William Whiston, dem Nachfolger <strong>Newtons</strong> an der Universität von<br />
Cambridge, und wurde 1724 m <strong>eine</strong>r kurzen Abhandlung veröffentlicht. Neben den Bahnen der Planeten und der Monde des Jupiter und Satarn<br />
hat Whiston auch die Kometenbahnen dargestellt. Newton hatte gezeigt, daß die Bahnen von Kometen entweder wie die der Planeten elliptisch<br />
oder aber parabolisch sind, und daß auch für die Bewegungen der Kometen der Keplersche Flächensatz gilt: Der Vektor von der Sonne zum Planeten<br />
oder Kometen überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen. Der Text unter der Zeichnung ist ein Ausschnitt <strong>aus</strong> Whistons Übersetzung der<br />
Principia (in der Fassung von 1713) und gibt <strong>eine</strong>n Auszug <strong>aus</strong> den allgem<strong>eine</strong>ren Bemerkungen <strong>Newtons</strong> wieder, mit denen er die Principia<br />
abschloß. Newton preist darin das vollendete System der Natur und s<strong>eine</strong>n Schöpfer. Der erste Satz dieses Textes drückt dies bereits deutlich<br />
<strong>aus</strong>. Er lautet übersetzt: „Dieses einfache und schöne System der Planeten und Kometen konnte nur durch das Einwirken und Herrschen <strong>eine</strong>s<br />
klugen und mächtigen Wesens entstehen."<br />
102 Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981
Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981 103
Bild 3: Zentrifugal- und Zentripetalkraft. Wenn man <strong>eine</strong> Kugel, die an <strong>eine</strong>m Seil befestigt<br />
ist, im Kreis schleudert und sich selbst dabei mitdreht (links) entsteht der Eindruck, als ziehe<br />
<strong>eine</strong> zentrumfliehende (zentrifugale) Kraft die Kugel nach außen. Betrachtet man dagegen<br />
die gleiche Bewegung der Kugel von <strong>eine</strong>m ruhenden Bezugspunkt (rechts), so deutet nichts auf<br />
<strong>eine</strong> solche Kraft hin – die Zentrifugalkraft ist <strong>eine</strong> Scheinkraft. Um zu verstehen, wie man auf<br />
diese vermeintliche Kraft überhaupt gekommen ist, muß man die Kräfte betrachten, die auf die<br />
kreisende Kugel wirken: es sind die Seilspannung T und die Gewichtskraft m·g (Mitte rechts).<br />
Die Seilspannung hat <strong>eine</strong> senkrechte Komponente, die mit der Gewichtskraft im<br />
Gleichgewicht steht, und <strong>eine</strong> waagerechte Komponente, die von <strong>eine</strong>m ruhenden Beobachter<br />
als Zentripetalkraft aufgefaßt <strong>wird</strong>, die die Kugel in <strong>eine</strong> Kreisbahn zwingt (rechts unten). Der<br />
Beobachter, der sich selbst mitdreht, bemerkt ebenfalls den Zug der Seilspannung und die<br />
Gewichtskraft Er sieht darüberhin<strong>aus</strong>, daß sich die Kugel immer im gleichen Abstand zu ihm<br />
bewegt und nicht zum Zentrum hingezogen <strong>wird</strong>. Dies erklärt er als Folge <strong>eine</strong>r Zentrifugalkraft,<br />
die die Kugel nach außen zieht (Mitte links). Die Zentrifugalkraft scheint für ihn mit der waagerechten<br />
Komponente der Seilspannnng im Gleichgewicht zu stehen (links unten). Die<br />
Vorstellung von <strong>eine</strong>r Zentripetalkraft stammt von Robert Hooke.<br />
zentrale anziehende Kraft verursacht, daß ein<br />
Objekt von s<strong>eine</strong>m geradlinigen Weg abkommt<br />
und <strong>eine</strong> Kurve beschreibt, welche<br />
Bahnkurve würde sich dann ergeben, wenn<br />
die anziehende Kraft umgekehrt proportional<br />
zum Quadrat der Entfernung vom Kraftzentrum<br />
ist. Hooke schloß s<strong>eine</strong>n Brief mit<br />
den Worten: „Ich zweifle nicht, daß Sie mit<br />
ihrer <strong>aus</strong>gezeichneten Methode leicht her<strong>aus</strong>finden<br />
können, welche Kurve dies sein muß<br />
und welche Eigenschaften sie hat, und ich<br />
vermute <strong>eine</strong>n physikalischen Grund für diese<br />
Beziehung.“<br />
Die Keplerschen Gesetze und die<br />
Bewegungen unter dem Einfluß<br />
<strong>eine</strong>r Zentralkraft<br />
Newton tat genau dies. Er bewies, daß <strong>eine</strong><br />
Ellipse die Bedingungen erfüllt, die Hooke<br />
angegeben hatte. Dennoch teilte er diesen<br />
Beweis zunächst weder Hooke noch irgend<br />
jemand anderem mit. Erst im August 1684<br />
erfuhr der berühmte Astronom und Mathematiker<br />
Edmund Halley bei <strong>eine</strong>m Besuch die<br />
Antwort, als er Newton die gleiche Frage<br />
stellte wie Hooke. Das Problem war in der<br />
Royal Society lebhaft diskutiert worden und<br />
weder Halley noch der Astronom und<br />
Architekt Christopher Wren (nach dessen<br />
Plänen die Londoner St. Pauls Kathedrale<br />
gebaut wurde) hatte das Problem zu lösen<br />
vermocht; auch Hooke legte nie <strong>eine</strong> Lösung<br />
vor, obwohl er behauptete, <strong>eine</strong> gefunden zu<br />
haben.<br />
Auf Halleys Frage nach der Bahnkurve<br />
antwortete Newton sofort: Eine Ellipse. Halley<br />
wollte wissen, wie Newton darauf komme<br />
und erhielt die Antwort: „Ich habe das errechnet."<br />
Ansch<strong>eine</strong>nd hat Newton s<strong>eine</strong> Berechnungen<br />
damals jedoch nicht mehr gefunden,<br />
aber er gab dem Drängen Halleys nach und<br />
schrieb die Rechnung für die Royal Society in<br />
<strong>eine</strong>r kl<strong>eine</strong>n Abhandlung de Motu (über die<br />
Bewegung) nochmals auf. In de Motu faßte<br />
Newton s<strong>eine</strong> Arbeiten über die Planetenbewegungen<br />
sowie die Dynamik. physikalischer<br />
Vorgänge auf der Erde zusammen und erläuterte<br />
außerdem s<strong>eine</strong> Vorstellungen über die<br />
Bewegungen im leeren Raum sowie in <strong>eine</strong>m<br />
Medium, das <strong>eine</strong>n Widerstand darstellt.<br />
Newton muß de Motu vor dem 10. Dezember<br />
1684 abgeschlossen haben, denn an diesem<br />
Tag teilte Halley der Royal Society mit, daß<br />
Newton ihm vor kurzem <strong>eine</strong> bemerkenswerte<br />
Schrift gezeigt habe.<br />
Auf welchem Wege Newton in der Zeit<br />
nach s<strong>eine</strong>m Briefwechsel mit Hooke zu den<br />
Vorstellungen kam, die er in s<strong>eine</strong>m ersten<br />
Entwurf von de Motu darlegte, ist nicht dokumentiert.<br />
Aber ich bin sicher, daß Hookes<br />
Ansatz, konzentrische Bewegungen zu beschreiben,<br />
Newton auf die richtige Fährte<br />
setzte.<br />
104 Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981
Mit dieser Meinung werde ich zwar nicht<br />
bei allen Historikern auf Zustimmung stoßen,<br />
doch scheint mir der Einfluß, den der<br />
Briefwechsel mit Hooke auf Newton hatte,<br />
in de Motu und im ersten Buch der Philosophiae<br />
Naturalis Principia Mathematica<br />
(Mathematische Prinzipien der Naturlehre),<br />
das im folgenden Frühjahr entstand, unverkennbar.<br />
In einigen autobiographischen<br />
Manuskripten äußert Newton selbst, daß er<br />
die Berechnungen der Planetenbahn, die in<br />
de Motu und in den Principia veröffentlicht<br />
wurden, teilweise während des Briefwechsels<br />
mit Hooke und teilweise später durchgeführt<br />
habe. Beide Schriften enthalten den<br />
Beweis, daß ein Objekt dann auf <strong>eine</strong>r Ellipsenbahn<br />
umläuft, wenn die Trägheit die<br />
<strong>eine</strong> Komponente der Bewegung bestimmt<br />
und <strong>eine</strong> Zentripetalkraft, die umgekehrt<br />
proportional zum Quadrat der Entfernung<br />
ist, die andere.<br />
Dieser Beweis ließ die physikalische Bedeutung<br />
des ersten Keplerschen Gesetzes in<br />
<strong>eine</strong>m neuen Licht ersch<strong>eine</strong>n. Dieses Gesetz<br />
besagt, daß die Bahnen der Planeten<br />
Ellipsen sind, in deren Brennpunkt die<br />
Sonne steht. Es mag heute überraschen, daß<br />
es nicht Kepler, sondern Newton war, der<br />
die fundamentale Bedeutung der Keplerschen<br />
Gesetze aufdeckte. Man muß sich aber<br />
vor Augen halten, daß diese Gesetze vor der<br />
Veröffentlichung der Principia lediglich als<br />
Hypothesen betrachtet wurden.<br />
Insbesondere das zweite Keplersche Gesetz,<br />
der Flächensatz, schien den Astronomen<br />
des siebzehnten Jahrhunderts von untergeordneter<br />
Bedeutung und ist in den meisten<br />
astronomischen Schriften nicht einmal erwähnt.<br />
Auch die Astronomia Carolina von<br />
Thomas Streete, <strong>aus</strong> der Newton das dritte<br />
Keplersche Gesetz abschrieb, enthält k<strong>eine</strong>n<br />
Hinweis auf den Flächensatz – das zweite<br />
Keplersche Gesetz. (Das dritte Keplersche<br />
Gesetz besagt, daß die dritte Potenz der<br />
mittleren Entfernung des Planeten zu Sonne<br />
proportional zum Quadrat der Umlaufperiode<br />
ist.) Die meisten Astronomen berechneten<br />
die Planetenpositionen damals nicht<br />
nach dem Flächensatz, sondern mit Hilfe<br />
<strong>eine</strong>r geometrischen Konstruktion (Bild 6).<br />
Man betrachtete <strong>eine</strong>n Radiusvektor, der von<br />
<strong>eine</strong>m Brennpunkt der Ellipsenbahn <strong>aus</strong>ging,<br />
und synchron zu Umlaufbewegung des Planeten<br />
gleichmäßig rotierte. Dieser Vektor<br />
überstrich in gleichen „Zeiträumen“ gleiche<br />
Winkel, und der Schnittpunkt, an dem er zu<br />
<strong>eine</strong>m vorgegebenen „Zeitpunkt“ die Ellipse<br />
schnitt, legte die Position des Planeten fest.<br />
Dieses Verfahren ergab nur dann genaue<br />
Positionsangaben, wenn man geeignete Korrekturfaktoren<br />
einführte. Da die Astronomen<br />
den Flächensatz kaum anwendeten, bedurfte<br />
es <strong>eine</strong>s besonderen wissenschaftlichen<br />
Spürsinns, um die fundamentale Bedeutung<br />
dieses Keplerschen Gesetzes zu erkennen.<br />
Es war Newton, der den Flächensatz in den<br />
Rang erhob, der ihm gebührt.<br />
Bild 4: Diesen Brief schrieb Robert Hooke am 6. Januar 1680 an Newton (datierte ihn aber<br />
nach dem Julianischen Kalendersystem, in dem das Jahr mit dem Monat März beginnt, auf<br />
den 6. Januar 1679). Zu dieser Zeit stand Hooke mit Newton in <strong>eine</strong>m Briefwechsel, in<br />
dessen Verlauf er über s<strong>eine</strong> Methode berichtete, die Bewegungen der Planeten oder<br />
anderer Körper, die gekrümmten Bahnen folgen, in zwei Komponenten zu zerlegen, die<br />
Trägheits- oder Inertialkomponente und die Zentripetalkomponente. Die Zentripetalkraft<br />
zieht den Körper zum Bahnzentrum und verhindert, daß er aufgrund s<strong>eine</strong>r Trägheit tangential<br />
davonfliegt. In dem abgebildeten Brief geht Hooke auf die Zentripetalkraft bei der<br />
Planetenbewegung ein: „M<strong>eine</strong> Behauptung ist, daß die Anziehung immer in <strong>eine</strong>r quadratischen<br />
Beziehung (duplicate proportion) zum Kehrwert des Abstandes steht und daß<br />
folglich die Geschwindigkeit in <strong>eine</strong>r Wurzelbeziehung (subduplicate proportion) zur Anziehung<br />
steht und damit dem Kehrwert des Abstandes [proportional ist], genau wie es<br />
Kepler behauptet hat." Diese Passage zeigt, daß Hooke zwar richtig vermutete, daß die<br />
Anziehungskraft umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung ist, aber dar<strong>aus</strong> die<br />
falsche Folgerung zog, daß die Geschwindigkeit umgekehrt proportional zum Abstand sei.<br />
Dieser Fehler zeigt, daß Hooke sich über die Bedeutung der Beziehung zwischen der Anziehungskraft,<br />
die auf <strong>eine</strong>n Planeten wirkt, und dem Planetenabstand zur Sonne nicht im<br />
klaren war, auch wenn er in diesem Brief behauptet, mit s<strong>eine</strong>r Methode könnten alle<br />
Himmelserscheinungen erklärt werden. Weiter unten betont Hooke, wie wichtig es sei, die<br />
Eigenschaften der Bahnkurven zu bestimmen, denn die geographischen Längen, die für die<br />
Menschheit von großer Bedeutung seien, könnten <strong>aus</strong> der Mondbewegung abgeleitet<br />
werden.<br />
Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981 105
Das erste Thema der Principia (und die Überlegungen zu Beginn von de Motu) lassen bereits ahnen, welche Bedeutung der Flächensatz<br />
später in der <strong>Newtons</strong>chen Mechanik gewinnen sollte. Dort <strong>wird</strong> bewiesen, daß sich die Planetenbewegungen, die diesem Keplerschen<br />
Gesetz gehorchen, als Folge <strong>eine</strong>r Zentripetalkraft beschreiben läßt. Der Beweis hat drei Teile und zeigt, wie gut Newton Hookes Technik<br />
der Zerlegung gekrümmter Bewegungen in <strong>eine</strong> Inertialkomponente und <strong>eine</strong> Zentripetalkomponente inzwischen gelernt hatte (Bild 7).<br />
Im ersten Teil des Beweises betrachtet Newton <strong>eine</strong>n Körper, der sich geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit bewegt. Die<br />
Bahngerade ist in gleiche Abschnitte geteilt, die andeuten, daß der Körper in gleichen Zeiten gleiche Entfernungen zurücklegt. Oberhalb<br />
der Geraden <strong>wird</strong> im Abstand h ein Punkt P gewählt und mit den Endpunkten der Geradenabschnitte verbunden. Die entstehenden<br />
Dreiecke haben alle die gleiche Fläche, da sie gleiche Grundseiten und die gleiche Höhe h haben (Büd 7). Mit Hilfe dieses einfachen<br />
Beweisschrittes erhielt Newton <strong>eine</strong> unerwartete Beziehung zwischen der Trägheit <strong>eine</strong>s Körpers und dem Flächensatz.<br />
Im zweiten Teil des Beweises betrachtet Newton wiederum <strong>eine</strong>n zunächst geradlinig gleichförmig bewegten Körper, der diesmal<br />
jedoch am Ende des zweiten Abschnittes <strong>eine</strong>n Kraftstoß in Richtung auf P erfährt. Daher folgt der Körper im dritten Abschnitt nicht mehr<br />
der ursprünglichen Flugbahn, sondern <strong>eine</strong>r anderen Geraden. Während sich der Körper anfangs von P entfernte, hat er an den beiden<br />
Endpunkten des dritten Abschnitts nahezu den gleichen Abstand von P. Newton zeigte geometrisch, daß die beiden Dreiecke, deren<br />
Grundseiten der zweite und dritte Bahnabschnitt sind, die gleiche Fläche haben.<br />
Im dritten Teil des Beweises <strong>wird</strong> ein Körper betrachtet, der am Ende <strong>eine</strong>s jeden Abschnittes <strong>eine</strong>n Kraftstoß in Richtung P erfährt und<br />
sich daher längs <strong>eine</strong>s Streckenzuges um P bewegt. Wieder stimmt die Flächenbeziehung. Wenn die Abschnitte immer kl<strong>eine</strong>r werden und<br />
im Grenzfall das Zeitintervall zwischen den Stößen gegen Null strebt, <strong>wird</strong> der Strek-kenzug zu <strong>eine</strong>r glatten Kurve – zu <strong>eine</strong>r<br />
Umlaufbahn, und die Folge von Stößen geht in <strong>eine</strong> kontinuierliche Kraft in Richtung auf P über. Auf diese Weise bewies Newton, daß<br />
<strong>eine</strong> Zentralkraft <strong>eine</strong>n Körper in <strong>eine</strong> solche Umlaufbahn zwingt, daß der Flächensatz immer erfüllt ist.<br />
Das zweite Thema der Principia ist der Beweis der umgekehrten Behauptung: Eine Bahnbewegung, die den Flächensatz erfüllt, geht auf<br />
<strong>eine</strong> Zentripetalkraft zurück, die umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstandes vom Bewegungszentrum ist. Indem Newton beide<br />
Behauptungen bewies, zeigte er, daß der Flächensatz die notwendige und hinreichende Bedingung für <strong>eine</strong> Inertialbewegung unter dem<br />
Einfluß <strong>eine</strong>r Zentralkraft ist.<br />
Die beiden Beweise sind Teil <strong>eine</strong>r Argumentationskette, die mit dem Flächensatz beginnt und mit dem Beweis endet, daß <strong>eine</strong><br />
elliptische Bahnkurve nur dann Zustandekommen kann, wenn <strong>eine</strong> Zentripetalkraft wirkt, die umgekehrt proportional zum Abstandsquadrat<br />
ist. Die vollständige Beweiskette ist in den Principia und in de Motu zusammengefaßt und markiert <strong>eine</strong>n tiefen Einschnitt in der<br />
Geschichte der exakten Naturwissenschaften. Newton führt damit <strong>eine</strong> völlig neue Beschreibung der Himmelsbewegungen ein, der neue<br />
Vorstellungen und Begriffe von Kraft, Impuls, Masse und Trägheit zugrundeliegen und die <strong>eine</strong> neue Maßeinheit für die Kräfte in der<br />
Dynamik einschloß. Newton erreichte damit das Ziel, das Kepler mit dem Untertitel der Astronomia Nova umrissen hatte: „<strong>eine</strong><br />
Himmelsphysik die auf Ursachen gründet.“ Kepler selbst hatte nur <strong>eine</strong> vage Vorstellung von <strong>eine</strong>m umfassenden Gebäude der Physik,<br />
und weder Galilei noch Descartes haben jemals <strong>eine</strong> derart umfassende Himmelsdynamik für möglich gehalten. Die <strong>Newtons</strong>chen<br />
Formulierungen stellten sogar die Arbeiten des großen Physikers Huygens weit in den Schatten.<br />
Die Zentripetalkraft und das Konzept <strong>eine</strong>r universellen Massenanziehung<br />
Aus dem frühen Entwurf von de Motu, den Newton vermutlich im November 1684 geschrieben hat, geht klar hervor, daß er das<br />
Konzept <strong>eine</strong>r universellen Gravitation zu diesem Zeitpunkt noch nicht entwickelt hatte. In dem Entwurf diskutiert er die Auswirkungen<br />
<strong>eine</strong>r Zentripetalkraft, die zum Brennpunkt <strong>eine</strong>r Ellipsenbahn gerichtet ist und schließt mit folgender Bemerkung: „Daher laufen die<br />
Hauptplaneten in Ellipsen um, die <strong>eine</strong>n Brennpunkt im Zentrum der Sonne haben, und die Radien zur Sonne überstreichen Flächen, die<br />
proportional zu den Zeiten sind, ganz so wie es Kepler behauptet hat.“ Bild 8 zeigt die entsprechende Manuskriptseite von de Motu.<br />
Newton bewies s<strong>eine</strong> Bemerkung nicht und glaubte auch nicht lange daran, und in der Tat ist sie falsch. Wie Newton schon bald merkte,<br />
bewegen sich die Planeten nicht auf elliptischen Bahnen, in deren <strong>eine</strong>m Brennpunkt die Sonne steht. Vielmehr liegt der Brennpunkt im<br />
gemeinsamen Massenzentrum des Planetensystems, weil nicht nur die Sonne jeden Planeten, sondern auch jeder Planet die Sonne (und alle<br />
anderen Planeten) anzieht. Hätte Newton schon damals das Prinzip der allgem<strong>eine</strong>n Massenanziehung klar vor Augen gehabt, so wäre ihm<br />
diese fehlerhafte Bemerkung wohl kaum unterlaufen.<br />
Newton erkannte schnell, daß er mit s<strong>eine</strong>n Beweisen noch nicht gezeigt hatte, daß die Planetenbewegungen das Keplersche Gesetz von<br />
den elliptischen Umlaufbahnen und den Flächensatz exakt<br />
Perihel<br />
P 1<br />
Sonne<br />
Planetenposition P<br />
Aphel<br />
Bild 5: Nur im Aphel und im Perihel ist die Bahngeschwindigkeit<br />
der Planeten umgekehrt proportional<br />
zum Abstand zwischen der Sonne und den Planeten.<br />
Für alle anderen Planetenpositionen gilt, dies nicht<br />
Allerdings ist die Bahngeschwindigkeit immer umgekehrt<br />
proportional zu <strong>eine</strong>m Abstand P 1 P, den man<br />
geometrisch wie folgt konstruieren kann: Man<br />
zeichnet an den Punkt P der Ellipse, der der Planetenposition<br />
zu <strong>eine</strong>m vorgegebenen Zeitpunkt<br />
entspricht, <strong>eine</strong> Tangente. Außerdem zieht man<br />
durch den Brennpunkt (auf Seiten der Sonne) <strong>eine</strong><br />
Gerade senkrecht zur Längsachse der Ellipse. Der<br />
Schnittpunkt P 1 der Senkrechten (gestrichelte Linie)<br />
mit der Tangente definiert dann den Abstand P 1 P.<br />
106 Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981
erfüllen. Er hatte lediglich her<strong>aus</strong>gefunden,<br />
daß beide Gesetze für ein EinKörper-System<br />
gelten, also in <strong>eine</strong>m System, bei dem <strong>eine</strong><br />
bewegte Punktmasse mit <strong>eine</strong>r Inertialkomponente<br />
<strong>eine</strong>m zentralen Kraftfeld <strong>aus</strong>gesetzt<br />
ist. Newton war sich bewußt, daß das Ein-<br />
Körper-System nicht den tatsächlichen Verhältnissen<br />
entspricht, sondern <strong>eine</strong>r idealisierten<br />
Situation, die sich mathematisch<br />
besonders einfach untersuchen läßt. In <strong>eine</strong>m<br />
solchen Ein-Körper-System erscheint beispielsweise<br />
die Erde als Punktmasse und die<br />
Sonne als ein unbewegliches Kraftzentrum.<br />
Was Newton schließlich dazu befähigte,<br />
über das Ein-Körper-System hin<strong>aus</strong>zukommen,<br />
war die konsequente Anwendung s<strong>eine</strong>s<br />
Perihel<br />
P 5<br />
Sonne<br />
„leerer“<br />
Brennpunkt<br />
Aphel<br />
Bild 6: Während des siebzehnten Jahrhunderts berechneten die Astronomen die Planetenpositionen<br />
in der Regel mit Hilfe dieser geometrischen Konstruktion: Man betrachtete <strong>eine</strong>n<br />
Strahl (oder Radiusvektor), der vom „leeren" Brennpunkt der elliptischen Planetenbahn <strong>aus</strong>ging<br />
und gedreht wurde. Dabei entsprachen gleiche Winkel gleichen Zeitabständen. Eine Umdrehung<br />
des Radiusvektors simulierte gleichsam <strong>eine</strong>n Umlauf des Planeten. Die Punkte, an<br />
denen der Radiusvektor die Ellipse zu vorgegebenen aufeinanderfolgenden Zeitpunkten<br />
schneidet, entsprechen aufeinanderfolgenden Planetenpositionen (P 1 , P 2 , P 3 , P 4 , P 5 ). Im Aphel<br />
liegen die Positionen dichter beieinander, als im Perihel, das heißt der Planet bewegt sich im<br />
Perihel schneller. Damit die berechneten Positionen exakt mit den beobachteten übereinstimmten,<br />
mußte man <strong>eine</strong>n Korrekturfaktor anwenden. Dieses Verfahren erlaubt k<strong>eine</strong> so<br />
genaue Bestimmung der Planetenpositionen wie der Flächensatz von Kepler, der damals jedoch<br />
kaum Beachtung fand. Der Flächensatz besagt, daß ein Radiusvektor, der von der Sonne<br />
<strong>aus</strong>geht, in gleichen Zeiten gleiche Flächen überstreicht.<br />
dritten Bewegungsgesetzes: actio gleich<br />
reactio. Dieses Gesetz ist vielleicht das originellste<br />
s<strong>eine</strong>r drei Bewegungsgesetze (die<br />
beiden anderen sind der Trägheitssatz und das<br />
Kraftgesetz). Wie neuartig die Vorstellung<br />
war, die dieses Reaktions-Prinzip <strong>aus</strong>drückt,<br />
mag man daran ablesen, daß es sogar heute<br />
noch vielfach als Gleichgewichtsbedingung<br />
angesehen <strong>wird</strong> und dann nicht korrekt für<br />
<strong>eine</strong> Stoßsituation oder die Wechselwirkung<br />
von Körpern angewendet <strong>wird</strong>.<br />
Aus welchen Überlegungen sich <strong>Newtons</strong><br />
Vorstellungen von actio und reactio entwickelten,<br />
spiegeln die einleitenden Abschnitte<br />
des ersten Buches der Principia. In<br />
der Einleitung zum elften Kapitel erläutert<br />
Newton das so: „Bis jetzt habe ich die Bewegung<br />
solcher Körper <strong>aus</strong>einander gesetzt, welche nach <strong>eine</strong>m unbeweglichen Centrum hingezogen werden, ein Fall, der kaum in der Natur<br />
existiert. Es pflegen nämlich Anziehungen auf Körper stattzufinden, jedoch sind die Wirkungen der ziehenden und der angezogenen<br />
Körper nach dem dritten Gesetze stets wechselseitig und einander gleich, so daß weder der anziehende noch der angezogene Körper ruhen<br />
kann, sondern, wenn ihrer zwei sind, beide sich gleichsam durch wechselseitige Anziehung um den gemeinschaftlichen Schwerpunkt<br />
drehen. Sind mehr Körper vorhanden (welche entweder durch <strong>eine</strong>n einzigen angezogen werden oder einander wechselseitig anziehen, so<br />
müssen diese sich so bewegen, daß ihr gemeinschaftlicher Schwerpunkt entweder ruhet oder sich gleichförmig längs <strong>eine</strong>r geraden Linie<br />
beweget. Aus diesem Grunde fahre ich fort, die Bewegung von Körpern zu erklären, welche sich wechselseitig anziehen, indem ich die<br />
Centri-petalkräfte als Anziehungen betrachte, obgleich sie vielleicht, wenn wir uns der Sprache der Physik bedienen wollen, richtiger<br />
Anstösse genannt werden müßten. Wir befinden uns nämlich jetzt auf dem Gebiete der Mathematik und wir bedienen uns deshalb, indem<br />
wir physikalische Streitigkeiten fahren lassen, der uns vertrauten Benennung, damit wir von mathematischen Lesern um so leichter<br />
verstanden werden.“<br />
Wenn die Sonne an der Erde zieht, so muß die Erde — wie Newton erkannte — ihrerseits mit <strong>eine</strong>r Kraft gleicher Größe an der Sonne<br />
ziehen. In <strong>eine</strong>m solchen Zwei-Körper-System bewegt sich die Erde nicht auf <strong>eine</strong>r einfachen Bahn um die Sonne, sondern Erde und<br />
Sonne bewegen sich um ihr gemeinsames Gravitationszentrum. Aus dem Gesetz von actio gleich reactio folgt weiterhin, daß jeder Planet<br />
beides ist, das Zentrum <strong>eine</strong>r Anziehungskraft und zugleich ein angezogener Körper. Daher zieht ein Planet nicht nur die Sonne an,<br />
sondern auch jeden anderen Planeten, und er <strong>wird</strong> selbst nicht nur von der Sonne angezogen, sondern auch von allen anderen Planeten. Mit<br />
diesen Überlegungen hat Newton den entscheidenden Schritt von der Wechselwirkung in <strong>eine</strong>m Zwei-Körper-System zur Wechselwirkung<br />
in <strong>eine</strong>m Vielkörper-System vollzogen.<br />
Im Dezember 1684 schloß Newton die überarbeitete Fassung von de Motu ab und beschrieb darin die Planetenbewegung auf dem<br />
Hintergrund der Wechselwirkungen in <strong>eine</strong>m Vielkörper-System. Anders als in dem ursprünglichen Entwurf zieht Newton nunmehr den<br />
Schluß, daß „sich die Planeten weder genau auf Ellipsen bewegen, noch zweimal in der gleichen Umlaufbahn umlaufen". Und weiter: ,,Es<br />
gibt so viele Umlaufbahnen für <strong>eine</strong>n Planeten, wie viele Male er umläuft – ganz so wie bei der Mondbewegung. Und die Umlaufbahn<br />
jedes Planeten hängt von den Bewegungen aller Planeten ab, ganz zu schweigen von den Wirkungen, die sie alle wechselseitig aufeinander<br />
<strong>aus</strong>üben." Dann schrieb er: „Es würde, wenn ich mich nicht irre, die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens übersteigen, all<br />
diese Ursachen der Bewegung zugleich zu berücksichtigen und diese Bewegungen durch genaue Gesetze zu beschreiben, die praktisch<br />
durchführbare Berechnungen erlauben.“<br />
Es gibt k<strong>eine</strong> Dokumente, die belegen, wie Newton in den Wochen zwischen der Niederschrift des ersten Entwurfs von de Motu und der<br />
revidierten Fassung zu der Erkenntnis gelangte, daß alle Planeten einander wechselseitig anziehen. Doch ist die oben zitierte Passage von<br />
den „Wirkungen, die sie (die Planeten) alle wechselseitig aufeinander <strong>aus</strong>üben" im lateinischen Originaltext: „Eorum omnium actiones in<br />
se invicem“ unmißverständlich. Eine Konsequenz der wechselseitigen Anziehung ist, daß die drei Keplerschen Gesetze in der<br />
physikalischen Welt nicht exakt gelten. Sie sind vielmehr nur im Rahmen <strong>eine</strong>s mathematischen Modells wahr, bei dem man vor<strong>aus</strong>setzt,<br />
daß die bewegten Punktmassen nicht aufeinander wirken, sondern unabhängig voneinander entweder um ein Kraftzentrum oder um <strong>eine</strong>n<br />
ruhenden, sie anziehenden Körper kreisen. Newton unterscheidet zwischen dem „Gebiete<br />
P 4<br />
P 3<br />
P 2<br />
P 1<br />
Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981 107
E 6<br />
P<br />
P<br />
P<br />
D 5<br />
H<br />
C 4<br />
B 3<br />
B 3<br />
A 0 A 1 A 2 A 3 A 0 A 1 A 2 A 3 A 0 A 1 A 2<br />
d<br />
Kraftstoß<br />
Bild 7: Diese geometrischen Konstruktionen <strong>Newtons</strong> lieferten den Beweis, daß der Flächensatz bei allen Bewegungen erfüllt ist, die<br />
durch <strong>eine</strong> Zentripetalkraft hervorgerufen werden, die umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstandes zum Bewegungszentrum ist.<br />
Newton betrachtete zunächst <strong>eine</strong>n Körper, der sich mit gleichbleibender Geschwindigkeit auf <strong>eine</strong>r Geraden bewegt (links). Der Körper<br />
sollte sich anfangs im Punkt A 0 befinden und nacheinander im gleichen zeitlichen Abstand die Punkte A 1 bis A 3 durchlaufen. Newton<br />
wählte nun <strong>eine</strong>n Punkt P oberhalb der Geraden als Bezugspunkt Die Dreiecke A 0 PA 1 , A 1 PA 2 , A 2 PA 3 und alle folgenden sind flächengleich,<br />
da sie die gleiche Grundseite (d), und die gleiche Höhe (H) haben. Im zweiten Beweisschritt betrachtete Newton <strong>eine</strong>n Körper, der sich<br />
zunächst geradlinig mit gleichbleibender Geschwindigkeit bewegt, aber am Punkt A 2 <strong>eine</strong>n Kraftstoß in Richtung auf P erfährt (Mitte).<br />
Newton zeigte geometrisch, daß auch das Dreieck A 2 PA 3 die gleiche Fläche hat wie die Dreiecke A 0 PA 1 und A 1 PA 2 . Wenn der Körper auch<br />
im Punkt B 3 und am Ende <strong>eine</strong>s jeden der folgenden Abschnitte <strong>eine</strong>n Kraftstoß erfährt, bewegt er sich auf <strong>eine</strong>m Streckenzug (rechts),<br />
und wieder entstehen flächengleiche Dreiecke A 2 PB 3 , B 3 PC 4 und so fort. Wenn die Zeitabstände zwischen den Kraftstößen immer kürzer<br />
werden und im Grenzfall gegen Null streben, entspricht die Situation <strong>eine</strong>r permanent wirkenden Kraft in Richtung P – <strong>eine</strong>r Zentripetalkraft,<br />
und <strong>aus</strong> dem Streckenzug <strong>wird</strong> <strong>eine</strong> stetige Kurve. Wenn also <strong>eine</strong> Bewegung durch <strong>eine</strong> Zentralkraft bestimmt <strong>wird</strong>, gilt<br />
automatisch der Flächensatz. Diesen Beweis entwickelte Newton bereits in de Motu, s<strong>eine</strong>r Schrift über die Bewegung, die er vor den<br />
Principia schrieb. In den Principia zeigte er, daß umgekehrt <strong>aus</strong> der Gültigkeit des Flächensatzes folgt, daß <strong>eine</strong> Zentripetalkraft wirkt.<br />
der Mathematik", in dem Keplers Gesetze wahr sind, und dem der Physik, in welchem die gleichen Gesetze nur Hypothesen oder<br />
Näherungen sind. Diese Unterscheidung ist das revolutionäre Element in der <strong>Newtons</strong>chen Himmelsmechanik.<br />
Ich habe angenommen, daß für Newton das Gesetz von actio gleich reactio der Schlüssel war, um den störenden Einfluß der<br />
allgem<strong>eine</strong>n Massenanziehung auf die Bahnen der Planeten zu verstehen. Es gibt jedoch k<strong>eine</strong>n direkten Beweis für m<strong>eine</strong> Annahme, weil<br />
k<strong>eine</strong> Dokumente vorliegen, in denen sich <strong>eine</strong> frühere Formulierung für das „eorum omnium actiones in se invicem" findet. Aber es gibt<br />
<strong>eine</strong>n überzeugenden indirekten Hinweis: Im Frühjahr 1685, also wenige Monate nachdem Newton den ersten Entwurf von de Motu<br />
überarbeitet hatte, beendete er s<strong>eine</strong> erste Skizze der Principia. In dem Teil, <strong>aus</strong> dem das zweite Buch der Principia, „Das System der<br />
Welt“, hervorging, beschrieb er die einzelnen Schritte, die ihn zu der Vorstellung von der gegenseitigen Massenanziehung der Planeten<br />
führten. Das Gesetz von actio und reactio spielt in diesem Zusammenhang <strong>eine</strong> entscheidende Rolle. Ich sehe k<strong>eine</strong>n Grund, warum<br />
Newton nur wenige Monate zuvor bei s<strong>eine</strong>r Arbeit an de Motu nicht von den gleichen Überlegungen geleitet worden sein sollte.<br />
Ich möchte hier zwei Abschnitte <strong>aus</strong> der ersten Skizze von „Das System der Welt“ anführen, die die entscheidende Rolle des dritten<br />
Bewegungsgesetzes von actio gleich reactio beschreiben:<br />
„20. Die Übereinstimmung der Analogien.<br />
Und da die Wirkung der Zentripetalkraft auf <strong>eine</strong>n anziehenden Körper bei gleicher Entfernung proportional zur Masse des Körpers ist,<br />
läßt sich begründen, daß sie auch proportional zur Masse des anziehenden Körpers sein muß. Da die Wjrkung wechselseitig ist und verursacht,<br />
daß beide Körper dem jeweils anderen näherzukommen streben (drittes Bewegungsgesetz), sollte sie beide Körper in gleicher Weise<br />
betreffen. Zwar kann ein Körper als der anziehende und der andere als der angezogene betrachtet werden, aber diese Unterscheidung ist<br />
eher mathematisch als natürlich gegeben. In Wirklichkeit handelt es sich um <strong>eine</strong> wechselseitige Anziehung der Körper, die beide Körper<br />
in der gleichen Weise beeinflußt . . .<br />
21. Und ihre Übereinstimmung.<br />
Und daher findet sich die anziehende Kraft bei beiden Körpern. Die Sonne zieht den Jupiter und die anderen Planeten an. Der Jupiter<br />
zieht s<strong>eine</strong> Monde an und die Monde wirken aufeinander, auf den Jupiter, und auf alle Planeten, die ihrerseits <strong>eine</strong>r den anderen<br />
beeinflussen. Und obwohl man die Wechselwirkung zwischen zwei Planeten unterscheiden und als zwei Wirkungen betrachten kann,<br />
durch die jeder Planet den anderen anzieht, handelt es sich insofern nicht um zwei verschiedene Wirkungen, sondern um <strong>eine</strong> einfache<br />
Operation zwischen zwei Elementen, als sie <strong>eine</strong> Wechselbeziehung zwischen denselben beiden Körpern darstellen. Zwei Körper können<br />
zueinander hingezogen werden, wenn sich ein elastisches Band zwischen ihnen zusammenzieht. Die Ursache dieser Wirkung ist doppelt,<br />
denn sie ergibt sich <strong>aus</strong> der Disposition jedes der beiden Körper. Auch die Wirkung ist insofern zweifach, als sie auf zwei Körper<br />
<strong>aus</strong>gerichtet ist, aber insofern nur einfach, als sie auf beide Körper bezogen ist. Beispielsweise gibt es nicht <strong>eine</strong> Operation, durch die die<br />
Sonne den Jupiter anzieht und <strong>eine</strong> andere, durch die der Jupiter die Sonne anzieht, sondern nur <strong>eine</strong>, durch die die Sonne und der Jupiter<br />
aufeinander zustreben. Durch die gleiche Wirkung, durch die die Sonne den Jupiter anzieht, streben der Jupiter und die Sonne danach,<br />
einander näher zu kommen (drittes Bewegungsgesetz) und durch die Wirkung, durch die der Jupiter die Sonne anzieht, streben der Jupiter<br />
und die Sonne in gleicher Weise danach, sich zu nähern. Die Sonne <strong>wird</strong> darüberhin<strong>aus</strong> jedoch nicht durch <strong>eine</strong> doppelte Wirkung zum<br />
Jupiter hingezogen, noch <strong>wird</strong> der Jupiter durch <strong>eine</strong> doppelte Wirkung zur<br />
108 Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981
Sonne hingezogen, sondern es gibt nur <strong>eine</strong> Wirkung zwischen ihnen, durch die sie sich wechselseitig annähern.“<br />
Als nächstes folgert Newton, daß „diesem Gesetz zufolge alle Körper einander anziehen müssen“. Selbstbewußt legte Newton s<strong>eine</strong><br />
kühne Schlußfolgerung dar und erläuterte, warum die Anziehungskraft so klein ist, daß man sie nicht beobachten kann. „Möglicherweise<br />
kann man diese Kräfte nur bei den riesigen Körpern der Planeten beobachten.“<br />
Im dritten Buch der Principia, das sich<br />
ebenfalls mit dem System der Welt beschäftigt,<br />
das jedoch sehr mathematisch abgefaßt ist,<br />
behandelt Newton die Gravitation im wesentlichen<br />
auf die gleiche (Weise. Als erstes<br />
diskutierte er den Mondtest, das heißt, er weist<br />
nach, daß die Zentripetalkraft, die die Mondbewegung<br />
um die Erde hervorruft, mit der<br />
Gewichtskraft identisch ist, die der Mond im<br />
Schwerefeld der Erde erfährt, und zeigt, daß<br />
diese Kraft umgekehrt proportional zum<br />
Quadrat des Abstandes ist. Dann erläutert er,<br />
daß die Anziehungskraft der Erde von der<br />
gleichen Art ist wie die Kraft, die die Sonne auf<br />
die Planeten und die Planeten auf ihre Satelliten<br />
<strong>aus</strong>üben. All diese Kräfte nennt er nun Gravitation.<br />
Mit Hilfe des dritten Bewegungsgesetzes<br />
(actio gleich reactio) geht er von der Vorstellung<br />
<strong>eine</strong>r zentralen Anziehungskraft, die<br />
die Sonne auf die Planeten <strong>aus</strong>übt, zum Konzept<br />
<strong>eine</strong>r Wechselwirkung zwischen der Sonne und<br />
den Planeten über. Entsprechendes gilt für die<br />
Kräfte zwischen den Planeten und ihren<br />
Satelliten sowie zwischen den Planeten und den<br />
Satelliten untereinander. Schließlich entwickelt<br />
Newton in <strong>eine</strong>m letzten Schritt die Vorstellung,<br />
daß alle Körper einander wechselseitig<br />
anziehen.<br />
<strong>Newtons</strong> Stil<br />
M<strong>eine</strong> Untersuchung sollte nicht als ein<br />
Versuch verstanden werden, <strong>Newtons</strong> Entdeckung<br />
des <strong>Gravitationsgesetz</strong>es abzuwerten,<br />
sondern ich wollte im Gegenteil die Kreativität<br />
s<strong>eine</strong>s genialen Denkens verständlich machen.<br />
Die genaue Betrachtung läßt <strong>Newtons</strong> erfolgreiche<br />
Art sichtbar werden, den Problemen der<br />
Physik auf den Grund zu gehen; er wendet die<br />
Mathematik auf die physikalische Welt an, wie<br />
sie sich in Experimenten und bei kritischen<br />
Beobachtungen darstellt. Diese Art zu denken,<br />
die ich den <strong>Newtons</strong>chen Stil nennen möchte,<br />
spiegelt sich im deutschen Titel von <strong>Newtons</strong><br />
Hauptwerk wider: Mathematische Prinzipien<br />
der Naturlehre.<br />
Der <strong>Newtons</strong>che Stil beruht auf <strong>eine</strong>m<br />
wechselseitigen Geben und Nehmen zwischen<br />
dem, was man heute als mathematisches Modell<br />
bezeichnen würde, und der physikalischen<br />
Wirklichkeit. So entwickelte Newton s<strong>eine</strong><br />
Vorstellung von der allgem<strong>eine</strong>n Massenanziehung<br />
<strong>aus</strong> <strong>eine</strong>m mathematischen Konzept,<br />
das die Natur vereinfacht wiedergibt und das<br />
den Principia zugrundeliegt: Eine Punktmasse<br />
bewegt sich um ein<br />
Bild 8: Diese Abbildung zeigt <strong>eine</strong> Manuskriptseite von de Motu, die Newton selbst –<br />
vermutlich im November 1684 – geschrieben hat. Diese Seite endet mit <strong>eine</strong>r Bemerkung,<br />
die zeigt, daß Newton zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Vorstellung von <strong>eine</strong>r<br />
allgem<strong>eine</strong>n Gravitation entwickelt hatte. „Daher laufen die Hauptplaneten in Ellipsen<br />
um, die <strong>eine</strong>n Brennpunkt im Zentrum der Sonne haben, und die Radien zur Sonne<br />
überstreichen Flächen, die proportional zu den Zeiten sind, ganz so wie es Kepler behauptet<br />
hat." Die Bemerkung ist falsch. Der Brennpunkt der Planetenbahnen fällt nicht<br />
mit dem Mittelpunkt der Sonne zusammen, sondern mit dem gemeinsamen Massenzentrum<br />
der Sonne und des Planeten, da nicht nur die Sonne alle Planeten, sondern<br />
auch alle Planeten die Sonne anziehen. Später korrigierte Newton s<strong>eine</strong>n Fehler, der<br />
ihm wohl kaum unterlaufen wäre, wenn er bereits damals <strong>eine</strong> universelle Massenanziehung<br />
vermutet hätte.<br />
Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981 109
Kraftzentrum. Da Newton nicht annahm, daß die mathematische Konstruktion <strong>eine</strong> genaue Wiedergabe des physikalischen Universums<br />
darstellt, konnte er die Eigenschaften und Effekte <strong>eine</strong>r Anziehungskraft mathematisch erforschen, ohne physikalischen Einschränkungen<br />
Rechnung tragen zu müssen. Auch die Tatsache, daß er die Vorstellung <strong>eine</strong>r Anziehungskraft, die über Entfernungen im leeren Raum<br />
wirkt, abstoßend fand und die Annahme solcher Fernkräfte als <strong>eine</strong>r guten Physik unwürdig zurückwies, hinderte ihn nicht daran, die<br />
mathematischen Eigenschaften <strong>eine</strong>r solchen Zentripetalkraft zu untersuchen. Im nächsten Schritt verglich Newton die Konsequenzen, die<br />
sich <strong>aus</strong> dem mathematischen Modell ergaben, mit den beobachteten Gesetzmäßigkeiten in der realen Welt, etwa dem Keplerschen Flächensatz<br />
und dem Gesetz von den elliptischen Umlaufbahnen. An Stellen, an denen das mathematische Modell der Wirklichkeit nicht<br />
entsprach, änderte Newton es ab. So führte er als Kraftzentrum nicht <strong>eine</strong> mathematische Entität ein, sondern <strong>eine</strong> Punktmasse. Ich sage<br />
hier bewußt Punktmasse und nicht physikalischer Körper, weil Newton physikalische Eigenschaften wie Größe, Umriß oder Masse damals<br />
noch nicht berücksichtigte.<br />
Das modifizierte mathematische Modell implizierte, daß mehrere Punktmassen, die <strong>eine</strong> zentrale Punktmasse umkreisen, einander<br />
anziehen und wechselseitig ihre Umlaufbahnen stören. Wiederum verglich Newton diese Aussage des Modells mit den physikalischen<br />
Vorgängen in der realen Welt. Unter allen Planeten besitzen Jupiter und Saturn die größten Massen, und deshalb suchte Newton nach<br />
Störungen in ihren Umlaufbahnen. Gemeinsam mit John Flam-steed fand er her<strong>aus</strong>, daß die Bahnbewegung des Saturn deutliche<br />
Störungen aufweist, wenn sich beide Planeten einander bis auf den kleinstmöglichen Abstand genähert haben. Durch wiederholten Vergleich<br />
zwischen dem mathematischen Modell und der physikalischen Wirklichkeit konnte Newton sein Modell immer mehr der Natur<br />
„anpassen“ und schließlich die Planeten als physikalische Körper mit <strong>eine</strong>r charakteristischen Gestalt und Größe beschreiben.<br />
Zuletzt wandte Newton sein Modell auch auf das System der Welt an. Er nahm an, daß die Anziehungskraft, deren Eigenschaften er auf<br />
mathematischem Weg abgeleitet hatte, <strong>eine</strong> universelle Schwere oder Gravitation ist. Er stellte fest, daß sich der Mond so bewegt, als<br />
würde er mit <strong>eine</strong>r Kraft zur Erde gezogen, die um den Faktor 1/3600 geringer ist als die Schwerkraft, der ein Objekt an der Erdoberfläche<br />
<strong>aus</strong>gesetzt ist. Da der Mond sechzigmal weiter vom Erdmittelpunkt entfernt ist als ein Objekt auf der Erdoberfläche, stimmt der Faktor<br />
1/3600 mit der Aussage des mathematischen Modells überein, daß das Schwerefeld der Erde auch den Mond erfaßt und mit dem Quadrat<br />
der Entfernung abnimmt.<br />
Das Gesetz von der universellen Gravitation erklärt, warum die Planeten den Keplerschen Gesetzen nur näherungsweise folgen und wie<br />
die beobachteten Abweichungen Zustandekommen. Es liefert außerdem die Begründung dafür, daß an jedem beliebigen Punkt der Erde<br />
verschiedenartige Körper <strong>aus</strong> gleicher Höhe gleich schnell fallen (sofern k<strong>eine</strong> Reibung im Spiel ist) und daß die Fallbeschleunigung an<br />
jedem Ort der Erde von der Höhe und der geographischen Breite abhängt. Das <strong>Gravitationsgesetz</strong> erklärt überdies die regulären und die<br />
irregulären Bewegungen des Mondes und bietet die physikalische Grundlage, um das Zustandekommen der Gezeiten zu verstehen und die<br />
damit zusammenhängenden Erscheinungen vor<strong>aus</strong>sagen zu können. Auch die Erdpräzession, die man schon lange vor <strong>Newtons</strong> Entdeckungen<br />
beobachtet hatte, aber freilich nicht erklären konnte, erwies sich als Folge der allgem<strong>eine</strong>n Gravitation: sie kommt durch die<br />
Anziehungskraft des Mondes zustande.<br />
Da die mathematisch hergeleitete Anziehungskraft für die beobachteten Vorgänge in der physikalischen Welt <strong>eine</strong> angemessene<br />
Erklärung liefert, entschied Newton, daß <strong>eine</strong> solche Kraft „tatsächlich existiert", und das, obwohl er <strong>eine</strong>r Philosophie anhing, die es nicht<br />
erlaubte, daß <strong>eine</strong> nur mathematisch begründete Kraft Teil des Systems der Natur sein könnte. Um diese philosophischen Schwierigkeiten<br />
überwinden zu können, forderte Newton weitergehende Untersuchungen über die Ursachen, wie die universelle Gravitation zustandekommen<br />
könnte.<br />
Zeitweise vermutete Newton, die universelle Gravitation werde möglicherweise durch die Impulse von Ätherteilchen hervorgerufen, die<br />
in großer Zahl <strong>eine</strong>n massiven Körper treffen, oder sie könnten durch Strömungen in <strong>eine</strong>m alles durchdringenden Äther entstehen. Er ging<br />
jedoch auf diese Vorstellungen in den Principia nicht näher ein, denn Hypothesen erfinde er nicht (hypotheses non fingo) und gebe sie<br />
schon gar nicht als physikalische Erklärungen <strong>aus</strong>. Sein Stil hatte ihn zu <strong>eine</strong>m mathematischen Modell der universellen Gravitationskraft<br />
geführt und dazu veranlaßt, s<strong>eine</strong> mathematischen Ergebnisse auf die physikalische Welt anzuwenden, obwohl diese Fernkraft k<strong>eine</strong>swegs<br />
<strong>eine</strong> Form von Kraft darstellte, an die Newton so recht glauben konnte.<br />
Einigen Zeitgenossen <strong>Newtons</strong> erschien die Vorstellung <strong>eine</strong>r Fernkraft, die über große Entfernungen im leeren Raum wirkt, so<br />
unverständlich und abwegig, daß sie sich auf <strong>eine</strong> Diskussion der Eigenschaften dieser Kraft nicht einlassen konnten und Schwierigkeiten<br />
hatten, die <strong>Newtons</strong>che Physik zu akzeptieren. Es war ihnen unmöglich, <strong>Newtons</strong> Argumentation zu folgen, wenn er behauptete, es sei<br />
ihm zwar noch nicht gelungen zu erklären, wie die Gravitation zustandekommt, doch reiche es <strong>aus</strong>, „daß die Gravitation tatsächlich<br />
existiert und zufriedenstellend die Erscheinungen am Himmel und die Gezeiten erklärt“. Diejenigen, die <strong>Newtons</strong> Stil akzeptierten,<br />
wendeten das universelle <strong>Gravitationsgesetz</strong> auf viele andere physikalische Erscheinungen an und machten so s<strong>eine</strong> Tragweite deutlich.<br />
Auch diese Anhänger <strong>Newtons</strong> verlangten <strong>eine</strong> Antwort auf die Frage, wie <strong>eine</strong> solche Kraft durch den offensichtlich leeren Raum über<br />
große Entfernungen übertragen werden könnte. Newton ließ sich, trotz s<strong>eine</strong>r eigenen Skepsis gegenüber der Vorstellung von <strong>eine</strong>r<br />
Fernkraft, nicht durch Vorurteile davon abhalten, die universeile Massenanziehung zu untersuchen. Der Biologe Georges Louis Ledere de<br />
Buffon, der im achtzehnten Jahrhundert lebte, schrieb einmal, daß sich der Stil <strong>eine</strong>s Menschen nicht von s<strong>eine</strong>r Persönlichkeit trennen<br />
läßt. Bei Newton kann s<strong>eine</strong> größte Entdeckung nicht losgelöst von s<strong>eine</strong>m Stil betrachtet werden, mathematische Modelle unvoreingenommen<br />
zu überprüfen.<br />
Hookes Anspruch auf die Entdeckung der Gravitationsformel<br />
Aus dem Briefwechsel zwischen Hooke und Newton geht klar hervor, daß Hooke Newton lehrte, wie man konzentrische Bewegungen<br />
analysiert. Später nahm Hooke für sich in Anspruch, er habe vor Newton das Gesetz der universellen Gravitation formuliert, als er in s<strong>eine</strong>n<br />
Briefen vorgetragen habe, daß die Anziehungskraft umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung sei, und viele Historiker<br />
haben Hookes Darstellung unkritisch übernommen.<br />
Dieser Anspruch ist jedoch nicht gerechtfertigt, denn Hooke hatte lediglich vermutet, daß die Planeten <strong>eine</strong>r Kraft in Richtung auf die<br />
Sonne <strong>aus</strong>gesetzt sind, die umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung ist. Universelle Gravitation beinhaltet aber mehr als <strong>eine</strong><br />
zur Sonne gerichtete Kraft: Sie schließt ebenso die Wirkung der Planeten auf die Sonne ein, und – was das Entscheidende ist – sie erfaßt<br />
alle Objekte im Universum. Das universelle <strong>Gravitationsgesetz</strong> drückt nicht nur <strong>eine</strong> Proportionalität in<br />
110 Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981
Bild 9: Aus dem dritten Keplerschen Gesetz<br />
für die Planetenbewegung folgt, daß auf den<br />
Planeten <strong>eine</strong> Zentripetalkraft wirkt, die<br />
umgekehrt proportional zum Quadrat des<br />
Abstandes zur Sonne ist. Betrachtet man den<br />
besonders einfachen Fall <strong>eine</strong>r Kreisbewegung,<br />
so läßt sich dieser Zusammenhang in<br />
wenigen Rechenschritten zeigen. Ein Körper<br />
der Masse m, der sich mit <strong>eine</strong>r Geschwindigkeit<br />
v auf <strong>eine</strong>r Kreisbahn mit dem Radius r<br />
bewegt, erfährt <strong>eine</strong> Zentripetalkraft, die<br />
proportional v 2 /r ist. Da die Geschwindigkeit<br />
(v) gleich dem Quotienten <strong>aus</strong> dem Kreisumfang<br />
(2pr) und der Umlaufzeit (7) ist, kommt<br />
man durch elementare Umformungen auf<br />
den Ausdruck 4p 2 (r 3 / T 2 ) · (1/r 2 ). Nach dem<br />
dritten Keplerschen Gesetz ist der Quotient<br />
r³/T 2 <strong>eine</strong> Konstante (K), und dar<strong>aus</strong> folgt<br />
unmittelbar die quadratische Abhängigkeit<br />
vom Kehrwert des Radius.<br />
r<br />
v<br />
Zentripetalkraft : v r<br />
2 2<br />
2 2<br />
2 2<br />
2 2<br />
2 2<br />
3<br />
2 æ r ö 1 2 1<br />
ç 2 ÷ K<br />
2 2<br />
2<br />
v æ 2pr ö 1 æ 4p<br />
r ö 1<br />
= ç ÷ × = ç × =<br />
r<br />
2 ÷<br />
è T ø r è T ø r<br />
æ r ö 1 æ r × r ö 1<br />
4p ç ÷ × = 4p ç ÷ × =<br />
è T ø r è T × r ø r<br />
4p × = 4p ×<br />
èT ø r r<br />
bezug auf das Quadrat des Abstandes <strong>aus</strong>, sondern ebenso <strong>eine</strong> mathematische Relation zwischen den Massen der anziehenden Körper. Es<br />
erfordert <strong>eine</strong>n genialen Einblick, um von Hookes Beziehung für die zur Sonne <strong>aus</strong>gerichtete Kraft zur universellen Gravitation zu<br />
kommen und das moderne Konzept der Masse einzuführen.<br />
Newton glaubte nicht einmal, daß er Hooke zu Dank verpflichtet sei, weil Hooke ihm mitgeteilt hatte, daß die Zentripetalkraft<br />
umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung ist. Bereits 1673 hatte nämlich Huygens in <strong>eine</strong>m Nachtrag zu s<strong>eine</strong>m Buch über die<br />
Pendeluhr mitgeteilt, daß die Zentrifugalkraft bei Kreisbewegungen proportional zu v 2 /r ist, wobei v für die Geschwindigkeit des<br />
umlaufenden Körpers und r für den Bahnradius steht. Newton selbst hatte die gleiche Beziehung unabhängig davon in den sechziger<br />
Jahren des siebzehnten Jahrhunderts entdeckt. Die Zentrifugalkraft und die Zentripetalkraft unterschieden sich nicht in ihrem Betrag, sondern<br />
nur in der Richtung, und das heißt, die v 2 /r-Beziehung gilt auch für die Zentripetalkraft. Aus dieser Beziehung und Keplers drittem<br />
Gesetz folgt durch einfache Algebra (Bild 9), daß die Zentripetalkraft umgekehrt proportional zum Abstandsquadrat ist. Nach der Veröffentlichung<br />
von Huygens konnte jeder, der die elementaren Umformungen in der Algebra beherrschte, die quadratische Beziehung für die<br />
Zentripetalkraft bei <strong>eine</strong>r Kreisbewegung finden. Daher sah Newton k<strong>eine</strong> Notwendigkeit, Hooke für den Hinweis auf die quadratische<br />
Abhängigkeit zu danken.<br />
Hooke und Newton waren sich darüber im klaren, daß die Herleitung der quadratischen Beziehung für Kreisbewegungen etwas ganz<br />
anderes ist als der Nachweis, daß diese Beziehung auch für Bewegungen längs elliptischer Bahnen gilt. Die Aufgabe bestand darin zu zeigen,<br />
daß die quadratische Beziehung für die Zentripetalkraft dem Keplerschen Gesetz von der elliptischen Umlaufbahn und dem<br />
Flächensatz entspricht. Diesen Punkt sprach Hooke in s<strong>eine</strong>m Brief vom 6. Januar 1680 an, machte jedoch <strong>eine</strong>n fundamentalen Fehler,<br />
der Newton davon überzeugte, daß Hooke nicht vollständig verstand, worüber er sprach. Hooke argumentierte so: Wenn die Anziehungskraft<br />
umgekehrt proportional zum Abstandsquadrat sei, müsse die Bahngeschwindigkeit <strong>eine</strong>s Planeten „dem Kehrwert der<br />
Entfernung proportional sein, genau wie es Kepler behauptet hat". Selbst unter den Bedingungen, die Hooke annahm, ist die Bahngeschwindigkeit<br />
jedoch im allgem<strong>eine</strong>n nicht umgekehrt proportional zum Abstand von der Sonne; nur im Perihel und Aphel der<br />
Planetenbahn stimmt diese Beziehung (Bild 5). Auch wegen dieses Fehlers sah Newton k<strong>eine</strong>n Grund, Hooke für s<strong>eine</strong> Anregungen zu<br />
danken.<br />
Im Jahre 1717 wollte sich Newton den Anspruch sichern, er selbst habe als erster die quadratische Abhängigkeit entdeckt, die das<br />
<strong>Gravitationsgesetz</strong> aufweist. Er gab vor, er habe den berühmten Mondtest nicht erst in der Zeit gemacht, in der er die Principia niederschrieb,<br />
sondern mehr als zehn Jahre zuvor. Die Dokumente <strong>aus</strong> den Jahren nach 1660 zeigen jedoch, daß Newton das Fallen des Mondes<br />
in s<strong>eine</strong>r Umlaufbahn damals nicht mit dem Fallen <strong>eine</strong>s Objektes auf die Erde verglich; vielmehr zog er <strong>eine</strong> Parallele zwischen dem<br />
„zentrifugalen Streben“ des umlaufenden Mondes und dem „zentrifugalen Streben“ <strong>eine</strong>s Körpers auf der Erdoberfläche, der sich mit der<br />
rotierenden Erde mitbewegt. Newton berechnete, daß das „zentrifugale Streben“ für <strong>eine</strong> (hypothetische) kreisförmige Planetenbahn umgekehrt<br />
proportional zum Planetenabstand von der Sonne wäre, zog aber dar<strong>aus</strong> k<strong>eine</strong> physikalischen Schlußfolgerungen.<br />
Newton hat s<strong>eine</strong> Behauptung, er habe den Mondtest bereits zu <strong>eine</strong>m frühen Zeitpunkt durchgeführt, nicht veröffentlicht, sondern er<br />
äußerte sie in <strong>eine</strong>m handgeschriebenen Brief an den französischen Schriftsteller Pierre des Maizeaux, strich diese Bemerkung auf der<br />
Manuskriptseite jedoch wieder durch. Newton setzte auch die bekannte Geschichte in Umlauf, ein fallender Apfel habe ihn zu den<br />
Überlegungen veranlaßt, die schließlich zur Entdeckung des universellen <strong>Gravitationsgesetz</strong>es führten. Vermutlich diente auch diese Erfindung<br />
dazu, den Eindruck zu erwecken, als habe er die Gravitation bereits zwanzig Jahre vor s<strong>eine</strong>r Arbeit an den Principia entdeckt, oder<br />
als gingen wenigstens die Wurzeln s<strong>eine</strong>r neuen Vorstellungen in diese Zeit zurück.<br />
Tatsächlich hat Newton erst im Dezember 1684 erkannt, daß dann, wenn die Sonne die Erde anzieht, auch die Erde die Sonne mit <strong>eine</strong>r<br />
Kraft gleicher Größe anziehen muß. 1685 überwand er s<strong>eine</strong> Abneigung, eigene Entdeckungen aufzuschreiben und begann die Arbeit an<br />
den Principia, die von der Royal Society veröffentlicht werden sollten. Vielleicht war er damals nur deshalb bereit, s<strong>eine</strong> Arbeiten dem<br />
öffentlichen Urteil <strong>aus</strong>zusetzen (und dabei möglicherweise wie bereits mit s<strong>eine</strong>r Farbenlehre auf Ablehnung zu stoßen), weil er gerade die<br />
Störungen der Planetenbahnen entdeckt und die kühne Vorstellung von der universellen Gravitation entwickelt hatte. Damit verfügte<br />
Newton über die Grundlagen, auf denen sich ein neues Gebäude <strong>eine</strong>r Naturphilosophie errichten ließ, die <strong>eine</strong>rseits nach mathematischen<br />
Prinzipien aufgebaut ist, und sich andererseits auf die Vorgänge in der realen Welt und insbesondere die Planetenbewegungen anwenden<br />
läßt.<br />
Aus: Scientific American, März 1981<br />
Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981 111
Quelle:<br />
Cohen, Isaac Bernhard: <strong>Newtons</strong> <strong>Gravitationsgesetz</strong> – <strong>aus</strong> <strong>Formeln</strong> <strong>wird</strong> <strong>eine</strong> <strong>Idee</strong>, in: Spektrum der Wissenschaft, Mai<br />
1981, S. 101 – 111.<br />
Anhang<br />
Über den Autor:<br />
I. Bernard Cohen (Isaac Bernard Cohen, * 1914 in New York City; † 20. Juni 2003 in Waltham,<br />
Massachusetts) war ein US-amerikanischer Wissenschaftshistoriker.<br />
Cohen studierte an der Harvard University (Bachelor-Abschluss 1937) und war dort Schüler George<br />
Sarton. Er promovierte bei diesem 1947 in Harvard und blieb danach an der Universität bis zu s<strong>eine</strong>m<br />
Tod, zuletzt als „Victor S. Thomas Professor“ für Wissenschaftsgeschichte.<br />
S<strong>eine</strong> Arbeiten setzten sich mit vielseitigen Themen, insbesondere aber Isaac Newton <strong>aus</strong>einander. Er<br />
untersuchte die Entstehung von <strong>Newtons</strong> Hauptwerk, der Philosophiae Naturalis Principia Mathematica<br />
und gab 1974 <strong>eine</strong> neue kritische Ausgabe und zusätzlich <strong>eine</strong> neue englische Übersetzung her<strong>aus</strong> (mit<br />
Anne Whitman), an der er über 15 Jahre gearbeitet hatte. Cohens Interview mit Albert Einstein im April<br />
1955 war das letzte des berühmten Physikers (veröffentlicht in der Scientific American Ausgabe vom<br />
Juli 1957). er beschäftigte sich auch mit den wissenschaftlichen Arbeiten von Benjamin Franklin und<br />
mit William Harvey.<br />
Cohen wurde 1974 mit der George-Sarton-Medaille <strong>aus</strong>gezeichnet, dem höchst renommierten Preis für<br />
Wissenschaftsgeschichte der von George Sarton und Lawrence Joseph Henderson gegründeten History<br />
of Science Society (HSS).<br />
Quelle: Wikipedia – http://de.wikipedia.org/wiki/I._Bernard_Cohen<br />
112 Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981