24.04.2015 Aufrufe

Zwangssterilisation im Dritten Reich 1: Arbeitsmaterial

Zwangssterilisation im Dritten Reich 1: Arbeitsmaterial

Zwangssterilisation im Dritten Reich 1: Arbeitsmaterial

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Arbeitsblatt<br />

der Bildungs- und Gedenkstätte „Opfer der NS-Psychiatrie“ in Lüneburg<br />

Am Wienebütteler Weg 1, 21339 Lüneburg<br />

<strong>Zwangssterilisation</strong> <strong>im</strong> <strong>Dritten</strong> <strong>Reich</strong> 1: <strong>Arbeitsmaterial</strong><br />

1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durch die <strong>Reich</strong>sregierung<br />

beschlossen und ist Anfang 1934 in Kraft getreten. Hier sind die Paragrafen 1 und 12 aus dem Gesetz<br />

abgedruckt.<br />

§ 1<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

(1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn<br />

nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß<br />

seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden. (2) Erbkrank<br />

<strong>im</strong> Sinne des Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:<br />

1. angeborenem Schwachsinn,<br />

2. Schizophrenie,<br />

3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein,<br />

4. erblicher Fallsucht,<br />

5. erblichem Feitstanz (Huntingtonsche Chorea),<br />

6. erblicher Blindheit,<br />

7. erblicher Taubheit,<br />

8. schwerer erblicher körperlicher Mißbildung.<br />

(3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an<br />

Schwerem Alkoholismus leidet.<br />

…<br />

§ 12<br />

(1) Hat das Gericht die Unfruchtbarmachung endgültig beschlossen, so ist sie auch gegen den Willen<br />

des Unfruchtbarzumachenden auszuführen, sofern nicht dieser allein den Antrag gestellt hat. Der<br />

beamtete Arzt hat bei der Polizeibehörde die erforderlichen Maßnahmen zu beantragen. Soweit andere<br />

Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Anwendung unmittelbaren Zwanges zulässig. (2) Ergeben sich<br />

Umstände, die eine nochmalige Prüfung des Sachverhalts erfordern, so hat das Erbgesundheitsgericht<br />

das Verfahren wieder aufzunehmen und die Ausführung der Unfruchtbarmachung vorläufig zu<br />

untersagen. War der Antrag abgelehnt worden, so ist die Wiederaufnahme nur zulässig, wenn neue<br />

Tatsachen eingetreten sind, welche die Unfruchtbarmachung rechtfertigen.<br />

Auszüge aus: Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 (<strong>Reich</strong>sgesetzblatt I,<br />

Seite 529)<br />

Hintergrundinformationen aus der Sekundärliteratur<br />

1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung Erbkranken Nachwuchses“ beschlossen und Anfang 1934 trat es<br />

in Kraft. Dieses Gesetz diente zur Freigabe der Sterilisation von etwa 400.000 Menschen <strong>im</strong> „<strong>Dritten</strong><br />

<strong>Reich</strong>“. Eine Grundlage dafür waren Gutachten von Ärzten über Personen, die geisteskrank oder sozial<br />

auffällig geworden waren.


5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

Insgesamt wurden <strong>im</strong> Sterilisationsgesetz neun Krankheiten bzw. Gründe genannt, die Anlass zu einer<br />

Sterilisation gaben, wenn sie bei einer betroffenen Person festgestellt wurden. Die meisten Opfer wurden<br />

sterilisiert, weil sie angeblich unter „angeborenem Schwachsinn oder Schizophrenie“ gelitten haben. Die<br />

Festlegung, ob die jeweilige Krankheit durch Vererbung oder durch äußere Einflüsse aufgetreten war,<br />

war in der Regel nicht möglich. In Lehrbüchern der damaligen Zeit wurde auch zugegeben, dass die<br />

Vererbung fraglich sei (Oswald Bumke). Viele der damals gestellten Diagnosen gingen von erblich<br />

bedingten Krankheitsbildern aus, so dass eine Sterilisation begründet erschien:<br />

„Zunächst war vorgesehen, daß die zu Sterilisierenden („Erbkranken“) selbst den Antrag stellen sollten<br />

bzw. deren gesetzliche Vertreter. Die Anträge für den Eingriff konnten aber auch von beamteten Ärzten<br />

oder Anstaltsleitern gestellt werden. Diese Kann-Regelung wurde […] schließlich zu einer Anzeigepflicht<br />

abgewandelt.“ (Reiter, 1997: S.125).<br />

Schließlich sollte jedes neugeborene Kind und jede Person die auffällig war, auf vermeintliche<br />

Erbschäden geprüft und gemeldet werden. Es gab nicht wenige Betroffene die versuchten, sich gegen<br />

Entscheidungen der „Erbgesundheitsgerichte“ zu wehren. Eine Möglichkeit bestand darin, Einspruch<br />

gegen den Beschluss zur Sterilisation zu erheben. Dies hatte jedoch nur selten Erfolg und so wurde bei<br />

den meisten der nicht gewollte Eingriff in einem Krankenhaus durchgeführt.<br />

„Für Niedersachsen lässt sich für Mitte der 30-er Jahre feststellen, dass die Betroffenen selbst und ihre<br />

gesetzlichen Vertreter nur ausnahmsweise Anträge stellten, nämlich durchschnittlich ca. 5 % der Fälle.<br />

Der überwiegende Teil (ca. 3/4) der Anzeigen wurden von Amtsärzten gestellt.“ (Reiter, 1997: Seite 125-<br />

126).<br />

Auch in der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg wurden ab 1934 Patienten zur <strong>Zwangssterilisation</strong><br />

gemeldet. In dieser Zeit war Dr. Max Bräuner amtierender Anstaltsdirektor und auch er veranlasste<br />

regelmäßig Sterilisationen von Patienten. Noch zwischen 1942 und 1943 wurden 26 Patienten sterilisiert.<br />

Quelle: Ra<strong>im</strong>ond Reiter, Psychiatrie <strong>im</strong> <strong>Dritten</strong> <strong>Reich</strong> in Niedersachsen, Hannover 1997.<br />

<strong>Zwangssterilisation</strong> von Patienten der<br />

Landes Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg.<br />

1934 bis 1943<br />

Jahr<br />

Zahl der durchgeführten<br />

Sterilisationen<br />

gesamt Frauen Männer<br />

1934 75 18 57<br />

1936 52 27 23<br />

1937 67 36 31<br />

1938 44 17 27<br />

1939 37 10 27<br />

1940/1941 19 3 16<br />

1941/1942 27 9 18<br />

1942/1943 26 8 18<br />

gesamt 347 128 217<br />

Quelle der Tabelle: 100 Jahre Niedersächsisches Landeskrankenhaus Lüneburg, Lüneburg 2001, Seite<br />

106.


Arbeitsblatt<br />

der Bildungs- und Gedenkstätte „Opfer der NS-Psychiatrie“ in Lüneburg<br />

Am Wienebütteler Weg 1, 21339 Lüneburg<br />

<strong>Zwangssterilisation</strong> <strong>im</strong> <strong>Dritten</strong> <strong>Reich</strong> 1: Arbeitsaufträge<br />

1. Welches Ziel verfolgten die Nationalsozialisten mit der <strong>Zwangssterilisation</strong> und welche<br />

Menschen waren davon betroffen?<br />

2. Kann man <strong>im</strong> Gesetzestext die Zwangsmaßnahmen erkennen, die in der Praxis<br />

angewendet wurden?<br />

3. Verfasst einen Dialog zwischen den Eltern eines Patienten, in dem es um deren Sorge<br />

geht, dass dieses 1933 neu beschlossene „Gesetz zur Verhütung erbkranken<br />

Nachwuchses“ menschenunwürdig sei und nicht in Kraft treten solle.<br />

Hinweise zur Bearbeitung der Aufgaben findet Ihr auf dem Blatt:<br />

„<strong>Zwangssterilisation</strong> <strong>im</strong> <strong>Dritten</strong> <strong>Reich</strong> 1: Hilfestellung und Lösungsbeispiele“


Arbeitsblatt<br />

der Bildungs- und Gedenkstätte „Opfer der NS-Psychiatrie“ in Lüneburg<br />

Am Wienebütteler Weg 1, 21339 Lüneburg<br />

<strong>Zwangssterilisation</strong> <strong>im</strong> <strong>Dritten</strong> <strong>Reich</strong> 1: Hilfestellung und Lösungsbeispiele<br />

1. Hinweise zum Thema<br />

Was war bzw. ist Sterilisation?<br />

Der Vorgang der Kastration bezieht sich auf das operative Entfernen der Geschlechtsdrüsen wie Hoden<br />

oder Eierstock, kann also sowohl auf Männer als auch auf Frauen bezogen werden. Allerdings hört man<br />

den Begriff in der Humanmedizin in Bezug auf Frauen selten, weil der Eingriff wesentlich riskanter ist.<br />

In der Tiermedizin dagegen ist die Kastration auch für weibliche Tiere ein gängiger Begriff. Die Kastration<br />

erfolgt hier oft durch die Entfernung von Eierstöcken und Gebärmutter, während bei Tiermännern die<br />

Hoden entfernt werden.<br />

Der für weibliche Tiere oft ins Spiel gebrachte Begriff der »Sterilisation« beschreibt eine andere Methode.<br />

Hier werden Tiere unfruchtbar gemacht, indem Eileiter unterbrochen werden. Sowohl Kastration als auch<br />

Sterilisation sind also bei beiden Geschlechtern möglich.<br />

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite, 2009<br />

2. Lösungsvorschläge zu den Arbeitsaufträge<br />

1. Welches Ziel verfolgten die Nationalsozialisten mit der <strong>Zwangssterilisation</strong> und welche<br />

Menschen waren davon betroffen?<br />

Die Nationalsozialisten verfolgten mit der <strong>Zwangssterilisation</strong> das Ziel, die<br />

„Volksgemeinschaft“ von Krankheiten „zu säubern“. Das Ziel war also auf gesellschaftlicher<br />

Ebene angesiedelt. Die Maßnahme betraf jedoch nur die Individuen: Hier wurden Menschen<br />

zu opfern, welche Behinderungen aufwiesen, die tatsächlich zu 100% vererbt werden<br />

(autosomal dominant: Chorea Huntington), aber auch Syndrome (also komplexe<br />

Erkrankungen) wie Epilepsie oder Schizophrenie, bei denen allenfalls zu geringem Anteil<br />

das Erbe, aber vor allem die Umwelt einen Einfluss haben. Auch der Alkoholismus wurde<br />

genannt, dessen Entstehung pr<strong>im</strong>är sozial bedingt ist.<br />

Außerdem gibt es für viele vererbte Merkmale kompliziertere Erbgänge:<br />

Im Falle der autosomal-rezessiven Gehörlosigkeit kann man leicht nachweisen, dass zwei<br />

gehörlose Eltern nicht zu 100% Wahrscheinlichkeit gehörlose Kinder haben, weil auch hier<br />

ca. 30 verschiedene Genorte zusammenwirken.<br />

Hier sollte also eine politische Frage pseudomedizinisch beantwortet werden.<br />

Aus biologischer Sicht ist festzustellen, dass das Ziel, erbliche Krankheiten aus einem<br />

Genpool „herauszumendeln“ niemals erreicht werden kann. Dieses Faktum wird durch das<br />

Hardy-Weinberg-Gesetz beschrieben. Rezessive Erbanlagen werden unentdeckt von<br />

Generation zu Generation weitergegeben. Das Verhältnis zwischen rezessiven und<br />

dominanten Erbanlagen bleibt somit in jeder Generation gleich. Diese Gesetzmäßigkeit<br />

wurde von dem Engländer Godfrey Harald Hardy 1908 veröffentlicht, kurz zuvor hatte der<br />

Arzt Wilhelm Weinberg die gleiche Erkenntnis <strong>im</strong> deutschsprachigen Raum. Den Nazis war<br />

diese Regel also bekannt. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass Eugenik (so<br />

wurde der wissenschaftliche Ansatz genannt, nach dem der Genpool von „schlechten“<br />

Genen gesäubert werden sollte) auch <strong>im</strong> angelsächsischen Bereich und <strong>im</strong> europäischen<br />

Ausland seit der Jahrhundertwende weit verbreitet war.


Die humangenetische Familienberatung heute distanziert sich explizit von dieser Tradition<br />

und arbeitet ausschließlich mit dem Ziel, die individuelle Familie über Chancen und Risiken<br />

aufzuklären. Auch geht es nicht um Sterilisation, sondern um die Frage nach einer<br />

Abtreibung. Die Entscheidung dazu wird nicht von Ärzten oder Beratern getroffen, sondern<br />

liegt ausschließlich in den Händen der Eltern bzw. der schwangeren Frau. Das soll nicht<br />

heißen, dass es nicht auch heute zu einer menschenverachtenden Einflussnahme auf diese<br />

individuellen Entscheidungen kommen kann.<br />

2. Kann man <strong>im</strong> Gesetzestext die Zwangsmaßnahmen erkennen, die in der Praxis<br />

angewendet wurden?<br />

- Entscheidung durch ein Gericht, auch gegen den Patientenwillen.<br />

- Der Arzt konnte die notwendigen Schritte beantragen ohne weitere Rücksprache mit der<br />

Familie.<br />

- Bei Widerstand konnte der Patient auch zu der OP gezwungen werden.<br />

- Im weiteren zeitlichen Verlauf konnte das Verfahren wieder aufgenommen werden, wenn<br />

neue Umstände festgestellt wurden (dies wird sehr unwahrscheinlich gewesen sein).<br />

3. Verfasst einen Dialog zwischen einem Vater und einer Mutter eines Patienten, in dem es<br />

um deren Sorge geht, dass dieses 1933 neu beschlossene „Gesetz zur Verhütung<br />

erbkranken Nachwuchses“ menschenunwürdig sei und nicht in Kraft treten solle.<br />

Der Dialog kann sehr vieldeutig sein. In der historischen Situation wird es durchaus häufig<br />

nicht um das absolute Recht auf Leben gegangen sein (anders, als wir es heute sehen).<br />

Dazu war die NS-Ideologie zu wirksam und die Situation zu komplex.<br />

- Sorge um die Gesundheit insbesondere der Tochter.<br />

- Mögliche Erleichterung, weil die Großeltern ein behindertes Enkelkind hätten betreuen<br />

müssen.<br />

- Schmerz, weil das eigene Kind leiden muss und den Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit<br />

betrauert.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!