Brandt - Jugendradikalisierung - Willy-Brandt-Kreis
Brandt - Jugendradikalisierung - Willy-Brandt-Kreis
Brandt - Jugendradikalisierung - Willy-Brandt-Kreis
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
tolerant war, zweitens, weil er zuhause diesbezüglich wenig Provozierendes erfahren mußte.<br />
Das schließt nicht aus, daß er bei seinen Söhnen gelegentlich anregte, sich beim Friseur die –<br />
keineswegs übermäßig langen – Haare noch etwas kürzer schneiden zu lassen, aber das war<br />
eben eine persönliche Meinungsäußerung und keine Anordnung.<br />
Die zweite Komponente bildete die Auseinandersetzung in den Hochschulen und um sie, die<br />
eigentliche Studentenbewegung, zunehmend ergänzt durch weniger dramatische Entsprechungen<br />
an den Gymnasien, rudimentär auch in den Berufsschulen und Lehrwerkstätten.<br />
In diesem Bereich schockierten die offene Mißachtung bislang selbstverständlicher<br />
akademischer Regeln und die Lächerlich-Machung professoraler Autoritäten seit 1966/67; die<br />
Debatte um den „Bildungsnotstand“ selbst, um Georg Pichts Parole zu zitieren, um die<br />
Effektivierung der Hochschulen wie um das „Recht auf Bildung“ (Ralph Dahrendorf), hatte<br />
schon vorher eingesetzt.<br />
Charakteristisch für die Revolte an den Universitäten war, daß sich die Auflehnung gegen<br />
überkommene Strukturen, Inhalte und Personal („Unter den Talaren – Muff von 1000<br />
Jahren“) überkreuzte und vermischte mit dem Widerstand gegen die „technokratische“<br />
Hochschulreform, die bessere Funktionalisierung der Bildungsanstalten seitens des Staates<br />
und der spätkapitalistischen Gesellschaft: des „Systems“, wie man mehr und mehr sagte. Es<br />
paßt in dieses Bild, daß die ersten großen hochschulinternen Protestaktionen im Sommersemester<br />
1966 an der Freien Universität Berlin gemeinsam vom Sozialistischen Deutschen<br />
Studentenbund (SDS) und schlagenden Verbindungen verabredet wurden. Sie richteten sich<br />
gegen die Zwangsexmatrikulierung von Langzeitstudenten. Zu diesen Erscheinungen, die seit<br />
dem Wintersemester 1967/68 eskalierten, mußte <strong>Willy</strong> <strong>Brandt</strong> als Spitzenpolitiker eine<br />
Position entwickeln und öffentlich vertreten. Er behandelte sie in der Regel aber zusammen<br />
mit der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO).<br />
In dieser dritten Komponente flossen der Protest gegen vermeintliche autoritäre bzw.<br />
demokratiegefährdende Tendenzen in der Bundesrepublik („Formierte Gesellschaft“) – vor<br />
allem die Große Koalition, der parallele zeitweilige Aufschwung des Rechtsextremismus in<br />
Gestalt der NPD, die vorgesehene Notstandsgesetzgebung, der meinungsbildende Einfluß der<br />
Springer-Presse – sowie der Protest gegen den Vietnam-Krieg und generell den Imperialismus<br />
der USA mit einer unerwarteten Renaissance theoretisch-marxistischen (zunächst<br />
undogmatischen) Denkens zusammen. Auch hier gab es eine Kontinuitätslinie, die zu den<br />
Protestbewegungen der 50er Jahre zurückführte, wobei die Ostermärsche eines der<br />
Verbindungsglieder waren. Und es hatte auch vor den mittleren 60er Jahren eine sozialistische<br />
bzw. marxistische Linke in der Bundesrepublik gegeben, nicht zuletzt in der<br />
Sozialdemokratie, etwa in den „Falken“, und in den Gewerkschaften. Es konnte aber so<br />
scheinen, als ob diese immer weiter marginalisiert würde, zumal auch der SDS nach dem<br />
Unvereinbarkeitsbeschluß der SPD vom Novemeber 1961 zunächst wenig nach außen in<br />
Erscheinung trat und sich auf eine langfristige theoretische Arbeit zurückzog. Mit der Ausbreitung<br />
der Bewegung 1966/67 erwies es sich als bedeutsam, daß neben den Organisationen<br />
der tradierten Arbeiterbewegung und an ihrem Rande mit dem SDS ein unabhängiges<br />
Zentrum existierte, das durch sein Agieren zum Katalysator der breiteren<br />
<strong>Jugendradikalisierung</strong> wurde. Neben ganz neu gewonnenen Kräften reaktivierte diese auch<br />
3