16.03.2015 Aufrufe

Nachruf Walter Reece (2006)\374 - Betty-Reis-Gesamtschule

Nachruf Walter Reece (2006)\374 - Betty-Reis-Gesamtschule

Nachruf Walter Reece (2006)\374 - Betty-Reis-Gesamtschule

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Walter</strong> <strong>Reis</strong> (<strong>Reece</strong>)<br />

24. 6. 1920 – 8. 7. 2005<br />

„Ich glaube, Sie wissen, dass ich sehr für die Vereinigung aller Menschen unserer<br />

Erde bin, was immer deren Hautfarbe, Nationalität, Religion, Sitten und Gebräuche<br />

sein mögen. Nach meinem Verständnis sollte es möglich sein, in Frieden, Freundschaft<br />

und Brüderlichkeit miteinander zu leben. Hier in Toronto, Kanada, haben wir<br />

Menschen von allen Rassen, Ländern, Hautfarben, Religionen und über 150 verschiedene<br />

Sprachen. Wir leben friedlich miteinander, und ich wünsche mir dies für<br />

alle Menschen unserer Erde.“<br />

So schrieb <strong>Walter</strong> <strong>Reece</strong> als Grußwort zu der ökumenischen Feier am 10. November<br />

2002 anlässlich der Wiederkehr der Reichspogromnacht. So habe ich ihn<br />

kennengelernt, so haben die SchülerInnen ihn persönlich erlebt, als er im Mai 2000<br />

zu der Feier des 10-jährigen Bestehens der <strong>Betty</strong>-<strong>Reis</strong>-<strong>Gesamtschule</strong> Wassenberg<br />

uns besuchte.<br />

Es war ein langer und schwieriger Prozess für ihn, wieder nach Deutschland, nach<br />

Wassenberg zu kommen, dem Land und dem Ort, in dem ihm, seiner Familie und<br />

unzähligen jüdischen Mitbürgern so viel Leid angetan wurde. Ich glaube, sagen zu<br />

können, dass zwei Erfahrungen ihm besonders geholfen haben zu verzeihen:<br />

- die Mitbürger, Nachbarn, die trotz der Unannehmlichkeiten, die ihnen während der<br />

Nazizeit drohten, zu ihm und seiner Familie hielten,<br />

- das Erleben, dass in Wassenberg eine Schule nach seiner Schwester benannt<br />

wurde, eine Schule, die ihren Namen als Auftrag versteht, heute und jetzt zu<br />

Toleranz, menschenwürdigem und friedvollem Miteinander zu erziehen.<br />

Als <strong>Walter</strong> <strong>Reece</strong> 1992 zum erstenmal wieder offiziell nach Wassenberg kam (im<br />

stillen hatte er vorher schon einmal seine ehemaligen Nachbarn besucht), war er<br />

noch sehr verbittert aufgrund der leidvollen Erfahrungen, die er hatte machen müssen.<br />

Er war skeptisch, dass ein Neuanfang geschehen und gelingen würde mit der<br />

neuen Generation.<br />

Als er 8 Jahre später wiederkam und die SchülerInnen einer 9. Klasse ihn bei seiner<br />

Ankunft in Wassenberg begrüßten, merkte ich sofort, dass die ständigen Briefkontakte<br />

und Informationen über die Arbeit der Schule ihn verändert hatten.<br />

Wer diesem fast 80-Jährigen bei der Begegnung mit den jungen Menschen erlebt<br />

hat, wird nie vergessen, wie der „Funke“ des Verstehens auf beide Seiten übersprang.<br />

Auch für die SchülerInnen war es wichtig, dem Bruder „ihrer <strong>Betty</strong> <strong>Reis</strong>“, von der sie<br />

so viel erfahren hatten, leibhaftig zu begegnen. Manchmal werden mir erst im<br />

Nachhinein verschiedene Begebenheiten und Ereignisse in ihrer vollen Bedeutung<br />

und ihrem Sinn bewusst: Einer von <strong>Walter</strong> <strong>Reece</strong> ausgesprochenen Einladung, ihn<br />

und seine Familie in Kanada zu besuchen, fühlte ich mich schon bald „verpflichtet“.<br />

Bei der Heimreise von Kanada im September 2001 sprach <strong>Walter</strong> <strong>Reece</strong> zwei<br />

Wünsche aus:<br />

- Er hatte im hohen Alter noch angefangen, künstlerisch zu arbeiten und beabsichtigte,<br />

der <strong>Gesamtschule</strong> Wassenberg ein Bild zu schenken.


- Er wollte einen Ahornsprössling aus seinem eigenen kleinen Wald gerne in Wassenberg<br />

auf dem jüdischen Friedhof an dem Gedenkstein für seine Großeltern und<br />

seine Schwester <strong>Betty</strong> pflanzen lassen.<br />

Beide Wünsche konnte ich ihm erfüllen:<br />

- Das Bild „Nach dem Pogrom“ gemalt von <strong>Walter</strong> <strong>Reece</strong> nach dem Original von<br />

Maurycy Minkowski hängt in dem Eingangsbereich der <strong>Betty</strong>-<strong>Reis</strong>-<strong>Gesamtschule</strong><br />

Wassenberg neben einer Fotografie von <strong>Betty</strong> <strong>Reis</strong>.<br />

- Der Ahornsprössling wurde im Beisein der „Ahornklasse“ am 10. November 2004<br />

auf dem Friedhof gepflanzt.<br />

Manche Dinge fügen sich zueinander, ohne dass man es so geplant hat:<br />

Im Oktober 2002 lernte ich „Die Eine-Welt-Kirche“ mit dem „Eine-Erde-Altar“ in<br />

Schneverdingen (Lüneburger Heide) kennen. Der „Eine-Erde-Altar“ mit Erdspenden<br />

aus aller Welt ruft die Menschen zu globalem Denken und Leben auf, und zwar auf<br />

der Grundlage der Verbindung zu unserer Erde, unserer Heimat und unserer<br />

Geschichte, in der wir verwurzelt sind.<br />

Dies brachte eine ehemalige Kollegin der <strong>Betty</strong>-<strong>Reis</strong>-<strong>Gesamtschule</strong> Wassenberg und<br />

mich auf den Gedanken, uns mit einer Erdspende aus Bergen-Belsen – dem Ort, an<br />

dem <strong>Betty</strong> <strong>Reis</strong> ermordet wurde - und aus dem elterlichen Garten der Familie <strong>Reis</strong> in<br />

Wassenberg an den Erdbüchern zu beteiligen. Kurz vorher, am 24. September 2002,<br />

erreichte mich eine E-Mail von <strong>Walter</strong> <strong>Reece</strong>, in der er schrieb:<br />

„Ich weiß nicht, ob dies möglich ist, oder ob ich überhaupt fragen darf, jedoch heute<br />

morgen kam mir ein schönes Kirchenlied in den Kopf, das meine Schwester <strong>Betty</strong><br />

und ich oft in der evangelischen Kirche und Schule gesungen haben. Ich nehme an,<br />

dass dieses Lied in beiden Religionen gesungen wird. Es heißt: „Lobe den Herren ...“<br />

Nun meine Bitte, wäre es möglich, dieses Lied in Erinnerung an meine Schwester an<br />

einem Sonntag in der Kirche zu singen? <strong>Betty</strong> und ich hatten dieses Lied gerne und<br />

haben es auch wohl zu Hause mit meiner Mutter gesungen (die eine gute Stimme<br />

hatte und auch im Synagogen-Chor in Krefeld gesungen hat). Dieses Lied war mir im<br />

Kopf den ganzen Morgen und so meine Idee und Bitte an Sie.“<br />

In der schon erwähnten ökumenischen Gedenkstunde am 10. November 2002 wurden<br />

die beiden Gefäße mit der Erde für die Übergabe in Schneverdingen vorbereitet<br />

und das von <strong>Walter</strong> <strong>Reece</strong> gewünschte Lied gesungen.<br />

Durch diese von <strong>Walter</strong> <strong>Reece</strong> geäußerte Bitte wird deutlich, wie er und seine<br />

Schwester die Jahre vor der Nazizeit erlebt und Zeitzeugen bestätigt haben:<br />

Die jüdischen Familien waren in Wassenberg voll integriert. Das „Anderssein“ aufgrund<br />

einer anderen Religionszugehörigkeit spielte keine Rolle.<br />

Vor meinem Besuch in Kanada erkundigte ich mich, womit ich <strong>Walter</strong> <strong>Reece</strong> eine<br />

Freude machen könne. Seine Antwort: Ich habe früher mit meiner Mutter und<br />

Schwester so gerne deutsche Volkslieder gesungen, kann aber nicht mehr alle<br />

Texte. Vielleicht können Sie mir ein Liederbuch mitbringen!<br />

Dieses Liederbuch mit alten Volkliedern und Rheinweisen diente uns an mehreren<br />

Abenden zum gemeinsamen Singen und Austauschen von Erinnerungen.<br />

Eines Tages überraschte <strong>Walter</strong> <strong>Reece</strong> uns mit seinem Vortrag (auswendig) des Gedichtes<br />

von Johann Wolfgang von Goethe „Legende vom Hufeisen“.<br />

Bei der Bildübergabe für die <strong>Gesamtschule</strong> konnte ich den SchülerInnen diesen Vortrag<br />

von <strong>Walter</strong> <strong>Reece</strong> durch einen Film miterleben lassen.


Es war deutlich zu spüren, wie die SchülerInnen von der Person, dem Vortrag und<br />

dem Inhalt des Gedichtes beeindruckt waren.<br />

Ich glaube, auch die, die ihn nicht persönlich kennengelernt hatten, haben ein Bild<br />

dieses Mannes gewinnen können, der auch nach so vielen Jahren seine „Wurzeln“<br />

nicht verloren hatte, die sich auch in dem immer noch zum Ausdruck kommenden<br />

„Wassenberger Akzent“ zeigten, und uns einen reifen, ausgeglichenen Menschen<br />

zeigte, der Güte und Menschenfreundlichkeit ausstrahlte.<br />

Diese Eindrücke bestätigen, was Ellen <strong>Reece</strong>, seine Frau, mir wenige Tage vor dem<br />

Ableben ihres Mannes mitteilte: „He is at peace with everything.“<br />

<strong>Walter</strong> <strong>Reece</strong> starb am 8. Juli 2005 in Toronto/Kanada im Alter von 85 Jahren.<br />

Am Sonntag, dem 10. Juli versammelten sich auf dem jüdischen Friedhof in Wassenberg<br />

seine Wassenberger Nachbarn, Freunde und Vertreter der <strong>Betty</strong>-<strong>Reis</strong>-<strong>Gesamtschule</strong>,<br />

um gemeinsam mit dem Superintendenten der evangelischen Kirche,<br />

Klaus Eberl, seiner zu gedenken.<br />

Dabei sangen wir tief bewegt das Lied, das <strong>Walter</strong> <strong>Reece</strong> so gerne hatte:<br />

Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren;<br />

meine geliebte Seele, das ist mein Begehren.<br />

Kommet zuhauf, Psalter und Harfe, wacht auf,<br />

lasset den Lobgesang hören.<br />

Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret,<br />

der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet,<br />

der dich erhält, wie es dir selber gefällt.<br />

Hast du nicht dieses verspüret?<br />

Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet,<br />

der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet.<br />

In wie viel Not hat nicht der gnädige Gott<br />

über dir Flügel gebreitet!<br />

Lobe den Herren, der deinen Stand sichtbar gesegnet,<br />

der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet.<br />

Denke daran; was der Allmächtige kann,<br />

der dir mit Liebe begegnet.<br />

Lobe den Herren, was in mir ist, lobe den Namen.<br />

Alles, was Odem hat, lobe mit Abrahams Samen.<br />

Er ist dein Licht, Seele vergiss es ja nicht.<br />

Lob’ ihn in Ewigkeit. Amen.<br />

Wassenberg, den 14. Juni <strong>2006</strong><br />

Barbara Kaiser

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!