Losert-Bruggner B, Dudek B, Hülse M - Dr. Brigitte Losert-Bruggner
Losert-Bruggner B, Dudek B, Hülse M - Dr. Brigitte Losert-Bruggner
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Manuelle Medizin<br />
Chirotherapie | Manuelle Therapie<br />
Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin<br />
Elektronischer Sonderdruck für<br />
B. <strong>Losert</strong>-<strong>Bruggner</strong><br />
Ein Service von Springer Medizin<br />
Manuelle Medizin 2010 · 48:343–352 · DOI 10.1007/s00337-010-0783-x<br />
© Springer-Verlag 2010<br />
zur nichtkommerziellen Nutzung auf der<br />
privaten Homepage und Institutssite des Autors<br />
B. <strong>Losert</strong>-<strong>Bruggner</strong> · B. <strong>Dudek</strong> · M. Hülse<br />
Die kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD)<br />
Eine mögliche Ursache für chronische Schmerzen und einen nicht erholsamen<br />
Schlaf<br />
www.ManuelleMedizin.springer.de
Übersichten<br />
Manuelle Medizin 2010 · 48:343–352<br />
DOI 10.1007/s00337-010-0783-x<br />
Online publiziert: 24. September 2010<br />
© Springer-Verlag 2010<br />
B. <strong>Losert</strong>-<strong>Bruggner</strong> 1 · B. <strong>Dudek</strong> 2 · M. Hülse 3<br />
1<br />
Privatzahnärztliche Praxis für kraniomandibuläre<br />
Orthopädie, Lampertheim-Hüttenfeld<br />
2<br />
Pneumologische Praxis und Schlaflabor, Lindenfels/Odenwald<br />
3<br />
HNO-Klinik, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, Mannheim<br />
Die kraniomandibuläre<br />
Dysfunktion (CMD)<br />
Eine mögliche Ursache für<br />
chronische Schmerzen und einen<br />
nicht erholsamen Schlaf<br />
Ein- und Durchschlafstörungen (Insomnie)<br />
gehören zu den häufigsten gesundheitlichen<br />
Beschwerden in der Bevölkerung<br />
[1, 4, 12, 20, 23, 27]. Etwa ein <strong>Dr</strong>ittel<br />
der amerikanischen Bevölkerung leidet<br />
an chronischer Insomnie [1, 12, 23]. In<br />
Europa werden ähnliche Zahlen berichtet<br />
[4, 6]. Für Deutschland werden Schlafstörungen<br />
bei 25% der Erwachsenen angegeben,<br />
bei über 10% wird über einen dauerhaft<br />
nicht erholsamen Schlaf und Tagesmüdigkeit<br />
geklagt [6]. Über eine halbe<br />
Million Menschen in Deutschland<br />
nehmen täglich Schlafmittel ein und geraten<br />
in eine medikamentöse Abhängigkeit,<br />
da ihre Grundbeschwerden nicht erkannt<br />
oder nicht adäquat behandelt werden<br />
konnten [6].<br />
Als häufige Ursachen für nicht erholsamen<br />
Schlaf werden Störungen<br />
des Schlaf-Wach-Rhythmus, Einnahme<br />
von schlafbeeinträchtigenden Substanzen,<br />
psychiatrische und/oder organische<br />
Erkrankungen angeführt [6]. Nur<br />
bei einem kleinen Teil der chronischen<br />
Schlechtschläfer lässt sich eine spezifische<br />
schlafmedizinische Erkrankung<br />
nachweisen [6].<br />
Chronische Schmerzen führen schon<br />
zu einer deutlichen Verzögerung/Verlängerung<br />
der Einschlafphase. Aber auch die<br />
weitere Schlafstruktur ist gestört. Es kann<br />
bis zu einem Ausbleiben jeglicher Tiefschlafphase<br />
kommen. Oft ist ein frühzeitiges<br />
Aufwachen aus dem „Rapid-eyemovement“-<br />
(REM-)Schlaf zu verzeichnen.<br />
Dieser gestörte Schlaf verhindert eine<br />
ausreichende nächtliche Regeneration.<br />
Als Folge sinkt die Schmerzschwelle.<br />
Es entwickelt sich ein Circulus vitiosus,<br />
den es zu durchbrechen gilt. Der Schlafmediziner<br />
kann eine Vielzahl chronischer<br />
Schlafstörungen erst dann erfolgreich behandeln,<br />
wenn auch die durch organische<br />
Schmerzen bedingten Schlafstörungen<br />
ausreichend beachtet werden. In der aktuellen<br />
Literatur findet das Problem der<br />
schmerzinduzierten Schlafstörungen wenig<br />
Beachtung. In der Schmerzforschung<br />
werden große Fortschritte erreicht und<br />
auch Spezialambulanzen nehmen sich der<br />
Schmerzpatienten an. Überschneidungen<br />
von Schmerz- und Schlafforschung werden<br />
aber sehr häufig nicht wahrgenommen,<br />
auch wenn unbestritten ist, dass beide<br />
Gebiete, Schmerz und Schlaf, untrennbar<br />
miteinander verbunden sind. Jeder<br />
Schmerz führt zu bewussten, aber auch<br />
zu unbewussten Weckreaktionen.<br />
> Jeder Schmerz führt zu<br />
bewussten, aber auch<br />
unbewussten Weckreaktionen<br />
In der vorliegenden Arbeit soll auf Schlafstörungen<br />
eingegangen werden, die durch<br />
nächtliche Beschwerden des Stütz- und<br />
Halteapparats hervorgerufen werden [15,<br />
16, 25, 26]. Diese Problematik wird häufig<br />
nicht erkannt oder fehlinterpretiert.<br />
Beispielhaft für eine solche, auch heute<br />
weit verbreitete Fehlinterpretation soll in<br />
diesem Zusammenhang der sog. Bruxismus,<br />
das vor allem nachts zu beobachtende<br />
Zähneknirschen, erwähnt werden.<br />
Der Bruxismus wird allgemein mit einem<br />
„Stressabbau“ erklärt. Dies würde bedeuten,<br />
dass bei einer Schlafstörung Bruxismus<br />
ein Symptom der psychischen Situation<br />
ist, die die Schlafstörung verursacht.<br />
In den meisten Fällen aber ist der Bruxismus<br />
nicht ein rein psychisches Problem,<br />
sondern Folge und Symptom einer funktionellen<br />
Kiefergelenkstörung, und eine<br />
psychische Stresssituation verstärkt lediglich<br />
das Knirschen. Die in einigen Fäl-<br />
Tab. 1 Verteilung der Schlafstadien in %<br />
ohne und mit myozentrischer Aufbissschiene<br />
Schlafstadien<br />
Mit CPAP-<br />
Maskenbeatmung<br />
ohne Aufbissschiene<br />
(%)<br />
Stadium 1 7 13<br />
Stadium 2 60 43<br />
Stadium 3 22 13<br />
Stadium 4 0 10<br />
REM 11 21<br />
Mit CPAP-<br />
Maskenbeatmung<br />
mit Aufbissschiene<br />
(%)<br />
REM „rapid eye movements“, CPAP „continuous<br />
positive airway pressure“.<br />
Manuelle Medizin 5 · 2010 |<br />
343
Übersichten<br />
Bruxismus lindern. In den meisten Fällen<br />
ist die Therapie der Wahl die Behandlung<br />
mit einer neuromuskulär korrekt eingestellten<br />
Aufbissschiene.<br />
Eigene Beobachtungen deuten darauf<br />
hin, dass schmerzbedingte Schlafstörungen<br />
in den letzten Jahren deutlich zunehmen<br />
und ein Großteil der Beschwerden<br />
durch funktionelle Wirbelsäulenbeschwerden<br />
hervorgerufen wird. Bei vielen<br />
chronischen Schmerzen lässt sich die<br />
Ursache nicht finden, weshalb sie als unspezifisch<br />
bezeichnet werden.<br />
E Etwa 60–70% der Bevölkerung leiden<br />
an unspezifischen Rückenschmerzen<br />
und ca. 80% an therapieresistenten<br />
Kopfschmerzen [5].<br />
Abb. 1 8 Wechselwirkung Kiefer- und Körperfehlstellung. Junge, 7 Jahre alt, vor kieferorthopädischer<br />
Behandlung: ausgeprägte CMD, CCD, Haltungsfehlstellungen und sehr verspannte Schultermuskulatur<br />
(a). Derselbe Junge, 13 Jahre alt, nach 4,5 Jahren funktionskieferorthopädischer Behandlung und<br />
Manualtherapie: gut ausgeformte Kiefer, deutlich verbesserte Haltung und entspannte Muskulatur (b)<br />
len zutreffende Annahme einer rein psychischen<br />
Ursache des Bruxismus muss<br />
aber, wenn die Psychogenität verallgemeinert<br />
wird, zwangsläufig zu den häufig<br />
zu beobachtenden therapeutischen<br />
Misserfolgen führen: Nur in wenigen Fällen<br />
kann eine Psychotherapie allein einen<br />
Meist bestehen die Beschwerden seit vielen<br />
Jahren und bisherige Therapiemaßnahmen,<br />
wie verhaltenstherapeutische,<br />
krankengymnastische, manualtherapeutische,<br />
schmerztherapeutische oder medikamentöse<br />
Maßnahmen, konnten keine<br />
anhaltende Erleichterung erzielen [5].<br />
In den letzten Jahrzehnten wird zunehmend<br />
die Bedeutung kraniomandibulärer<br />
Dysfunktionen (CMD) und kraniozervikaler<br />
Dysfunktionen (CCD) bei der Entstehung<br />
von Wirbelsäulenbeschwerden erkannt.<br />
Wenn auch viele Autoren die kausalen<br />
Zusammenhänge zwischen der CMD<br />
und CCD und Wirbelsäulenbeschwerden<br />
immer noch bestreiten oder nur in Einzelfällen<br />
akzeptieren, sind die Erfolge der korrekten<br />
CMD- und CCD-Therapie im Rahmen<br />
der vertebragenen Schmerzbehandlung<br />
kaum mehr zu leugnen [13, 22, 24].<br />
Die CMD ist der Überbegriff für eine funktionelle<br />
Fehlregulation der Kaumuskulatur<br />
und der Kiefergelenke. Kiefer- und Kopfgelenke<br />
bilden eine kybernetische Einheit.<br />
Ihre Bewegungen werden durch gemeinsame<br />
motorische Programme über deszendierende<br />
kortikobulbäre bzw. kortikospinale<br />
Bahnen gesteuert und laufen immer<br />
koordiniert ab. Daher ist eine Kieferfehlstellung<br />
nicht von einer HWS-Fehlstellung<br />
abzugrenzen. Kopf-/Kiefergelenkstörungen<br />
haben Einfluss auf die posturale Muskulatur<br />
bis in die unteren Extremitäten und<br />
CMD und CCD bilden eine nosologische<br />
Entität (. Abb. 1, 2; [10, 22, 24, 28]).<br />
Die CMD ist häufig ursächlich an funktionellen<br />
Wirbelsäulenproblemen und<br />
chronischen Schmerzen beteiligt. Beide,<br />
CMD und CCD, können zu Bein-, Hüft-,<br />
Rücken-, Nacken-, Kopfschmerzen, aber<br />
auch zu Tinnitus, Herzbeschwerden,<br />
Schwindel, Schmerzen in den Kiefergelenken,<br />
den Wangen, der Kaumuskulatur<br />
und den Ohren führen [3, 22, 26]. In die<br />
344 | Manuelle Medizin 5 · 2010
Zusammenfassung · Abstract<br />
therapeutischen Erwägungen einer durch<br />
Schmerzen gestörten Schlafstruktur werden<br />
die Aspekte einer CMD und CCD<br />
bislang kaum einbezogen. Die vorliegende<br />
Untersuchung soll die direkte funktionelle<br />
Wechselwirkung von Kieferfehlstellungen,<br />
CMD, [2, 17, 18, 24] und HWS-Fehlstellungen,<br />
CCD, [10] auf der einen Seite und die<br />
Auswirkungen auf die Schlafstruktur auf<br />
der anderen Seite aufzeigen.<br />
Die Anzahl der Patienten mit CMD/<br />
CCD und chronischen Schlafstörungen<br />
scheint in jüngster Zeit zuzunehmen. Eigene<br />
Untersuchungen der letzten Jahre<br />
verzeichnen eine Zunahme der Insomnie<br />
bei CMD/CCD-Patienten von 33 auf 55%.<br />
Diskutiert werden muss bei einer solchen<br />
Tendenz jedoch auch, ob es sich hierbei<br />
nur um eine scheinbare Zunahme handelt.<br />
Erst die Kenntnis des hier beschriebenen<br />
Krankheitsbilds führt zu einer korrekten<br />
Diagnose. In der Vergangenheit<br />
wurde diese Krankheitsentität nicht erkannt,<br />
sondern die Schmerzsymptomatik<br />
und die Schlafstörung wurden unabhängig<br />
voneinander betrachtet.<br />
Manuelle Medizin 2010 · 48:343–352<br />
© Springer-Verlag 2010<br />
DOI 10.1007/s00337-010-0783-x<br />
B. <strong>Losert</strong>-<strong>Bruggner</strong> · B. <strong>Dudek</strong> · M. Hülse<br />
Die kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD). Eine mögliche Ursache<br />
für chronische Schmerzen und einen nicht erholsamen Schlaf<br />
Craniomandibular dysfunction (CMD). A possible<br />
reason for chronic pain and non-relaxing sleep<br />
Zusammenfassung<br />
Trotz der rasanten Entwicklung der Schlafmedizin<br />
in den letzten 10 Jahren mit der Herausarbeitung<br />
zahlreicher Faktoren der Ein- und<br />
Durchschlafstörungen findet in der Literatur<br />
der Aspekt der chronischen Schmerzsymptomatik<br />
nur wenig Beachtung. In der vorliegenden<br />
Arbeit wurde die Frage einer chronischen<br />
Schlafstörung bei 555 Patienten mit<br />
kraniomandibulärer (CMD) und kraniozervikaler<br />
(CCD) Dysfunktion untersucht. Insgesamt<br />
285 (51%) der 555 Patienten mit CMD/<br />
CCD klagten über anhaltende Schlafstörungen.<br />
Von diesen 285 Schlechtschläfern berichteten<br />
283 (99%) über chronische Schmerzen.<br />
In 97% der Fälle betraf der Schmerz<br />
mehr als eine Körperregion und in 64% traten<br />
Schmerzen in 3 und 4 Körperquadranten auf.<br />
Durch die kombinierte und zeitgleiche Therapie<br />
der CMD mittels neuromuskulär ausgerichteter<br />
Aufbissschiene und die Manualtherapie<br />
der CCD konnte bei 82% der Patienten<br />
mit Insomnie das bisher therapieresistente<br />
körperliche Beschwerdebild gebessert<br />
werden. Über eine deutliche Verbesserung<br />
des Schlafs nach der Behandlung berichteten<br />
78% der Patienten. Wird eine Kieferfehlstellung<br />
(CMD) bei chronischen wirbelsäulenbedingten<br />
Schmerzen nicht beachtet, sind das<br />
Schmerzgeschehen und die hierdurch bedingte<br />
Schlafstörung kaum erfolgreich zu behandeln.<br />
Schlüsselwörter<br />
Insomnie · Myozentrik · Kraniomandibuläre<br />
Dysfunktion · Schlaf · Aufbissschiene<br />
Beschreibung der Problematik<br />
anhand einer Kasuistik<br />
Ein 60-jähriger Patient, männlich, wurde<br />
nach vollständiger Untersuchung im<br />
Schlaflabor wegen eines nicht erholsamen<br />
Schlafs bei Verdacht auf schmerzbedingte<br />
Schlafstörungen in Zusammenhang mit<br />
CMD und CCD zur zahnärztlichen Abklärung<br />
überwiesen. Das schwere obstruktiv<br />
bedingte Schlafapnoesyndrom<br />
konnte erfolgreich mit CPAP-Maskenbeatmung<br />
(„continuous positive airway<br />
pressure“) behandelt werden. Dennoch<br />
wurde kein erholsamer Schlaf erreicht.<br />
Nach wie vor klagte der Patient über eine<br />
weiterbestehende anhaltende ausgeprägte<br />
Tagesmüdigkeit. Die Schlafarchitektur war<br />
durch häufige Arousals (12,0/h) und häufiges<br />
Erwachen (1,2/h) gestört, es zeigte<br />
sich zu wenig REM-Schlaf (11%) und kein<br />
Tiefschlafstadium 4 (. Tab. 1). Manual-,<br />
verhaltens- und schmerztherapeutische<br />
Maßnahmen konnten bis zur Vorstellung<br />
in der Zahnarztpraxis die Kopf-,<br />
Nacken-, Schulter-, Arm-, Hüft- und Rückenschmerzen,<br />
den <strong>Dr</strong>uck in den Ohren<br />
und den Tinnitus nicht positiv beeinflussen.<br />
Wegen der nächtlichen Beschwerden<br />
Abstract<br />
The aspects of chronic pain symptoms have<br />
received little attention in the literature despite<br />
the rapid developments in sleep medicine<br />
over the previous decade with the elaboration<br />
of many factors concerned with disorders<br />
of falling asleep and sustained sleeping.<br />
In this article the problem of chronic sleeping<br />
disorders was investigated in 555 patients<br />
with craniomandibular (CMD) and craniocervical<br />
(CCD) disorders. Of the 555 patients<br />
a total of 285 (51%) complained of persistent<br />
sleep disorders and of these 283 also<br />
complained of chronic pain. In 97% of the<br />
patients the pain affected more than 1 body<br />
area and in 64% the pain occurred in 3 or 4<br />
body quadrants. By applying a combined and<br />
simultaneous therapy of CMD with neuromuscular<br />
oriented occlusal splints and manual<br />
therapy of CCD the previously therapyresistant<br />
physical complaints could be improved<br />
in 82% of the patients with insomnia.<br />
Of the patients 78% reported a clear improvement<br />
in sleeping after treatment. If<br />
a mandibular malpositioning (CMD) with<br />
chronic pain linked to the vertebral column is<br />
ignored successful treatment of the pain and<br />
the subsequent sleeping disorder is practically<br />
impossible.<br />
Keywords<br />
Insomnia · Myocentric · Craniomandibular<br />
disorders · Sleep · Splints<br />
Manuelle Medizin 5 · 2010 |<br />
345
Übersichten<br />
Kaumuskulatur<br />
Mundboden<br />
Infrahyale<br />
Muskulatur<br />
Sternum<br />
Hyoid<br />
Costa l<br />
HWS<br />
BWS<br />
wachte er häufig auf, wälzte sich von einer<br />
Seite zur anderen in der Hoffnung, doch<br />
noch eine schmerzentlastende Position zu<br />
finden. Die manuelle und instrumentelle<br />
zahnärztlichen Funktionsuntersuchungen<br />
zeigten eine ausgeprägte CMD und CCD<br />
(. Abb. 3, 4), die ursächlich mit den<br />
funktionellen Wirbelsäulenstörungen in<br />
Verbindung stehen konnten.<br />
Die zahnärztliche CMD-Untersuchung<br />
ergab:<br />
F Bradykinesie, Dyskinesie und Einschränkungen<br />
der Kieferbewegungen<br />
F Seitenabweichung beim Öffnen<br />
F Knack- und Reibegeräusche in beiden<br />
Kiefergelenken<br />
F Beidseitige anteriore Diskusverlagerung<br />
F Ausgeprägte Palpationsempfindlichkeit<br />
der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur<br />
F Verminderte Beißkraft der Kaumuskulatur<br />
F Zahlreich Dysgnathien (Tiefbiss,<br />
Retrallage des Unterkiefers, Engstände,<br />
Mittellinienabweichung, ungünstige<br />
Spee-Kurven, Knirschfacetten,<br />
Verschleiß der Ober- und Unterkieferfontzähne,<br />
Gingivarezessionen)<br />
Bei der zahnärztlichen CCD-Untersuchung<br />
zeigte sich:<br />
F Schiefstehende Augenebene<br />
F Kopfvorhaltung bei gleichzeitiger<br />
Steilstellung der HWS<br />
Nackenmuskulatur<br />
Prävertebrale<br />
Muskulatur<br />
F Bewegungseinschränkung der HWS<br />
F Schulterschiefstand<br />
F Funktionelle Hüftblockaden<br />
F Funktionelle Beinlängendifferenz<br />
Nach der Behandlung der Kieferfehlstellung<br />
mittels myozentrischer Aufbissschiene<br />
und zeitgleicher manualtherapeutischer<br />
Maßnahmen zur Beseitigung der<br />
funktionellen Haltungsstörungen konnte<br />
das körperliche Beschwerdebild positiv<br />
beeinflusst werden. Mit der Aufbissschiene<br />
zeigte sich eine physiologische<br />
Schlafarchitektur, der Schlaf war wieder<br />
erholsam (. Tab. 1) und die Leistungsfähigkeit<br />
tagsüber wiederhergestellt. Ein<br />
deutlicher Wandel war auch im psychosozialen<br />
Verhalten zu beobachten. Die depressiven<br />
Verstimmungen besserten sich<br />
schon nach wenigen Tagen. Eine medikamentöse<br />
Schmerztherapie war nicht<br />
mehr erforderlich. Dem Patienten wurde<br />
bewusst, wie viele Jahre er an Lebensqualität<br />
aufgrund der therapieresistenten<br />
Schmerzen und der lange Zeit nicht erkannten<br />
Schlafstörung verloren hatte.<br />
Untersuchung<br />
Abb. 2 9 Kybernetische<br />
Einheit Kieferund<br />
Kopfgelenke. (Aus<br />
[21], mit freundl. Genehmigung<br />
des International<br />
College of<br />
Cranio-Mandibular Orthopedics,<br />
www.iccmo.de)<br />
Patientenkollektiv und Methoden<br />
Grundlage für die vorliegende Arbeit ist<br />
das Patientengut der Autoren im Zeitraum<br />
von 1999 bis 2007. Insgesamt wurden<br />
555 Patienten mit CMD/CCD und<br />
chronischen Schmerzen auf funktionelle<br />
Wirbelsäulenbeschwerden und Schlafqualität<br />
vor und nach der kombinierten und<br />
zeitgleichen zahnärztlichen und manualmedizinischen<br />
Behandlung der CMD/<br />
CCD untersucht und befragt.<br />
Die Diagnostik der CMD/CCD erfolgte<br />
nach den Empfehlungen des International<br />
College of Cranio-Mandibular<br />
Orthopedics (ICCMO) und der Deutschen<br />
Gesellschaft für Manuelle Medizin<br />
(DGMM). Die hierbei zugrunde gelegten<br />
diagnostischen Kriterien implizieren<br />
die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft<br />
für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde<br />
(DGZMK), bieten im neuromuskulären<br />
Ansatz aber ein weiteres diagnostisches<br />
Spektrum. Die instrumentelle<br />
Funktionsuntersuchung (Magnetkinesiographie,<br />
Elektromyographie, Elektrosonographie)<br />
wurde mit dem K7 Evaluation<br />
System, Myotronics, Seattle, durchgeführt.<br />
In die Untersuchung eingeschlossen<br />
wurden 199 Männer (36%) und 356 Frauen<br />
(64%) mit einem Durchschnittsalter von 43<br />
Jahren (niedrigstes Alter 12 Jahre, höchstes<br />
Alter 77 Jahre). Der durchschnittliche Beobachtungszeitraum<br />
lag bei 25 Monaten.<br />
Von den 555 CMD/CCD-Patienten berichteten<br />
285 (51%) über chronische Ein- und<br />
Durchschlafstörungen.<br />
Die Gruppe der Patienten mit Insomnie<br />
bestand aus 97 Männern (34%)<br />
und 188 Frauen (66%) mit einem Durchschnittsalter<br />
von 45 Jahren (niedrigstes Alter<br />
19 Jahre, höchstes Alter 77 Jahre). Hier<br />
lag der durchschnittliche Beobachtungszeitraum<br />
bei 26 Monaten. Das Schlafverhalten<br />
und die Schmerzsymptomatik wurden<br />
vor und während der kombinierten<br />
und zeitgleichen CMD/CCD-Therapie<br />
von den Patienten mit chronischer Insomnie<br />
erfragt und dokumentiert.<br />
Vorgehen bei der<br />
CMD/CCD-Behandlung<br />
Die CMD wurde mittels neuromuskulär<br />
und myozentrisch ausgerichteter Aufbissschiene<br />
behandelt. Die Aufgabe der Aufbissschiene<br />
ist die physiologische Neuzentrierung<br />
der Kiefer- und Kopfgelenke<br />
und die Beseitigung der funktionellen Wirbelsäulenstörungen.<br />
Zeitgleich zur CMD-<br />
346 | Manuelle Medizin 5 · 2010
Abb. 3 7 Typische CCD/<br />
CMD-Zeichen. Kopfvorhaltung<br />
bei gleichzeitiger<br />
Steilstellung der HWS,<br />
Schulter- und Beckenschiefstand.<br />
Tiefbiss, Engstände,<br />
Zahnfleischrückgang,<br />
Abriebflächen auf<br />
den Zähnen, Seitenabweichung<br />
beim Öffnen<br />
Abb. 4 7 Ausgeprägte<br />
Retrallage des Unterkiefers<br />
in habitueller Okklusion<br />
Manuelle Medizin 5 · 2010 |<br />
347
Übersichten<br />
Abb. 5 9 Kontrolle der<br />
Muskelspannung mit dem<br />
Elektromyogramm. Elektrodenlage<br />
(a), stark erhöhte<br />
Muskelspannung im Ausgangszustand<br />
(b), deutliche<br />
Beruhigung der Muskulatur<br />
nach Manualtherapie<br />
und TENS (c), gute<br />
Voraussetzung für eine<br />
myozentrische Bissnahme<br />
(. Abb. 6)<br />
Behandlung erfolgte die Manualtherapie<br />
der funktionellen Wirbelsäulenstörungen.<br />
Bei der Herstellung der Aufbissschiene<br />
und der Ermittlung der myozentrischen<br />
Kieferrelation wurden die neuromuskulären<br />
Gesichtspunkte nach Jankelson berücksichtigt<br />
[9, 11]. Vorraussetzung für die<br />
Kieferrelationsbestimmung war eine entspannte<br />
Kau-, Kopf-, und Halsmuskulatur.<br />
Die Muskelspannung wurde im Ausgangszustand<br />
und nach den Entspannungsmaßnahmen<br />
vor der Bissnahme<br />
über das Elektromyogramm kontrolliert<br />
([8, 11]; . Abb. 5). Als Entspannungsmaßnahmen<br />
dienten manualtherapeutische<br />
Behandlungen, insbesondere die<br />
Atlasimpulstherapie nach Arlen in Verbindung<br />
mit niederfrequenter TENS-Therapie<br />
der Kaumuskulatur [9, 10, 11]. Diese<br />
Maßnahmen wurden auch direkt vor dem<br />
Eingliedern und Einschleifen der Aufbissschiene<br />
durchgeführt. Die Bissnahme und<br />
das Einschleifen der Schiene erfolgten in<br />
gerader physiologischer Körperhaltung<br />
im Sitzen oder Stehen (. Abb. 6).<br />
Die Qualität der Bissnahme für die<br />
Aufbissschiene wurde mit manualmedizinische<br />
Testungen (Beinlänge, Hüftabduktion)<br />
überprüft (. Abb. 7). Die Schiene<br />
wurde bis zur Stabilisierung der kybernetischen<br />
Einheit Kiefer- und Kopfgelenk<br />
immer, d. h. auch zum Essen, getragen.<br />
Die Nachbetreuung der Patienten<br />
erfolgte in Verbindung mit manualtherapeutischen<br />
Maßnahmen zur Verbesserung<br />
der funktionellen Störungen des<br />
Halte- und Stützapparats.<br />
Ergebnisse<br />
Von den 285 Patienten mit Insomnie gaben<br />
99% (n=283) chronische körperliche Beschwerden<br />
und Schmerzen an. Bei 1% (n=2)<br />
der Patienten wirkte sich das Beschwerdebild<br />
„nur“ im Kieferbereich aus. Von den<br />
283 Patienten mit chronischen körperlichen<br />
Beschwerden klagten 49% über<br />
Schmerzen in allen vier Körperquadranten,<br />
15% in drei, 33% in zwei und 3% in einem<br />
Quadranten (. Tab. 2). Die Schmerz-<br />
/Beschwerdesymptome waren wie folgt<br />
verteilt: 92% Nackenschmerzen, 77% Rückenschmerzen,<br />
83% Hüftschmerzen, 54%<br />
Knieschmerzen, 72% Kopfschmerzen, 85%<br />
Beschwerden im Kieferbereich, 60% Knirschen/Pressen,<br />
48% Tinnitus, 42% Otalgie<br />
und 47% Schwindel (. Tab. 3).<br />
Diese Beschwerden konnten durch eine<br />
kombinierte und zeitgleiche Therapie<br />
mittels neuromuskulär ausgerichteter<br />
Aufbissschiene und manueller Therapie<br />
der funktionellen Wirbelsäulenbeschwerden,<br />
insbesondere Therapie der Kopfgelenke<br />
nach der Methode von Arlen, in vielen<br />
Fällen gebessert werden (. Tab. 3).<br />
Von den 285 Patienten mit chronischen<br />
Schlafstörungen gaben 223 (78%) an, nach<br />
dieser kombinierten CMD/CCD-Therapie<br />
wieder gut und erholsam zu schlafen<br />
(. Abb. 8).<br />
Ein besonderes Problem bei Schlafstörungen<br />
stellen chronische unspezifische<br />
Rückenschmerzen dar. Von 404 Patienten<br />
mit chronischen Rückenschmerzen aus<br />
der vorliegenden Studie konnten 218 (54%)<br />
durchgehend nicht gut schlafen. Durch die<br />
kombinierte und zeitgleiche Therapie der<br />
CMD/CCD mittels neuromuskulär ausgerichteter<br />
Aufbissschiene ließ sich bei 174<br />
(80%) dieser Patienten eine gute bis sehr<br />
gute Besserung der Rückenschmerzen und<br />
parallel dazu bei 78% ein erholsamer Schlaf<br />
erreichen (. Abb. 9).<br />
Diskussion<br />
Über 30% der westlichen Bevölkerung leiden<br />
unter einem nicht erholsamen Schlaf<br />
[1, 4, 5, 6, 7, 12, 20, 23, 27]. Nur bei einem<br />
kleinen Teil der Patienten mit Insomnie<br />
lässt sich eine spezifische schlafmedizinische<br />
Erkrankung nachweisen [6]. Besonders<br />
wenn eine Schlafstörung nicht<br />
effektiv und für den Betroffenen nicht befriedigend<br />
behandelt werden kann, muss<br />
das bisherige Therapiekonzept überdacht<br />
und durch weitere bislang kaum berücksichtigte<br />
Kausalitäten und Therapieformen<br />
ergänzt werden. Hierbei ist besonders auf<br />
funktionelle, chronische Wirbelsäulenbeschwerden<br />
wie Rücken-, Hüft-, Nacken-,<br />
und Kopfschmerzen zu achten.<br />
348 | Manuelle Medizin 5 · 2010
Eine Studie von Tang et al. [25] aus dem<br />
Jahr 2007 zeigt, dass eine direkte Korrelation<br />
zwischen chronischen Schmerzen<br />
und Insomnie angenommen werden muss<br />
und dass ein signifikanter Unterschied der<br />
Schlafstruktur gegenüber schmerzfreien<br />
Patienten nachgewiesen werden kann. Die<br />
Autoren untersuchten 70 Patienten mit<br />
chronischen Rückenschmerzen, von denen<br />
53% über Schlafstörungen klagten –<br />
eine Größenordnung, die mit den Zahlen<br />
der vorliegenden Studie vergleichbar ist.<br />
Die Patientengruppe von Tang et al. war<br />
stationär in einer speziellen Schmerzklinik<br />
behandelt worden. Nur 3% der schmerzfreien<br />
Probanden einer Kontrollgruppe gaben<br />
Schlafstörungen an [25].<br />
> 50 % der Patienten<br />
mit chronischen Schmerzen<br />
leiden unter Schlafstörungen<br />
Taylor et al. [26] untersuchten im gleichen<br />
Jahr in einer retrospektiven Querschnittstudie<br />
die Komorbidität von Insomnie mit<br />
gesundheitlichen Problemen an 772 erwachsenen<br />
Männern und Frauen. Die Ergebnisse<br />
zeigen deutlich, dass Menschen<br />
mit chronischer Insomnie zusätzlich über<br />
multiple gesundheitliche Probleme klagten.<br />
Umgekehrt litten Menschen mit multiplen<br />
gesundheitlichen Problemen deutlich<br />
häufiger an Schlafstörungen als Menschen<br />
ohne die se Probleme. So litten 48,6%<br />
der chronischen Schmerzpatienten unter<br />
Insomnie. Eine ähnliche Häufigkeit wird<br />
in der Arbeit von Tang angegeben. Demgegenüber<br />
hatten hier nur 17,2% der Studienteilnehmer<br />
ohne Schmerzsymptomatik<br />
Schlafstörungen [25]. Diese Angaben bestätigen<br />
unsere Beobachtung, dass ca. 50%<br />
der Patienten mit chronischen Schmerzen<br />
unter Schlafstörungen leiden.<br />
Eine CMD wurde bei chronischen<br />
Schlafstörungen bislang nur selten in<br />
die diagnostischen und therapeutischen<br />
Überlegungen einbezogen. Da das klinische<br />
Bild der CMD vor allem durch eine<br />
intensive Schmerzsymptomatik nicht<br />
nur im Kiefer- und Gesichtsbereich, sondern<br />
sehr häufig auch im gesamten Wirbelsäulenbereich<br />
geprägt ist, kann schon<br />
theoretisch bei den betroffenen Patienten<br />
eine Insomnie erwartet werden.<br />
Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung<br />
weisen darauf hin, dass nach<br />
Abb. 6 8 Bissnahme (a) und Einschleifen der Aufbissschiene in physiologisch gerader Haltung im<br />
Stehen (b) oder Sitzen (c)<br />
Einbeziehung der CMD in die Behandlung<br />
das Schmerzgeschehen zu einem<br />
wesentlichen Teil positiv beeinflusst und<br />
bei 78% der Patienten wieder ein subjektiv<br />
erholsamer Schlaf erreicht werden konnte<br />
(. Abb. 8, 9). Andere Autoren verzeichnen<br />
ähnliche Befunde und Ergebnisse bei<br />
der neuromuskulären Behandlung von<br />
Patienten mit CMD [3, 13, 14]. Chronische<br />
Schmerzen und schlechter Schlaf sind untrennbar<br />
miteinander verbunden [25, 26].<br />
Gelingt es, die häufig vielfältigen Ursachen<br />
der Schmerzen zu erkennen, ist eine<br />
kausale Behandlung möglich. Mit ihr lassen<br />
sich meist eine Verminderung der Beschwerden<br />
und eine Besserung des Schlafs<br />
erreichen. Unspezifische Schmerzgeschehen<br />
können so in spezifische, kausal erklärbare<br />
überführt werden.<br />
Die vorliegende Studie macht deutlich,<br />
dass bei Patienten mit einer Schmerzsymptomatik<br />
und Schlafstörung alleinige<br />
manualtherapeutischen Maßnahmen keine<br />
Besserung der Beschwerden und des<br />
Schlafs herbeiführen konnten. Erst mit einer<br />
kausalen kombinierten und zeitgleichen<br />
Therapie der funktionellen Kopfgelenkblockierung<br />
und der Kieferfehlstellungen<br />
war eine Besserung des körperlichen<br />
Beschwerdebilds und damit<br />
Manuelle Medizin 5 · 2010 |<br />
349
Übersichten<br />
Abb. 7 8 Überprüfung der Qualität des Bisses durch die Beinlänge (a), kinesiologische Testungen (b)<br />
und Hüftabduktion (c)<br />
Anzahl der Patienten<br />
300<br />
250<br />
200<br />
150<br />
100<br />
50<br />
0<br />
100% 99%<br />
alle<br />
Schlechtschläfer<br />
mit chron.<br />
Schmerzen<br />
vor kombinierter Therapie<br />
82%<br />
gute bis sehr<br />
gute Besserung<br />
der Schmerzen<br />
78%<br />
Schlaf wieder<br />
erholsam<br />
nach kombinierter Therapie<br />
Abb. 8 8 Korrelation chronischer Schmerzen (Summe aller Beschwerden aus . Tab. 3) und nicht erholsamer<br />
Schlaf. Besserung der Beschwerden und des Schlafs durch die kombinierte und zeitgleiche<br />
Therapie der CMD/CCD<br />
auch des Schlafs zu verzeichnen. Umgekehrt<br />
ist auch sehr oft durch eine alleinige<br />
zahnärztliche Behandlung der CMD ohne<br />
gleichzeitige Behandlung der Kopfgelenksstörung<br />
kein allseits befriedigendes<br />
Ergebnis zu erhalten. Dass die Behandlung<br />
nur eines Systems, sei es das Kopfgelenk,<br />
sei es das Kiefergelenk, nicht das gesamte<br />
Beschwerdebild anhaltend bessern<br />
kann, ist nur unter Berücksichtigung der<br />
engen Verflechtung von Kiefer- und Kopfgelenk<br />
zu verstehen [10, 24, 28].<br />
Die kraniomandibuläre Region bildet<br />
mit der kraniozervikalen Region eine<br />
kybernetische und damit auch nosologische<br />
Einheit. Es muss nicht nur eine<br />
gemeinsame, zentral koordinierte Bewegungssteuerung<br />
angenommen werden, es<br />
bestehen auch peripher direkte und indirekte<br />
neurale Verbindungen zwischen<br />
Kiefer- und Kopfgelenk [10]. Dieser Bereich<br />
stellt den Schnittpunkt zwischen<br />
Medizin und Zahnmedizin dar und muss<br />
von beiden Seiten gleichermaßen Beachtung<br />
finden [10]. Aufgrund neurophysiologischer<br />
und muskulärer Verknüpfungen<br />
ist eine funktionelle Störung der Kiefergelenke<br />
kaum von einer funktionellen Störung<br />
der HWS abgrenzbar [10]. Wird<br />
darüber hinaus berücksichtigt, dass einerseits<br />
im Bereich der oberen HWS motorische,<br />
sensorische und vegetative Körperfunktionen<br />
gesteuert werden und andererseits<br />
eine Kieferfehlstellung (CMD)<br />
regelmäßig eine funktionelle HWS-Störung<br />
(CCD) verursacht [10], ist leicht<br />
nachzuvollziehen, dass eine nichtbehandelte<br />
CMD die gesamte Körperregulation<br />
stören kann. So entwickeln sich therapieresistente<br />
Beschwerdebilder, die ursächlich<br />
nicht mit einer CMD in Zusammenhang<br />
gebracht werden würden. Und eine<br />
CMD wiederum kann sekundär zu ausgeprägten<br />
schmerzbedingten Schlafstörungen<br />
führen [3, 13, 18, 26]. Hierzu schreiben<br />
Kareset al. [14]: „Wegen des oft unspezifischen<br />
klinischen Erscheinungsbilds wurde<br />
die CMD in den USA einmal ‚the big imposter‘<br />
genannt, ‚der große Betrüger’. Denn<br />
nicht selten äußert sich die CMD durch irreführende<br />
Symptome, die dann auch allzu<br />
oft nur symptomatisch behandelt werden,<br />
wie mit Schmerzmittel gegen Kopfschmerzen,<br />
während die eigentliche Ursache<br />
unbekannt bleibt.“<br />
350 | Manuelle Medizin 5 · 2010
Im Hinblick darauf, dass bei fast 90%<br />
der Patienten mit Rückenschmerzen die<br />
Ursache nicht gefunden wird, sollten die<br />
Therapieempfehlungen der einschlägigen<br />
Schmerzgesellschaften kritisch betrachtet<br />
werden (. Abb. 10). Wenn sich diese interdisziplinären<br />
Therapieempfehlungen<br />
auf Physio- und Psychotherapie beschränken,<br />
bleibt nicht nur das Kiefergelenk unberücksichtigt,<br />
sondern auch viele ganzheitliche<br />
und bewährte Therapieformen<br />
finden keine Beachtung. Die vorliegende<br />
Studie zeigt, dass einem Großteil der bislang<br />
therapieresistenten Schlechtschläfer<br />
geholfen werden konnte. Aber 22% der<br />
Patienten gaben an, das Beschwerdebild<br />
und der Schlaf hätten sich nach wie vor<br />
nicht gebessert. Wenn wir es schaffen, unseren<br />
Blickwinkel kollegial und interdisziplinär<br />
zu erweitern können wir diesem<br />
„Rest“ der Nonresponder vielleicht auch<br />
noch helfen. Daran sollten wir arbeiten.<br />
> Eine nichtbehandelte<br />
CMD kann die gesamte<br />
Körperregulation stören<br />
Tab. 2 Schmerzlokalisation, aufgegliedert in die Zahl der Körperquadranten,<br />
bei 283 Patienten mit Insomnie<br />
Schmerzlokalisation Anzahl der Patienten (n) Anzahl der Patienten (%)<br />
In 1 Körperquadranten 9 3<br />
In 2 Körperquadranten 92 33<br />
In 3 Körperquadranten 43 15<br />
In 4 Körperquadranten 139 49<br />
Tab. 3 Schmerzsymptome bei 283 Patienten mit Insomnie und ihre Besserung<br />
durch die kombinierte und zeitgleiche Behandlung der CMD/CCD<br />
Schmerz-/Beschwerdesymptome<br />
Anzahl der<br />
Patienten (n)<br />
Anzahl der<br />
Patienten (%)<br />
Anzahl<br />
Besserung<br />
(n)<br />
Körperschmerzen insgesamt 283 99 234 83<br />
Nackenschmerzen 263 92 214 81<br />
Rückenschmerzen 218 77 174 80<br />
Hüftschmerzen 109 38 86 79<br />
Knieschmerzen 100 54 82 82<br />
Kopfschmerzen 205 72 166 81<br />
Beschwerden im Kieferbereich 241 85 213 88<br />
Knirschen, Pressen 170 60 137 81<br />
Tinnitus 138 48 73 53<br />
Otalgie 120 42 90 75<br />
Schwindel 135 47 115 85<br />
Anzahl<br />
Besserung<br />
(%)<br />
Ein wichtiger Aspekt im Rahmen der Behandlung<br />
der Schlafapnoe sollte erwähnt<br />
und beachtet werden. Wenn sich trotz erfolgreicher<br />
Therapie einer obstruktiven<br />
Schlafapnoe die Schlafarchitektur und<br />
Schlafqualität klinisch nicht eindeutig<br />
verbessern, muss eine funktionelle Wirbelsäulenstörung<br />
mit der dadurch verursachten<br />
Schmerzsymptomatik ausgeschlossen<br />
werden. Gegebenenfalls muss<br />
bei derartigen Schlafstörungen eine Mitbehandlung<br />
der funktionellen Kopfgelenk-<br />
und Kiefergelenkstörungen erfolgen.<br />
In diesen Fällen sollte eine Zusammenarbeit<br />
mit einem neuromuskulär orientierten<br />
Zahnarzt und einem erfahrenen<br />
Manualtherapeuten angestrebt werden [8,<br />
9, 22, 24].<br />
Wünschenswert wären weitere Studien<br />
auf diesem Gebiet. Taylor et al. [26]<br />
regten schon 2007 an, die Auswirkungen<br />
einer erfolgreichen Schmerztherapie auf<br />
das Schlafverhalten zu untersuchen. Bisherige<br />
Studien [3, 13, 17], auch die vorliegende,<br />
können sich „nur“ auf die Befragung<br />
der Patienten stützen. Hier wären<br />
polysomnographische Untersuchungen<br />
zur Objektivierung des Schlafverhaltens<br />
und der Schlafarchitektur hilfreich.<br />
Fazit<br />
Chronische Schmerzen und schlechter<br />
Schlaf sind untrennbar miteinander verbunden.<br />
Bei einem Großteil der allein mit Manualtherapie<br />
nicht beeinflussbaren Patienten<br />
mit Insomnie war erst die Kombination<br />
mit einer kausalen und zeitgleichen Therapie<br />
der funktionellen Kopfgelenkblockierung<br />
und Kieferfehlstellungen erfolgreich.<br />
Gelingt es, die häufig vielfältigen Ursachen<br />
der Schmerzen zu erkennen, ist eine<br />
kausale Behandlung möglich und<br />
meist auch eine Besserung der Beschwerden<br />
und des Schlafs zu erreichen. Dazu<br />
ist es notwendig, den Blickwinkel kollegial<br />
und interdisziplinär zu erweitern.<br />
Die Therapieempfehlungen der einschlägigen<br />
Schmerzgesellschaften sind kritisch<br />
zu betrachten.<br />
Korrespondenzadresse<br />
<strong>Dr</strong>. B. <strong>Losert</strong>-<strong>Bruggner</strong><br />
Privatzahnärztliche Praxis für<br />
kraniomandibuläre Orthopädie<br />
Lorscher Str. 2,<br />
68623 Lampertheim-Hüttenfeld<br />
<strong>Brigitte</strong>@losert-bruggner.de<br />
Interessenkonflikt. Die korrespondierende Autorin<br />
erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.<br />
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Chronische Schmerzen. Heft 7<br />
Manuelle Medizin 5 · 2010 |<br />
351
Übersichten<br />
Anzahl der Patienten<br />
250<br />
200<br />
150<br />
100<br />
50<br />
0<br />
100%<br />
Patienten<br />
mit<br />
chron.<br />
unspez.<br />
Rückenschmerzen<br />
und<br />
chron.<br />
Insomnie<br />
vor kombinierter<br />
Therapie<br />
80% 78%<br />
Besserung<br />
Rückenschmerzen<br />
nach kombinierter Therapie<br />
Schlaf<br />
wieder<br />
erholsam<br />
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Abb. 9 8 Korrelation chronischer unspezifischer Rückenschmerzen und nicht erholsamen Schlaf. Besserung<br />
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Abb. 10 9 Therapieempfehlungen<br />
nichtspezifischer<br />
Rückenschmerzen<br />
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352 | Manuelle Medizin 5 · 2010