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Der Dekalog (Teil 6) - Das vierte Gebot:<br />
„Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit<br />
du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein<br />
Gott, dir gibt. “ (Ex 20, 12)<br />
Wenn Menschen das Paket ihrer Lebensgeschichte<br />
aufmachen, um sich den Inhalt<br />
anzuschauen, wird diese Frage wichtig: „Ist<br />
Liebe drin“. Es sind ja nicht die Sach- und Geldwerte,<br />
die letztlich die Lebensgeschichte reich<br />
machen! Es sind die Beziehungen zu den anderen,<br />
es sind der erfahrene Reichtum oder der<br />
schmerzliche Mangel an Liebe, die die Entwicklung<br />
eines Menschen prägen und tragen.<br />
An diese Basis erinnert das vierte Gebot mit der<br />
Aufforderung, die Eltern zu ehren.<br />
Nicht unmündige Kinder, sondern die erwachsenen<br />
Töchter und Söhne sind hier gemeint. Sie<br />
werden gemahnt, den altgewordenen Eltern als<br />
Trägern des Rechts, der Sitte und der Tradition<br />
gebührende Achtung zu schenken, damit die<br />
tragenden Grundlagen des Gemeinschaftslebens<br />
erhalten bleiben. Es sind Grundlagen, die<br />
in alttestamentlicher Sicht durch Gott selbst gesetzt<br />
worden sind.<br />
Hier werden natürlich vom heutigen Menschen<br />
ernsthafte Einwände kommen. Welche Bedeutung<br />
haben Traditionswissen und Erfahrung in<br />
einer Gesellschaft, die sich in einem rasanten<br />
Tempo täglich verändert Wie hilflos fühlen sich<br />
z. B. manche Eltern und Großeltern mit ihrem<br />
erlernten Wissen, wenn es um die Hilfestellung<br />
bei Hausaufgaben ihrer Kinder und Enkel geht<br />
Oder wie weit klaffen die Ansichten über Sitte,<br />
Moral und Freiheit zwischen den Generationen<br />
auseinander<br />
Kann da das vierte Gebot noch eine Hilfe sein<br />
In einem Gespräch mit Firmanden wurde die<br />
Frage gestellt: „Was gehört unbedingt zum Leben“<br />
Ein Mädchen schrieb auf das Plakat: „Daseinsdankbarkeit“.<br />
Es wollte damit sagen: Das<br />
Leben ist für mich ein unverdientes Geschenk.<br />
Ich verdanke es Gott und denen, die es mir in<br />
seinem Auftrag weiter gegeben haben: meinen<br />
Eltern.<br />
Mit anderen Worten: Unser Leben hängt immer<br />
von anderen ab. Ohne die anderen verküm-<br />
mern wir. Deshalb sind Gott, Eltern, und Geschwister,<br />
Paten und nahe Verwandte wichtig<br />
für uns. Wo Menschen diese Vorgegebenheiten<br />
des Lebens vergessen, laufen sie Gefahr, sich<br />
selbst und anderen die Lebensgrundlage unter<br />
den Füßen wegzuziehen.<br />
Also kann das vierte Gebot in unserer veränderten<br />
und sich dauernd ändernden Gesellschaft<br />
überhaupt noch greifen<br />
Sicher ist die Zeit der traditionellen Großfamilie<br />
auf absehbare Zeit zu Ende, sicher haben<br />
Begriffe wie „Autorität“, „Sitte“ und „Tradition“ in<br />
einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft<br />
eine andere Bedeutung. Die Alternativen infolge<br />
des vierten Gebotes werden deshalb auch<br />
nicht, vereinfacht moralisierend, lauten dürfen:<br />
Altenheim oder Pflege in der Familie, Loslösung<br />
vom Elternhaus oder Anerkennung patriarchalischer<br />
Autorität; Fortschritt oder Tradition.<br />
Dem vierten Gebot entsprechender wäre es zu<br />
fragen: Wieviel Liebe und Achtung vermögen<br />
wir in unser Miteinander zu bringen Wieviel<br />
Liebe können wir in unser Zusammenleben,<br />
in unsere natürlichen Generationskonflikte,<br />
in die notwendigen Loslassungsprozesse, in<br />
die Erfahrung von altersbedingter Schwäche<br />
und Andersartigkeit „investieren“ aus unserer<br />
Grunderfahrung heraus: Wir sind aufeinander<br />
angewiesen Wieviel Würde und Achtung bringen<br />
wir denen unter uns entgegen, die in einer<br />
funktionierenden Leistungsgesellschaft nicht<br />
mehr „funktionieren“, die keine „Leistung“ mehr<br />
bringen können<br />
So fragt jede neue Generation: Wovon lebt ihr<br />
eigentlich Habt ihr euch das Leben und das,<br />
was ihr an Gütern vorfindet, habt ihr euch die<br />
Erfahrung von Liebe selbst erarbeitet, oder<br />
ist euch das alles nicht auch von anderen geschenkt<br />
worden<br />
Gott stellt sich im vierten Gebot auf die Seite<br />
der Schwachgewordenen, auf die Seite der unverdienten<br />
Liebe als Lebensgesetz für sein Volk.<br />
Wenn wir uns auf seine Seite stellen, bauen wir<br />
darauf, dass es die geschenkte, unverdiente Liebe<br />
ist, die unser Leben trägt.