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GO-Magazin 2010 - Zeitenspiegel-Reportageschule Günter Dahl

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<strong>GO</strong> # 05/10<br />

MALAbAR&<br />

mama<br />

Der Sonntagsbraten, die gebügelte Wäsche,<br />

das gemachte Bett: In Deutschland leben<br />

rund 300 000 Männer über vierzig im „Hotel<br />

Mama“. Wolfgang Römer ist einer von ihnen<br />

Eine Blase, groß wie ein Fußball Kaugummis bringen<br />

ihm 0ein<br />

Stück verlorene Kindheit zurück, sagt Wolfgang Römer<br />

Text & Fotos: Christina Franzisket<br />

raus >>><br />

da hockt er im Wohnzimmer auf dem sofa,<br />

blickt in den Garten und stopft sich mal wieder Kaugummis in<br />

den Mund. Gleich vier Stück auf einmal: „So lassen sich die größten<br />

Blasen machen“, erklärt Wolfgang Römer*. Klar, dass es nicht<br />

irgendwelche Kaugummis sind, es müssen unbedingt die der Marke<br />

„Malabar“ sein. Diese zuckersüßen, quietschbunten Rechtecke,<br />

die es einst für fünf Pfennig im Tante Emma Laden um die Ecke<br />

gab. „Durch das Kaugummikauen erlebe ich ein Stück meiner verlorenen<br />

Kindheit“, sagt er mit malmenden Kiefern. Seine Mutter<br />

rollt die Augen und lacht: „Der und seine Kaugummis!“<br />

Wolfgang Römer ist 47 Jahre alt und wohnt immer noch bei<br />

Mama. Heute ist „Kamintag“. Wie an jedem Samstag essen Mutter<br />

und Sohn gemeinsam vor dem offenen Feuer. Helga Römer trägt<br />

ein Backblech voll dampfender Fleischpasteten herein. „Mein Leibgericht“,<br />

sagt der Sohn und reicht der Mutter seinen Teller.<br />

Seit mehr als zwanzig Jahren tüftelt er an einer Software für<br />

Bildbearbeitung. Bis heute erfolglos. „Ich sehe ja, dass er sich ernsthaft<br />

bemüht. Tut mir leid, dass er nicht vorankommt“, sagt die<br />

Mutter. Ab und zu gibt er Nachhilfe in Mathematik, Physik und<br />

Chemie. Doch hauptsächlich leben die beiden von der Rente der<br />

Mutter, wohnen aber immerhin in einer Villengegend im Taunus.<br />

Der Bungalow, den die Eltern in den Siebzigerjahren gebaut haben,<br />

signalisiert Wohlstand. Dennoch: „Wir heizen nicht, das ist zu teuer“,<br />

bekennt Mutter Römer und weißer Atemhauch steigt aus ihrem<br />

Mund. Im Wohnzimmer sind es trotz des Kaminfeuers nur acht<br />

Grad. „Man muss sich eben richtig anziehen“, sagt sie und zeigt auf<br />

die vielen Kleiderschichten, in denen die schlanke Frau wie ein<br />

Pummel aussieht. Der Sohn überragt sie um mindestens einen<br />

Kopf und sieht kaum jünger aus als die 68-Jährige. Beide tragen<br />

langes, graues Haar, das fransig zu allen Seiten absteht. Sie sitzen<br />

unter Wolldecken auf der zerschlissenen Ledergarnitur und schauen<br />

ins Feuer wie ein altes Ehepaar.<br />

Das innige Verhältnis besteht, seitdem der Vater 1986 an<br />

Krebs starb und der 24-jährige Sohn die Rolle des Hausherren<br />

übernahm. Der ältere Bruder zog aus und Wolfgang Römer blieb<br />

bei der Mutter und der jüngeren Schwester. Doch nach der Trauerphase<br />

geriet für ihn die Welt aus den Fugen. Neue Männer spielten<br />

plötzlich eine Rolle im Leben der Mutter: „Das war ein Tohuwabohu<br />

hier im Haus!“ sagt er und schüttelt den Kopf.<br />

Trotz dieser Unruhe bestand er 1989 sein Diplom in Physik<br />

mit der Note Eins und bekam eine Assistentenstelle an der Universität.<br />

Die Mutter kam daraufhin auf eine abwegige Idee: „Sie<br />

drängte mich auszuziehen. Völlig hirnrissig!“<br />

Helga Römer schaufelt noch eine Fleischpastete auf seinen<br />

Teller und tut, als ob sie ihm nicht zuhört, während er den Grund für<br />

seine Lebensumstände erklärt: „Eine verpfuschte kieferorthopädische<br />

Behandlung hat dazu geführt, dass ich immer noch zu Hause lebe.“<br />

Sie legt einen Holzscheit nach: „Ach, ich denke, Wolf sucht nur<br />

einen Schuldigen. Er hat doch so schöne Zähne.“ Er fällt ihr quengelnd<br />

ins Wort: „Darüber haben wir schon so oft geredet, Mutti. >>><br />

* Name von der Redaktion geändert<br />

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