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GO-Magazin 2010 - Zeitenspiegel-Reportageschule Günter Dahl

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<strong>GO</strong> # 05/10<br />

1<br />

diE sturmspitzen<br />

Sie müssen raus bei Wind und Wetter: Für Schiffe in Not sind die Seenotretter oft die letzte Hoffnung.<br />

Sie halten sich auf 54 Stationen an Nord- und Ostsee rund um die Uhr bereit, um innerhalb weniger<br />

Minuten auszulaufen und zu helfen. Ein Besuch auf der „Hermann Rudolf Meyer” in Bremerhaven<br />

Es ist ein eisiger Wintertag,<br />

als die Nordsee über mir<br />

zusammenschlägt. Ich liege auf dem Rücken im Wasser und alles,<br />

was ich sehe, sind schmutzigbraune Wellen und grauer Himmel.<br />

Mit eisigen Fäusten schlägt der Wind in mein Gesicht. Die Neoprenmütze<br />

drückt mir auf die Ohren, ich höre nur meine Atemzüge.<br />

Etwa dreißig Zentimeter ragt mein Kopf aus dem Wasser, selbst<br />

bei leichtem Wellengang wäre er von Bord aus kaum auszumachen.<br />

Auch Rufen brächte nichts. Die Motoren eines Schiffes dröhnen<br />

lauter, als ein Mensch brüllen kann. Es könnte fünfzig Meter<br />

hinter mir vorbeifahren, weder die Besatzung noch ich würden es<br />

merken. Mir fällt ein, dass Überlebende von Schiffsunglücken berichten,<br />

das Schlimmste an der Zeit im Wasser sei die Einsamkeit.<br />

Text: Patrick Hemminger<br />

Fotos: Nora Klein<br />

Ich schwimme irgendwo im Einsatzgebiet der „Hermann Rudolf<br />

Meyer”, in der Wesermündung. Das sind rund 2000 Quadratkilometer,<br />

etwas mehr als die doppelte Fläche Berlins. Die Wassertemperatur<br />

beträgt null Grad, aber in dem orangenfarbenen Überlebensanzug<br />

friere ich nicht.<br />

„Sind sie mutig?”, hatte mich am Morgen Vormann Ulrich<br />

Fader gefragt. „Wenn Sie wollen, ziehen wir ihnen nach dem Mittagessen<br />

einen Überlebensanzug an, und sie springen mal rein. Damit<br />

sie wissen, wie sich das anfühlt.” Ich traute mich nicht, nein zu<br />

sagen. Und jetzt liege ich hier im Wasser, bin sozusagen in Seenot.<br />

Menschen zu retten, die in Seenot geraten sind, ist in Deutschland<br />

die Aufgabe der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiff-<br />

Vier Männer und ein Boot An Bord ist es eng. Streit müssen die Männer sofort beilegen. Im Ernstfall ist<br />

einer auf den anderen angewiesen<br />

brüchiger (DGzRS) oder schlicht der Seenotretter. Seit der Gründung<br />

im Jahr 1865 haben ihre Mitglieder mehr als 76.000<br />

Menschen geborgen. Ihre Schiffe gehören zum Modernsten, was<br />

auf den Weltmeeren herumfährt. Trotzdem: Auch die modernste<br />

Technik kann nicht verhindern, dass manchmal Retter zu Opfern<br />

werden. 45 Tote gab es in der Geschichte der Seenotretter. Die<br />

bislang letzten sind Bernhard Gruben und Theo Fischer von der<br />

Station Borkum. Heute tragen zwei Seenotkreuzer ihre Namen.<br />

Insgesamt besteht die nur aus Spenden finanzierte Rettungsflotte<br />

aus 61 Schiffen, von der knapp sieben Meter langen „Dora” in<br />

Ueckermünde bis hin zum 46-Meter-Kreuzer „Hermann Mar-<br />

wede” auf Helgoland.<br />

Ein Brummen dringt an mein Ohr und in meinem Augenwinkel<br />

taucht der Rumpf des sieben Meter langen Tochterbootes<br />

„Christian” auf. Jeder Kreuzer führt im Heck ein Tochterboot mit,<br />

damit kommen die Seenotretter leichter an kleine Yachten und im<br />

Wasser schwimmende Menschen heran. Kräftige Hände hieven<br />

mich an Bord. Ich rappele mich auf und schaue in das Gesicht von<br />

Wilm Willms. Rote Jacke, schwarze Mütze, Brille, Schnauzer und<br />

ein freundlich-besorgtes Lächeln. „Alles klar?”<br />

Vor fünfzehn Jahren kamen zwei Retter<br />

bei einem einsatz ums Leben. Heute<br />

tragen zwei seenotkreuzer ihre namen<br />

Auf jedem Seenotkreuzer haben zwei Besatzungen Dienst,<br />

immer im zweiwöchigen Wechsel. Auf der „Hermann Rudolf Meyer”<br />

sind dies Anfang Februar: Ulrich Fader, Erster Vormann. Stev Klöckner,<br />

Erster Maschinist. Siegbert Schuster, Dritter Vormann. Wilm<br />

Willms, Dritter Maschinist. Vormann heißt auf einem Seenotkreuzer<br />

der Kapitän. Während ihrer zwei Wochen Dienst wohnen die<br />

meisten Besatzungen an Bord der Kreuzer. Das bedeutet für die<br />

raus >>><br />

Männer, vierzehn Tage lang auf weniger Quadratmetern als in einer<br />

Studenten-WG zu leben – das Schiff ist 23 Meter lang. Dazu kommt<br />

der Kampf gegen die Langeweile. Von den bis zu 70 Einsätzen pro<br />

Jahr spielen sich die wenigsten im Winter ab. Dann ist keine Wassersportsaison,<br />

da passiert wenig auf See, und die Retter fahren fast nur<br />

zu Kontrollfahrten raus. „Der Hauptjob zu dieser Jahreszeit ist, sich<br />

nicht gegenseitig totzuschlagen”, sagt Schuster, 52 Jahre alt.<br />

Die „Hermann Rudolf Meyer” ist vierzehn Jahre alt, achtzig<br />

Tonnen schwer und kostete rund vier Millionen Euro. Auf der Brücke<br />

steht in ausgelatschten schwarzen Birkenstock-Sandalen Vormann<br />

Fader, Glatze, nikotingelbes Bärtchen, 46 Jahre alt. Langsam<br />

dirigiert er das Schiff mit einem fingerlangen Joystick aus seinem<br />

Liegeplatz. Es ist neblig, Schneeregen peitscht auf das Boot. Die<br />

Sicht beträgt eine halbe Seemeile, etwa neunhundert Meter, der<br />

Wind bläst mit Stärke drei bis vier. Die Temperatur liegt ein paar<br />

Grad unter Null. Im Vergleich zu einem Ernstfall ist das gutes Wetter.<br />

Die „Hermann Rudolf Meyer” fährt auch dann noch raus,<br />

wenn alle anderen Schiffe längst im Hafen liegen. Die Seenotretter<br />

schleppen Havaristen zurück in den Hafen, retten Besatzungen<br />

von untergehenden Schiffen, übernehmen Verletzte, versorgen sie<br />

und bringen sie an Land, suchen über Bord gegangene Seeleute<br />

oder löschen von ihren Schiffen aus Brände. Bei jedem Wetter.<br />

Beim Wort Heldentum verzieht Fader das Gesicht. „Das hilft<br />

niemandem, denn Helden sind meistens tot”, sagt er. „Jeder an<br />

Bord soll einfach nur seinen Job machen, damit alle wieder heil<br />

zurückkommen.” Selbst wenn er diese „fürchterliche Geschichte”<br />

von vor einigen Jahren erzählt, bleibt sein Ton gelassen.<br />

Es war Nacht damals, Orkanböen peitschten die Wellen in<br />

der Wesermündung auf eine Höhe von sechs, sieben Metern. Eine<br />

Segelyacht drohte auf die Untiefe des Mellumsandes zu treiben.<br />

Die Kollegen auf der „Vormann Steffens” waren bereits vor Ort<br />

und wollten den Havaristen abschleppen. Da riss das Tau und ein<br />

Seenotretter ging über Bord. Der Skipper des Seglers wollte helfen, >>><br />

17

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