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GO-Magazin 2010 - Zeitenspiegel-Reportageschule Günter Dahl

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<strong>GO</strong> # 05/10 raus >>><br />

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Bei Wind und Wetter Morgens<br />

um sechs Uhr stehen sie an der<br />

Straße und hoffen auf Arbeit. Seit<br />

den Ereignissen vom Januar oft<br />

vergebens. Nach einem langen<br />

Tag wird abends geduscht – unter<br />

freiem Himmel, bei sechs Grad<br />

der traum<br />

von einem besseren leben schmeckt süß.<br />

Keine Kerne. Mit kräftigen Fingern pellt Saikou Foroyaa eine Mandarine,<br />

lässt drei Schnitze in seinem Mund verschwinden und<br />

schmatzt. Die übrigen verteilt er – wie ein Priester Oblaten. Er lagert<br />

mit ein paar anderen auf schmierigen Schlafsäcken, hinter dem<br />

Bahnhof von Bari. Hier vertreiben sie die Stunden und Tage. Seit<br />

der Vertreibung aus Rosarno.<br />

Die Realität schmeckt bitter. Keine Filter. Mit steifen Fingern<br />

dreht Saikou Foroyaa eine Kippe, steckt sie sich zwischen die Lippen<br />

und qualmt. Den Stummel reicht er weiter – wie einen Joint.<br />

Er drängelt sich jetzt mit den anderen vor der Essensausgabe der<br />

Caritas, vor vergitterten Fenstern. Hier sind sie gestrandet. Hier<br />

verflüchtigt sich ihre Hoffnung. Nach der Flucht aus Afrika.<br />

Seit zweihundertdreiundvierzig Tagen lebt Saikou in Italien,<br />

seit dreizehn Tagen in Bari. Der Grund: Er hat demonstriert. In<br />

seiner Heimat Gambia, wie im süditalienischen Rosarno. In Jambanjelly/Gambia<br />

ging Saikou auf die Straße, nachdem das Militär<br />

einen Wassertank in seinem<br />

Stadtviertel zerstörte. In Rosarno/Kalabrien<br />

ging er auf die<br />

Straße, nachdem zwei Afrikaner<br />

von Italienern mit Luftpistolen<br />

beschossen wurden.<br />

Beide Male wurde er verjagt.<br />

„It’s not easy“ – „nicht<br />

einfach“, sagt Saikou. Mit seiner<br />

roten Baseballkappe, den<br />

weiß-roten Turnschuhen und<br />

dem etwas zu weiten, braunen<br />

Mantel, sieht der 27-Jährige<br />

aus wie eine Mischung aus<br />

Hip-Hopper und Rentner.<br />

Drahtiger Körper eines Basketballers,<br />

traurige Augen<br />

eines alten Mannes. Er zieht<br />

seinen Geldbeutel aus der Tasche.<br />

„Das ist mir geblieben.<br />

Nach acht Monaten in Europa.“<br />

Achtzig Cent purzeln in seine Handfläche. „Not easy.“<br />

Von seinem letzten Tageslohn in Rosarno – fünfundzwanzig<br />

Euro für neun Stunden Orangenpflücken, minus drei Euro für den<br />

Transport zur Plantage – hat er sich für elf Euro und zwanzig Cent<br />

ein Körperöl, einen Deo-Roller, Zahnbürste, Zahnpasta und für<br />

neun Euro einen Rasierer gekauft. „Das brauche ich für meinen<br />

Körper“, sagt er fast entschuldigend.<br />

Nach Gambia will er zurück, kann aber nicht. Nach Rosarno<br />

kann er zurück, will aber nicht. „Nur, was soll ich sonst machen?<br />

Ich brauche Geld!“<br />

Eigentlich will Saikou wieder Fischer sein wie in Afrika. Dort<br />

besitzt er zwei Boote, die seinen Vater, seine Frau und drei Kinder er-<br />

nähren. Zuhause war er relativ wohlhabend, seine Flucht hat er sich<br />

mit Erspartem finanziert. Aber nach Europa will er sich kein Geld<br />

schicken lassen. War doch das Gegenteil geplant. „Meine Frau würde<br />

nicht verstehen, dass ich in Europa nichts verdiene“, sagt er. Deshalb<br />

ruft er sie nur selten an, erzählt ihr nichts von seinen Problemen.<br />

Deshalb kehrt er zurück nach Rosarno, zum Ort der Vertreibung.<br />

Rosarno: Sechzehntausend Einwohner, zwischen Oktober und März<br />

über zweitausend ausländische Schwarzarbeiter, der Stadtrat wegen<br />

Verstrickungen mit der Mafiaorganisation ’Ndrangheta aufgelöst.<br />

Hauptwirtschaftszweige: marode Landwirtschaft und florierender<br />

Drogenhandel. Süditalienische Normalität.<br />

Das Städtchen hängt wie erstarrte Lava auf einem Hügel, ergossen<br />

in die fruchtbare Ebene von Gioia Tauro. Dort wachsen die<br />

Orangen und Mandarinen auf Plantagen, die bis zum Horizont rei-<br />

chen. Bis Januar <strong>2010</strong> war Rosarno ein kalabresisches Kaff wie jedes<br />

andere. Nur im Inneren brodelte, wie Magma, ein Gemisch aus<br />

mafiösen Strukturen, Arbeitslosigkeit und Fremdenhass. Durch die<br />

Schüsse auf die Afrikaner barst die Hülle. Der Vulkan spie Feuer.<br />

Als Saikou am siebten Januar nach der Arbeit an dem alten<br />

Fabrikgebäude „La Rognetta“ ankommt, blockieren bereits hunderte<br />

Afrikaner die Hauptstraße. Sie bauen eine Barrikade aus<br />

Mülltonnen und einem Auto und zünden sie an. Es ist nicht das<br />

erste Mal, dass auf afrikanische Arbeiter geschossen wurde. Schon<br />

im Vorjahr demonstrierten<br />

die Afrikaner gegen die Angriffe<br />

italienischer Jugendlicher.<br />

Aber unter den Demonstranten<br />

kursiert diesmal das<br />

Gerücht von vier „toten Brüdern“.<br />

Die Situation eskaliert.<br />

Die Männer ziehen wütend<br />

durch den Ort. Saikou stellt<br />

umgekippte Blumenkübel wie-<br />

der auf, redet auf die anderen<br />

ein. Man müsse doch friedlich<br />

demonstrieren. Kaum einer<br />

hört ihm zu.<br />

Die Besitzerin eines Geschäfts<br />

für Kinderbekleidung<br />

erzählt es so: „Wir hatten furcht-<br />

bare Angst. Sie haben Steine<br />

geschmissen, Autos angezündet,<br />

Frauen mit Knüppeln bedroht.“<br />

Manche Schwarze hätten<br />

zwar versucht die anderen zu beruhigen, doch die Mehrheit<br />

habe in einem „barbarischen Akt“ die Stadt zerstört. Die Polizei sei<br />

völlig überfordert gewesen.<br />

Genau wie am nächsten Tag. Die afrikanischen Demonstranten<br />

versammeln sich vor dem Rathaus und fordern ein Gespräch<br />

mit dem Bürgermeister. Die Bewohner von Rosarno wollen<br />

keine Diskussion. Wie tags zuvor heizt Gerede die Stimmung auf:<br />

Eine Schwangere habe bei den Ausschreitungen ihr Baby verloren.<br />

Wie das Gerücht, vier Afrikaner seien erschossen worden, entpuppt<br />

sich auch diese Behauptung als unwahr. Doch die Jagd ist eröffnet.<br />

Jugendliche Italiener prügeln mit Knüppeln auf die Afrikaner ein.<br />

Schüsse hallen durch die Gassen. Die Rosarnesi fahren mit ihren<br />

Autos Demonstranten an. Sie fordern: „Alle Schwarzen raus aus<br />

Rosarno!“ Eine Alte schreit von ihrem Balkon: „Tötet sie, tötet sie!“<br />

Am Abend haben die Italiener ihr Ziel erreicht. Polizisten und Soldaten<br />

leiten die „ethnische Säuberung“ ein, wie der englische „Economist“<br />

schreibt. Die Bevölkerung applaudiert, als über tausend<br />

Afrikaner mit Bussen in Auffanglager transportiert werden. Der<br />

Hilfe in der Not Nur wenige Italiener machen sich Gedanken über die Lebensbedingungen<br />

der Afrikaner. Einer von ihnen ist Giuseppe Pugliese, Mitglied der Hilfsorganisation „Africalabria“.<br />

Er bringt Decken, Kleidung, Schuhe und organisiert auch mal einen Generator<br />

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