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Leseprobe Orchester 11_07 - Das Orchester

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Interview<br />

Unberechenbar<br />

Leopold Stokowski und seine „Tricks“<br />

Herbert Haffner im Gespräch mit Stokowskis<br />

Assistenten Matthias Bamert<br />

Herr Bamert, Stokowski wird in der einschlägigen Literatur immer<br />

als großer Exzentriker dargestellt…<br />

Es hat es immer geliebt, unberechenbar zu sein, hat immer anders<br />

reagiert, als man es erwartet hat. Diese „Unpredictability“<br />

war sein Stil. Darum war er immer überraschend und auch musikalisch<br />

so frisch. Ob das exzentrisch ist, weiß ich nicht, das war<br />

eine gewisse Technik von ihm.<br />

War er ein Einzelgänger<br />

Unbedingt. Stokowski war vor allem unglaublich innovativ. Er<br />

hat sich um <strong>Orchester</strong>aufstellungen gekümmert, als das niemand<br />

gemacht hat. Anfang des vergangenen Jahrhunderts hat er<br />

das Philadelphia Orchestra aus dem Boden gestampft und zum<br />

besten <strong>Orchester</strong> Amerikas gemacht – vor George Szells, vor<br />

Toscaninis, vor Fritz Reiners Zeiten in Cleveland, New York<br />

16<br />

<strong>Das</strong> <strong>Orchester</strong> <strong>11</strong>/<strong>07</strong>


20<strong>07</strong> ist nicht nur ein Toscanini-, sondern auch ein<br />

Leopold-Stokowski-Jahr: Am 18. April hätte dieser seinen<br />

125. Geburtstag gehabt, der 13. September war sein<br />

30. Todestag. Mit dem Berner Komponisten und Dirigenten<br />

Matthias Bamert, der seine internationale Karriere als Assistent<br />

Stokowskis begann, erinnert sich Herbert Haffner.<br />

Großes Bild: Filmaufnahmen zu Walt Disneys<br />

Zeichentrickfilm Fantasia aus dem Jahr 1940.<br />

Der Soundtrack des Films besteht aus klassischer<br />

Musik, gespielt vom Philadelphia Orchestra, das den<br />

gesamten Film akustisch begleitet und von<br />

Leopold Stokowski dirigiert wird.<br />

Unten: Herbert Haffner mit Leopold Stokowski (Mitte)<br />

1967 vor der Londoner Royal Festival Hall<br />

Foto: Privatbesitz Herbert Haffner<br />

oder Chicago. Er war der erste, der wirklich einen Klangkörper<br />

für sich und seinen Klangsinn geschaffen hat. Natürlich sind seine<br />

Bearbeitungen bekannt und seine Orchestrierungen, außerdem<br />

hat er in der Schallplattenindustrie ganz, ganz Wesentliches<br />

geleistet, in der Aufnahmetechnik, dadurch, dass er selber immer<br />

alles gemixt hat. Er hat auch im Film gearbeitet – z.B. bei<br />

Disneys Fantasia. Außerdem war er der erste große Dirigent, der<br />

ein Jugendorchester gegründet und dirigiert hat, wie das dann<br />

später Claudio Abbado mit dem Europäischen Jugendorchester<br />

gemacht hat. Er hat sich unglaublich für zeitgenössische Musik<br />

eingesetzt, sehr, sehr viele Uraufführungen geleitet und in Amerika<br />

Erstaufführungen von großen Teilen der Werke von Debussy,<br />

Berg, Schönberg oder Mahler dirigiert. Man kann sagen,<br />

er war ein Pionier der Neuen Musik, und deswegen finde ich es<br />

<strong>Das</strong> <strong>Orchester</strong> <strong>11</strong>/<strong>07</strong><br />

17


Interview<br />

Leopold Stokowski<br />

Foto: dpa<br />

Der gebürtige Londoner war zunächst in seiner Heimatstadt<br />

als Organist tätig (St. James’s) bevor er 1905 in der gleichen<br />

Position nach New York zur Gemeinde St. Bartholomew<br />

wechselte. Ab 1909 dirigierte Stokowski das Cincinnati<br />

Symphony Orchestra, 1912 wurde er zum Chef des Philadelphia<br />

Orchestra ernannt, das er in 26 Jahren bis 1938 zu einem der<br />

bedeutendsten amerikanischen Sinfonieorchester formte.<br />

Ab 1955 arbeitete er mit dem Houston Symphony Orchestra<br />

zusammen.<br />

Stokowski war ein Pionier der Schallplatte, spielte für Walt<br />

Disney die Musik zum Film Fantasia ein und engagierte sich<br />

stark für zeitgenössische Musik. Auch die Vermittlung von Musik<br />

an junge Menschen war ihm ein lebenslanges Anliegen.<br />

Stokowski gründete eigene Sinfonieorchester wie z. B. 1962<br />

das American Symphony Orchestra und dirigierte als Gast<br />

vorwiegend in New York und London.<br />

Stokowski 1959 bei einer Probe im Konzertsaal<br />

der Hochschule für Musik in Berlin, wo er ein Konzert<br />

der Berliner Philharmoniker dirigierte<br />

immer so schade, wenn viele Leute rückblickend das Gefühl haben,<br />

er sei eben ein Showman gewesen. Natürlich hat er auch<br />

diese Seite gehabt, aber man muss vor allem sehen, was er als<br />

hochkarätiger Musiker geleistet hat.<br />

Wie haben Sie Stokowski kennen gelernt<br />

1969 war ich von George Szell eingeladen, als „Apprentice Conductor“<br />

zum damals besten amerikanischen <strong>Orchester</strong> – nach<br />

Cleveland – zu kommen. Ich fuhr also mit meiner Frau auf der<br />

„Queen Elizabeth II.“ von Europa nach Amerika. Mir war in<br />

den vier Tagen auf dem Schiff so unglaublich langweilig, dass<br />

ich sogar die Passagierliste gelesen habe. Und da stand: „Mr. L.<br />

Stokowski“. Meine Frau hat sich erinnert, dass er im Sommer<br />

immer nach Europa geht, und meinte, er könnte sich nun auf<br />

der Rückreise ja vielleicht genauso langweilen wie ich, und ich<br />

sollte ihm eine kleine Notiz schreiben. Ich habe damals kaum<br />

Englisch gesprochen, aber mit Hilfe meiner Frau, die Amerikanerin<br />

ist, ein perfektes englisches Brieflein geschrieben und es<br />

dem Butler gegeben, der das raufbrachte, denn wir hatten eine<br />

der billigsten Kabinen ganz unten. Als wir vom Mittagessen<br />

zurückkamen, steckte da in der Tür ein Zettel: „Sorry, I missed<br />

you, call me at three o’clock.“ – „Leider habe ich Sie verpasst,<br />

rufen Sie mich um drei Uhr an.“ Nun war ich in dem Dilemma,<br />

dass ich diesen perfekten Brief geschrieben hatte, Stokowski<br />

aber nicht anrufen konnte. Meine Frau hat mir gesagt, „call me“<br />

könnte auch meinen: „klopfen Sie an die Türe“. Und das habe<br />

ich dann getan, ich bin zu seiner Kabine gegangen, und es ist<br />

herausgekommen, dass ich kein Englisch konnte, aber er hat<br />

mich hereingebeten. Ich habe ihm erzählt, dass ich zu Szell nach<br />

Cleveland unterwegs sei. Er sagte nachdenklich: „George Szell –<br />

großartiger Dirigent, aber komische Ideen über Bogenstriche.“<br />

<strong>Das</strong> hat Stokowski von Szell gesagt!<br />

Ich bin dann ein Jahr in Cleveland gewesen und habe gehört,<br />

dass er einen Assistenten braucht. Ich habe mich gemeldet und<br />

es hat ein Vordirigieren gegeben. Jeder durfte acht Minuten dirigieren.<br />

Unzählige von Dirigenten hatten sich gemeldet. Ich<br />

habe mir ein Stück ausgewählt, von dem ich wusste, dass er es<br />

sehr liebte, den letzten Satz von Schostakowitschs 5. Sinfonie.<br />

Ich habe natürlich auswendig dirigieren wollen und habe jeden<br />

Einsatz gewusst. Wie ich aber vor das <strong>Orchester</strong> trat, saßen alle<br />

Streicher auf der linken Seite und die Bläser auf der rechten. Wo<br />

gewöhnlicherweise das erste Cello oder die erste Bratsche sitzt,<br />

war die erste, zweite, dritte Flöte, dann die Oboen, dahinter die<br />

Klarinetten, dann fingen die Hörner an, dann das Blech. Und<br />

alle meine überlegten Einsätze funktionierten nicht mehr. Mich<br />

hat fast der Schlag getroffen. Dadurch, dass er einerseits alle<br />

Streicher und andererseits alle Bläser zusammengefasst hat, kam<br />

dieser runde, geballte Klang zustande. <strong>Das</strong> war sein Trick. …<br />

… Lesen Sie weiter in Heft 20<strong>07</strong>/<strong>11</strong><br />

18<br />

<strong>Das</strong> <strong>Orchester</strong> <strong>11</strong>/<strong>07</strong>

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