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Aprather Einblicke Nr. 07 / 2009 - Bergische Diakonie Aprath

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<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong><br />

Aus der Praxis für die Praxis <strong>Nr</strong>. 7/<strong>2009</strong><br />

Beim Projekt „KIDS&CLIPS“ produzieren Kinder einen Trickfilm:<br />

ausführlicher Beitrag auf Seite 4


Inhalt<br />

Seite<br />

Editorial von Wolfgang Jittler…………………………………………………………..…..3<br />

KIDS&CLIPS<br />

Ein Projekt der Förderschule der <strong>Bergische</strong>n <strong>Diakonie</strong><br />

von Wolfgang Scheller…………………………………………………………………….....4<br />

Kriegsfolgen –<br />

Ein mehrgenerationales Thema<br />

von Dagmar Lohmann………………………………………………………………………10<br />

Tagungen<br />

von Dagmar Lohmann………………………………………………………...……………16<br />

Buchbesprechung:<br />

Bindungsstörungen: Karl Heinz Brisch<br />

von Dr. Thomas Blech…………………………………………………..…………………18<br />

Des Kaisers neue Wörter<br />

von Susanne Rienas und Hermann Schmidt-Stumme.………………………………..……20<br />

Glossar: Kompetenz<br />

von Dr. Thomas Blech…………………………………………………………………..…24<br />

Aus der Wissenschaft<br />

von Sabine Kall…………………………………………………………………..…………26<br />

Von den Kindern lernen<br />

von Wolfgang Jittler………………………………………………………………..………28<br />

Impressum…………………………………………………………………………..……31<br />

Ihr Ansprechpartner für weitere Informationen, Anregungen und Kritik:<br />

Wolfgang Jittler<br />

Flexible Erziehungshilfe<br />

Telefon (0175) 9 30 65 73<br />

Email: flexw@bergische-diakonie.de<br />

2


Editorial<br />

Endlich ist unsere <strong>Nr</strong>.7 fertig!<br />

Eine runde Nummer mit interessanten Beiträgen.<br />

Manche unserer Leserinnen und Leser hatten im Sommer schon vorsichtig<br />

nachgefragt, ob man überhaupt noch mit einer neuen Nummer der „<strong><strong>Aprath</strong>er</strong><br />

<strong>Einblicke</strong>“ rechnen könne - es wäre nicht das erste Mal, dass einer schwungvoll<br />

begonnenen Initiative in <strong>Aprath</strong> nach ein paar Jahren die Luft ausgeht.<br />

Wir hatten einige Veränderungen im Redaktionsteam zu verkraften. Als erstes<br />

wechselte Herr Blech vom Berufskolleg der BDA zum Berufskolleg in Opladen<br />

und spart so die langen Fahrzeiten nach Wuppertal, da er nur wenige Kilometer<br />

von Opladen entfernt wohnt. Wir können aber trotzdem in Zukunft mit<br />

Beiträgen von Herrn Blech rechnen; so enthält die Nummer 7 eine Rezension<br />

von ihm über das in Fachkreisen hoch gelobte Fachbuch von Professor Brisch<br />

über Bindungsstörungen.<br />

Die zweite Veränderung betrifft Dagmar Lohmann: sie wechselte vom HPZ in<br />

die HTT <strong>Aprath</strong> und übernahm die Leitung der „Bärenhöhle“.<br />

Und drittens gab ich zum Sommer 09 nach 16 Jahren die Leitung der Beratungsstelle<br />

für Eltern, Kinder u. Jugendliche in Wülfrath und Heiligenhaus ab, um<br />

mich in den letzten 18 Monaten meiner beruflichen Tätigkeit auf fachliche<br />

Aufträge zu konzentrieren. Diese Veränderungen beeinträchtigten natürlich<br />

unsere Redaktionsarbeit, doch unsere <strong><strong>Aprath</strong>er</strong> Fachzeitschrift lebt und wächst.<br />

In unserer neuen Nummer begrüßen wir drei neue Autorinnen und Autoren:<br />

Wolfgang Scheller, „alter Hase“ an unserer Förderschule, stellt sein Projekt<br />

„Kids & Clips – Kinder machen Video“ vor. Hier wird ganzheitliche Pädagogik<br />

lebendig: Die Kinder arbeiten begeistert mit einem Medium, das „cool“ ist und<br />

lernen so fast wie nebenbei.<br />

Susanne Rienas und Hermann Schmidt-Stumme trauen sich mit ihrem Beitrag<br />

„Des Kaisers neue Wörter“ in den Grenzbereich zwischen Satire und<br />

Fachlichkeit. Hätte der Kaiser im Beitrag unserer Förderschulkollegen eine gute<br />

Qualitätssicherung gehabt, dann wäre das Malheur mit den beiden fremden<br />

Beratern nicht passiert. Kritiker brauchen Kritiker und Qualitätssicherung<br />

braucht Qualitätssicherung.<br />

Unser dritter Hauptbeitrag stammt aus der Feder von Dagmar Lohmann: Viele<br />

kindliche Symptome, denen wir in unserer alltäglichen Praxis begegnen, werden<br />

in ihrer Sinnhaftigkeit erst über drei oder vier Generationen verständlich;<br />

familientherapeutisch nennt man diesen Ansatz die „Mehrgenerationen-<br />

Perspektive“. Dagmar Lohmann untersucht in ihrem Artikel speziell die Folgen<br />

des 2. Weltkrieges für Familien bis in die zweite und dritte Generation.<br />

Wolfgang Jittler<br />

Flexible Erziehungshilfe<br />

3


KIDS&CLIPS…<br />

…ist ein Projekt der Förderschule der <strong>Bergische</strong>n <strong>Diakonie</strong> <strong>Aprath</strong> und ist<br />

eng mit meiner Person verbunden.<br />

Als ich 1994 als Lehrer nach <strong>Aprath</strong> kam, hatte ich schon 20 Jahre als Lehrer an<br />

zwei Wuppertaler Hauptschulen gearbeitet und an der zweiten Schule<br />

(Hauptschule Oberbarmen, Hügelstraße) bereits Videoarbeit in verschiedenen<br />

Projekten angeboten.<br />

Schon als Kind und Jugendlicher habe ich hobbymäßig fotografiert, als junger<br />

Erwachsener eine Zeit lang Schwarzweißfotografie mit eigener Dunkelkammer<br />

intensiv betrieben, der Sprung zu den bewegten Bildern allerdings kam ganz<br />

spontan und zufällig: Eine Kollegin, die sich zu einer Fortbildungsveranstaltung<br />

„Einführung in die Videoschnitttechnik“ angemeldet hatte, erkrankte, und ich<br />

hatte das Glück, den freigewordenen Platz besetzen zu dürfen. Der Einblick in<br />

die Möglichkeiten der Schnitttechnik, den ich an diesen zwei Fortbildungsnachmittagen<br />

bekommen habe, hat mir einen ungeheuren Kick gegeben und<br />

mich bis heute nicht mehr los gelassen: analog aufgenommenes Videomaterial<br />

beliebig zu schneiden, neu anzuordnen, mit Übergängen zu versehen, mit Filtern<br />

zu verfremden, mit eigenem Ton oder Musik zu unterlegen, ... die<br />

Möglichkeiten schienen schier unendlich... Dabei fand die eigentliche<br />

Revolution erst Jahre später mit der Verfügbarkeit immer leistungsstärker<br />

werdender Heimcomputersysteme statt. Bis dahin musste ich, um einen Film<br />

schneiden zu können, mich für einen der beiden Schnittplätze im Wuppertaler<br />

Medienzentrum anmelden und hatte mit Wartezeiten bis zu sechs Wochen zu<br />

rechnen.<br />

Die Ausrüstung für den digitalen Videoschnitt am eigenen PC kostete noch ein<br />

kleines Vermögen (für meine erste gebrauchte 8 GB große videoschnitttaugliche<br />

Festplatte habe ich knapp 1000.-DM bezahlt) und es hat mich viele Nächte des<br />

Konfigurierens und Ausprobierens und viel Verzweiflung gekostet, bis die<br />

ersten digital geschnittenen Clips auf der Festplatte gespeichert und zur<br />

Vorführung über den Videorecorder auf das Videoband zurück geschrieben<br />

waren.<br />

Die Technik entwickelte sich rasant weiter, wurde preisgünstiger und durch die<br />

immer breiter werdende Verfügbarkeit des Internet wurde auch der Austausch<br />

mit Gleichgesinnten leichter, so dass man mehr Zeit für kreative Arbeit<br />

investieren konnte denn in technische Basteleien.<br />

Nachdem ich 1994 zur Förderschule gewechselt war und meine ersten<br />

sonderpädagogischen Erfahrungen im systemischen Setting der Tagesgruppe<br />

Bärenhöhle sammeln konnte, hatte ich eine Menge technisches Know-how in<br />

Bezug auf Videotechnik, eine Menge Ideen und viel Motivation sowie eine<br />

umfangreiche Hardwareausstattung.<br />

4


Was nun hinzu kam, war die Crew: Es ergab sich aufgrund der<br />

Organisationsstruktur der Tagesgruppenarbeit für mich die Möglichkeit, all<br />

meine videospezifischen Ressourcen für meine Arbeit, d.h. für die Kinder und<br />

Jugendlichen, einzusetzen:<br />

Die zehn Kinder, für deren schulische Förderung ich als Klassenlehrer zuständig<br />

bin, sind während des Schulvormittags nicht allein in meiner Obhut, sondern es<br />

gibt eine zweite Lehrerin bzw. einen zweiten Lehrer und darüber hinaus im<br />

Gruppenhintergrund eine Heil- bzw. Sozialpädagogin, die bei besonders<br />

personalintensiven Situationen unterstützend mitwirkt.<br />

So ergibt sich in der schulischen Arbeit der heilpädagogisch-therapeutischen<br />

Tagesgruppen <strong>Aprath</strong>s die außergewöhnliche Situation, dass man Unterricht -<br />

und eben auch ganz spezielle Unterrichtsprojekte - mit sehr kleinen<br />

Schülergruppen durchführen kann. Eine Voraussetzung, die geradezu nach<br />

einem Videoprojekt schreit!!!!<br />

Die Schüler waren von meinem Vorschlag, den Umgang mit der Videokamera<br />

zum Unterrichtsthema zu machen, hellauf begeistert, meine Kollegin und das<br />

Team ebenfalls. Ein einfacher Camcorder (MiniDV) gehörte bereits zum<br />

Medienpool der Schule. Es konnte also losgehen.<br />

Der Camcorder übt auf die Kinder/Jugendlichen eine ungeheure Faszination aus.<br />

Die meisten kennen ein solches Gerät, aber in den seltensten Fällen haben sie<br />

Erfahrung im Umgang damit.<br />

Mein Einstieg in die Videoarbeit mit Kindern ist der<br />

KAMERAFÜHRERSCHEIN gewesen.<br />

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o<br />

Stativ aufbauen<br />

Camcorder aus der Tasche holen<br />

Camcorder auf das Stativ setzen<br />

Akku einsetzen bzw. Netzgerät anschließen<br />

MiniDV-Kassette einlegen<br />

Camcorder einschalten<br />

Display ausklappen<br />

Gewindeschrauben am Stativ lösen<br />

ein bestimmtes Objekt einfangen<br />

Objekt bildschirmfüllend (Zoom) zentrieren<br />

deutliche Ansage zur Aufnahme machen („Ruhe bitte, Aufnahme!<br />

Uuuund Action!!!“)<br />

3 Sekunden Vor- bzw. Nachlaufzeit für Schnitt beachten<br />

Aufnahme deutlich vernehmbar beenden („Aus!!!“)<br />

und natürlich in vorgegebener Reihenfolge alle Geräte abbauen und<br />

verstauen<br />

5


Das war der Einstieg - für mich manchmal etwas monoton (immer und immer<br />

wieder die gleichen Handgriffe!), für die Kinder alles andere als langweilig: für<br />

sie meist eine Herausforderung und auf jeden Fall Sicherheit gebend und<br />

schlussendlich mit der Urkunde „Kameraführerschein“ in der Hand ein erstes<br />

Erfolgserlebnis!<br />

Die ersten inhaltlichen Projekte waren diejenigen, die zum Markenzeichen<br />

wurden und letztlich KIDS&CLIPS dann auch den Namen einbrachten:<br />

Es nahmen damals viele Schüler an dem Projekt teil, denen der Umgang mit<br />

dem Werkzeug SPRACHE nicht so leicht fiel. Da ich aber zum einen<br />

anspruchsvolle Videos mit den Kindern machen wollte, zum anderen auf gar<br />

keinen Fall eine Überforderung und erst recht keine Bloßstellung passieren<br />

sollten, kam ich auf die Idee, Profis für uns sprechen zu lassen.<br />

Ein weiteres eingrenzendes Merkmal unserer Kinder – damals wie heute – ist<br />

die häufig fehlende Bereitschaft zum Bedürfnisaufschub. Wochenlange<br />

Planungs-, Vorbereitungs-, Durchführungs- und Überarbeitungsphasen durften<br />

nicht sein – es musste schnell gehen!!!<br />

Was mir in den Sinn kam, waren RADIOWERBESPOTS. Alle sind kurz (max.<br />

30 Sekunden lang), manche erzählen kleine Geschichten, in denen das<br />

beworbene Produkt noch gar nicht benannt wird, einige sind witzig, die meisten<br />

haben professionelle Sprecher.<br />

Nach solchen Werbespots suchte ich also im Radio, nahm sie auf (um<br />

Urheberrechte kümmerte ich mich damals noch nicht; zum einen war das Thema<br />

noch nicht so allgegenwärtig und außerdem gingen wir mit unseren Filmchen<br />

auch überhaupt noch nicht an die Öffentlichkeit) und ließ die Kinder unter<br />

Beibehaltung des Originaltons die Minigeschichtchen in Szene setzen und<br />

filmen.<br />

Dabei stellte sich übrigens häufig genug meine Idee der Textentlastung durch<br />

Profisprecher als Fehleinschätzung heraus: um den gewünschten Effekt zu<br />

erzielen, mussten unsere Darsteller lippensynchron mit dem vorgegebenen<br />

Sprecher agieren – ein Unterfangen, das besonders bei schnell gesprochenen<br />

Passagen weitaus schwieriger war als frei Schnauze zu sprechen! Aber der<br />

Effekt ist grandios und die Kinder hatten und haben mächtig viel Spaß daran, an<br />

der Täuschung des Zuschauers mitzuwirken, indem sie mit geliehenen Stimmen<br />

und ausgefallener Verkleidung, Schminke, Perücke und passenden Requisiten<br />

Minigeschichten erzählen.<br />

Diese Inszenierung von RadiowerbeCLIPS durch KIDS entwickelte sich<br />

während meiner Zeit in der Tagesgruppe Bärenhöhle zum Synonym für das<br />

Videoprojekt an der Förderschule.<br />

Es gab zu dieser Zeit mit besonders interessierten und engagierten Kindern und<br />

Jugendlichen auch Videoprojekte, die weit über den Anspruch der bisher<br />

skizzierten Clips (hoher Spaßfaktor, großer Unterhaltungswert) hinausgingen: in<br />

zeitlich unterschiedlichen Abständen wurden insgesamt drei Reportagen über<br />

6


Einrichtungen des Sozialtherapeutischen Verbundes der <strong>Bergische</strong>n<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Aprath</strong> produziert:<br />

Unter dem Motto „Was ist eigentlich …“ besuchten Kinder und Jugendliche<br />

der HtT Bärenhöhle mit der Videokamera bewaffnet die Bäckerei („Brote,<br />

Striezel, Torten“; 2002), die Gärtnerei („Kräuter, Kresse, Ringelblumen“;<br />

2003) sowie die Arbeitstherapie in der Hofaue in Wuppertal („Firma, Freundin<br />

und Magneten“; 2004), beobachteten genau, ließen sich von Leitern und<br />

Mitarbeitern die Einrichtungen erklären und nahmen zu den Teilnehmern der<br />

Maßnahmen Kontakt auf und unterhielten sich mit ihnen in beeindruckender Art<br />

und Weise. Herausgekommen sind dabei nicht nur drei Videofilme, auf die die<br />

Macher zu Recht sehr stolz sind, sondern auch eine Menge interessanter – zum<br />

Teil dauerhafter – Kontakte und vor allem zahlreiche Denk- und<br />

Gesprächsanstöße.<br />

Als ich 2005 in die Tagesgruppe Fuchsbau wechselte, musste ich mich auf<br />

wesentlich jüngere Kinder einstellen (8 – 12 Jahre). Es geht wesentlich<br />

wuseliger zu und die Kinder brauchen deutlich mehr Struktur, Eingrenzung,<br />

Unterstützung, Rituale, Regeln, … dafür sind sie aber auch wesentlich spiel- und<br />

experimentierfreudiger und einfacher für eine Sache zu begeistern.<br />

KIDS&CLIPS – die wöchentliche Doppelstunde „Videoprojekt“ ist im<br />

Stundenplan der HtT Fuchsbau fest verankert und die Kinder freuen sich<br />

regelmäßig darauf.<br />

Die Ziele, Inhalte und Methoden sind inzwischen so vielfältig, dass eine<br />

Auflistung wenig Sinn macht. Im Prinzip ist der Ablauf eines Projektes<br />

idealtypisch aber durch folgende Schritte gekennzeichnet:<br />

o<br />

o<br />

o<br />

eine kleine Gruppe (meist eine Hälfte der Klasse, also 5 bis 6 Kinder) von<br />

Schülerinnen und Schülern verständigt sich auf ein Ziel. Das wird in der<br />

Regel ein präsentabler Videoclip sein, kann aber auch ein Experiment, ein<br />

Training, o.ä. sein, das nicht zur Präsentation vorgesehen ist<br />

die Gruppe legt einen groben Zeitplan für die nächste und vielleicht<br />

übernächste Doppelstunde fest. Ein „Routineprojekt“ wie z. B. ein<br />

Radiowerbeclip benötigt in der Regel nicht mehr als zwei bis drei<br />

Doppelstunden, andere Projekte erfordern manchmal einen sehr viel<br />

größeren Zeitrahmen, der von den Kindern – ohne die intensive Hilfe des<br />

Lehrers - gar nicht mehr zu überschauen ist<br />

die Gruppe plant und legt fest, welche Rollen durch wen zu besetzen sind,<br />

wer die Kamera führt, wer für den Ton verantwortlich ist, wer für welche<br />

7


Requisiten bzw. Hilfsmittel zu sorgen hat, an welchen Orten gedreht<br />

wird, …<br />

o<br />

o<br />

o<br />

wenn es dann ernst wird, macht der Kameramann/die Kamerafrau<br />

Kamera und Stativ einsatzbereit, Ideen zum Ablauf werden gesammelt<br />

und diskutiert, der/die Kameraführende übernimmt die Regie und startet<br />

und leitet die Aufnahmen<br />

nach Beendigung eines Sets werden die Ergebnisse sofort am<br />

Fernsehbildschirm überprüft und bewertet, d.h. es wird entschieden,<br />

ob die eine oder andere Szene wegen etwaiger Mängel wiederholt werden<br />

muss<br />

nachdem der Lehrer das Filmmaterial geschnitten und den Film fertig<br />

gestellt hat, entscheidet die Gruppe über eine angemessene Präsentation<br />

ihres Werkes und feiert den Erfolg<br />

Speziell für Kinder, die besonderen Förderbedarf im emotionalen und<br />

sozialen Bereich haben, bietet ein solches Videoprojekt sich an:<br />

o<br />

o<br />

o<br />

o<br />

o<br />

es kann helfen, das Selbstkonzept des Kindes positiv zu verändern, weil<br />

es Kinder mächtig stolz macht („An diesem tollen Film, der so viel<br />

Begeisterung beim Publikum auslöst, habe ich wesentlich mitgearbeitet!“)<br />

es kann helfen, dass Kinder ihr Selbstbild (positiv) verändern („Diese<br />

Szene ist mir gut gelungen und zwar nicht, weil ich Glück gehabt habe,<br />

sondern weil ich geübt und mir richtig viel Mühe gegeben habe und gut<br />

geworden bin!“)<br />

es kann helfen, Kinder sensibler für die Fähigkeiten anderer Kinder<br />

werden zu lassen („Diese Szene wirkt unheimlich gut, weil XYZ das und<br />

das richtig toll gemacht hat!“)<br />

es kann helfen, Kinder toleranter gegenüber den Schwierigkeiten anderer<br />

Kinder werden zu lassen („Beschimpfungen und Verurteilungen bringen<br />

uns nicht weiter. Wir müssen nach Lösungen suchen!“)<br />

es kann helfen, Kinder teamfähiger zu machen („Ich würde zwar lieber<br />

diese oder jene Rolle übernehmen, aber die sind ja schon vergeben und<br />

dann übernehme ich eben diese Nebenrolle!“)<br />

8


o<br />

o<br />

es kann helfen, Kinder verantwortungsbewusster zu machen („Wenn ich<br />

die Akkus der Kamera heute nicht auflade, können wir morgen keine<br />

Außenaufnahmen machen!“)<br />

…<br />

Unser Repertoire hat sich in den letzten Jahren deutlich vergrößert:<br />

o<br />

o<br />

Nachdem ein Kind bei der Vorbereitung auf eine unserer Stunden – beim<br />

Aufbauen der Kamera - eine zufällig auf dem Boden herumliegende<br />

Ritterspielfigur bildschirmfüllend eingefangen hatte und bei sich und den<br />

anderen Kindern riesige Begeisterungsstürme damit auslöste, stand<br />

plötzlich die Frage unumstößlich im Raum: „Wie macht man eigentlich<br />

Trickfilme“ „Könnten wir das etwa auch schaffen“<br />

Und wir konnten!!! Und gar nicht schlecht!<br />

Unsere Experimente und ersten Filmchen kamen so gut an, dass wir im<br />

Frühjahr <strong>2009</strong> von der Filmothek der Jugend, NRW, eingeladen wurden<br />

an deren Trickboxx-Festival teilzunehmen.<br />

Ein weiterer Spross unserer KIDS&CLIPS-Familie ist der<br />

FUCHSALARM, eine Soap – nicht daily, auch nicht weekly sondern<br />

sporadisch erscheinend (inzwischen ist die dritte Folge veröffentlicht) – in<br />

der die Kinder (in Anlehnung an die großen Soaps im Fernsehen) sich<br />

selbst spielen.<br />

Genug der Worte! Wer uns wirklich kennen lernen will oder einen sinnlichen<br />

Eindruck unserer Arbeit bekommen will, der besucht uns – entweder „in echt“<br />

bei unserer Projektarbeit im Fuchsbau (nach telefonischer Absprache<br />

(0202) 27 29-298) oder virtuell auf unserer Homepage www.kidsundclips.de<br />

(über Rückmeldungen würden wir uns freuen!).<br />

Im Netz sind unsere Clips natürlich nur briefmarkengroß und in geringer<br />

Auflösung zu sehen. Für Interessierte stelle ich gerne eine DVD für den Genuss<br />

am heimischen Fernsehgerät zusammen.<br />

Wolfgang Scheller<br />

Lehrer an der Förderschule der <strong>Bergische</strong>n <strong>Diakonie</strong><br />

9


Kriegsfolgen – ein mehrgenerationales Thema<br />

Im Rahmen unserer internen HPZ-Fortbildungsreihe entschied ich mich dafür,<br />

ein Thema auszusuchen, das auf den ersten Blick wenig aktuell und wenig<br />

relevant für die Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. der Kinderund<br />

Jugendhilfe zu sein scheint.<br />

Ich entschied mich trotzdem dafür, in der festen Überzeugung, dass die Folgen<br />

des 2. Weltkrieges auch noch heute Auswirkungen auf uns alle haben, selbst auf<br />

diejenigen, die den Krieg nie erlebt haben.<br />

Dem liegt die „systemische“ These zu Grunde, dass Traumata genau wie<br />

Familienthemen und Verhaltensmuster mehrgenerational an die nachfolgenden<br />

Generationen weitergegeben werden, selbst wenn diese den Traumata nicht<br />

unmittelbar ausgesetzt waren.<br />

Die Fortbildung schlug ein „wie eine Bombe“ und führte dazu, dass wir uns<br />

tagelang austauschten – auch im häuslichen Umfeld - und den eigenen,<br />

persönlichen Hintergrund mal aus diesem Blickwinkel betrachteten.<br />

Ich kann allen die folgenden Bücher wärmstens empfehlen, die ich förmlich<br />

verschlungen habe und auf die ich mich im Folgenden, auch mit Zitaten,<br />

hauptsächlich beziehe:<br />

Sabine Bode: Die vergessene Generation – Die Kriegskinder<br />

brechen ihr Schweigen, Stuttgart, 2004<br />

Sabine Bode: Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation<br />

Stuttgart. <strong>2009</strong><br />

Doch nun zum Inhalt:<br />

Kriegskinder – die vergessene Generation (1930-1945 Geborene)<br />

Mit „Kriegskinder“ sind die Kinder gemeint, die z. Zt. des Krieges selbst Kinder<br />

waren und damit Opfer des Krieges wurden.<br />

Sie …<br />

…haben jahrelang oft tägliche Bombenangriffe erlebt<br />

…mussten immer wieder Zuflucht in Luftschutzkellern suchen<br />

…haben jahrelang existentiell Hunger gelitten<br />

…haben unendlich viele Tote und Verletzte gesehen<br />

…waren alltäglich extremen traumatischen Situationen ausgesetzt<br />

…waren Zeugen von Gewalt und Vergewaltigungen<br />

…haben zu Millionen ihre Heimat verloren<br />

10


…haben unendlich viele km „auf der Flucht“ zurück gelegt, gingen „verloren“<br />

…wurden ohne Bezugspersonen „verschickt“<br />

…<br />

Die Eltern der Kriegskinder waren selbst traumatisiert, überfordert und verstört,<br />

zeigten aufgrund dessen zeitweise beängstigende aggressive Verhaltensweisen.<br />

Viele Kinder wurden zu Waisen, viele Väter waren tot oder lange in<br />

Kriegsgefangenschaft.<br />

Laut Sabine Bode waren Kriegskinder auf Katastrophen geprägt, sie haben<br />

gelernt, mit Katastrophen umzugehen. Für die Kinder war es wichtig, im<br />

Überlebenskampf zu funktionieren und Gefühle von Angst und Trauer tief zu<br />

verschließen. Kriegskinder waren aufs nackte Überleben programmiert, mussten<br />

immer die Kontrolle behalten. Sie waren nicht verspielt, haben nicht gelernt, das<br />

Leben zu genießen und zu vertrauen. Stattdessen haben sie als Kinder den<br />

Eltern geholfen, den Lebensunterhalt zu verdienen, haben beispielsweise Kohlen<br />

gestohlen, Lebensmittel organisiert, oder auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Sie<br />

waren sich oft tagelang selbst überlassen. Sie wurden nicht getröstet, weil die<br />

Eltern selbst dazu nicht mehr in der Lage waren. Weder in der Kindheit noch in<br />

der Pubertät hatten sie die Möglichkeit sich unbeschwert zu entwickeln,<br />

auszuprobieren und was anderes als vernünftig zu sein.<br />

Auch im Erwachsenenalter halten sie noch oft an „unpassenden“ Gefühlen fest.<br />

Sie empfinden schnell Schuld und Scham. Sie klagen nicht, verbieten es sich.<br />

Schließlich hatten es andere oft noch schlimmer. Kriegskinder erlebten sich<br />

nicht als Opfer. Sie waren die Kinder der Täter.<br />

Sabine Bode beschreibt u.a. folgende Themen von Kriegskindern:<br />

… ein ständiges Verzichten müssen<br />

… die tägliche Übung, Schmerzen zu ertragen<br />

… ein immer mal wieder „auf die Flucht“ gehen<br />

… immer wieder von vorne anfangen zu müssen<br />

… niemals aufgeben dürfen<br />

… nicht weinen dürfen<br />

… nicht krank werden dürfen<br />

… unmögliches möglich machen<br />

… niemanden im Stich lassen dürfen<br />

… weglaufen wollen und nicht können<br />

… ein Gefühl zu haben, nicht beschützt zu werden<br />

… nicht um etwas bitten dürfen<br />

… tiefe Schuldgefühle haben, Erwartungen nicht zu erfüllen<br />

… ein Nicht-aushalten-können von Problemen<br />

… ein Ertragen von Situationen, Gefühlen und Beziehungen, die einem<br />

nicht gut tun<br />

11


… ein großes Kontrollbedürfnis über das Leben<br />

… große Verlustängste, sich nicht trennen können<br />

… nicht klagen dürfen<br />

…<br />

Die erwachsenen Kriegskinder sind schwer traumatisiert, sie leiden unter<br />

Ängsten, Depressionen und Flashbacks. Sie vermeiden bewusst Gedanken,<br />

Gefühle und Gesprächsinhalte. Sie meiden Orte, Menschen und Aktivitäten,<br />

leiden unter Erinnerungsverlust. Sie sind der Umwelt gegenüber misstrauisch,<br />

ängstlich oder feindselig. Sie ziehen sich zurück, empfinden Gefühle von Leere<br />

und Hoffnungslosigkeit. Sie sind nervös, haben ein Gefühl der ständigen<br />

Bedrohung.<br />

„Man ist nur zufällig dem Tod entgangen. Das wusste man auch als Kind, dass<br />

man nur zufällig überlebt hat.“<br />

Leistungsvermögen und Zähigkeit wurden kompensatorische Eigenschaften, die<br />

sie später auch an ihre Kinder weitergaben. Eigenschaften, mit denen die<br />

Kriegsgeneration fast 60 Jahre ausschließlich beschrieben wurde. Sie waren mit<br />

dem Wiederaufbau beschäftigt und sie trugen alles zum Wirtschaftswunder bei.<br />

„Deutsche waren Getriebene, die aus heutiger Sicht von Suchtexperten als<br />

hochgradig arbeitssüchtig bezeichnet werden oder als Junkies, die ständig unter<br />

Speed stehen.“ (S. Bode „Die vergessenen Generation - Kriegskinder brechen<br />

ihr Schweigen“)<br />

Die Kriegskinder haben fast 60 Jahre nicht über die damaligen Erlebnisse<br />

geredet. Während sich die Nachkriegsgeneration vermehrt mit ihren Eltern<br />

auseinandersetzen und sich von ihnen als „den (Mit-)tätern oft massiv<br />

abgrenzten, wurden die Kriegskinder in ihrer Not und Bedürftigkeit nicht<br />

wahrgenommen und nahezu vergessen.<br />

Die Kriegsenkel (1960-1975 Geborene)<br />

Die Kinder der vergessenen Generation<br />

Wer kennt diese Sprüche nicht<br />

… „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“<br />

… „Wem es zu gut geht, den bestraft das Leben.“<br />

… „Darüber spricht man nicht.“<br />

… „Schau nach vorne.“<br />

… „Du weißt gar nicht wie gut du es hast.“<br />

Die Kriegsenkel haben den Krieg selbst nicht erlebt, sie erleben nur noch die<br />

Nachwirkungen des Krieges. Sie wachsen mit Eltern und Großeltern auf, die<br />

erheblich traumatisiert sind und über Jahrzehnte nicht darüber reden wollten.<br />

12


Erst jetzt, im Rentenalter, tauen sie langsam auf und erzählen vermehrt von<br />

ihren Erlebnissen und die Kriegsenkel hören fassungslos zu.<br />

Viele Kriegsenkel haben Eltern, die depressiv sind, unter Angst- und<br />

Panikattacken leiden, die Zwangsstörungen oder Essstörungen zeigen oder<br />

alkoholsüchtig sind oder waren. Ohne, dass dies für die Kinder und die Eltern<br />

jemals im Zusammenhang mit den Erlebnissen des Krieges gesetzt wurde. Und<br />

damit blieb eine logische Erklärung, notwendiges Verständnis und hilfreiche<br />

Entlastung und Entschuldung aus. Im Gegenteil: Den psychisch erkrankten<br />

Menschen wurde lange wenig Verständnis und Hilfe zu teil. Welchen<br />

Unterschied hätte es für die Kriegsenkel gemacht, zu erfahren, dass ein Vater<br />

trinkt, weil er die Kriegsbilder, die Toten und Verwundeten vergessen will oder<br />

dass eine Mutter depressiv ist, weil sie der Vergewaltigung der eigenen Mutter<br />

zu sehen musste Heute würde keiner mehr in Frage stellen, dass schnelle und<br />

lang anhaltende Hilfe und Therapie erforderlich gewesen wären.<br />

Die Kinder der Kriegskinder „erleben“ den Schrecken der Eltern ohne dafür<br />

Worte zu haben. Sie ahnen, dass die Welt kein sicherer Ort ist, kein Ort zum<br />

Wohlfühlen und Geborgensein. Sie erleben ein Gefühl von Bedrohung,<br />

gleichzeitig werden angstbesetzte Empfindungen abgespalten. Sie merken, dass<br />

man ständig wachsam sein muss. Sie erleben Angst vor relativ harmlosen<br />

Dingen, aber keine Angst vor gravierenden Situationen. Sie spüren tiefe Trauer<br />

ohne selbst Trauriges erfahren zu haben.<br />

Ihre Eltern zeichnet ein extrem hohes Sicherheitsbedürfnis aus, ein Desinteresse<br />

und extremes Misstrauen an und Veränderung gegenüber. Sie sind damit<br />

beschäftigt, Deutschland aufzubauen und für sich und die Kinder Sicherheit zu<br />

schaffen. Sie selbst haben jedoch nicht die Erfahrung gemacht, von anderen in<br />

ihrer Not verstanden worden zu sein. Sie machen auch später alles mit sich<br />

selbst ab, scheuen oft tiefe Verbundenheit. Sie können die Not der eigenen<br />

Kinder oft nicht nach empfinden, auch wenn sie nur deren Bestes wollen.<br />

Die Kinder spüren das Grauen ihrer Eltern. Sie können sie oft emotional nicht<br />

erreichen, fühlen sich selbst oft nicht verstanden. Sie erleben, dass ihre Ängste<br />

und inneren Nöte nicht ernst genommen werden, weil es im Vergleich zu den<br />

Erlebnissen der Eltern banal erscheint. Die Kinder sind oft emotional ähnlich<br />

blockiert wie die Eltern. Sie wachsen in einem „Nebel, einem Vakuum auf, einer<br />

Unlebendigkeit“. Sie sind ihren Eltern gegenüber außerordentlich loyal und sie<br />

versuchen, es den Eltern leicht zu machen. Den Kindern fällt es oft schwer,<br />

eigene Interessen und Bedürfnisse einzubringen und Forderungen zu stellen.<br />

Die Kinder haben das Gefühl, funktionieren zu müssen. Sie haben keinen Grund<br />

zu klagen, „weil sie in den besten aller Zeiten aufgewachsen sind.“ Sie<br />

empfinden destruktive Gefühle, obwohl sie selbst nichts Schlimmes erlebt<br />

13


haben. Sie spüren die „Diskrepanz zwischen dem Wohlstand, in dem sie<br />

aufwachsen und den Mangelerfahrungen, die ihre Eltern erlebten.“<br />

Die Kinder haben oft wirklich eine glückliche Kindheit gehabt. Ihre Eltern<br />

erwarten aber auch, dass sie glücklich und dankbar sind, glücklicher als sie es<br />

sein durften. „Die Eltern glauben, dass Kinder, die keine Angst erfahren haben,<br />

keine Angst entwickeln, Kinder, die keine Gewalt erfahren haben, sich keine<br />

Gewalt zufügen.“ Das stimmt nicht. Die Kriegsenkel spüren Ängste und Gewalt,<br />

ohne dies einordnen zu können. Sie übernehmen dies von ihren Eltern. Die<br />

Kinder der Kriegskinder haben Schwierigkeiten, sich vor Menschen und<br />

Situationen zu schützen, die ihnen schaden, sie haben ein großes<br />

Harmoniebedürfnis und Schwierigkeiten mit Streit und Abgrenzung.<br />

Die Erfahrungen der Eltern (Gewalt, Missbrauch) beeinflussen die eigene<br />

Lebensplanung. Die Kriegsenkel scheuen oft Bindungen. Diese Bindungsscheu<br />

und weit verbreitete Kinderlosigkeit der heute 40-Jährigen wird von einigen<br />

Therapeuten im Zusammenhang mit diesen mehrgenerationalen Erfahrungen<br />

gesehen.<br />

Sabine Bode hat ihr „Kriegsenkelbuch“ eher zufällig geschrieben. Sie hat auf ihr<br />

erstes Buch über die Kriegskindergeneration erstaunlich viele Rückmeldungen<br />

von den Kindern der Kriegskinder bekommen. Sie berichteten von diffusen<br />

Ängsten, einer großen Lebensunsicherheit und Zukunftsangst, großen<br />

Kontrollbedürfnissen und der Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren.<br />

Dadurch wurde sie aufmerksam für Themen und Auswirkungen des Krieges auf<br />

die nachfolgenden Generationen.<br />

Es gibt sicherlich nicht das Kriegskind und den Kriegsenkel. Dieses Thema ist<br />

auch nicht die Erklärung für die Lebenskonzepte von allen. Aber der Krieg hat<br />

über viele Jahre unsere Eltern und Großeltern geprägt und damit hat er auch<br />

Auswirkungen auf uns.<br />

Wir haben uns in der Fortbildung über unsere Erfahrungen spontan<br />

ausgetauscht. Nach einer langen Stille brach der Bann für viele persönliche<br />

Beiträge. Wir erkannten uns bei den Beispielen der anderen wieder. Neben<br />

individuellen Unterschieden haben wir alle eine ähnliche Sozialisation genossen:<br />

… Lebensmittel durften nicht weg geworfen werden<br />

… Türen mussten offen sein<br />

… Lichter mussten an sein<br />

Ängste und Botschaften der Eltern, Familiengeheimnisse und Familienregeln,<br />

eigene Verhaltensstrategien, Symptome und Stressmuster wurden uns auf<br />

einmal klarer. Als würde sich ein Schleier lüften.<br />

14


Auch in meiner Familie wurde lange Zeit „lachend“ über diese Zeit geredet und<br />

Details verschwiegen:<br />

… „es war nicht alles schlecht“<br />

… „wir haben auch viel Schönes erlebt“<br />

… „der Zusammenhalt war damals besser“.<br />

Bombennächte, Evakuierungen, Hungersnot, Ängste wurden rational, aber nicht<br />

adäquat beschrieben. Auch ich habe Familienregeln wie „man muss<br />

durchhalten“, „man muss Stellung beziehen“, „man muss zusammenhalten“,<br />

„man darf nicht krank werden“ übernommen“, habe Stressmuster, die der<br />

Situation nicht immer angemessen sind, halte die Luft an oder mache keine<br />

Pausen, wenn ich nicht mehr kann. In Extremsituationen bin ich äußerst<br />

belastbar und kreativ, achte darauf, „sicher nach Hause zu kommen“.<br />

…<br />

Es macht Sinn, sich mit diesen Regeln auseinander zu setzen und sie in einem<br />

Gesamtzusammenhang einzuordnen.<br />

Es macht Sinn und erzeugt Nähe, mit den Eltern über diese Zeit ins Gespräch zu<br />

kommen.<br />

Es hilft auch, in den Familien die man behandelt oder betreut, nach diesen<br />

Zusammenhängen zu forschen. Vielleicht ist manche „heutige“<br />

Verhaltensauffälligkeit oder Symptomatik eine Folge dessen, was wir, bewusst<br />

oder unbewusst, an unsere Kinder weitergegeben haben oder „vergessen“ haben<br />

zu erzählen.<br />

Wünschenswert wäre, den Kindern ein Generationenverständnis mitzugeben, ein<br />

Gefühl für die eigenen Wurzeln sowie die Bereitschaft, miteinander ins<br />

Gespräch zu kommen.<br />

Dagmar Lohmann<br />

Teamleiterin Heilpädagogisch- therapeutische Tagesgruppe Bärenhöhle<br />

15


Tagungen<br />

29.10.<strong>2009</strong> – 01.11.<strong>2009</strong> Heidelberg<br />

6. Kindertagung<br />

Hypnotherapeutische und systemische Konzepte<br />

für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen<br />

Veranstalter:<br />

Milton Erickson Institut<br />

Bahnhofstr. 4<br />

78628 Rottweil<br />

Kongreßorganisation:<br />

d.e.ventz GmbH<br />

Tel.: (<strong>07</strong>581) 90 90 10<br />

www.kindertagung.de<br />

24.10.<strong>2009</strong> – 25.10.<strong>2009</strong> Berlin<br />

Wissenschaft Praxis<br />

5. Jahreskongress Psychotherapie des Hochschulverbandes<br />

Psychotherapie NRW und der Psychotherapeutenkammer NRW<br />

Veranstalter:<br />

Geschäftsstelle Hochschulverband Psychotherapie NRW<br />

Universitätsstr. 150<br />

44780 Bochum<br />

(0234) 32 14 922<br />

29.10.<strong>2009</strong> – 30.10.<strong>2009</strong> Hanau<br />

Genial zerstreut und rastlos aufmerksam-<br />

ADHS im Kontext verhaltenstherapeutischer und systemischer Konzepte<br />

Veranstalter:<br />

Praxis – Institut für systemische Beratung<br />

Ulanenplatz 6<br />

63452 Hanau<br />

(06181) 25 3003<br />

www.praxis-institut.de<br />

16


<strong>07</strong>.11.<strong>2009</strong> – 08.11.<strong>2009</strong> Magdeburg<br />

8. DGVT-Praxistage<br />

Vater, Mutter, Kind – Ein Kinderspiel<br />

Veranstalter:<br />

Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT)<br />

Neckarhalde 55<br />

72<strong>07</strong>0 Tübingen<br />

(<strong>07</strong><strong>07</strong>1) 94 34 94<br />

awk@dgvt.de<br />

05.03.2010 – 09.03.2010 Berlin<br />

26. DGVT Kongress<br />

Beziehungsweise Psychotherapie<br />

Veranstalter:<br />

Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT)<br />

Neckarhalde 55<br />

72<strong>07</strong>0 Tübingen<br />

(<strong>07</strong><strong>07</strong>1) 94 34 94<br />

kongress@dgvt.de<br />

Zusammengestellt von Dagmar Lohmann<br />

Teamleiterin Heilpädagogisch- therapeutische Tagesgruppe Bärenhöhle<br />

17


Buchbesprechung<br />

Karl Heinz Brisch, Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur<br />

Therapie, Klett-Cotta, 9. vollständig überarbeitete und erw. Auflage,<br />

Stuttgart <strong>2009</strong><br />

Auf einer Fortbildung für Erzieherinnen sagte eine Teilnehmerin hinsichtlich der<br />

zahlreichen Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern, die seien doch alle auf<br />

Bindungsstörungen zurückzuführen. So problematisch Verallgemeinerungen<br />

auch sind, hat die Erzieherin etwas Richtiges formuliert. Sicher können wir nicht<br />

alle Verhaltensauffälligkeiten auf eine Ursache zurückführen, doch wie weit sich<br />

Bindungen, gelungene oder weniger gelungene, in die Persönlichkeitsstruktur<br />

einfügen und damit unser Denken und Handeln mitbestimmen, zeigt das<br />

wiederaufgelegte Buch von Karl Heinz Brisch.<br />

Das Buch, 1999 zuerst erschienen, wurde in vier verschiedene Sprachen<br />

übersetzt. Dies wird deswegen erwähnt um deutlich zu machen, dass es sich bei<br />

der Bindungstheorie nicht um eine Theorie handelt, welche sich einer<br />

bestimmten Rationalität und damit auch einem Kulturkreis verdankt, die auch<br />

nur dort Gültigkeit beanspruchen könnte. Das Interesse ist global, handelt es<br />

sich doch bei der Bindungstheorie um ein spezifisch menschliches Phänomen,<br />

ein primäres, genetisch verankertes motivationales System, das<br />

kulturübergreifend von Interesse ist.<br />

Brisch gliedert sein Buch wie folgt:<br />

Im ersten Teil erläutert er die wesentlichen Grundzüge der Bindungstheorie,<br />

wobei auch ein historischer Rückblick vonnöten ist. Die wesentlichen Konzepte<br />

und Begriffe werden, bezogen auf die wichtigen Vertreter der Theorie,<br />

vorgestellt. Die elterliche Feinfühligkeit, die Bindungsqualität, innere<br />

Arbeitsmodelle und das Explorationssystem sind nur einige Aspekte, die<br />

genannt und beschrieben werden. Auch auf die Schutz- und Risikofaktoren für<br />

eine gesunde Entwicklung werden unter Bezugnahme auf neuere Studien<br />

eingegangen.<br />

Im zweiten Teil werden die Zusammenhänge zwischen Bindung und Trauma<br />

erläutert. Brisch verweist hier auf die immer noch große Schwierigkeit der<br />

Diagnostik von Bindungsstörungen speziell für die Säuglings- und Kleinkindzeit<br />

und stellt umfassendere Klassifikationssysteme von Bindungsstörungen vor.<br />

Anschließend formuliert Brisch im dritten Teil die Theorie eines<br />

bindungsbasierten therapeutischen Vorgehens, wobei Ergebnisse der<br />

Psychotherapieforschung herangezogen werden. Einmal mehr wird hier die<br />

Bindung zwischen Therapeut und Patient als ein wichtiger Faktor für eine<br />

erfolgreiche Behandlung angesehen.<br />

Der vierte Teil ist für alle interessant, die sich einen Zugang zur Bindungstheorie<br />

über Fallbeispiele aus der klinischen Praxis ermöglichen wollen. Die<br />

18


Krankheitsgeschichte, Diagnostik und der Behandlungsverlauf werden im<br />

Kontext der jeweiligen Störung der Bindungsdynamik analysiert.<br />

Im fünften und letzten Teil diskutiert Brisch Fragen der Prävention. In<br />

Anbetracht der zunehmenden Aggression und Gewalt in Kindergärten und<br />

Schulen sollte der Prävention und Beratung eine größere Bedeutung zukommen<br />

als bisher. Ein Ausblick auf weitere Anwendungsgebiete, genannt seien hier nur<br />

unter anderem die Familientherapie, die Gruppenpsychotherapie und die<br />

Pädagogik grundsätzlich (z.B. der schulische Kontext) rundet das Buch ab. Im<br />

Anhang findet sich ein Fragenkatalog für diejenigen, die sich mit der Diagnostik<br />

beschäftigen (Fragen des Adult Attachment Interviews).<br />

Dieses Buch wurde vom Autor um das rasch anwachsende Wissen in der<br />

Bindungsforschung wesentlich erweitert. Neue Erkenntnisse zur Neurobiologie,<br />

Genetik, Psychotraumatologie und Präventionsforschung wurden nicht nur in<br />

gesonderten Kapiteln beschrieben, sondern auch die dazugehörige Literatur<br />

angefügt. Das Kapitel über Prävention wurde um die Beschreibung der<br />

bindungsbasierten Präventionsprogramme SAFE® sowie B.A.S.E.® erweitert.<br />

Trotz anspruchsvoller Sprache ist dieses Buch für alle Interessierten ein<br />

Nachschlagewerk, welches den neuesten Stand der Forschung, aber auch die<br />

Umsetzung der Theorie innerhalb der Präventionsprogramme verdeutlicht.<br />

Dr. Thomas Blech<br />

Lehrer am Berufskolleg in Opladen<br />

19


Des Kaisers neue Wörter<br />

Vor vielen vielen Jahren, als selbst noch kleine Tiere mitreden durften, lebte ein<br />

Kaiser, der ungeheuer viel auf seine Sprache hielt. Er hatte für die kleinsten<br />

Probleme seines Reiches immer einen klugen Satz, und oftmals sprachen seine<br />

Untertanen:<br />

Rabe: "Der Kaiser blättert im Wörterbuch. krah –krah“<br />

In dem kleinen Dorf, in dem er herrschte, ging es sehr munter her. Eines Tages<br />

kamen auch zwei fremde Berater, die nannten sich innovativ und sagten, dass sie<br />

das schönste Konzept, was man sich denken könne, zu weben verstünden. Die<br />

Wörter und die Semantik seien nicht allein ungewöhnlich schön, sondern das<br />

System, das in diesem Konzept gewirkt würde, besäße die wunderbare<br />

Eigenschaft , dass es für jeden Menschen unsichtbar sei, der nicht für sein Amt<br />

tauge, der nicht über weitreichende Kompetenzen verfüge oder der<br />

unverzeihlich dumm sei.<br />

Rabe:“ Semantik - System -Kompetenzen: unverzeihlich dumm“<br />

„Das wären ja prächtige Wörter“, dachte der Kaiser; „wenn ich solche hätte,<br />

könnte ich ja dahinterkommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte,<br />

das sie haben, nicht taugen, ich könnte die Klugen von den Dummen<br />

unterscheiden! Ja, das Konzept muss sogleich für mich gewebt werden!“ Er gab<br />

den beiden Beratern viel Handgeld, damit sie ihre Arbeit beginnen sollten.<br />

Sie entwickelten auch ein Institut, taten, als ob sie arbeiteten, aber sie hatten<br />

nicht das Geringste auf dem Laptop. Trotzdem verlangten sie einen hohen Etat<br />

und die feinste Software und arbeiteten an den leeren Flipcharts bis spät in die<br />

Nacht hinein.<br />

Rabe:“Laptop - Flip-chart - Software: Handgeld“<br />

„Nun möchte ich doch wissen, wie weit sie mit dem Zeuge sind!“, dachte der<br />

Kaiser.<br />

„Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Beratern senden“, dachte der<br />

Kaiser, „er kann am besten beurteilen, wie die Wörter sich realisieren, denn er<br />

hat Verstand, und keiner versieht sein Amt besser als er!“<br />

Nun ging der alte, gute Minister in den Saal hinein, wo die zwei Berater saßen<br />

und an den leeren Flipcharts arbeiteten. „Gott behüte uns!“, dachte der alte<br />

Minister und riss die Augen auf. „Ich kann ja nichts erblicken!“ Aber das sagte<br />

er nicht.<br />

20


Beide Berater baten ihn näher zu treten und fragten, ob er diese qualitätsgebundenen<br />

Evaluationen nicht auch für eine geniale modulorientierte<br />

Innovation hielte.<br />

Rabe:“Innovation - Evaluation - Modulation – Illusion“<br />

Dann zeigten sie auf den Monitor, und der arme, alte Minister fuhr fort, die<br />

Augen aufzureißen, aber er konnte nichts sehen, denn es war nichts da. „Herr<br />

Gott“, dachte er, „sollte ich dumm sein Das habe ich nie geglaubt, und das darf<br />

kein Mensch wissen! Sollte ich nicht zu meinem Amte taugen Nein, es geht<br />

nicht an, dass ich erzähle, ich könne das Konzept nicht erkennen.“<br />

"Nun, Sie sagen nichts dazu", fragte der eine von den Beratern. "Ist das nicht<br />

ein ganz besonders zukunftorientiertes Programm", meinte er, und sie zeigten<br />

und erklärten das prächtige Muster, das gar nicht da war. Da lobte der Minister<br />

das Konzept, das er nicht sah, und versicherte ihnen seine Freude über den<br />

kreativen Ansatz und die hervorragende Webtechnik in der Bündelung der<br />

verschiedenartigen Effekte.<br />

"Ja, es ist griffig in seiner Vernetztheit!", antwortete der alte Minister und sah<br />

durch seine Brille. "Diese systemische Sicht und diese Effizienz! - Ja, ich werde<br />

dem Kaiser sagen, dass es mir sehr gefällt! Ja, es ist wirklich eine<br />

zukunftsorientierte Handlungsstrategie!"<br />

Rabe:“ System und Vernetzen und Bündeln und Effizienz - blah – blah“<br />

"Nun, das freut uns!", sagten beide Berater und verlangten mehr mediale<br />

Ressourcen und größere hierarchische Kompetenz. Doch: auf dem Monitor<br />

entstand kein Bild, sie fuhren fort, wie bisher in dem leeren Institut zu arbeiten.<br />

Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Werk. So wollte der<br />

Kaiser es selbst sehen. Mit einer ganzen Schar auserwählter Männer, unter<br />

denen auch der alte Minister war, ging er zu den beiden listigen Beratern hin, die<br />

nun aus allen Kräften webten, die Wörter sprangen von links nach rechts und<br />

von rechts nach links.<br />

"Ja, ist das nicht prächtig", sagte der alte Minister. "Wollen Eure Majestät<br />

sehen, welche Komponenten es enthält, welche Wirkmuster" und dann zeigten<br />

er auf die leeren Flipcharts, denn er glaubte, dass die andern die Wörter wohl<br />

sehen könnten.<br />

Rabe: „ Qualität - Kausalität - Banalität - von früh bis spät“<br />

„Was!“, dachte der Kaiser; „ich sehe gar nichts! Das ist ja erschrecklich! Bin ich<br />

dumm Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein“<br />

21


"Oh, es ist sehr hübsch", sagte er; "es hat meinen allerhöchsten Beifall!" und er<br />

nickte zufrieden und betrachtete die leeren Flipcharts; er wollte nicht sagen, dass<br />

er nichts sehen könne.<br />

"Es ist herrlich, niedlich, ausgezeichnet!" So ging es im Volke von Mund zu<br />

Mund. Der Kaiser verlieh jedem der Berater ein Ehrenkreuz, um es in das<br />

Knopfloch zu hängen, und den Titel Kompetenzberater.<br />

Rabe:“Kompetenzberater - Kompetenzzentrum – Kaiserkreuz“<br />

Die ganze Nacht vor dem Tag, an dem das Fest stattfinden sollte, waren die<br />

Berater auf und hatten sechzehn Lichte angezündet, damit man sie auch recht<br />

gut bei ihrer Arbeit beobachten konnte. Die Leute konnten sehen, dass sie stark<br />

beschäftigt waren, des Kaisers neue Wörter festzuschreiben. Die Zwei taten, als<br />

ob sie die Entwürfe auf dem Monitor überprüften, sie zeichneten Pfeile, Kreise<br />

und Systemfelder auf große Tafeln , sie durchblätterten Fachbücher und<br />

Fremdwörterlexika und sagten zuletzt: "Sieh, nun sind die Konzepte fertig!"<br />

Der Kaiser mit seinen vornehmsten Planstelleninhabern kam selbst, und beide<br />

Berater traten vor den Kaiser, gerade so, als ob sie etwas hielten, und sagten:<br />

"Seht, hier sind die neuen Gutachten, hier ist die Präambel, hier die<br />

Beschreibung der Synergieeffekte, hier ist die Qualitätsanalyse. Es ist so leicht<br />

zu halten wie ein einziges Wort; man sollte glauben, man habe nichts in der<br />

Hand, aber das ist gerade die Schönheit dabei!"<br />

"Ja!" sagten alle Beamten, aber sie konnten nichts sehen, denn es war nichts da.<br />

"Belieben Eure Kaiserliche Majestät das Gutachten zu lesen", sagten die<br />

Berater, "so wollen wir Ihnen die neuen Wörter hier vorlegen."<br />

Der Kaiser wurde vor Ergriffenheit ob des Werkes sprachlos, und die Berater<br />

stellten sich ihm zur Seite, als ob sie ihm ein jedes Kapitel der neuen Konzepte<br />

vorlegten, und der Kaiser wendete und drehte die Wörter voller Freude.<br />

Rabe:“Synergie - Analyse - Effekt -Qualität - Effekt - Analyse – Synergie“<br />

"Ei, wie gut sie klingen, wie herrlich sie passen!", sagten alle. "Welche Vielfalt,<br />

welche Kraft! Das ist eine kostbare Sprache!"<br />

"Draußen ist das Mikrofon unter dem Thronhimmel aufgebaut, das die Rede<br />

Eurer Majestät übertragen soll!", meldete der Oberzeremonienmeister.<br />

Die Kammerherren, die das Recht hatten, das Zepter und den Reichsapfel zu<br />

tragen , griffen mit den Händen zum Tisch, als ob sie das Gutachten aufhöben,<br />

22


sie gingen und taten, als hielten sie etwas in der Luft; sie wagten es nicht, es sich<br />

merken zu lassen, dass sie nichts sehen konnten.<br />

Rabe:“Innovation –Innovation“<br />

So ging der Kaiser zum Mikrofon unter dem prächtigen Thronhimmel, las aus<br />

dem Buch, das es nicht gab, die langen Sätze der neuen Wörter und alle<br />

Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: "Wie sind des Kaisers<br />

neue Wörter unvergleichlich! Wie schön sie klingen! Wie tief sie ergreifen!"<br />

Keine Wörter des Kaisers hatten je solches Glück gemacht wie diese.<br />

Doch da sagte das Kind:<br />

"Aber die Wörter des Kaisers sind doch alle leer! Und – wo bin ich denn<br />

hier“<br />

Susanne Rienas, Lehererin an der Förderschule der <strong>Bergische</strong>n <strong>Diakonie</strong><br />

Hermann Schmidt-Stumme, Lehrer an der Förderschule der <strong>Bergische</strong>n<br />

<strong>Diakonie</strong> a. D.<br />

23


Glossar: Kompetenz<br />

Warum über den Begriff ,Kompetenz’ nachdenken Er ist mittlerweile so<br />

selbstverständlich in unser Sprach- und Verständigungssystem implantiert<br />

(worden), dass sicher jeder sofort beantworten könnte, was er bedeutet. Aus<br />

diesem Grund wird im Folgenden keine neue Zusammenschau über die<br />

verschiedensten Kompetenzen geleistet.<br />

Die Bedeutung der Überlegungen zum Kompetenzbegriff liegt nicht in einer<br />

unmittelbaren Verwertbarkeit in der Praxis und doch ist sie wichtig für die<br />

Praxis. Denn theoretische Überlegungen dienen dazu, die ,Praxis als eine<br />

bewusstere’ zu erfahren (Schleiermacher).<br />

Was heißt nun Kompetenz Der Begriff durchzieht mittlerweile alle<br />

Lebensbereiche und findet sich beispielsweise in der Ökonomie, in der Politik<br />

und eben auch in der Pädagogik und Psychologie.<br />

Die lateinische Herkunft, competentia von com-petere, kann mit<br />

,zusammenpassen’, ,zuständig’, ,geeignet’ wiedergegeben werden. Heute gibt<br />

es, bezogen auf die Zuständigkeit, den auf politischer Ebene interessanten<br />

Begriff der ,Kompetenzkompetenz’ 1 .<br />

Weiterhin finden wir unter ,competo’ die Bedeutung ,fähig sein’. Und eher diese<br />

hat sich heute durchgesetzt. Damit verstehen wir auch die häufig zu hörende<br />

Floskel ,er ist fachlich kompetent’, was nun nichts anderes heißt als ,er ist<br />

fachlich fähig’.<br />

Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Feststellung, dass sich offenbar im<br />

Laufe der Zeit durch das Aufgreifen des Begriffs Verschiebungen vom äußeren<br />

Feld institutioneller Kompetenzdefinition (Zuständigkeiten) auf das Individuum<br />

verursacht. Kompetenz war eine Eigenschaft einer Institution bzw. einer<br />

sozialen Position, die unabhängig davon galt, wer diese Position einnimmt (so<br />

hat z.B. der Richter, gleichgültig welche Persönlichkeit er darstellt, eine<br />

bestimmte ,Kompetenz’ aufgrund seiner beruflichen Rolle, er ist zuständig für<br />

bestimmte Abläufe). Nun gehört diese Rolle zur Grundausstattung des<br />

Individuums, die es im Wechsel durch zahlreiche soziale Rollen und Positionen<br />

mit sich trägt.<br />

Also: Kompetenzen sind Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es dem Individuum<br />

ermöglichen, in privaten und beruflichen Zusammenhängen Funktionen<br />

auszufüllen, Probleme zu lösen und Situationen zu bewältigen.<br />

Wo ist hier das Problem<br />

Wenn Kompetenzen Fähigkeiten sind, die ich mir aneigne oder die angeeignet<br />

werden, reduziert den Menschen möglicherweise in anthropologischer Hinsicht<br />

auf ein Wesen mit einem Arsenal von Funktionen, die zur Selbstbehauptung,<br />

1<br />

,Kompetenzkompetenz’ meint das Recht eines Bundesstaates, seine Zuständigkeiten durch<br />

Verfassungsänderungen auf Kosten der Gliedstaaten zu erweitern.<br />

24


Selbstmobilisierung, Kapitalaneignung und Problembewältigung benötigt<br />

werden. 2<br />

Das Menschenbild, so könnte man überspitzt formulieren, ist ein technisches,<br />

insofern es um einen möglichst effektiven Einsatz zur Bewältigung funktionaler<br />

Zwecke geht. Wer kompetent agiert, erbringt eine Leistung.<br />

Wie unterscheidet sich der konkrete Andere von mir Das Kind mit<br />

Verhaltensauffälligkeiten Die Familie mit noch nicht klar umrissenen<br />

Problemen Nur durch das Kompetenzprofil<br />

Das pädagogische Denken muss Acht geben, dass eine zentrale Kategorie der<br />

Pädagogik, die Individualität, nicht verkommt. Es ist eben nicht gleichgültig, ob<br />

wir fast ausschließlich von ,Kompetenzen’ sprechen oder eventuell von Bildung.<br />

Wie oft werden diese grundverschiedene Begriffe heute schon synonym<br />

verwendet<br />

Es ist wohl so, dass es nicht folgenlos bleibt, Fachbegriffe auszutauschen. Diese<br />

sind keine bedeutungslose Zeichen, sondern mit bestimmten Inhalten, Ideen,<br />

Menschenbildern ,beladen’, die alle unsere Wahrnehmung, Orientierung, das<br />

Denken und Handeln leiten. So ist es beispielsweise ein Unterschied, ob ich, mit<br />

Pestalozzi, von ,Kopf, Herz und Hand’ spreche oder von kognitive, soziale und<br />

motorische Kompetenz. Beide ,Zeichensysteme’ stehen in einer bestimmten<br />

Tradition und beinhalten auch ein bestimmtes Menschenbild. Pestalozzi denkt<br />

,ganzheitlich’, sogar schon systemisch. Die ,Kompetenzsprecher’ zerlegen den<br />

Menschen in unterschiedliche Kompetenzen, machen ihn zu einer<br />

,Kompetenzbestie’, der sich Kompetenzen zulegen kann wie Kleidungsstücke,<br />

ohne genau benennen zu können, in welchem Zusammenhang diese miteinander<br />

stehen.<br />

Der Kompetenzbegriff wird nicht selten zu einer unsystematischen und nicht<br />

definierten Floskel, den man überall ,anhängen’ kann. 3 Von Basiskompetenzen<br />

bis zur Methodenkompetenz und dann den Vorläuferkompetenzen bis zur<br />

Sterbekompetenz können wir uns ausstatten und den Anforderungen moderner<br />

Gesellschaften entsprechen.<br />

Doch es gibt auch einen verantwortlichen Gebrauch des Begriffs, auf den wir<br />

hier nur hinweisen. 4<br />

Dr. Thomas Blech<br />

Lehrer am Berufskolleg in Opladen<br />

2 Hier sei auf das lesenwerte Buch ,Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des Europäischen<br />

Bildungsraums’, Zürich/Berlin 2005, von Masschelein und Simons verwiesen. Dort wird die Figur des<br />

unternehmerischen Selbst dargestellt, der sein eigenes kapitalisiertes Leben verwalten soll. Das<br />

,Führungsregime’, wie dort die beiden Autoren das Insgesamt des Diskurses bezeichnen, verengt bzw. lässt den<br />

Problemen des Lebens keinen Raum mehr, da es nur noch Antworten und eben Kompetenzen gibt.<br />

3<br />

Wer Näheres erfahren möchte, der schaue unter: G. Schäfer, www.uni-koeln.de/ewfak/paedagogik/fruehekindheit/texte/02_Delphi.pdf.<br />

4 Vgl. Vonken, Matthias, Handlung und Kompetenz. Theoretische Perspektiven für die Erwachsenen- und<br />

Berufspädagogik, Wiesbaden 2005.<br />

25


Aus der Wissenschaft<br />

Hass wird durch Haft nicht gemildert<br />

Eine Haftstrafe hat offenbar nur wenig Einfluss auf Jugendliche, die durch<br />

„Hassgewalt“ motivierte Straftaten verübten. Zu diesem Ergebnis kommt eine<br />

Untersuchung deutscher Kriminologen. Im Gegenteil: Bei ideologisch<br />

motivierten Straftaten wird die Haltung der Täter durch eine Strafe eher noch<br />

zementiert, so die Wissenschaftler. Zwar geht die direkte und offene<br />

Gewaltbereitschaft in der Folge zurück – stattdessen wird die Gewalt dann aber<br />

durch die Anstiftung anderer ausgeübt - als Hintermann. Als "Hassgewalt"<br />

bezeichnen die Kriminologen solche Straftaten, die einen fremdenfeindlichen<br />

Hintergrund haben. Schlussfolgerung der Forscher: Strafe als Abschreckung<br />

oder auch die diskutierte Erhöhung der Jugendhöchststrafe von 10 auf 15 Jahre<br />

ist bei Hassgewalt nur wenig wirksam.<br />

Quelle: Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht<br />

Mädchen-Mehrheit im Klassenzimmer fördert auch Schulerfolg von<br />

Jungen<br />

In den letzten Jahren ist der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen<br />

immer wieder in die Diskussion gekommen. Manche wollten sie ganz oder<br />

teilweise abschaffen, um den Mädchen ein besseres Lernen in den Naturwissenschaften<br />

zu ermöglichen. Andere sehen die Jungen als Bildungsverlierer<br />

und wollen eine gezielte Förderung von Jungen.<br />

Ein israelisches Forscherteam hat die Wirkung von Mädchen auf die<br />

Schulleistung aller Schüler im Klassenzimmer untersucht. Das überraschende<br />

Ergebnis: Mädchen im Klassenzimmer sind gut für den Schulerfolg aller. Am<br />

besten ist sogar, wenn Mädchen die Mehrheit in der Klasse haben. Eine<br />

Mädchen-Mehrheit von 55 Prozent führt danach insgesamt zu besseren<br />

Schulleistungen der ganzen Klasse und zu weniger Gewalt im Klassenzimmer.<br />

Die besseren Schulleistungen haben die Jungen interessanterweise auch in<br />

Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern. Mädchen hingegen<br />

profitierten in der Mittelstufe von der Mädchen-Mehrheit besonders im<br />

muttersprachlichen Unterricht, in den Fremdsprachen und in Mathematik. Sogar<br />

die Lehrer können einen Vorteil aus der Mädchen-Mehrheit ziehen, so die<br />

Forscher: In Klassen mit Mädchen-Mehrheit ist das Unterrichten weniger<br />

anstrengend.<br />

Tel Aviv University, Eitan Berglas School of Economics: http://econ.tau.ac.il/<br />

26


Richtiger Rhythmus - hohe Intelligenz<br />

Menschen, die Rhythmen genau einhalten können, schneiden oft auch bei<br />

Intelligenztests gut ab. Diesen Zusammenhang haben schwedische Forscher<br />

entdeckt. Sie glauben, dass das Einhalten von Rhythmen dazu beiträgt, die<br />

Verarbeitungsprozesse im Gehirn besser ablaufen zu lassen. Bei dem guten<br />

Rhythmus-Gefühl geht es jedoch nicht um Musikalität. Es sind also nicht alle<br />

Musiker automatisch hochbegabt. In den Experimenten ging es nur darum, einen<br />

einfachen, regelmäßigen Rhythmus so akkurat zu klopfen wie möglich. Die<br />

Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass die rhythmische Genauigkeit, die<br />

man auch in der Gehirnaktivität eines Probanden beobachten kann, wichtig ist<br />

für die Problemlösungskapazität, die in Intelligenz-Tests gemessen wird.<br />

Karolinska Institutet, Stockholm: http://ki.se/<br />

University of Minnesota: College of Education: http://www.educ.msu.edu/<br />

Intelligenz offenbar doch machbar<br />

Intelligenz lässt sich nicht steigern, dachte man bisher. Mit Fleiß und Übung<br />

lassen sich höchstens Routine und Wissen verbessern. Ein Schweizer<br />

Wissenschaftler-Team hat ein neues Trainigsprogramm entwickelt, mit dem<br />

Personen, die damit trainierten konnten ihre Intelligenz steigern.<br />

In der Intelligenzforschung unterscheidet man zwischen "fluider" und<br />

"kristalliner" Intelligenz. Die fluide Intelligenz ist die geistige Kapazität und die<br />

Auffassungsgabe. Die kristalline Intelligenz umfasst dagegen das erworbene<br />

explizite Wissen. Wenn jemand bei "Wer wird Millionär" gut abschneidet,<br />

verfügt er ganz sicher über eine hohe kristalline Intelligenz. Über seine fluide<br />

Intelligenz sagt dieses Quiz dagegen nicht viel aus. Denn bei der fluiden<br />

Intelligenz geht es vor allem darum, wie schnell jemand Zusammenhänge<br />

erkennt oder wie gut jemand logisch denken kann.<br />

In dem Trainingsprogramm wurden Buchstaben des Alphabets gesprochen.<br />

Beim Hören sollten die Probanden entscheiden, ob sie diesen Buchstaben drei<br />

Schritte zuvor auch schon gehört hatten oder ob es sich um einen neuen<br />

Buchstaben handelte. Mit diesen Aufgaben wird vor allem die Leistung des<br />

Arbeitsgedächtnisses verbessert. Vor Beginn des Trainings und danach wurden<br />

die Probanden sowie die Mitglieder einer Kontrollgruppe einem Intelligenztest<br />

unterzogen. Die trainierten Teilnehmer zeigten eine deutlich höhere „fluide“<br />

Intelligenz als die nicht-trainierten.<br />

Universität Bern: http://www.unibe.ch<br />

Quelle: WDR 5, Leonardo „Neues aus der Wissenschaft“<br />

zusammengestellt von Sabine Kall, Redaktion<br />

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Von den Kindern lernen<br />

HAWIK IV- Kinderantworten<br />

„Was ist anstrengend“<br />

Marcel, 7 Jahre:<br />

„Wenn man Hausarrest hat und die ganze Zeit bauen soll.“<br />

Was heißt gehorchen<br />

Elyssa, 8 Jahre:<br />

„Wenn du ein Hund bist und dir Herrchen sagt: Platz! Und du machst das dann.“<br />

Warum sollte man sich entschuldigen, wenn man jemandem wehgetan hat<br />

Bastian, 8 Jahre:<br />

„Sonst wird einem das Gewissen noch lange wehtun.“<br />

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Impressum:<br />

Redaktion:<br />

Wolfgang Jittler<br />

Sabine Kall<br />

Dagmar Lohmann<br />

Michael Schober<br />

Herausgeber:<br />

Kinder- und Jugendhilfe-Verbund<br />

der <strong>Bergische</strong>n <strong>Diakonie</strong> <strong>Aprath</strong><br />

Otto-Ohl-Weg 10<br />

42489 Wülfrath<br />

Verantwortlicher Vorstand:<br />

Pfarrer Peter Iwand<br />

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