Area 7 Programmheft - Christoph Schlingensief

Das letzte aller Kultopfer: Die Langeweile
Sobald Nationen »erzogen« werden sollen und ihre großen
Besitztümer ihnen in Kultformen präsent gehalten werden, beginnt
die Langeweile zu grassieren – und mit ihr die Pflicht, sie zu ertragen.
Das Maß der Unerträglichkeit verbindet sich immer wieder mit der
uralten rituellen Vermutung, das Heilig-Übergroße verrate sich als
eben das Unerträgliche. Zugleich damit: es aushalten zu können,
bestätigt dem, der es übersteht, seine Auszeichnung in der Aura
des Heiligtums. Die Weihekultspiellangeweile wird zur
Institution, durch die »die Besten« hindurchgehen, um festzustellen
und erkennbar zu machen, daß sie es sind.
Kaum war das Reich von Versailles gegründet, als der Bedarf
manifest wurde, auch und gerade im neuen Kult der Kunst
Kondensationskerne der einigen Bewußtseinsbildung zu finden.
David Friedrich Strauß hatte die Trias »Nathan«, »Faust«,
»Iphigenie« vorgeschlagen. Der Theaterkritiker Fontane,
gelangweilt in einer Realisation eben jener »Iphigenie« im
Berliner Königlichen Schauspiel am 9. Mai 1874, reagierte auf die
Idee des eben dahingegangenen Strauß mit einem lässigen
Meinetwegen. Dem ein ebenso bestimmtes Aber folgte: ... wenn es
geschehen soll, so muß der Apparat, der uns diese Dinge vorführt,
ein anderer werden. Hatte er übersehen, daß die Langeweile,
unter der die Menschheit nicht weniger als unter Hunger gelitten
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Namibia, Oktober 2005
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