Aprather Einblicke Nr. 10 / 2011 - Bergische Diakonie Aprath
Aprather Einblicke Nr. 10 / 2011 - Bergische Diakonie Aprath
Aprather Einblicke Nr. 10 / 2011 - Bergische Diakonie Aprath
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<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong><br />
Aus der Praxis für die Praxis <strong>Nr</strong>. <strong>10</strong>/<strong>2011</strong><br />
Sven, <strong>10</strong> Jahre
Inhalt<br />
Seite<br />
Editorial................................................................................................................3<br />
Spezialambulanz für Autismusstörungen (ASS<br />
von Dr. Christof Loose.…………………………………………………………………….....4<br />
Kinder in Borderline-Beziehungen<br />
von Susanne Hofmann………………………………………………………………………..<strong>10</strong><br />
Interview Wolfgang Jittler<br />
Von Susanne Hofmann und Dagmar Lohmann………………………………………………15<br />
Glossar: Qualitätsmanagement<br />
von Dr. Thomas Blech……………………………………………………..………………....22<br />
Tagungen<br />
von Dagmar Lohmann….…………………………………………………………………..…26<br />
Aus der Wissenschaft<br />
zusammengestellt von Wolfgang Jittler....................................................................................28<br />
Kindermund<br />
zusammengestllt von Dagmar Lohmann…………………………………………………..…33<br />
Impressum……………………………………………………………………………..……35<br />
2
Editorial<br />
Liebe Leserinnen und Leser der <strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong><br />
Vor fast fünf Jahren erhielt ich einen Anruf von Herrn Jittler, ob ich Lust hätte,<br />
an einer Fachzeitschrift mitzuarbeiten, die die <strong><strong>Aprath</strong>er</strong> Arbeit im Kinder- und<br />
Jugendhilfeverbund der <strong>Bergische</strong>n <strong>Diakonie</strong> <strong>Aprath</strong> in seiner Vielfalt und<br />
Fachlichkeit darstellt und fachliche Diskussion sowohl innerhalb des KJHV aber<br />
auch darüber hinaus anregt. Er habe schon verschiedene Menschen aus<br />
unterschiedlichen Abteilungen des KJHV angesprochen, um mit einem solchen<br />
Projekt zu starten. Daraus entstand das erste Redaktionsteam bestehend aus<br />
Wolfgang Jittler, Dagmar Lohmann (Teamleiterin der HtT Bärenhöhle), Frau<br />
Kall (Öffentlichkeitsarbeit der BDA) und Michael Schober (Förderschule der<br />
<strong>Bergische</strong>n <strong>Diakonie</strong> <strong>Aprath</strong>). Inzwischen hat sich das Team personell verändert.<br />
Es wurde für einige Zeit durch Herrn Blech (zu der Zeit Lehrer am Berufskolleg<br />
der BDA) erweitert. Seit seinem Ausscheiden komplettiert Frau Hofmann<br />
(Behandlungsleiterin im HPZ) die Redaktion.<br />
An dieser Stelle möchten wir uns als Redaktion nochmals verabschieden von<br />
Wolfgang Jittler und ihm für die tolle Arbeit in unserer Redaktionsrunde danken.<br />
Es hat viel Spaß zusammen gemacht. Lesen Sie unter anderem dazu das<br />
Interview mit Wolfgang Jittler.<br />
Diese inzwischen zehnte Ausgabe beinhaltet u. a. zwei Fachartikel zu den<br />
Thmena Autismus und Borderline-Störungen. Dr. Loose, Psychologe in der<br />
Ambulanz des heilpädagogisch-psychotherapeutischen Zentrums HPZ, beschreibt<br />
die Arbeit der Spezialambulanz für Autismus-Spektrumsstörungen des HPZ.<br />
Susanne Hofmann, ebenfalls Psychologin im HPZ und Behandlungsleiterin in der<br />
Gruppe Haus Stern, setzt sich mit dem Problem von Kindern in Borderline<br />
Beziehungen auseinander und beschreibt die Auswirkungen auf die Eltern-Kind-<br />
Beziehung und die Bedingungen, unter denen sich diese Kinder entwickeln.<br />
Diese Ausgabe wird fachlich abgerundet mit dem Glossar von Dr. Blech zur<br />
Frage: Sind pädagogische Prozesse messbar?<br />
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern viel Spaß beim Lesen.<br />
Michael Schober<br />
(Schulleitung der Förderschule der <strong>Bergische</strong>n <strong>Diakonie</strong> <strong>Aprath</strong>)<br />
3
Spezialambulanz für Autismus-Spektrumsstörungen (ASS)<br />
Heilpädagogisch-Psychotherapeutisches Zentrum (HPZ)<br />
Autistische Störungen werden im ICD-<strong>10</strong> (International Classification of<br />
Diseases; <strong>10</strong>. Revision) der Weltgesundheitsorganisation zu den tiefgreifenden<br />
Entwicklungsstörungen gezählt, die in unterschiedlichen Erscheinungsformen<br />
auftreten können. Aufgrund der Schwere der Beeinträchtigung benötigen Kinder<br />
und Jugendliche mit Autismus meist gezielte und intensive therapeutische Hilfe,<br />
die sie oft erst dann bekommen, wenn die Problematik auch als autistische<br />
Störung diagnostiziert wurde (F84.-). Nicht selten ist es aber so, dass milde<br />
Ausprägungen von autistischen Symptomen gar nicht oder erst spät identifiziert<br />
werden. Dabei gilt: Je früher die Diagnose bei vorliegender Störung gestellt wird<br />
und die spezifischen therapeutischen Hilfen einsetzen, desto größer sind die<br />
Chancen, die Problematik zu mindern und soziale Integration zu fördern.<br />
Insbesondere das Asperger-Syndrom (AS) und der unscharf definierte High-<br />
Funktioning-Autismus (HFA) werden nicht selten als primäre ADHS/ADS-,<br />
gelegentlich aber auch als sozialphobische, depressive oder Bindungsstörung<br />
fehldiagnostiziert. In der Regel bleiben diese Kinder in ihrem Verhalten<br />
therapieresistent, was nicht verwunderlich ist, da ja die Grundproblematik noch<br />
gar nicht richtig verstanden und eingeordnet worden ist.<br />
In der ASS-Spezialambulanz wollen wir Familien ansprechen, deren Kinder<br />
autismustypische oder -ähnliche Symptome aufweisen. Ziel u. a. ist die<br />
Abklärung, ob die Probleme, die die Kinder haben (z.B. therapieresistentes<br />
ADHS/ADS-, depressives, soziales Rückzugs-, phobisches oder eigenartig<br />
anmutendes Verhalten) auf der Plattform einer autistischen Störung entstanden<br />
sind. Bei negativem Befund, d.h. keine Autismus-Diagnose, kann (erneut)<br />
überprüft werden, ob die bisherigen Maßnahmen für den Abbau des<br />
Problemverhaltens zielführend sind oder welche Wege der Symptomverminderung<br />
sonst noch möglich sind. Doch zunächst einige Informationen zum<br />
Störungsbild:<br />
Was ist Autismus: Im Zentrum der Symptomatik stehen soziale Kontaktstörungen.<br />
Dabei spielt nicht die Menge der Kontakte die ausschlaggebende Rolle, sondern<br />
die Art und Weise, wie Kontakte aufgenommen und aufrecht erhalten werden,<br />
also die qualitative Komponente. Hierbei werden drei Bereiche von Symptomen<br />
unterschieden. Dies sind ...<br />
a.) qualitative Beeinträchtigungen in der Sozialen Interaktion<br />
(Einfühlungsvermögen, sozio-emotionale Gegenseitigkeit, Teilen von Freude,<br />
Blickkontakt, Mimik, Gestik),<br />
b.) qualitative Beeinträchtigungen in der Kommunikation (Intonation,<br />
Sprechweise, Sprachverständnis, Verständnis sozialer Regeln, Spielverhalten)<br />
und<br />
4
c.) begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und<br />
Aktivitäten (Veränderungsängste und Rigidität, Rituale, Zwänge,<br />
Sonderinteressen, Motorik).<br />
Wichtig ist, dass nicht alle Bereiche bzw. typischen Auffälligkeiten vorliegen<br />
müssen, damit die Kriterien für eine Diagnose aus dem autistischen<br />
Störungsbereich erfüllt sind 1 . Beim frühkindlichen Autismus zum Beispiel (auch<br />
Kanner-Autismus genannt) müssen Symptome aus allen drei Bereichen vorliegen<br />
und das schon vor dem 3. Lebensjahr. Diese Kinder vermitteln ihren elterlichen<br />
Bezugspersonen schon in den ersten Lebenswochen und –monaten, dass sie – so<br />
der Eindruck - lieber nicht angelächelt, gestreichelt und umsorgt werden wollen.<br />
Eltern beschreiben oft mit feuchten Augen die schreckliche Beobachtung, dass<br />
die Kinder erst ruhiger wurden und aufhörten zu schreien, wenn sie nicht<br />
umsorgt wurden.<br />
Bei Kindern mit Kanner-Autismus liegen im weiteren Verlauf klassischerweise<br />
Sprach- und kognitive Entwicklungsverzögerungen mit Symptomen starker<br />
Rigidität und bizarren Bewegungsabläufen vor. Beim atypischem Autismus<br />
hingegen kann einer der o. g. Bereiche (meist b. oder c.) unauffällig sein oder<br />
aber die Symptomatik begann erst nach dem 3. Lebensjahr. Zum Verwechseln<br />
ähnlich sieht die Symptomatik von HFA und AS bei Jugendlichen aus, weswegen<br />
sie häufig gar nicht mehr getrennt gesehen werden: Während der HFA in den<br />
ersten Lebensjahren vom Erscheinungsbild an einen frühkindlichen Autismus<br />
erinnert (Sprachentwicklungs- und kognitive Störungen), sind Kinder mit (später<br />
diagnostizierten) AS in den ersten Lebensjahren weit weniger beeinträchtigt<br />
gewesen. Entscheidende Kriterien sind die Sprach- und kognitive Entwicklung,<br />
die meist nur anamnestisch ermittelt werden können (z.B. Entwicklungsbericht<br />
aus dem Kindergarten, Ergotherapiebericht, Eintragungen im gelben U-Heft).<br />
Abgegrenzt werden von ASS müssen das Heller- und Rett-Syndrom, die zwar<br />
beide auch im ICD-<strong>10</strong> unter tiefgreifende Entwicklungsstörungen geführt<br />
werden,, aber durch den Verlust von bereits erworbenen Fertigkeiten wie<br />
Sprache und Bewegung charakterisiert sind und in der Regel mit einer<br />
demenziellen Entwicklung einhergehen.<br />
Häufigkeit: alle ASS 0,6-0,7%, frühkindlicher Autismus ca. 0,13-0,22%, AS ca.<br />
0,1-0,3%, andere tiefgreifende Entwicklungsstörungen 0,33%. Jungen sind 3-4<br />
Mal häufiger betroffen als Mädchen 2 .<br />
Ursache: Nach den bisherigen Erkenntnissen aus Familien- und<br />
Zwillingsuntersuchungen kann davon ausgegangen werden, dass die Entstehung<br />
1 Die Kriterien werden definiert in den Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im<br />
Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (2007). 3. Auflage; Deutscher Ärzte-Verlag, oder aber in Diagnose-<br />
Checklisten praktikabel zur Verfügung gestellt; siehe hierzu: DCL TES aus der DISYPS-II Reihe (Diagnostik-<br />
System für psychische Störungen nach ICD-<strong>10</strong> und DSM-IV für Kinder und Jugendliche-II von Döpfner et al.;<br />
Huber-Verlag.<br />
2 Quelle: Bundesverband Autismus Deutschland e.V. (vergleiche: http://w3.autismus.de/pages/startseite.php)<br />
5
von Autismus durch eine Kombination verschiedener spezifischer Gene bedingt<br />
ist (6-8 Gene sind in Diskussion), die wahrscheinlich insbesondere während der<br />
Gehirnentwicklung aktiv sind. Die bis in die 1960er Jahre vertretene Ansicht,<br />
Autismus entstehe aufgrund der emotionalen Kälte der Mutter, durch lieblose<br />
Erziehung, mangelnde Zuwendung oder psychische Traumata, gilt heute als<br />
widerlegt.<br />
Seit einigen Jahren sprechen Experten auch von Spektrumsstörungen, wobei hier<br />
ein Kontinuum bzw. dimensionales Störungsmodell zugrunde liegt, welches<br />
impliziert, dass die einzelnen Störungsbilder (frühkindlicher Autismus, atypischer<br />
Autismus, HFA und AS) unter ätiologischen Therapie- und<br />
Verlaufsgesichtspunkten verwandt sind.<br />
Diagnostik: Die Diagnostik wird i. A. ambulant durchgeführt und nimmt in der<br />
Regel 3-5 Sitzungen in Anspruch. Am Anfang steht eine sorgfältige Anamnese<br />
und Exploration der Auffälligkeiten, die Anlass zur Sorge gegeben haben. Seit<br />
wann bestehen die Symptome, wie ist der Verlauf, wie verhielt sich das Kind im<br />
Kindergarten, in der Schule, bei den Großeltern, bei Freunden etc? Welche<br />
Maßnahmen sind bereits mit welchem Erfolg durchgeführt worden? Als<br />
Screening-Verfahren stehen uns der „Fragebogen zur Sozialen Kommunikation“<br />
(FSK) und die „Marburger Beurteilungsskala für das Asperger-Syndrom“<br />
(MBAS) zur Verfügung. Sollten die Screening-Verfahren unterhalb des<br />
Grenzwertes (Cut-Offs) bleiben, überprüfen wir, inwiefern die knapp gehaltenen<br />
schriftlichen Fragen richtig verstanden wurden. Sollte die Nachprüfung<br />
tatsächlich keine autismustypische Problematik ergeben, können wir mit der<br />
„Social Responsiveness Scale“ (SRS; Fragebogen zur reziproken sozialen<br />
Reaktivität) eine dimensionale Einstufung (Prozentränge) für die Bereiche<br />
„soziale Bewusstheit“, „soziale Kognition“, „soziale Kommunikation“, „soziale<br />
Motivation“ und „autistische Manierismen“ vornehmen. Dies erlaubt uns, den<br />
Eltern spezifische Tipps zu geben, welche Bereiche genau innerhalb der sozialen<br />
Reaktivität gefördert werden sollten. Im Falle eines „positiven“ Sreening-<br />
Befundes (Cut-Off überschritten) sollte der Autismus-Verdacht weiter überprüft<br />
werden. Hierbei sind wir in unser Ambulanz-Testothek in der glücklichen Lage,<br />
auf den „Goldstandard der Autismusdiagnostik“ zurückgreifen zu können:<br />
Hierunter wird u.a. die „Diagnostische Beurteilungsskala für Autistische<br />
Störungen“ (ADOS) verstanden. Darüber hinaus können wir durch das<br />
„Diagnostische Interview für Autismus-revidiert“ (ADI-R) die bisherigen<br />
Befunde validieren und den diagnostischen Prozess einen großen Schritt weiter<br />
bringen. Trotz dieser hervorragenden, wissenschaftlich fundierten<br />
Untersuchungsverfahren bleibt die klinische Untersuchung unersetzlich: Die<br />
klassischen Fragen zur Empathie- und Mentalisierungsfähigkeit 1 (Theory of<br />
Mind, s. u.) sind ebenso Bestandteile wie gezielte Beobachtungen beim<br />
1 Hier wird zwischen „first ...“ und „second order false belief tasks“ unterschieden. Beispiele finden sich in unter<br />
Fußnote 3 benannter Literatur, Seite 59ff.<br />
6
gemeinsamen Malen, Spielen, Puzzeln, Rätseln oder einfachem Small-Talk-<br />
Kontakt auf dem Weg vom Wartezimmer zum Untersuchungsraum. Ferner<br />
werden mit sozial mehrdeutigem Bildmaterial (z.B. „Emotions“, LDA), das bei<br />
Kindern ohne Autismus eine sozio-emotionale Interpretation und Reaktion<br />
geradezu provoziert, die Wahrnehmungspräferenzen und -gewohnheiten<br />
untersucht: Worauf achtet das Kind spontan? Für die Bezugsperson im Alltag<br />
empfiehlt sich jedoch, sich mit alltäglichen Bildern (z. B. in einer Illustrierten)<br />
einen Eindruck zu verschaffen, ob es Wahrnehmungsbesonderheiten gibt. Bei<br />
jüngeren Kindern bieten sich zudem Puppen-, bei älteren auch Rollenspiele an.<br />
Kann das Kind in eine andere Rolle schlüpfen und darin sozial angemessen<br />
agieren? Eine andere Möglichkeit ist, mit dem Kind zu puzzeln: Vermag es die<br />
Puzzleteile inhaltlich in ein Gesamtbild zu integrieren (zentrale Kohärenz, s.u.)?<br />
Ist das Puzzle dann erstmal fertig gestellt, können Sie eine Art „Geschichtenerzählspiel“<br />
vorschlagen: Was ist bis hierhin passiert, was wird die Person im<br />
Puzzle tun, warum wird sie sich so verhalten, und wie geht die Geschichte aus?<br />
Eine schlecht objektivierbare, aber unverzichtbare Frage ist, ob das Kind mit<br />
seinen Gedanken und Gefühlen „spürbar“ ist: Kinder mit Autismus sprechen<br />
häufig wie durch eine Glaswand, sie wirken fassadär, emotional wie in einem<br />
Nebel, schwer greifbar.<br />
Zusammenfassend gleicht die Diagnose Autismus bzw. ASS einem Mosaikbild,<br />
deren Teile nacheinander untersucht und am Ende zusammengefügt werden.<br />
Da viele Kinder mit Asperger-Syndrom zunächst auf eine ADHS/ADS-Störung<br />
behandelt werden, seien hier exemplarisch Unterschiede und Gemeinsamkeiten<br />
zwischen Asperger-Syndrom und ADHS (Tab. 1) aufgeführt 1 .<br />
Tab.1: Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Asperger-Syndrom und<br />
ADHS<br />
Asperger-Syndrom ADHS<br />
Sprachentwicklung Normal oder früh Unterschiedlich<br />
Motorik Oft ungeschickt Unterschiedlich<br />
Körperkontakt<br />
Vermindert oder nur Unauffällig<br />
selbstbestimmt<br />
Blickkontakt<br />
Kaum, sozial nicht<br />
moduliert<br />
Unauffällig oder<br />
flüchtig, rasch abgelenkt<br />
Nonverbale<br />
Deutlich eingeschränkt Unauffällig<br />
Kommunikation<br />
Sprachstil<br />
Pedantisch auffällige<br />
Modulation der Stimme<br />
Schnell sprechend,<br />
rasche Themenwechsel<br />
Kommunikation Einseitige Monologe,<br />
wenig Bezug zum<br />
anderen<br />
Wechselseitig,<br />
bezugnehmend auf die<br />
Äußerungen des<br />
Gegenübers<br />
1 Aus: Remschmidt, H. & Kamp-Becker, I. (2006). Asperger-Syndrom. Seite 144. Heidelberg: Springer<br />
7
Interaktion<br />
Keine geteilte Freude,<br />
gestörter Kontakt, keine<br />
Freundschaften, geringe<br />
sozio-emotionale<br />
Gegenseitigkeit<br />
Geteilte Freude<br />
vorhanden, Kontakt u. U.<br />
schwierig, aber<br />
vorhanden, wechselhafte<br />
Freundschaften, sozioemot.<br />
Gegenseitigkeit u.<br />
U. sekundär gestört<br />
Theory of Mind 1 Deutlich eingeschränkt Keine grundlegende<br />
Einschränkung<br />
Exekutive Funktionen 2 Eingeschränkt Eingeschränkt<br />
Zentrale Kohärenz 3 Gering Unauffällig<br />
Aufmerksamkeit<br />
Spielverhalten<br />
Stereotypes, repetitives<br />
Verhalten<br />
Betroffene<br />
Lebensbereiche<br />
Fokussierung auf Details,<br />
Schwierigkeiten im<br />
schnellen<br />
Aufmerksamkeitswechsel<br />
Kein kooperatives,<br />
interaktives,<br />
fantasievolles Spielen<br />
Sonderinteressen,<br />
zwanghaft,<br />
Veränderungsängste<br />
Durchgängig alle,<br />
tiefgreifend<br />
Schwierigkeiten in der<br />
Daueraufmerksamkeit,<br />
Impulssteuerung<br />
Hyperaktiv und<br />
impulsiv, aber durchaus<br />
fantasievoll<br />
Unauffällig<br />
Vor allem<br />
Anforderungssituationen,<br />
nicht alle<br />
Diagnosekriterien für<br />
tiefgreifende<br />
Entwicklungsstörungen<br />
erfüllt<br />
Was kommt nach der Diagnose?<br />
Die Diagnosestellung ist zunächst das Ziel, aber zugleich auch der Startpunkt für<br />
eine störungsspezifische Behandlung des Kindes. Im Falle einer autistischen<br />
Problematik empfehlen wir dringend die Kontaktaufnahme zum zuständigen<br />
Jugendamt, um pädagogische und therapeutische Hilfen zu beantragen (siehe<br />
Eingliederungshilfe, KJHG §35a). Letztere können auch über eine ambulante<br />
Psychotherapie erfolgen. Elterliche Bezugspersonen, die Kinder mit autistischen<br />
Problemen versorgen, bekommen i. d. R. auch Pflegegeld, je nach Schweregrad<br />
Stufe 1 bis 3.<br />
1 Theory of Mind bezeichnet die Fähigkeit, Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten und Vorstellungen bei sich<br />
und anderen zu erkennen, zu verstehen und vorherzusagen<br />
2 Exekutive Funktionen sind Denkprozesse höherer Ordnung, die für die Verhaltensplanung, - steuerung und –<br />
kontrolle entscheidend sind, z.B. Handlungsplanung, Impulskontrolle, Kontrolle der Aufmerksamkeit und<br />
motorischen Funktionen, Inhibition störender Reize, Flexibilität in Denken und Handeln<br />
3 Zentrale Kohärenz beschreibt die natürlich vorhandene Tendenz, vorhandene Reize global und im Kontext zu<br />
verarbeiten, wobei Informationen zusammengefügt werden, um die höherwertige Bedeutung zu erfassen.<br />
8
Konkrete Hilfen von Seiten des HPZ reichen von Empfehlungen zu geeigneter<br />
Literatur, Vermittlung zu Erziehungsberatungsstellen, Selbsthilfegruppen für<br />
Betroffene und deren Familien, spezialisierten Therapeuten sowie<br />
Autismuszentren bzw. wohnortnahen entsprechenden Einrichtungen für<br />
ambulante und stationäre Angebote zur Behandlung der autistischen Symptome.<br />
In Einzelfällen können wir auch im HPZ betroffene Kinder in ambulante<br />
Gruppentherapien integrieren (z. B. „Training Sozialer Fertigkeiten“), eine<br />
medikamentöse Unterstützung anbieten und/oder eine teil- oder vollstationäre<br />
Aufnahme des Kindes vornehmen, sofern die soziale Integrationsfähigkeit des<br />
Kindes nicht zu gravierend beeinträchtigt ist.<br />
Noch ein abschließendes Wort zur Familie der betroffenen Kinder: Regelmäßig<br />
finden sich in Familien, die Kinder mit Autismus haben und jahrelang vergebens<br />
nach einer treffenden Diagnose und Behandlung gesucht haben, desolate und<br />
zerrüttete Familienverhältnisse. Wir treffen häufig auf getrennt lebende und/oder<br />
zerstrittene Eltern, z. T. mit Depression, Alkoholismus, Medikamentenabhängigkeit,<br />
auch Eltern, die durch harsches, meist inkonsequentes, schließlich<br />
resigniertes Erziehungsverhalten schon viele Schleifen in einem Teufelskreis<br />
gedreht haben. Die Geschwisterkinder sind ebenfalls häufig in sozio-emotionaler<br />
Hinsicht auffällig. Diese Beobachtungen und Bedingungen werden dann<br />
vorschnell in einen kausalen Zusammenhang mit den „sozialen Problemen“ des<br />
Kindes gebracht, frei nach dem Motto: „In so einer Familie muss man ja krank<br />
werden“.<br />
Vorsicht, urteilen Sie nicht zu schnell! Die Erfahrung zeigt, dass Kinder mit<br />
autistischen Problemen ihrerseits eine so große Belastung darstellen, dass auch<br />
„gesunde und intakte“ Familien dadurch hochgradig auffällig werden können.<br />
Eine letzte Bitte: Da Geschwisterkinder in der Regel erheblichen Belastungen<br />
ausgesetzt waren und noch sind, empfiehlt sich auch bei ihnen immer eine<br />
kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik, gerne auch in unserer HPZ-<br />
Institutsambulanz.<br />
Dipl.-Psych. Dr. rer. nat. Christof Loose<br />
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut<br />
Spezialambulanz für ASS des Heilpädagogisch-Psychotherapeutischen<br />
Zentrums<br />
mit Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />
9
Kinder in Borderline-Beziehungen<br />
Der Begriff Borderline-Störung<br />
Der Begriff Borderline wurde Ende der 1930er Jahre eingeführt und<br />
charakterisierte psychische Beeinträchtigungen, die auf der Grenze zwischen<br />
Neurose und Psychose schwanken. Recht bald wurde aber erkannt, dass diese<br />
Störungen in ihrer Gesamtheit als Persönlichkeitsstörung zu sehen sind. Der<br />
Begriff Borderline hat somit zwar seine inhaltliche Bedeutung verloren, wurde<br />
aber trotzdem beibehalten. Heute gilt die Borderlinepersönlichkeitsstörung (im<br />
Folgenden als BPS abgekürzt) als eigenständiges Krankheitsbild, das durch<br />
Instabilität in den Bereichen der Affektregulation, Impulskontrolle, den<br />
zwischenmenschlichen Beziehungen und dem Selbstbild definiert ist.<br />
Diagnostische Kriterien<br />
Dem DSM IV (Diagnostisches und statistisches Handbuch Psychischer<br />
Störungen) zufolge liegt eine BPS mit großer Wahrscheinlichkeit vor, wenn ein<br />
Mensch unter mindestens fünf der folgenden neun Symptome leidet:<br />
1. Verzweifeltes Bemühen, Alleinsein zu verhindern<br />
2. Intensive, aber instabile zwischenmenschliche Beziehungen<br />
3. Identitätsstörung<br />
4. Impulsivität bei mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Aktivitäten<br />
5. Wiederholte Suiziddrohungen oder –versuche, Selbstverletzungen<br />
6. Affektive Instabilität<br />
7. Chronische Gefühle der Leere<br />
8. Übermäßig starke Wut; Unfähigkeit, Wut zu kontrollieren<br />
9. Dissoziative Symptome; stressabhängige paranoide Fantasien<br />
Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung<br />
Im Folgenden soll der Blick auf diese Symptombereiche und ihre Auswirkungen<br />
auf die Interaktion der Borderline-Persönlichkeit mit dem Kind gerichtet werden.<br />
1. Verzweifeltes Bemühen, Alleinsein zu verhindern<br />
Die Angst vor dem Verlassenwerden und die Neigung der Borderline-<br />
Persönlichkeit, Trennung als Zurückweisung oder Verrat zu erleben, führen zu<br />
einer schwer auflösbaren Verstrickung zwischen Eltern und Kind. Das Kind muss<br />
sich lösen, um zu überleben, die wachsende Autonomie des Kindes stellt jedoch<br />
eine massive Bedrohung und schwere Kränkung für die Eltern dar.<br />
Die Borderline-Persönlichkeit unternimmt oft ungeheure Anstrengungen, um das<br />
Verlassenwerden zu verhindern, und das Übertragen von Schuld- und<br />
Schamgefühlen bietet die Grundlage, dem Kind den eigenen Willen<br />
aufzuzwingen. Durch Schuldzuweisung kommt das Kind in die Rolle, eine<br />
Wiedergutmachung leisten zu müssen und in der Beziehung verpflichtet zu<br />
<strong>10</strong>
werden. Das eigene Leben kann durch die Bedürftigkeit der Eltern nahezu<br />
ausgelöscht werden. Oft schränken Borderline-Eltern auch ihre erwachsenen<br />
Kinder weiter ein, wobei jeder Versuch, ein eigenständiges Leben zu entfalten,<br />
mit den gewohnten manipulativen Mitteln verhindert wird.<br />
Um der Angst vor Zurückweisung zu entgehen und die kindliche Zuwendung zu<br />
sichern, kommt es mitunter auch zu Verwöhnung des Kindes durch die<br />
Beziehungsperson. Da das Kind in Folge anhaltender Verwöhnung selbst keine<br />
Frustrationstoleranz entwickeln kann, resultiert aus dieser Entwicklung die<br />
Erwartung sofortiger Bedürfnisbefriedigung. Das Kind neigt zu aggressiven<br />
Forderungen, und der daraus resultierende Druck kann sich in ein für die<br />
Borderline-Persönlichkeit unerträgliches Maß steigern, die sich letztlich in Wut<br />
auf das Kind entlädt. Im Extremfall führt die Unfähigkeit, das Kind zu<br />
frustrieren, zur Duldung von Schulverweigerung oder dissozialem Verhalten.<br />
2. Intensive, aber instabile zwischenmenschliche Beziehungen<br />
Beständigkeit, Kontinuität und Gleichförmigkeit der Erfahrungen sind für das<br />
Kleinkind Voraussetzung, die Abwesenheit der Mutter ohne übergroße Angst zu<br />
ertragen. Unbeständigkeit, Unberechenbarkeit und übermäßige Intensität sind<br />
Merkmale der Borderline-Störung und lösen beim Kind einen Zustand<br />
chronischer Angst und dauerhaften Stresses aus. Das Kind erlebt abrupte<br />
Wechsel zwischen intensiver zärtlicher Zuwendung, emotionaler<br />
Überstimulierung und Beziehungsverlust.<br />
Bei Geschwisterkindern kommt es häufig zur Spaltung zwischen dem ‚nur guten’<br />
und dem ‚nur bösen’ Kind. Die Beziehungsperson projiziert die<br />
widersprüchlichen Gefühle, die sie in Bezug auf sich selbst hat, auf<br />
unterschiedliche Kinder. Das ‚nur gute’ Kind wächst in eine verantwortungsvolle<br />
Rolle und entwickelt in seinem Bemühen, die Eltern zu unterstützen, häufig im<br />
Erwachsenenalter ein Helfersyndrom; das ‚nur schlechte’ Kind ist in hohem<br />
Maße gefährdet, später ebenfalls eine BPS zu entwickeln.<br />
Das Schwarz-Weiß-Denken der Borderline-Persönlichkeit ist nicht selten auch<br />
der Hintergrund für das elterliche Entfremdungssyndrom. Der einst idealisierte<br />
Partner wird nach erlebten Enttäuschungen als schädigender Vater oder als<br />
schädigende Mutter entwertet, und den Kindern droht Beziehungsverlust zu dem<br />
Elternteil, bei dem sie leben, wenn sie sich dem anderen Elternteil zuwenden.<br />
3. Identitätsstörung<br />
Eine Borderline-Persönlichkeit leidet unter einer ausgeprägten und anhaltenden<br />
Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung. Dem Fehlen eines<br />
eigenen Identitätsgefühls liegt ein Mangel an Objektkonstanz zugrunde, so dass<br />
die Borderline-Persönlichkeit nicht in der Lage ist, die Individualität des Kindes<br />
als losgelöst von sich selbst zu erkennen. Es entsteht ein symbiotischer Anspruch<br />
11
an das Kind, das in der Folge seine eigene Individualität als schuldhaft und<br />
gefährlich erleben muss, da es nur in der Symbiose ein ‚gutes Kind’ sein kann. So<br />
lernt das Kind, sich durch Aufmerksamkeit auf die Beziehungsperson<br />
abzusichern, ein Verhalten, das wiederum die eigene Identitätsentwicklung<br />
gefährdet.<br />
4. Impulsivität bei mindestens zwei potenziell selbstzerstörerischen<br />
Aktivitäten<br />
Bei Borderline-Persönlichkeiten erhöht sich durch Gefühle von Langeweile oder<br />
Leere das Risiko von Abhängigkeitserkrankungen, deren Folgen Kinder oft in<br />
massive Überforderungssituationen bringen, in denen sie die Verantwortung für<br />
die Eltern übernehmen und Gefühle unerträglicher Angst und Ohnmacht<br />
abwehren müssen. Ebenso kann es zu ernster Gefährdung der Kinder kommen,<br />
etwa durch Autofahren unter Alkoholeinfluss.<br />
Als besondere Form der Angst tritt in Zusammenhang mit anhaltender Sorge um<br />
die Beziehungsperson Trennungsangst beim Kind auf, die intensiv spürbar ist,<br />
wenn das Kind von der Familie getrennt ist. Trennungsangst kann ebenso wie das<br />
oben beschriebene permissive Erziehungsverhalten zu Schulverweigerung führen,<br />
da das Kind in der Nähe der Beziehungsperson bleiben möchte, um ggf. Mutter<br />
oder Vater beschützen zu können.<br />
Selbstschädigendes Verhalten führt zu Familiengeheimnissen. Familiäre<br />
Szenarien, die gesellschaftlichen Normen entgegenlaufen, müssen grundsätzlich<br />
geleugnet werden. Körperliche Verletzungen werden dann als Unfallfolgen<br />
dargestellt, Selbstschädigungen werden als Missgeschicke verschleiert. Für das<br />
Kind ist die Diskrepanz zwischen dem Erlebten und dem nach Außen vertretenen<br />
groß und führt zu der Erkenntnis, dass es der eigenen Wahrnehmung nicht trauen<br />
darf. Es übernimmt die Verantwortung dafür, dass die Familie nicht bloßgestellt<br />
wird, um seine Zugehörigkeit nicht aufs Spiel zu setzen. Häufig suchen Kinder<br />
aus diesem Grund keine Hilfe oder nehmen Hilfsangebote nicht wahr. Die<br />
Übernahme familiärer Tabus führt zu einer Untergrabung eines bestehenden<br />
Wertesystems bzw. verhindert die Entwicklung stabiler Werte. Loyalität lässt<br />
selbst Erwachsene noch in zerstörerischen Bindungen verharren, und jede<br />
ehrliche Auseinandersetzung mit der familiären Vergangenheit wird als Verrat<br />
erlebt.<br />
5. Wiederholte Suiziddrohungen oder –versuche, Selbstverletzungen<br />
Borderline-Persönlichkeiten neigen zu Kompensation unerträglicher emotionaler<br />
Spannungszustände durch Selbstverletzung oder Suizidalität. Selbsthass und<br />
Gefühle von Wertlosigkeit können zu selbstverletzendem Handeln führen, aber<br />
auch zu Versuchen, die Beziehungspersonen zu sorgenvoller Zuwendung zu<br />
manipulieren. Kinder können für das elterliche Verhalten verantwortlich gemacht<br />
werden, indem ihr Verhalten als Ursache dargestellt wird (‚Weil du so böse bist<br />
12
muss ich mir das antun.’). Manche Kinder von Borderline-Persönlichkeiten leben<br />
mit traumatischen Erinnerungen, etwa wie sie der Mutter oder dem Vater das<br />
Leben retten mussten.<br />
Kinder in Borderline-Beziehungen bemühen sich ständig, die Stimmung der<br />
Beziehungsperson einzuschätzen. Dabei verfolgen sie widersprüchliche Ziele: sie<br />
müssen sich vor der Beziehungsperson schützen oder diese bekämpfen, sie<br />
bemühen sich jedoch gleichzeitig, die Beziehungsperson zu beschützen. Auch<br />
hier müssen erlebte Szenen geleugnet werden, und es kommt zu<br />
Familiengeheimnissen.<br />
6. Affektive Instabilität<br />
Kinder in Borderline-Beziehungen erleben ihre Eltern wütend und tobend,<br />
depressiv zurückgezogen und dadurch emotional unerreichbar, angstvoll<br />
angespannt oder übersprudelnd gut gelaunt und zugewandt. Die Wechsel sind<br />
abrupt und wirken auf das Kind schwer traumatisierend: Das Kind lebt in einer<br />
unsicheren Bindung an eine emotional instabile Beziehungsperson und entwickelt<br />
häufig selbst widersprüchliche Reaktionen, reagiert impulsiv, schwankt zwischen<br />
oft gewalttätiger Aggression und Depression sowie anhaltender Angst. Ist ein<br />
Kind anhaltender affektiver Instabilität ohne kompensierende Verlässlichkeit in<br />
anderen nahen Beziehungen ausgesetzt, ist das Risiko groß, selbst eine<br />
emotionale Instabilität zu entwickeln.<br />
7. Chronische Gefühle der Leere<br />
Der Zustand innerer Leere bei der Beziehungsperson hat auch zur Folge, dass das<br />
Kind sich nicht gespiegelt fühlen kann, Mutter oder Vater emotional nicht<br />
erreicht und ängstigende Einsamkeit erlebt, die wiederum zu eigenem Erleben<br />
innerer Leere führen kann. In der Folge ist das Risiko groß, etwa durch<br />
exzessiven Medienkonsum die eigene Leere zu füllen. Betroffene Kinder wirken<br />
anspruchsvoll und gelangweilt, sie haben wenig bis gar keine kreativen Impulse.<br />
8. Übermäßig starke Wut<br />
Die impulsive Wut der Borderline-Persönlichkeit dient oft der Kompensation<br />
unerträglichen Drucks und führt dazu, dass betroffene Eltern Situationen<br />
erschaffen, die es ihnen möglich machen, diesen Druck auszuagieren. Das hat für<br />
das Kind zur Folge, dass es ohne Vorwarnung und unabhängig von den eigenen<br />
Verhaltensweisen mit psychischer oder physischer Gewalt konfrontiert wird.<br />
Besonders das Gefühl verlassen oder abgelehnt zu werden, kann zu destruktivem<br />
Wüten führen, oft fühlt sich die Borderline-Persönlichkeit jedoch schon<br />
angegriffen und verraten, wenn andere ihre Gefühle und Wahrnehmungen nicht<br />
bestätigen. Auf Verhalten, das sie als illoyal erleben, reagieren Borderline-Eltern<br />
oft mit Beschimpfungen, impulsiven Strafaktionen oder Liebesentzug. Oft wird<br />
die Herabsetzung des Kindes als Bestrafung eingesetzt, auf die das Kind mit<br />
Scham reagiert. Ausgeprägte Scham kann das Recht auf die eigene Existenz in<br />
13
Frage stellen und die Äußerung eigener Bedürfnisse massiv blockieren. Wird ein<br />
Kind anhaltend durch Demütigungen, Herabsetzungen oder Beschimpfungen in<br />
seiner Würde verletzt, kann es selbstzerstörerische Fantasien oder Handlungen<br />
entwickeln, um der unerträglichen Scham zu entgehen.<br />
9. Dissoziative Symptome; stressabhängige paranoide Fantasien<br />
Das Risiko einer Psychose wird bei Borderline-Persönlichkeiten durch den<br />
Konsum von Alkohol oder Drogen erhöht. Auch Angst und Verzweiflung können<br />
psychotische Schübe auslösen. Ein Elternteil, das dissoziatives Verhalten zeigt,<br />
kann eruptive Tobsuchtsanfälle inszenieren, es kann aber auch zu stillem<br />
Rückzug mit selbstverletzendem Verhalten kommen. Weiter kann das plötzliche<br />
Verlassen der Familie Folge eines dissoziativen Zustands sein.<br />
Meinungsverschiedenheiten in der Familie können zu dramatischen<br />
Auseinandersetzungen führen, in denen Kinder die Polizei oder Nachbarn zur<br />
Hilfe rufen müssen oder aus der Wohnung flüchten.<br />
Ein wesentliches Merkmal der Borderline-Störung ist die Tendenz der<br />
Betroffenen, Situationen zu erschaffen, die zu ihren Gefühlen passen. Das Kind<br />
wird beschuldigt, die Gefühle ausgelöst zu haben, die eigentlich der Situation<br />
vorausgingen. Diese oft verzerrte Sicht der Eltern auf die Realität ist für das Kind<br />
irritierend und erschüttert das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung, da es die<br />
Realität der Eltern nicht in Frage stellen kann. Das eigene Erleben muss als falsch<br />
bewertet und geleugnet werden. Die Fähigkeit zu urteilen und sich zu orientieren,<br />
wird untergraben, und oft kann das Kind nur selbst durch Dissoziation das<br />
Erleben von Verwirrung und Bedrohung abwehren.<br />
Hilfe für betroffene Kinder<br />
Kinder, die in Borderline-Beziehungen aufwachsen, sind zunächst darauf<br />
angewiesen, dass Erwachsene in Schulen, Kindergärten oder<br />
Freizeiteinrichtungen ihre Gefährdung erkennen. Dies setzt einen aufmerksamen<br />
Blick voraus, der besonders den scheinbar unauffälligen und um Anpassung<br />
bemühten Kindern gilt. Kontinuierliche und fördernde Beziehungsangebote, die<br />
mit Respekt vor der Familie einhergehen, können betroffenen Kindern<br />
kompensierende Erfahrungen vermitteln. Oft aber ist eine gut abgestimmte<br />
multiprofessionelle Hilfe für das Kind und die Familie der einzige Weg, um eine<br />
dauerhafte Entlastung für alle Beteiligten einzuleiten.<br />
Literaturhinweise:<br />
Lawson, C.A. (20<strong>10</strong>). Borderline-Mütter und ihre Kinder. Wege zur Bewältigung<br />
einer schwierigen Beziehung. Psychosozial-Verlag.<br />
Rösel, M. (2008). Mit zerbrochenen Flügeln: Kinder in Borderline-Beziehungen.<br />
Starks-Sture Verlag.<br />
Susanne Hofmann, Psychologische Psychotherapeutin<br />
Behandlungsleiterin Haus Stern, HPZ<br />
14
Interview Wolfgang Jittler,<br />
langjähriger Leiter der EB Wülfrath und Heiligenhaus,<br />
Begründer der „<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>“<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Was waren die wichtigsten Stationen in deinem beruflichen<br />
Werdegang?<br />
Wolfgang Jittler: Ich denke, als erstes mein Psychologiestudium in Marburg in<br />
den 70er Jahren, wo ich dann das große Glück hatte, während der Ausbildung<br />
eine Kinderpsychotherapieausbildung zu machen, so dass ich dann, als ich fertig<br />
war mit dem Studium, relativ schnell und gut eine Stelle bekommen habe,<br />
nämlich in Coburg. Da habe ich an der Familienberatungsstelle angefangen, ich<br />
ganz viel Kinderpsychotherapie gemacht habe, vor allem in Gruppen, bis mich<br />
dann das Heimweh packte, und ich mich wieder zurück orientiert habe ins<br />
<strong>Bergische</strong> Land.<br />
Ich hätte an der Beratungsstelle in Wuppertal Elberfeld weitermachen können,<br />
habe mich dann aber für die <strong>Bergische</strong> <strong>Diakonie</strong> <strong>Aprath</strong> entschieden, für den<br />
klassischen Heimbereich, Haus Erfurth, das ist der Ort, wo wir hier im Moment<br />
sitzen, das ist also hier die ehemalige Gruppe zwei (mittlerweile die Bärenhöhle<br />
der HtT <strong>Aprath</strong>). Ich bin dann rein gekommen in eine Zeit, das war 1978, als die<br />
Kinder wirklich ziemlich aggressiv und kaum zu bändigen waren. Also was hier<br />
alles in kürzester Zeit kaputt ging, das könnt ihr euch nicht vorstellen.<br />
Wir haben diesen klassischen Heimbereich umgestaltet in den differenzierten<br />
Bereich, den es heute im Jugendhilfeverbund immer noch gibt, mit kleinen<br />
überschaubaren Einheiten. Wir haben damals diesen dicken Brocken Erfurth mit<br />
vier stationären Gruppen jeweils mit zwölf Plätzen mit langen Gängen und<br />
zellenartigen Zimmern aufgegeben und haben dafür die „Buche“ belegt, das „alte<br />
Pfarrhaus“, dann eine Wohngruppe, die etwas später hier ausgezogen ist, und<br />
noch andere kleine Einheiten. Das war der Anfang der Differenzierung.<br />
Ja, und als das fertig war, da wollte ich dann meine Familientherapieausbildung<br />
zu Ende führen und bin an die Beratungsstelle nach Hagen gewechselt. Das war<br />
1981. Da bin ich 3 ½ Jahre geblieben, bis mich Frau Sieger anrief und fragte, ob<br />
ich nicht wieder zurück kommen wollte. Dann haben wir 1984 mit den Kollegen<br />
zusammen das pädagogische Konzept systemisch umgebaut. „Heilpädagogische“<br />
Gruppen hieß das damals. Das wichtige für uns war der Bezug zur<br />
Herkunftsfamilie, der Respekt vor der Herkunftsfamilie und die Kooperation mit<br />
der Herkunftsfamilie: kein Kontrakt, ohne die Herkunftsfamilie mit<br />
einzubeziehen. Das war damals ganz neu.<br />
15
Als 1991 Frau Sieger in den Ruhestand ging, habe ich die Leitung der<br />
heilpädagogischen Gruppen übernommen, weil kein anderer das wollte. Ich habe<br />
mich damals von allen Kollegen der heilpädagogischen Gruppen wählen lassen.<br />
Es war eigentlich etwas anderes vorgesehen: ich sollte weiter Psychologe sein<br />
und ein anderer Kollege sollte die Leitung übernehmen. Der hat sich das anders<br />
überlegt und plötzlich hieß es: „Jittler kann das machen“, da habe ich gesagt:<br />
„Nur wenn ich gewählt werde.“ Es hat eine geheime Wahl gegeben, unten im<br />
Kasino, und ich bin bei einer Enthaltung einstimmig gewählt worden.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Wie viele Gruppen umfasste die Leitung?<br />
Wolfgang Jittler: „Altes Pfarrhaus“, „Buche“, „Sonne“, „Mond“, „Düssel“ und<br />
eine Außengruppe in Engelskirchen. Das waren ungefähr 30 Mitarbeiter. Die<br />
nächste Station war dann, dass Herr Tornow mich fragte, ob ich nicht den<br />
ambulanten Bereich aufbauen wollte, also die Beratungsstelle. Wir hatten ein<br />
Modell für die heilpädagogischen Gruppen überlegt, wie es dort ohne mich<br />
weitergehen könnte. Meines Erachten war es das Modell, das Herr Kohlhaas jetzt<br />
versucht zu realisieren, also mehr Entscheidungsbefugnis in die Gruppen zu<br />
geben und eine fachliche Begleitung zu installieren. Das hatten wir uns 1993<br />
ausgedacht als neues Modell für die heilpädagogischen Gruppen. Ich habe dann<br />
alleine im Haus am Waldsee die Beratungsstelle aufgebaut. Es hat ungefähr ein<br />
Jahr gedauert, bis die Verträge unter Dach und Fach waren und die anderen<br />
Kollegen eingestellt wurden. Ich habe also ein Jahr lang alleine rumgerödelt. Den<br />
Rest der Geschichte kennt ihr ja: im Sommer 2009 habe ich nach 16 Jahren die<br />
Leitung der Beratungsstelle abgegeben und habe danach nur noch fachliche<br />
Arbeit in der flexiblen Erziehungshilfe und im stationären Bereich gemach.<br />
Zwischendurch habe ich noch einige andere Dinge gemacht: ich hatte u.a. einen<br />
Lehrauftrag an der Fachschule für zwei Jahre und war mal Lehrtherapeut an<br />
einem Institut für Familientherapie.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Welche Begegnungen, welche Menschen haben dich<br />
besonders inspiriert oder beeinflusst?<br />
Wolfgang Jittler: Während meines Studiums mit Sicherheit Frau Prof. Dr. Ehlers,<br />
das war meine Ausbilderin in Kinderpsychotherapie, die mich dann auch,<br />
nachdem ich fertig war, gefragt hat, ob ich nicht Tutor werden wollte. Und dann<br />
bin ich sozusagen als ausgebildeter Kinderpsychotherapeut selbst Ausbilder<br />
geworden. Das war für mich schon eine große Ehre. Und: Professor Stroebe, das<br />
war mein Mentor für meine Diplomarbeit in Sozialpsychologie, der ist heute<br />
glaube ich in Tübingen und hat ein ganz tolles Buch geschrieben bzw.<br />
herausgegeben: ‚Lehrbuch der Sozialpsychologie’, ein sehr empfehlenswertes<br />
Buch.<br />
16
Und dann natürlich während der Familientherapieausbildung Rudolf Kaufmann<br />
und Irene Wielpütz, die haben mich wirklich geprägt, von denen habe ich sehr<br />
viel gelernt. Ja, und Frau Sieger mit ihrem Menschenbild, mit ihrer besonderen<br />
Art zu führen, zu leiten und mit Konflikten umzugehen und ihrer Art, mit<br />
Kindern und Jugendlichen umzugehen, das hat mich auch sehr geprägt.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Welche Funktion hatte Frau Sieger hier?<br />
Wolfgang Jittler: Frau Sieger war die Leiterin des Kinderheims Haus Erfurth, und<br />
dazu gehörten noch die beiden Gruppen „Sonne“ und „Mond“. Wir waren<br />
sozusagen ein Gespann: Frau Sieger war die Leiterin und ich war der Psychologe.<br />
Wir haben in einer Art und Weise zusammengearbeitet, wie ich es eigentlich<br />
danach nie wieder gehabt habe. Das war teilweise ohne dass wir uns absprechen<br />
mussten, dass wir ähnliche Ideen oder Gedanken hatten. Wir haben auch<br />
schwierige Phasen miteinander durchgestanden. Von Frau Sieger habe ich sehr<br />
viel gelernt.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Bei diesem spannenden Bogen von so vielen Bereichen: was<br />
waren die größten oder wichtigsten positiven Veränderungen in Pädagogik,<br />
Therapie und Heimerziehung?<br />
Wolfgang Jittler: Der Respekt vor der Herkunftsfamilie als erstes, und als zweites<br />
der Respekt vor den Kindern. Was ich auch ganz wichtig finde: der Respekt vor<br />
der pädagogischen Arbeit im Alltag. Einfach das Bewusstsein darüber, dass die<br />
Pädagogen im Alltag im Grunde genommen wirklich die Basis von Allem sind<br />
und die Hauptarbeit machen. Ohne die könnten alle anderen hier nach Hause<br />
gehen und einpacken.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Was sind negative Entwicklungen?<br />
Wolfgang Jittler: Ja, das Primat der Strukturdiskussion. Die Diskussion, die wir<br />
früher geführt haben, da ging es wirklich manchmal Stunden lang um den<br />
richtigen methodischen inhaltlichen Weg: wie helfe ich einer Familie, wie helfe<br />
ich dem Kind, was kann ich tun, damit es weiter geht? Das hat sich in den letzten<br />
Jahren sehr verändert in Richtung: Welche formalen Bedingungen müssen da<br />
sein, damit wir unsere Arbeit machen können? Bis dahin, dass tertiäre Bereiche<br />
mittlerweile einen Großteil unserer Arbeit bestimmen. Tertiäre Bereiche, das sind<br />
die Bereiche, die eigentlich nichts mehr mit dem ursprünglichen Auftrag zu tun<br />
haben, die eigentlich Dienstleistungsfunktion haben, Qualitätsmanagement … Ich<br />
will das jetzt im Einzelnen nicht ausführen. So notwendig das ist, glaube ich, dass<br />
die „Tertiären“ ein bisschen zu großes Gewicht bekommen haben.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Gibt es für dich thematische Steckenpferde in der Arbeit, die<br />
dich besonders faszinieren, beschäftigen, begleiten?<br />
17
Wolfgang Jittler: Ja, dadurch, dass ich an der Beratungsstelle vorwiegend<br />
schulpsychologische Fragestellungen hatte, habe ich irgendwann angefangen, die<br />
Sache anders herum zu sehen, nämlich dass verhaltensauffällige Kinder in der<br />
Schule nicht zuerst Therapie brauchen, um dann besser lernen zu können,<br />
sondern ich habe mich gefragt, wenn die Kinder besser lernen, sind sie dann<br />
weniger verhaltensauffällig? Ich habe angefangen, mich mit Übungsbehandlung<br />
zu beschäftigen, speziell bei Rechenstörungen. Bevor ich in die Flex wechselte,<br />
habe ich mir hierüber die meisten fachlichen Gedanken gemacht, und wo ich<br />
auch ein Programm fast fertig hatte, bevor ich die Beratungsstelle verlassen habe.<br />
Das will ich auch zu Ende bringen. Man muss verstehen, wie Kinder, die<br />
Schwierigkeiten haben, Lesen, Schreiben oder Rechnen zu lernen, wie die<br />
sozusagen sekundär neurotisiert werden.<br />
Das ist der fachliche Ausdruck: eine sekundäre Neurotisierung aufgrund von<br />
Lernschwierigkeiten. Mit der Zugangsweise und dann auch der Einbeziehung der<br />
Familie in den Prozess habe ich supergute Erfahrungen gemacht. Das ist<br />
eigentlich das, was Schule wirklich braucht, nämlich begleitende Hilfen für<br />
Kinder, die besondere Schwierigkeiten haben. Schule hat einen viel größeren<br />
Stellenwert als früher, auch zeitlich. Insofern ist Schule ein ganz wichtiger Ort,<br />
um Kinder, die Schwierigkeiten haben, früh genug zu erkennen und zu begleiten.<br />
Ja, und Familientherapie war letztlich immer etwas Wichtiges für mich, und da<br />
habe ich jetzt auch in den letzten 1 ½ Jahren, in denen ich in der Flex gearbeitet<br />
habe, ein paar wirklich neue Aspekte gesehen und auch gemerkt, wie wichtig es<br />
ist, in der Familie mal zuhause gewesen zu sein. Die Dinge, die Schwierigkeiten<br />
und Probleme sehen etwas anders aus, wenn man mal da gewesen ist. Von der<br />
Beratungsstelle aus kommt man eher selten in die Familie.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Was ist für dich das Besondere an <strong>Aprath</strong>?<br />
Wolfgang Jittler: Die Gemeinschaft unter einem Dach, und zwar unter dem Dach<br />
des diakonischen Auftrags. Das ist für mich eigentlich so das Wichtige hier in<br />
<strong>Aprath</strong>, und das ist auch das, was mich hier eigentlich die ganzen Jahre sehr<br />
gehalten hat. Dass es irgendwie so eine Gemeinsamkeit gibt. Pastor Schneider hat<br />
das früher immer so ausgedrückt: „Wir dienen alle nur einem Herrn.“ Das ist das,<br />
was auch ehemalige Kollegen hier aus <strong>Aprath</strong>, die dann woanders hin gewechselt<br />
sind, z. B. in den kommunalen Bereich, sagen, das fehlt da. Da gibt es nicht<br />
dieses Gemeinsame, und ich finde dieses Diakonische ist schon etwas, was uns<br />
hier alle miteinander verbindet. Das ist mir auch wichtig, und das ist das, was ich<br />
hier auch immer sehr gut gefunden habe.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Dann kommen wir zu dem nächsten großen Bereich, nämlich<br />
dass du ja die <strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong> ins Leben gerufen hast. Wie ist die Idee<br />
18
entstanden, und wie schätzt du das jetzt so ein, wo wir die zehnte Ausgabe<br />
haben?<br />
Wolfgang Jittler: Ja, ich freue mich erst mal sehr darüber, dass wir es so weit<br />
geschafft haben. Ich finde es schon erstaunlich, dass wir eine zweistellige Zahl<br />
mit unseren Ausgaben erreicht haben. Es hat vorher etliche Versuche gegeben,<br />
etwas Ähnliches zu installieren, das ist dann meistens irgendwie versandet oder<br />
nach kurzer Zeit aufgegeben worden. Mir war wichtig, dass nach außen hin<br />
deutlich wird, was wir hier in <strong>Aprath</strong> tun, inhaltlich, dass wir hier wirklich<br />
qualifizierte fachliche Arbeit leisten, dass wir sehr viel diskutieren über den<br />
richtigen fachlichen Weg, dass wir hier auch alle einen fachlichen Hintergrund<br />
haben und dass wir mithalten können mit allen fachlichen Diskussionen um uns<br />
herum, das war mir wichtig. Also einfach ein Stück PR-Arbeit: tue Gutes und<br />
rede drüber. Aber eben fachlich-inhaltlich. Von vornherein war auch in unserer<br />
Konzeption klar, dass wir uns um Strukturfragen in <strong>Aprath</strong> überhaupt nicht<br />
kümmern.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Wo ist die Idee entstanden?<br />
Wolfgang Jittler: In der Beratungsstelle oder irgendwann in der Badewanne, ich<br />
weiß es nicht mehr. In der Badewanne habe ich die besten Ideen.<br />
Vielleicht darf ich das noch sagen: also die Idee war, jetzt nicht zur Leitung zu<br />
gehen und zu sagen: „Ich will so was machen.“, sondern auf der mittleren Ebene<br />
erst mal nach Gleichgesinnten zu suchen. Ich hatte eigentlich den Werner Wollek<br />
gefragt, das ist ein Kollege, mit dem ich sehr lange vertraut bin und den ich sehr<br />
schätze, und der hat gesagt, er hätte keine Zeit, und er hat dann Dagmar Lohmann<br />
empfohlen. Wir kannten uns vorher gar nicht. Das war also rein informell und<br />
ging eigentlich nur nach dem Gesichtspunkt: wen interessiert das noch und<br />
stimmt die Chemie. Formale Gesichtspunkte hat es dabei überhaupt nicht<br />
gegeben.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Nur einen: dass aus den verschiedenen Bereichen jemand<br />
dabei sein soll, damit alle sich irgendwie angesprochen fühlen.<br />
Wolfgang Jittler: Ganz genau. Das stimmt, das war wichtig, dass alle Bereiche<br />
vertreten sind.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Was wünschst du der Redaktion für die weitere Arbeit und<br />
für die künftigen Hefte?<br />
Wolfgang Jittler: Viel Glück und viele Beiträge, und dass das so weiter geht wie<br />
bisher, weil, ich hab festgestellt, dass der Kreis der Autoren doch mittlerweile<br />
recht groß geworden ist. Ja, und dass ihr weiterhin Freude und Spaß an der Arbeit<br />
19
habt und ich will gerne da meinen kleinen Beitrag noch liefern, indem ich hin und<br />
wieder mal was schreibe.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Was nimmst du von deiner Zeit in <strong>Aprath</strong>, von deinen vielen<br />
Berufsjahren mit, wenn du jetzt in Altersteilzeit gehst?<br />
Wolfgang Jittler: Ja, Erinnerungen, das werden dann Erinnerungen sein an<br />
Episoden. Dinge, die passiert sind, an die ich mich wahrscheinlich bis an mein<br />
Lebensende erinnern werde, an sehr viele sympathische und freundliche und<br />
kompetente Kollegen und Kolleginnen: also ich habe sehr viele sehr gute<br />
Beziehungen zu allen möglichen Kollegen gehabt in den Jahren. Ich werde mich<br />
an das eine oder andere Fest erinnern, vielleicht auch an das eine oder andere<br />
Jubiläum, z.B. das 15-jährige Jubiläum der Beratungsstelle, und ich denke, dass<br />
ein Großteil dieser Beziehungen, die ich hier in <strong>Aprath</strong> aufgebaut habe, oder<br />
zumindest ein Teil davon auch weiter leben wird. Jeder weiß wo ich wohne, und<br />
wenn ich hier aufhöre, heißt das ja nicht, dass ich sterbe.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Erzählst du uns eine Episode, die du nicht vergessen wirst?<br />
Wolfgang Jittler: Eine Episode, die ich nicht vergessen werde … Spontan fällt<br />
mir die Geschichte ein, wo zwei Kollegen bei Frau Sieger einen Termin hatten<br />
um ihr mitzuteilen, dass sie nicht bereit sind, mit einer Kollegin von ihnen weiter<br />
zu arbeiten. Und ich weiß noch, wie ich da in meinem Büro saß und dann sah,<br />
wie diese beiden Kollegen nach <strong>10</strong> Minuten wie begossene Pudel aus dem Büro<br />
von Frau Sieger kamen und wieder in ihre Gruppen gingen, und ich dann Frau<br />
Sieger fragte: „Was haben Sie denen gesagt?“ Und dann sagte Frau Sieger sie<br />
hätte denen gesagt, dass wir uns hier in <strong>Aprath</strong> nicht lieben müssten, wir müssten<br />
nur zusammen arbeiten. Und in diesem Falle gebe es nur zwei<br />
Lösungsmöglichkeiten: entweder es blieben alle oder es gingen alle.<br />
Und natürlich die vielen Sprüche, die Frau Sieger immer hatte, z.B. „Wenn die<br />
Gänse Wasser sehen, kriegen sie Durst.“<br />
Also, das reicht wahrscheinlich an Episoden. Es war die besondere Art der<br />
Führung von Frau Sieger, das erinnert mich sehr an diese Serie, ich weiß nicht ob<br />
ihr die kennt: ‚Die merkwürdigen Methoden des Inspektor Wanniger’, oder an<br />
die amerikanische Serie ‚Colombo’. Also einen ganz eigenen Stil finden in<br />
Führung und Leitung: kreativ, einfallsreich, humorvoll.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Was sind deine konkreten Pläne für die Zukunft beruflicher<br />
Art?<br />
Wolfgang Jittler: Ja, ich habe ein Büro gemietet in Schwelm ab 1.5., so dass ich<br />
meine Familie nicht ständig vor die Frage stelle: „Arbeitet der gerade oder hat er<br />
20
frei?“ Was ich da machen werde ist auf jeden Fall Studioarbeit – wie viele<br />
wissen, mache ich nebenbei Musik, und dann habe ich endlich die Zeit, Dinge<br />
sich richtig entwickeln zu lassen. Ich habe viel Studioarbeit gemacht in den<br />
letzten Jahren und will das ein bisschen weiter treiben. Und ich werde einige<br />
Dinge, die ich angefangen habe zu Ende bringen, z. B. mein Rechenförderprogramm.<br />
Vielleicht werde ich mit der einen oder anderen Schule kooperieren,<br />
auf jeden Fall aber mit dem örtlichen Kinderschutzbund.<br />
Es wäre das erste Mal, dass ich in der Stadt, in der ich schon lange lebe und in<br />
der ich auch geboren bin, auch ein bisschen arbeiten kann. Ich habe in Schwelm<br />
bisher noch nie gearbeitet außer in meinem Garten und zuhause im Haushalt,<br />
Spülmaschine einräumen und so was. Was ich nicht machen werde ist, dass ich<br />
viel reisen werde. Ich werde nicht viel reisen! Sondern ich werde genau so viel<br />
reisen wie vorher auch, nämlich zusammen mit meiner Frau Bettina. Vielleicht<br />
mache ich die eine oder andere Fahrradtour in der direkten Umgebung mit Zelt<br />
und Schlafsack.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Ein Schlusswort, ein Rat an uns oder an neue Mitarbeiter,<br />
Motto deines Lebens oder was auch immer? Vielleicht das als eigene Frage: Was<br />
rätst du Menschen, die hier neu anfangen zu arbeiten? Worauf sollen die achten?<br />
Wolfgang Jittler: Auf die Beziehung: es kommt darauf an, freundliche und<br />
kooperative Beziehungen zu den Kollegen aufzubauen und den Kindern<br />
gegenüber offen zu sein und Geduld zu haben, ganz viel Geduld. Unsere Kinder<br />
brauchen sehr viel Geduld. Und auch nicht so schnell zu sein mit Werturteilen<br />
gegenüber den Familien.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Gibt es noch ein Motto? Dein Motto?<br />
Wolfgang Jittler: Mein Motto? Ja, mein therapeutisches Motto war immer das<br />
von Carl Rogers: zu versuchen, Beziehungen herzustellen, wo sich andere<br />
bestmöglich entwickeln können. Das fand ich für mich immer einen sehr<br />
hilfreichen Leitspruch.<br />
<strong><strong>Aprath</strong>er</strong> <strong>Einblicke</strong>: Herzlichen Dank, das war richtig gut und richtig spannend.<br />
Wolfgang Jittler: Ja, ich wundere mich auch, dass ich ohne Vorbereitung<br />
zusammenhängende Sätze sprechen kann.<br />
Das Interview führten<br />
Susanne Hofmann und Dagmar Lohmann<br />
21
Glossar: Qualitätsmanagement<br />
Qualitätsanalyse - und sicherung - sind pädagogische<br />
Prozesse messbar?<br />
Im Folgenden beschäftigt sich der Autor mit der sogenannten Qualitätsanalyse,<br />
dem Qualitätsmanagment (QM), Qualitätssicherung oder der Evaluation in<br />
pädagogischen Handlungsfeldern. Dabei wird - ausgehend von der<br />
Qualitätsanalyse an den Schulen in NRW - die Qualitätsanalyse einer<br />
grundsätzlichen Kritik unterzogen und auf ihre Voraussetzungen überprüft.<br />
Die Landesregierung NRW beschloss die flächendeckende Qualitätsanalyse aller<br />
Schulen in NRW. Industrielle Betriebe werden nach ISO-Normen überprüft, in<br />
unterschiedlichsten Bereichen des täglichen Lebens und Arbeitens findet<br />
Qualitätssicherung statt, um bestimmte, selbstredend hohe Standards zu<br />
garantieren. Diese Art Analyse hat jetzt auch in den Schulen Einzug gehalten.<br />
Mit dem Schuljahr 2006/2007 begann - nach Modellversuchen in einzelnen<br />
Schulen - die sogenannte Qualitätsanalyse in den Bildungseinrichtungen.<br />
Ein Kollege des Autors aus den neuen Bundesländern grummelte einige Wochen,<br />
bevor die QM an die Schule zu kommen gedachte, genervt: "Es ist erstaunlich,<br />
wie selbst bekannte Sozialwissenschaftler aus dem Westen so ehrfurchtsvoll von<br />
der Qualitätssicherung reden. Das haben wir doch in der DDR gehabt - hieß<br />
Planwirtschaft und war unwirksam." Nicht nur diese Einzelstimme - man kann<br />
sie übertrieben nennen - meldet Bedenken an - im gesamten Humanbereich, von<br />
der Medizin, Altenpflege, Kindergartenerziehung, über die hier verhandelte<br />
Schule, Sozialpädagogik, Psychotherapie und Universitäten ist Unbehagen an<br />
einer Art "controlling" entstanden. Eine "Zunahme von Bürokratie" wird ebenso<br />
konstatiert wie die vermeintliche Unwirksamkeit von "Kontrollen", die von<br />
Kontrolleuren durchgeführt werden, die nicht angemessen ausgebildet und zudem<br />
zu teuer sind.<br />
Wer gegen die fast schon flächendeckenden Qualitätskontrollen und -methoden<br />
ist, gilt als ,Bedenkenträger' oder als ,ewig Gestriger', der sich Neuerungen<br />
verschließt oder Angst hat, sich genauer auf die Finger schauen zu lassen.<br />
Reformen sind nicht ,per se' gut - nur wenn sie tatsächlich zu Verbesserungen<br />
führen. Dollase verweist in diesem Zusammenhang 1 auf die Ausbildung der<br />
Grundschullehrerinnen im Jahre 2005 durch Ingenieure in NRW (weil diese ja<br />
etwas von kybernetischer Steuerung verstehen), ohne auch nur basale Kenntnisse<br />
von der Erlebniswelt des Grundschulkindes zu haben. Weiterhin sollten<br />
kinderlose Diplom-Physiker die Kindergartenerziehung mittels QM ,auf Trab'<br />
1 Vgl. Dollase, R., Kritik der Qualitätssicherung - Bürokratische, sinnlose und sinnvolle Wege<br />
zu mehr Qualität, in: www.bildung-wissen.eu<br />
22
ingen. Dass solche Versuche mit Recht kritisiert wurden, ist nachvollziehbar.<br />
QM hat in den meisten Fällen zu wesentlich mehr Bürokratie geführt, arbeitende<br />
Menschen von ihrem Kerngeschäft abgehalten und andere Menschen mit Macht<br />
ausgestattet, die von der eigentlichen Arbeit nichts verstehen, sondern<br />
inhaltsleere formale Regeln kennen, deren Bedeutung sie meist maßlos<br />
überschätzen. Aus diesen Gründen ist eine kritische Betrachtung nötig.<br />
1. Qualitätsanalyse in der Schule<br />
Am Beispiel der Schulinspektion wird deutlich, welche Fragen sich hinsichtlich<br />
dieser Form von Evaluation stellen und welche Probleme diese mit sich bringen.<br />
Alle Bundesländer haben grundsätzlich ein gleiches Verfahren entwickelt, einige<br />
beauftragten Institute, andere rekrutierten das Personal aus dem Schulwesen, nur<br />
selten werden Wissenschaftler mit einbezogen. Die Evaluatoren werden in<br />
einigen Monaten geschult: Unterrichtbeobachtung, Kriterien entwickeln (die zum<br />
größten Teil aus schon erschienenen Werken von Helmke, einem empirisch<br />
orientierten Bildungsforscher, entnommen sind), den Ablauf organisieren,<br />
standardisierte Fragen für die Gruppeninterviews entwickeln.<br />
In NRW sind es in der Regel ehemalige Lehrkräfte, meist Schulleiter/-innen, die<br />
dann ihren Blick auf die Schule in ihrer Gesamtheit anstreben. Der bauliche<br />
Zustand ist ebenso zu besichtigen wie der Krankenstand, die inhaltlichen<br />
Planungen werden zur Kenntnis genommen; weiterhin werden Gespräche mit der<br />
Schulleitung, der Schülervertretung, ausgewählten Lehrern und Eltern geführt.<br />
Der Unterricht soll selbstverständlich auch evaluiert werden. Die Instrumente für<br />
die Unterrichtsbeobachtung sind standardisiert und differenzieren nicht zwischen<br />
Bildungsgängen: die Fachschule für die Erzieherausbildung wird nach dem<br />
gleichen Qualitätstableau evaluiert wie die Berufsfachschule für Elektrotechnik<br />
oder Holzwesen. Die Inspektoren berichten vorab selbstbewusst darüber, dass sie<br />
während eines Unterrichtsbesuchs von ca. 15 Minuten 42 Indikatoren abarbeiten<br />
und aus ,Erfahrung' ,guten Unterricht' erkennen würden. Am vierten Tag sind die<br />
Inspektoren in der Lage eine erste Einschätzung mittels des ,Qualitätstableaus' zu<br />
geben: die Schulen erfahren schon dann, wo ihre Stärken und Schwächen liegen.<br />
Nach einigen Wochen gibt es einen ausführlichen Bericht. 1<br />
Ohne nun den kompletten Referenzrahmen zu besprechen, wird deutlich, dass die<br />
Inspektoren mit dieser Evaluation "eine schier enzyklopädische<br />
Ausdifferenzierung alles schulisch Relevanten" 2 anstreben. Es sollte alles erfasst<br />
und damit wohl eine Genauigkeit dokumentiert werden, die Rückfragen nach<br />
Differenziertheit überflüssig erscheinen lassen. Allerdings muss auch diese<br />
1 Die kompletten Angaben, das Qualitätstableau und weitere Materialien finden sich auf der Homepage des<br />
Schulministeriums NRW.<br />
Vgl. www. schulministerium.nrw.de/BP/schulsystem/qualitaetssicherung/qualitaetsanalyse/index.html<br />
2 Gruschka, A., Die Schulinspektion war da und hinterließ einen Bericht, in: Pädagogische Korrespondenz,<br />
Heft 41, 20<strong>10</strong>, S. 80.<br />
23
enorme Datenmenge anschließend angemessen bearbeitet werden. Dies benötigt<br />
Zeit, Personal und wissenschaftliche Akribie. Wenn dies nicht geschieht droht<br />
eine "willkürliche Synthetisierung der diversen Eindrücke" 1 .<br />
Wer den Anspruch formuliert, alles erfassen zu können, muss auch mit den<br />
Datenmengen verantwortlich umgehen. Dass nach drei Tagen die Inspektoren der<br />
Schule ziemlich genau sagen können, wie es um sie steht, kann wohl nicht das<br />
Ergebnis einer wissenschaftlich begründbaren Analyse sein. Es ist ein aufgrund<br />
formaler Kriterien formuliertes Urteil, das, bezogen auf die Frage, was den guten<br />
Unterricht ausmacht, immer auch eine versteckte Normativität enthält. Denn<br />
wenn gesagt wird, dass beispielsweise ,wenig' Gruppenarbeit durchgeführt wird<br />
oder die Arbeit mit elektronischen Medien nur 8% beträgt, so meint dies wohl<br />
impliziert, hier müsste doch etwas getan werden. Das häufig genannte ,selten'<br />
oder ,nie' zeigt einen Mangel an, der behoben werden sollte.<br />
Ob nun die Gruppenarbeit oder der Einsatz neuer Medien prinzipiell den guten<br />
Unterricht ausmacht, ist nicht hinterfragt worden. Somit scheint schon vorher klar<br />
zu sein, wo Schwächen liegen, nämlich dort, wo zu wenig Gruppenarbeit,<br />
Computernutzung oder Ähnliches zum Einsatz kommt. Anstatt aber in einer<br />
sinnvollen Analyse oder auch in Zusammenarbeit mit der Lehrerschaft tatsächlich<br />
differenziert nach Bildungsgang und Fach die Frage zu stellen, welche<br />
Unterrichtsmethoden lernfördernd sind, wird so von außen eine Zielperspektive<br />
eingezogen, die nicht von innen aus der ,Lebenswelt' der Schule abgeleitet wird.<br />
Es besteht die Gefahr, dass die Orientierung nun das ,Qualitätstableau' bietet und<br />
die Schulen sich nach diesem richten. Die vom Anspruch her sachliche<br />
Bestandsaufnahme des Schulsystems zur ,Selbstverbesserung' wird dadurch zur<br />
normativen Evaluation, was sicher nicht gewünscht sein kann.<br />
2. QM - nicht alles ist überflüssig<br />
Worum geht es in der QM?<br />
Einmal geht es tatsächlich um Qualitätssteigerung, d.h. durch eine Erfassung des<br />
bisher schon Geleisteten wird darüber nachgedacht, wie bestimmte Abläufe<br />
optimiert werden können. Durch beständige Reflexion des eigenen Tuns<br />
optimiert der arbeitende Mensch seine ,Unperfektkeit'.<br />
Sicher gibt es auch Qualitätssicherung als Kontrolle, wobei hier auf das<br />
Vorgeschriebene geachtet wird. Eine Orientierung an ,Standards' wird hier<br />
zentral (z.B. Vergleichsarbeiten, PISA u.ä.) und kann sowohl extern (z.B. PISA)<br />
als auch intern (Team) durchgeführt werden. Sicher hat man hier auch das Ziel<br />
einer kontinuierlichen Verbesserung im Hinterkopf.<br />
Es können aber auch die in den jeweiligen Praxisfeldern arbeitenden Menschen<br />
mit der Fähigkeit, ihre Arbeit auf der Grundlage der eigenen Praxis zu überprüfen<br />
ausgebildet werden. Der Vorteil besteht darin, dass keine Verwaltungsbeamte<br />
1 Vgl. Gruschka, S. 80.<br />
24
von außen mit allgemeinen Qualitätsstandards an die pädagogische Praxis<br />
herantreten und diese beurteilen. Die jeweiligen Mitarbeiter können in einer<br />
Atmosphäre der gegenseitigen Wertschätzung und des Vertrauens sicher die<br />
eigene Arbeit beschreiben und Verbesserungsvorschläge aufzeigen. Die<br />
systematische Formulierung von Standards und Methoden obliegt dann der Ausund<br />
Weiterbildung.<br />
Diese Möglichkeit der Evaluation ist den heute doch meist anderen Evaluationen<br />
und Qualitätssystemen vorzuziehen, da letztere oft so angelegt sind, dass eine<br />
Sachkenntnis im engeren Sinne nicht notwendig ist, da mit rein formalen<br />
Instrumenten gearbietet wird, die man auch bedienen kann, wenn man von der<br />
Sache nicht viel versteht.<br />
3. Zusammenfassung<br />
Die von fachexternen Personen durchgeführten Evaluationen, sowohl extern als<br />
auch intern, sind praktisch und wissenschaftlich in höchstem Maße<br />
problematisch. Einerseits enthalten diese oft formalen Standards eine ,verdeckte'<br />
Normativität, d.h. Ziele, wie denn das ,richtige' pädagogische Handeln<br />
auszusehen hat, andererseits kann nach einer Evaluation auf die Verursachung<br />
der Faktoren, die wirkursächlich für Probleme sind, nicht einfach geschlossen<br />
werden.<br />
Fachfremde und praxisfremde Personen als Evaluatoren sind tatsächlich<br />
auszuschließen. Sinnvoller scheint die Ausbildung von kompetentem Personal.<br />
Dann müsste sich die Wissenschaft stärker der Erhellung der pädagogischen<br />
Praxisfelder widmen und aufzeigen, dass Lern- und Bildungsprozesse nicht<br />
einfach abgebildet werden können wie Abläufe in einer Verwaltung.<br />
Literatur:<br />
Dollase, Rainer, Kritik der Qualitätssicherung - Bürokratische, sinnlose und<br />
sinnvolle Wege zu mehr Qualität (erschienen: www.bildung-wissen.eu)<br />
Gruschka, Andreas, Die Schulinspektion war da und hinterließ einen Bericht, in:<br />
Pädagogische Korrespondenz, Heft 41, Frühjahr 20<strong>10</strong><br />
Dr. Thomas Blech, BK Opladen<br />
25
Tagungen<br />
04.07.<strong>2011</strong> – 05.07.<strong>2011</strong> Essen<br />
Fachkongress<br />
Auswege aus der Krise<br />
Depressive und psychisch belastete Mädchen und Jungen<br />
Veranstalter:<br />
Die Kinderschutzzentren<br />
E-Mail: die@kinderschutz-zentren.org<br />
19.09.<strong>2011</strong> – 20.09.<strong>2011</strong> Leipzig<br />
Fachkongress<br />
Traumatisierte Mädchen und Jungen<br />
Hilfe und Stabilisierung durch die Jugendhilfe<br />
Veranstalter:<br />
Die Kinderschutzzentren<br />
E-Mail: die@kinderschutz-zentren.org<br />
05.<strong>10</strong>.<strong>2011</strong> – 07.<strong>10</strong>.<strong>2011</strong> Hannover<br />
Forum „Sozialraum“<br />
Veranstalter:<br />
EREV<br />
Flüggestr. 21<br />
30161 Hannover<br />
www.erev.de<br />
26
06.<strong>10</strong>.<strong>2011</strong> – 08.11.<strong>2011</strong> Heidelberg<br />
Paare Paarungen Paartherapie<br />
Veranstalter:<br />
Igst Internationale Gesellschaft für systemische Therapie<br />
Gaisbergstr. 3<br />
69115 Heidelberg<br />
E-Mail: info@igst.org<br />
14.11.<strong>2011</strong> – 15.11.<strong>2011</strong> Hannover<br />
Fachtag „Erziehungsstellen“<br />
Veranstalter:<br />
EREV<br />
Flüggestr. 21<br />
30161 Hannover<br />
www.erev.de<br />
24.11. – 27.11.<strong>2011</strong> Heidelberg<br />
Teile Therapie Tagung<br />
4. Weltkongress Ego State Therapie<br />
Veranstalter:<br />
Milton Erickson Institut Rottweil<br />
Bahnhofstr. 4<br />
78628 Rottweil<br />
27
Aus der Wissenschaft<br />
Jugendliche trinken weniger<br />
Der regelmäßige Alkoholkonsum von Jugendlichen hat in Deutschland 20<strong>10</strong> den<br />
niedrigsten Stand seit 1970 erreicht. Das zeigt eine Studie der Bundeszentrale für<br />
gesundheitliche Aufklärung, für die 7000 Jugendliche im Alter zwischen 12 und<br />
25 Jahren befragt wurden. Dagegen sei beim sogenannten Rauschtrinken, dem<br />
Konsum von mindestens fünf Alkoholgetränken bei einer einzigen Gelegenheit,<br />
allerdings nur ein geringfügiger Rückgang zu verzeichnen. In der Altersgruppe<br />
zwischen 17 und 25 Jahren habe dies jeder Zweite mindestens einmal im Monat<br />
praktiziert.<br />
Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung<br />
Schwimmbadwasser für Babys bedenklich<br />
Eltern, in deren Familien gehäuft Allergien auftreten, sollten bis auf Weiteres auf<br />
einen Schwimmbadbesuch mit ihren Kindern unter zwei Jahren verzichten. Diese<br />
Empfehlung hat das Umweltbundesamt ausgesprochen. Als Grund hierfür sei das<br />
zur Desinfektion eingesetzte Chlor. Es bildet zusammen mit Urin, Schweiß und<br />
Kosmetika ins Schwimmbadwasser Tri-chlor-amin - verantwortlich für den .<br />
typischen „Hallenbadgeruch“. Dieses Trichloramin sei jetzt als Asthma<br />
auslösende Substanz in Verdacht geraten. Zurzeit forschen die Wissenschaftler<br />
aber noch daran, ob der Stoff tatsächlich die Lunge eines kleinen Kindes<br />
schädigt. Schwimmbadbetreiber könnten das Risiko aber durch ausreichende<br />
Belüftung und genügend Frischwasser minimieren.<br />
Quelle: Umweltbundesamt<br />
Lernferien als kostenlose Qualifizierungschance mit Erlebnischarakter<br />
Die LernFerien Nordrhein-Westfalen sind ein Angebot im Rahmen der Initiative<br />
"Individuelle Förderung“. Im Auftrag des Ministeriums für Schule und<br />
Weiterbildung von der Stiftung „Partner für Schule NRW“ werden seit den<br />
Osterferien 2008 regelmäßig Lernferien angeboten. Finanziert werden sie von<br />
private Sponsoren, organisiert von der Stiftung „Partner für Schule“. Bisher<br />
haben über 2000 Schülerinnen und Schüler an NRW-LernFerien teilgenommen.<br />
28
Es werden drei LernFerien-Programme angeboten:<br />
1. „Versetzung sichern“ für Achtklässler aus allen Schulformen.<br />
2. „Berufsorientierung“ für Schüler, die vor der Berufswahl stehen, vor allem<br />
Neunt- und Zehntklässler. Dieses Angebot ist sehr differenziert und wird in<br />
Kooperation mit der Aktiven aus der Wirtschaft durchgeführt.<br />
3. „Begabungen fördern" für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler der 12.<br />
Jahrgangsstufe von Gesamtschulen und Gymnasien.<br />
Detailinformationen zum LernFerien-Programm 1, „Versetzung sichern“:<br />
Träger sind hier Jugendhilfeeinrichtungen.<br />
Während eines fünftägigen Aufenthalts in Jugendherbergen und<br />
Jugendbildungsstätten sollen Schülerinnen und Schülern ermöglicht werden, ihre<br />
Stärken zu erkennen, zu nutzen und weiterzuentwickeln, um damit ihre<br />
schulische Motivation zu steigern.<br />
Die LernFerien wenden sich an versetzungsgefährdete Jugendliche der<br />
Jahrgangsstufe 8 aus Haupt-, Real-, Gesamtschulen und Gymnasien. Pro<br />
Veranstaltungsort dürfen 20 Schülerinnen und Schüler mitfahren, die ihre<br />
Versetzung schaffen wollen. Die Teilnahme ist freiwillig.<br />
Allein in den Osterferien 20<strong>10</strong> fanden acht dieser Kurse statt.<br />
Es hat sich gezeigt, dass solche LernFerien „Versetzung sichern“ mehr sind als<br />
bloße Nachhilfe in den Hauptfächern. Im Mittelpunkt stehen Lernstrategien und<br />
die Steigerung von Lernmotivation. Natürlich wird auch direkte Unterstützung in<br />
den Kernfächern Mathematik, Deutsch und Englisch geboten. Doch steht das<br />
Neue, Erlebnisse und neue Erfahrungen mit neuen Menschen letztlich im<br />
Mittelpunkt des Geschehens.<br />
Lerneinheiten wechseln sich ab mit Spiel- und Sportangeboten;<br />
erlebnispädagogische Aktionen wie Nachtwanderungen oder Klettern sollen<br />
helfen, das Selbstbewusstsein der Schüler zu stärken.<br />
Und es lohnt sich, teilzunehmen, denn 80 Prozent der teilnehmenden<br />
Jugendlichen, die 2008 an den LernFerien NRW – Versetzung sichern<br />
teilgenommen haben, haben die Versetzung geschafft.<br />
Dabei ist die Teilnahme kostenlos.<br />
Darin inbegriffen sind: Unterkunft, Vollverpflegung, Lernmodule und<br />
Freizeitaktivitäten.<br />
29
Wie melden sich die Jugendlichen an?<br />
Schülerinnen und Schüler werden von ihren Lehrern angemeldet. Eltern und<br />
Schüler können natürlich mit ihren Lehrern sprechen und sie auf dieses<br />
Angebot aufmerksam machen.<br />
Linktipps LernFerien NRW:<br />
www.partner-fuer-schule.nrw.de/dev/t3/lernferiennrw<br />
26,9 Milliarden Euro für Kinder- und Jugendhilfe im Jahr 2009<br />
Bund, Länder und Gemeinden haben im Jahr 2009 insgesamt rund<br />
26,9 Milliarden Euro für Leistungen und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe<br />
ausgegeben. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) sind die<br />
Ausgaben damit gegenüber dem Vorjahr um 9,4% angestiegen. Nach Abzug der<br />
Einnahmen in Höhe von etwa 2,6 Milliarden Euro – unter anderem aus Gebühren<br />
und Teilnahmebeiträgen – wendete die öffentliche Hand netto rund 24,3<br />
Milliarden Euro für Kinder- und Jugendhilfe auf. Gegenüber 2008 entspricht das<br />
einer Steigerung um 9,2%.<br />
Mit rund 16,2 Milliarden Euro entfiel deutlich mehr als die Hälfte der<br />
Bruttoausgaben (60%) auf die Kindertagesbetreuung. Nach Abzug der<br />
Einnahmen in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung in Höhe von 1,6<br />
Milliarden Euro gab die öffentliche Hand netto 14,6 Milliarden Euro für<br />
Kindertagesbetreuung aus. Gegenüber dem Vorjahr haben sich die Nettoausgaben<br />
um knapp 12% erhöht.<br />
Gut ein Viertel der Bruttoausgaben (26%) – insgesamt mehr als 7,1 Milliarden<br />
Euro – wendeten die öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe 2009 für<br />
Hilfen zur Erziehung auf. Davon entfielen etwa 3,9 Milliarden Euro auf die<br />
Unterbringung junger Menschen außerhalb des Elternhauses in Vollzeitpflege,<br />
Heimerziehung oder in anderer betreuter Wohnform. Die Ausgaben für<br />
sozialpädagogische Familienhilfe erhöhten sich um 25,4% auf rund 679<br />
Millionen Euro.<br />
Für Maßnahmen und Einrichtungen der Jugendarbeit, zum Beispiel<br />
außerschulische Jugendbildung, Kinder- und Jugenderholung oder<br />
Jugendzentren, gaben Bund, Länder und Gemeinden rund 1,6 Milliarden Euro<br />
aus – dies entspricht 5,8% der Gesamtausgaben. Die Aufwendungen für<br />
vorläufige Schutzmaßnahmen, zu denen insbesondere die Inobhutnahme bei<br />
Gefährdung des Kindeswohls gehört, stiegen bundesweit von etwa 118 Millionen<br />
Euro im Jahr 2008 auf rund 142 Millionen Euro 2009 (+ 20,6%).<br />
Quelle: Publikationsservice des Statistischen Bundesamtes; >„Ausgaben<br />
Jugendhilfe“.<br />
30
Nachhilfe zum fairen Preis - Projekt "Chancenwerk"<br />
Zehn Jahre nach der ersten PISA-Veröffentlichung ist es immer noch das größte<br />
ungelöste Problem unserer Schulen: Das Potential der Kinder aus den sozial<br />
benachteiligten Gruppen wird unzureichend entwickelt. Kinder aus<br />
Migrantenfamilien haben es in unserem Halbtags-Schulsystem besonders schwer,<br />
weil ihnen zuhause die nötige Unterstützung fehlt.<br />
Migrantenkinder brauchen Vorbilder!<br />
Sie müssen viele Hürden überwinden. Oft können ihnen die Eltern nicht die<br />
erforderliche Hilfestellung geben, die sie in der Schule brauchen. Und oft sind sie<br />
auch nicht im Stande, Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil es keine<br />
entsprechenden Angebote gibt, sie sie nicht kennen oder nicht bezahlen können.<br />
Kindern mit Migrationshintergrund fehlt nicht nur die fachliche Unterstützung<br />
beim Lernen, sondern sie brauchen auch Vorbilder dafür, dass und wie man es<br />
schaffen kann, unter ungünstigen Voraussetzungen den Weg in eine höhere<br />
Bildung zu schaffen.<br />
Genau das hatte auch Murat Vural erfahren, der Sohn türkischer Einwanderer. Er<br />
hat sich durchgekämpft, in Bochum an der Universität Elektrotechnik studiert,<br />
nun promoviert er dort. Und er gründete den „Interkulturellen Bildungs- und<br />
Förderverein für Schüler und Studenten - Chancenwerk“. Ursprünglich sollte er<br />
vor allem Migrantenkindern auf dem schulischen Weg helfen; heute bietet der<br />
Verein allen Kindern und Jugendlichen Unterstützung an, unabhängig von ihrer<br />
Herkunft.<br />
Das Modell von „Chancenwerk“ ist verblüffend einfach:<br />
Studierende geben Oberstufenschülern Nachhilfe in ihren Fächern. Dazu werden<br />
Gruppen mit acht bis zehn Schülerinnen und Schülern gebildet. Die Studierenden<br />
bekommen dafür ein Honorar zwischen 20 und 30 Euro pro Doppelstunde. Die<br />
Oberstufenschüler müssen dafür nichts bezahlen, sondern sie verpflichten sich,<br />
ihrerseits Sek-1-Schülern, also Fünft- bis Neuntklässlern in Nachhilfegruppen<br />
von vier bis sechs Schülern, Unterstützung zu geben. Deren Eltern zahlen dann<br />
zehn Euro im Monat. So bezahlen 30 bis 40 Unterstufenschüler einen Studenten,<br />
der eine Gruppe von Sek-2-Schülern unterrichtet. Die Schule muss die Räume<br />
zur Verfügung stellen und zur Zusammenarbeit bereit sein. Finanziell trägt sich<br />
das Modell selbst, lediglich die Koordinatoren für die Arbeit werden von<br />
Stiftungen bezahlt.<br />
Chancenwerk breitet sich aus!<br />
Murat Vural, der Gründer, hat dieses Modell zunächst in Bochum und Castrop-<br />
Rauxel eingeführt. Mittlerweile gibt es „Chancenwerk“ in Bremen, München,<br />
Köln und demnächst auch in Duisburg. Dazu gewinnt „Chancenwerk“ Stiftungen<br />
31
und Sponsoren vor Ort, die den örtlichen Koordinator finanzieren und die auch<br />
die Seminare für die Oberstufenschüler bezahlen, in denen sie für ihre Lehr-<br />
Aufgaben qualifiziert werden. Sonst trägt sich das Modell allein aus den<br />
Beiträgen der Eltern. Öffentliche Mittel werden nicht in Anspruch genommen,<br />
abgesehen von den Räumen der Schulen. Dennoch war es zunächst nicht einfach<br />
für den Verein, Schulen für die Mitarbeit zu gewinnen, berichtet Erkan Budak,<br />
der Kölner Koordinator. So viel ehrenamtliches Engagement, und dazu noch von<br />
den Nachkommen von Migranten, stößt offenbar auf Misstrauen.<br />
Wie wird in den Gruppen gearbeitet?<br />
Die Oberstufenschüler bekommen „Frontalunterricht“: Die Studierenden pauken<br />
mit ihnen, was sie für ihre Klausuren brauchen. Die Unterstufenschüler dagegen<br />
arbeiten in Gruppen, sie bekommen Hilfe bei den Hausaufgaben und sie sollen<br />
selbstständiges Arbeiten lernen. Darauf werden die Oberstufenschüler in<br />
Workshops vorbereitet.<br />
Nutzen für alle Beteiligten<br />
Die Oberstufenschüler sammeln so schon erste Erfahrungen im Umgang mit<br />
Jüngeren ; sie lernen zu lehren. Sie haben Kontakt zu Studierenden, oft sind es<br />
auch Kinder von Migranten, die sich an diesem Projekt als Tutoren beteiligen. So<br />
dient eine Generation der anderen als „Rollenvorbild“ – die angehenden<br />
Abiturienten erfahren von den Studierenden, wie es an der Uni zugeht, und die<br />
Sek-1-Schüler gewinnen ältere Freunde an der eigenen Schule, die ihnen auch<br />
einmal auf dem Schulhof in der Pause mit Rat und Tat zur Seite stehen.<br />
Linktipps:<br />
Startseite von Chancenwerk:www.chancenwerk.org/<br />
Artikel auf „Spiegel online“:<br />
www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,734293,00.html<br />
Zusammengestellt von Wolfgang Jittler<br />
32
Kindermund<br />
Max muss ein Diktat über „Goethe“ schreiben. Als er darauf angesprochen wird,<br />
dass Goethe mit „oe“ und nicht mit „ö“ geschrieben wird, antwortet er:<br />
„Ich weiß, aber ich habe das mal abgekürzt.“<br />
Moritz (11 Jahre) antwortet auf die Frage, warum Herr zu Guttenberg<br />
zurückgetreten ist: „Der hat abgeschrieben und das auch noch falsch.“<br />
Jan, <strong>10</strong> Jahre: „Wenn sie mir sagen „Hör auf“, dann mache ich weiter.<br />
„Wenn sie sagen „Mach weiter“, dann höre ich trotzdem nicht auf.<br />
Daniel, <strong>10</strong> Jahre: „Respekt heißt, Menschen so zu nehmen, wie sie sind, egal ob<br />
sie weiblich, alt oder behindert sind.“<br />
Justus: „Männer denken mit dem halben Gehirn. Frauen mit dem ganzen.“<br />
Julius: „Das stimmt nicht. Alle denken mit dem halben Gehirn.“<br />
Dennis, 11 Jahre: „Der Venus ist ein Vulkan in Italien.“<br />
Rechenaufgabe: <strong>10</strong> Kinder mal drei Wochen mal 50 Cent ergeben 2000 Euro.<br />
Norbert, 11 Jahre<br />
Sascha bei den Matheaufgaben: Frage: Ist <strong>10</strong>0 durch 4 teilbar?<br />
Sascha: Ja, reicht das als Antwort?<br />
Martin zu einem moslemischen Kind:<br />
„Die Würstchen darfst du ruhig essen, das ist kein Schweinefleisch.“<br />
„Was ist das denn?“ Martin: „Na, Ziegenbock. Das sind doch Bockwürstchen.“<br />
Frage: „Welches Gemüse bereitet einer Märchenprinzessin schlaflose Nächte?“<br />
Simon: „Ein Frosch.“<br />
Zusammengestellt von Dagmar Lohmann<br />
33
Impressum:<br />
Redaktion:<br />
Wolfgang Jittler<br />
Susanne Hofmann<br />
Sabine Kall<br />
Dagmar Lohmann<br />
Michael Schober<br />
Herausgeber:<br />
Kinder- und Jugendhilfe-Verbund<br />
der <strong>Bergische</strong>n <strong>Diakonie</strong> <strong>Aprath</strong><br />
Otto-Ohl-Weg <strong>10</strong><br />
42489 Wülfrath<br />
Verantwortlicher Vorstand:<br />
Pfarrer Peter Iwand<br />
35