BERGE <strong>im</strong> <strong>im</strong> <strong>Blickpunkt</strong> 10
Meine Flucht aus Heiligenbeil von Anna Kühntopf Als <strong>im</strong> Februar 1945 die Front <strong>im</strong>mer näher kam, mussten auch wir daran denken, unsere Stadt zu verlassen. Den ganzen Sommer und Herbst waren schon Flüchtlingstrecks aus Estland und Litauen bei uns durchgezogen, und nun war es auch für uns soweit. Die russische Artillerie schoss schon in die Stadt. Meine Mutter (die Eltern wohnten auf dem Gut Gabditten) kam am 20. Februar noch einmal zu uns. Sie nahm uns mit, denn gegen Abend sollte der Treck von 30 Wagen vom Gut losziehen. So bin ich mit meinen Kindern, Bernhard, knapp sechs Jahre alt, und Ursula, noch nicht zwei Jahre, und mit meinen Eltern auf die Flucht gegangen. In der Dunkelheit sind wir dann über das Frische Haff ohne Zwischenfälle bis nach Neu- Tief gekommen. Das Eis hielt gerade noch. So mancher Der Ort Heiligenbeil wurde 1301 vom Deutschen Ritterorden in der Nähe der prußischen (altpreußischen) Kultstätte Swentomest gegründet. Die Gründung der späteren Stadt Zinten erfolgte durch den Orden <strong>im</strong> Jahr 1313. Die ersten Ordensritter waren per Schiff über das Frische Haff bereits 1238 am Ufer von Balga gelandet. Hier wurde in den folgenden Jahren die Ordensburg Balga erbaut, in späteren Jahrhunderten eins der großen Wahrzeichen Ostpreußens. (Das Samland ist eine Landschaft nördlich von Königsberg. ) So sind wir in der Nacht am 23. Februar, an Vaters Geburtstag, nach Brüsterort ins Samland gekommen. Hier hielten wir uns acht Wochen auf. Zuerst war es ruhig, aber als die Front <strong>im</strong>mer näher kam, hatten wir dauernd Flieger über uns. Eines Tages hieß es wieder: Alles zum Bahnhof, es geht noch ein Zug. Wir hatten Glück und konnten noch mitfahren. Der Zug war sehr lang und voll beladen. Soldaten kamen von der Front zurück, und es herrschte eine fieberhafte Tätigkeit. Schließlich setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Wir fuhren die ganze Nacht durch und kamen <strong>im</strong> Morgengrauen in Neuhäuser, eine Station vor der Seestadt Pillau, an. Wie wir hier hörten, waren wir den Russen noch soeben entgangen, andere Trecks waren den Russen in die Hände gefallen. Gegen Abend kamen wir nach Pillau. Hier blieben wir drei Tage. Nachts hörten wir die Kommandorufe der Soldaten, und wir fürchteten den Durchbruch der Roten Armee. Am dritten Tag kamen wir bis zum Strand. Hier lagen schon viele Menschen, die auf ein Schiff warteten. Wir wurden nachts übergesetzt, und zwar auf die Frische Nehrung, eine schmale Landzunge gegenüber von Pillau. Der Abtransport mit Schiffen fand für uns leider nicht statt, da in Pillau schon zu viele Wagen versank mit Pferd und Menschen <strong>im</strong> Wasser. In Neu-Tief warteten wir bis es hell wurde, dann nahm jeder, was er tragen konnte, und wir wurden nach Pillau übergesetzt. Dort blieben wir drei Tage, dann hieß es: Alles zum Bahnhof, es geht ins Samland, denn der Vormarsch der russischen Truppen war anscheinend zum Stillstand gekommen. Menschen warteten und der Schiffsraum nicht ausreichte. In der Dunkelheit verloren wir meine Mutter, die das Gepäck hütete. Meine Kinder und ich übernachteten in einem Hühnerstall, in dem auch Soldaten lagen, und Vater suchte Mutter. Am Morgen fand er sie dann, und wir waren froh, daß wir wieder alle zusammen waren. Dann ging es mit der Lorenbahn ein Stück weiter. Da alles voll besetzt war, setzte Vater sich auf die Lokomotive. Ich hatte inzwischen meinen Rucksack und ein Rad vom Sportwagen verloren. Da Ursel noch ein Kleinkind war, nahmen uns die Soldaten auf ihrem Rückmarsch mit ihren Autos bis Nickelswalde bei Danzig mit. Von hier aus wurden wir nachts zur Halbinsel HeIa übergesetzt. Nach einer Woche sollten wir mit einem Schiff nach Dänemark gebracht werden. Das große Schiff lag draußen auf See, und wir wurden mit kleinen Schiffen dort hingebracht. Es musste alles ganz schnell gehen, denn das Schiff wurde von Fliegern beschossen. BERGE BERGE <strong>im</strong> <strong>Blickpunkt</strong> Wir kletterten die Strickleitern hoch, ein Soldat nahm Ursel auf den Arm. Kaum waren wir an Bord, kamen die feindlichen Flieger. So kamen wir <strong>im</strong> Geleitzug nach Dänemark, wo wir zunächst drei Tage auf dem Schiff bleiben mussten. Dann fuhren wir mit dem Zug zuerst in ein kleines Lager, nach einem halben Jahr kamen wir in das Lager Oksböl. Hier hielten sich 30.000 Menschen auf. Wir wohnten in einem Pferdestall, zusammen mit 150 Personen, schliefen in dreistöckigen Betten. Nach dreieinhalbjährigem Lagerleben waren auch wir an der Reihe, nach Deutschland zu fahren. Über Rendsburg und Hamburg kamen wir nach Lüstringen. Dort blieben wir vierzehn Tage in einem Lager und kamen von hier aus nach Üffeln. Hier verbrachten wir mit 60 Personen ein halbes Jahr in einem Saal, bis wir <strong>im</strong> Mai 1949 in <strong>Berge</strong> endlich ein Z<strong>im</strong>mer für uns allein bekamen. Es war nur 12 qm groß, aber die gehörten nur uns. 11