pdf: Prof. Dr. Friedhelm Schilling Expertise zur Frage
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PHILIPPS-UNIVERSITÄT MARBURG<br />
FACHBEREICH ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN<br />
INSTITUT FÜR SPORTWISSENSCHAFT UND MOTOLOGIE<br />
- <strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Friedhelm</strong> <strong>Schilling</strong>, em. -<br />
Institut für Sportwissenschaft und Motologie der Philipps-Universität<br />
- Studiengang Motologie - Barfüßerstraße 1, 35032 Marburg<br />
Tel: 06423 2233<br />
Fax: 06421 926002<br />
E-Mail:<br />
schillif@staff.uni-marburg.de<br />
Marburg, den 10.06.2009<br />
<strong>Expertise</strong><br />
<strong>zur</strong> <strong>Frage</strong> des Aufsteigens aufs Fahrrad und Absteigens vom Fahrrad<br />
in der Verkehrserziehung von Schülern der 3.und 4. Klasse<br />
Ausgangspunkt unserer Überlegungen<br />
ist die in vielen Bundesländern verbreitete<br />
Ausbildungspraxis im Rahmen der<br />
schulischen Radfahrausbildung in<br />
Bezug auf das Auf- und Absteigen von<br />
der rechten Seite.<br />
Zur Veranschaulichung dient das<br />
nebenstehende Beispiel aus einem<br />
traditionellen Lehrbuch: Der Radfahrer im<br />
weißen T-Shirt steigt erst auf, wenn<br />
keine Gefahr droht – dagegen achtet der<br />
Radfahrer mit dem roten T-Shirt nicht auf<br />
den Verkehr, er will offenbar von links<br />
aufsteigen.<br />
Durch diese suggestive Darstellung wird<br />
jedem klar, dass „Aufsteigen immer von<br />
rechts – der Sicherheit wegen“ die einzig<br />
richtige und sichere Art ist, im Straßenverkehr<br />
auf das Fahrrad auf- und abzusteigen.<br />
Weiter heißt es beim Absteigen<br />
vom Fahrrad nach rechts, „das solltest<br />
du üben, damit du es bei Gefahr automatisch<br />
richtig machst.“
Seit etwa 40 Jahren haben wir uns mit Problemen der Lateralität (Händigkeit, Seitigkeit,<br />
visuelle und akustische Dominanz), insbesondere mit der Lateralitätsentwicklung von<br />
Kindern und Jugendlichen beschäftigt. Zu diesen Themen liegen von mir zahlreiche<br />
Veröffentlichungen und seit 5/2009 das Testverfahren PTK-LDT (Punktiertest für Kinder<br />
und Leistungs-Dominanz-Test) vor.<br />
Zunächst ist festzustellen, dass die Mehrzahl der rechtshändigen Kinder von links auf das<br />
Fahrrad auf- und absteigen und die Mehrzahl der Linkshänder von rechts auf das Fahrrad<br />
auf- und absteigen. Dies wird vielfach bis ins Erwachsenenalter beibehalten.<br />
Warum ist das so? Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Lateralitätsentwicklung<br />
sich am deutlichsten bei der Händigkeit manifestiert und dies sehr deutlich<br />
durch den Schreiblernprozess. Im dritten und vierten Schuljahr liegt im Durchschnitt aller<br />
Schüler die Rechtsleistung der Hände bei 74% der Gesamtleistung beider Hände in der<br />
graphomotorischen Leistung. Damit sind nahezu alle Schüler auf rechts oder links festgelegt.<br />
Was bedeutet nun diese Festlegung für den Alltag dieser Schüler? Beim Rechtshänder ist<br />
die rechte Hand die Führungshand und die linke Hand die Hilfshand, alle komplizierten und<br />
genauen Bewegungen werden mit der leistungsfähigeren und subjektiv besseren Hand<br />
ausgeführt. Durch diese Festlegung hat der Rechtshänder subjektiv das Gefühl, er könne<br />
mit der linken Hand gar nichts. Für den Rechtshänder ist links ungewohnt, fast unangenehm,<br />
wenn er z.B. gezwungen wird mit der linken Hand Kartoffeln zu schälen oder sich<br />
die Nägel zu schneiden.<br />
Nach unseren Ergebnissen wird aufgrund dieser Sachlage der Rechtsraum von den<br />
Rechtshändern als sicher erlebt, der Linksraum als eher unsicher. Der Rechtshänder<br />
operiert deutlich sicherer im Rechtsraum mit der rechten Hand sowie der Linkshänder<br />
umgekehrt.<br />
Zurück zum Auf- und Absteigen beim Fahrradfahren:<br />
Der Rechtshänder erlebt den Rechtsraum als sicher, er führt daher das Fahrrad rechts von<br />
sich mit der geschickten rechten Hand und steigt daher auch von der linken Seite auf und<br />
ab – wie der Junge mit dem roten T-Shirt auf dem Beispielbild. Für den Linkshänder gilt<br />
das Umgekehrte, er hält das Rad links von sich und steigt mit dem linken Bein auf das<br />
Fahrrad. Der rechtshändige Schüler hält das Rad rechts, steht mit dem linken Fuß auf dem<br />
Boden und schwingt das rechte Bein über den Sattel auf das Pedal, um mit dem rechten<br />
Bein kräftig anzutreten. Beim Auf- und Absteigen von der subjektiv „falschen Seite“ ist die<br />
Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren außerordentlich hoch und führt damit zu einer nicht<br />
notwendigen zusätzlichen Verkehrsgefährdung. Übrigens wird auch auf das Pferd und das<br />
Motorrad in aller Regel von links aufgestiegen.
Beurteilung:<br />
Schüler des 3. und 4. Schuljahrs sind in Ihrer Seitigkeit festgelegt. Der Linkshänder<br />
steigt in aller Regel von der rechten Seite aufs Fahrrad, der Rechtshänder von der<br />
für den Straßenverkehr vermeintlich weniger vorteilhaften linken Seite.<br />
Würde man aber den Rechtshänder zwingen auch von der rechten Seite auf das Rad<br />
auf- und abzusteigen, so hieße dies den Teufel mit Belzebub auszutreiben, weil der<br />
Schüler dadurch zu seiner unsicheren, nicht bevorzugten Seite gezwungen würde,<br />
eher das Gleichgewicht verliert und damit deutlich mehr im Straßenverkehr gefährdet<br />
wäre. Das Fahrrad könnte leicht nach links in den Verkehr umfallen und den<br />
Schüler erheblich gefährden. Es mag sein, dass manche Schüler, die nicht so sehr<br />
auf eine Seite festgelegt sind wie zum Beispiel die mit beiden Händen gleich geschickten<br />
sog. Ambidexter, auf die andere Seite umlernen können, aber dies sind<br />
sicher nur wenige.<br />
Meine Empfehlung:<br />
Lassen sie den Schüler selbst entscheiden, von welcher Seite er sicher und<br />
angenehm auf sein Fahrrad auf- und absteigen möchten. Lassen Sie ihn durchaus<br />
probieren von rechts aufzusteigen, weil dies für den Straßenverkehr theoretisch<br />
vorteilhafter wäre. Fühlt sich der Schüler dabei unsicher oder ist für ihn das Führen<br />
des Rades von dieser Seite ungewohnt und ungenehm, dann lassen sie die Finger<br />
davon, den Schüler auf die andere Seite umgewöhnen zu wollen. Die Zeiten sind ja<br />
„Gott sei Dank“ auch Vergangenheit, in der der Linkshänder gezwungen wurde, mit<br />
der rechten Hand das Schreiben zu erlernen.<br />
Machen Sie nicht den gleichen Fehler bei der Verkehrserziehung für jugendliche<br />
Radfahrer. Die vermeintliche theoretisch für den Straßenverkehr sichere rechte Seite<br />
kann für viele Jugendliche <strong>zur</strong> tatsächlich unsicheren Seite werden. Der Schüler<br />
sollte nach einigen Versuchen mit rechts und links selbst entscheiden, welche Seite<br />
für ihn die sichere ist.<br />
<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. phil., med. habil. <strong>Friedhelm</strong> <strong>Schilling</strong><br />
Goethestrasse 56<br />
35083 Wetter/Hessen<br />
E-mail: friedhelm.schilling@arcor.de