Ein Pionier des schweizerischen Cäcilianismus
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Zum 100. To<strong>des</strong>tag von Johann Gustav Eduard Stehle (1839–1915)<br />
<strong>Ein</strong> <strong>Pionier</strong> <strong>des</strong> <strong>schweizerischen</strong> <strong>Cäcilianismus</strong><br />
Als am 21. Juni 1915 der emeritierte<br />
St. Galler Domkapellmeister Johann<br />
Gustav Eduard Stehle nach einem<br />
Schlaganfall im Alter von 76 Jahren<br />
starb, war sein Wirken als Komponist<br />
und Kirchenmusiker bereits am Verblassen.<br />
Gründe dafür waren einerseits<br />
die Sorgen <strong>des</strong> 1. Weltkrieges,<br />
die auch in der Schweiz das Lebensgefühl<br />
dominierten, anderseits das<br />
sinkende Interesse an der kirchenmusikalischen<br />
Neuorientierung, die<br />
der <strong>Cäcilianismus</strong> eine Generation<br />
früher besonders im Bistum St. Gallen<br />
initiiert hatte. Und Protagonist<br />
dieser Neuorientierung war ohne<br />
Zweifel der aus Steinhausen (Württemberg)<br />
stammende Organist und<br />
Chorleiter Stehle. Sein Wirken prägte<br />
die Kirchenmusik in der Schweiz.<br />
Von Alois Koch<br />
Stehle wirkte von 1869 bis zu seiner Berufung<br />
an den St. Galler Dom in Rorschach<br />
und machte sich schon in dieser Funktion<br />
für die Reform der Kirchen musik verdient.<br />
Internationales Aufsehen hatte der junge<br />
Komponist ein Jahr früher mit seiner Missa<br />
«Salve Regina» erregt, die offensichtlich<br />
in idealer Weise dem damaligen Empfinden<br />
nach einem neuen musikalischen Kirchenstil<br />
entsprach, ein Kirchenstil, der sowohl<br />
der Palestrina-Tradition folgte – ein zentrales<br />
Anliegen <strong>des</strong> <strong>Cäcilianismus</strong> – als auch<br />
den populär-musikalischen Geschmack der<br />
Zeit mitberücksichtigte.<br />
Foto zVg<br />
Die Orden zu Recht verdient: Der Initiator<br />
dieser Zeitschrift<br />
Preismesse «Salve Regina»<br />
Das pentatonische Hauptmotiv <strong>des</strong> «Salve<br />
Regina» war bei dieser Messe der Schlüssel<br />
dazu und die Auszeichnung als «Preismesse»<br />
durch eine renommierte Jury ermöglichte<br />
die flächendeckende Verbreitung<br />
der Messe im gesamten deutschen<br />
Sprachraum. Dieses Prestige und Stehles<br />
vehementes <strong>Ein</strong>treten für eine qualitative<br />
Erneuerung der kirchenmusikalischen<br />
Praxis führten 1875 zu seiner Wahl als<br />
«Organist und Chordirigent» der Kathedrale<br />
St. Gallen in der Nachfolge von<br />
Theodor Gaugler (1840–1892); die Bezeichnung<br />
«Domkapellmeister» bürgerte<br />
sich erst im Verlaufe von Stehles Tätigkeit<br />
an diesem Bischofssitz ein. Zeitlebens war<br />
denn auch Stehles Ansehen als konzertierender<br />
Organist ein wesentlicher Bestandteil<br />
seiner musikalischen Autorität.<br />
Komponist und Initiator<br />
In St. Gallen entfaltete Stehle seine Tätigkeit<br />
in allen Bereichen, auch über die<br />
Domkirche hinaus: Als Komponist von 18<br />
Die erste Ausgabe (Probenummer) <strong>des</strong> Chorwächters,<br />
inzwischen im 140. Jahr<br />
liturgischen Messen und zahlreichen Motetten,<br />
von weltlicher Chormusik bis hin<br />
zum grossen Oratorium «Fritjofs Heimkehr»<br />
und zu teils bedeutender sinfonischer<br />
Orgelmusik (etwa das «Symphonische<br />
Tongemälde Saul», welches sogar<br />
Liszt beeindruckte); als konsequenter<br />
Chorerzieher an der Kathedrale, aber auch<br />
beim St. Galler Stadtsängerverein und beim<br />
Oratorienchor der «Antlitz-Gesellschaft»;<br />
als verdienstvoller Initiator und langjähriger<br />
Redaktor <strong>des</strong> Chorwächters; als vielseitiger<br />
und prägender Kursreferent und<br />
als Musikrezensent verschiedener Zeitungen<br />
und Periodika. Im Rahmen <strong>des</strong> Allgemeinen<br />
Cäcilienvereins aller Länder deutscher<br />
Zunge ACV nahm Stehle eine beachtete,<br />
wenn auch nicht führende Position<br />
ein, die im Verlaufe der doktrinären Entwicklung<br />
dieser Bewegung immer wieder<br />
heftige stilistische Auseinandersetzungen<br />
verursachte. Stehle war nicht bereit, die<br />
zeitgenössischen Errungenschaften der<br />
Musik (insbeson dere die chromatische<br />
Harmonik) bedingungslos aufzugeben und<br />
machte aus seiner grenzenlosen Bewunderung<br />
von Franz Liszt keinen Hehl.<br />
Meistaufgeführter Komponist<br />
War bis vor Kurzem der Begriff «cäcilianisch»<br />
eine künstlerisch eher obsolete<br />
Foto mh
20 3 15<br />
Foto zVg<br />
Der Grosserfolg Stehles: Preismesse «Salve<br />
Regina», Autograph<br />
Qualifikation, ist heute eine objektivere<br />
Beurteilung dieser kirchenmusikalischen<br />
Phase möglich: Ohne Zweifel brachte die<br />
cäcilianische Reform nicht nur einen eminenten<br />
Aufschwung <strong>des</strong> kirchlichen Chorwesens,<br />
eine umfassende musikalische<br />
Bildung von Laien und ein neues liturgisches<br />
Bewusstsein, welches letztlich die<br />
Grundlage für päpstliche und konziliare<br />
Rahmenbedingungen schuf, sie war auch<br />
der Ausgangspunkt für ein neues kompositorisches<br />
Engagement in der Kirche,<br />
Foto zVg<br />
HörTipp<br />
Die St. Galler DomMusik engagiert<br />
sich unter der Leitung von Hans Eberhard<br />
für das gehaltvolle Werk Stehles.<br />
So wurde kürzlich anlässlich cantars<br />
2015 ein Konzert ausschliesslich mit<br />
Werken von Stehle gestaltet. Bereits<br />
vor fünf Jahren wurde das gross angelegte<br />
«Te Deum» für achtstimmigen<br />
Chor auf CD festgehalten. Diese CD<br />
eröffnete die Reihe «Musik aus der<br />
Kathedrale<br />
St. Gallen»,<br />
die zwischenzeitlich<br />
auf drei<br />
Editionen<br />
angewachsen<br />
ist. Empfehlenswert und absolut<br />
hörenswert. Die ganze Reihe! (mh)<br />
CD: Te Deum laudamus, Musik aus<br />
der Kathedrale St. Gallen, Vol I,<br />
Werke von St. Galler Komponisten.<br />
Information, Hörproben, Bestellung:<br />
Siehe www.dommusik-sg.ch.<br />
Zu den Messen auch<br />
Patriotisches<br />
Gerne gespielt und in den letzten<br />
Jahren mit wachsender Beliebtheit<br />
auf den Konzertprogrammen anzutreffen<br />
ist Stehles 1904 entstandene<br />
«Fantasie für Orgel über P. Alberich<br />
Zwyssigs Schweizerpsalm». Trotz<br />
<strong>des</strong> jährlichen «Volkssports», die seit<br />
1961 provisorische und seit 1981<br />
definitive «Schweizer Hymne» durch<br />
eine Neuschaffung zu ersetzen,<br />
dürfte die Komposition Zwyssig’s<br />
noch einige Meisterschaften und<br />
1. August-Feiern überdauern. So<br />
lohnt sich das Üben der Bearbeitung<br />
Stehles allemal. Die Noten sind beim<br />
Musikverlag Hug, Zürich, erhältlich.<br />
Wer’s lieber österreichisch mag, den<br />
oder die verweise ich auf die «Concert-Fantasie<br />
über die österreichische<br />
Hymne» (hg. von Alexander Koschel)<br />
im Fagott-Orgelverlag, Friedrichshafen,<br />
2013.<br />
Und für alle Bündner-Liebhaber:<br />
«A la patria grischuna» für Männerchöre.<br />
(mh)<br />
welches bis hin zum Vatikanum II im<br />
20. Jahrhundert eine nicht zu unterschätzende<br />
Dynamik zur Folge hatte. Auch in<br />
diesem Bereich war Stehle im letzten<br />
Drittel <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts schweizerischer<br />
Protagonist: Er schrieb Kirchenmusik<br />
für unterschiedliche Standards und<br />
zählte zu den meistaufgeführten Komponisten<br />
in den Deutschschweizer Bistümer<br />
und darüber hinaus. Seine liturgische<br />
Musik orientierte sich bei allen kontrapunktischen<br />
Ambitionen immer auch am<br />
harmonischen Vokalstil der bürgerlichen<br />
Romantik und blieb dadurch praxisnah –<br />
aber auch zeitgebunden. <strong>Ein</strong>ige wenige<br />
Werke seines grossen, über 200 Titel<br />
zählenden Œuvres überschreiten diese<br />
<strong>Ein</strong>schränkungen: die grossen konzertanten<br />
Orgelwerke, das achtstimmige «Te<br />
Deum» (eine beeindruckende A-cappella-<br />
Komposition), vielleicht auch sein weltliches<br />
Oratorium «Fritjof» op. 64. Als<br />
schweizerischer Reformer der Kirchenmusik<br />
im Rahmen <strong>des</strong> <strong>Cäcilianismus</strong> aber<br />
kommt Stehle historische Bedeutung zu.<br />
Er galt zu Recht als «schweizerischer<br />
Witt» (Franz Xaver Witt, 1834–1888,<br />
Gründer <strong>des</strong> ACV) und hatte zudem entscheidenden<br />
Anteil an der wachsenden<br />
musikalischen Volksbildung im kirchlichen<br />
Rahmen, ein Aspekt, der auch heute<br />
bedenkenswert ist.<br />
Alois Koch<br />
Der Dirigent und Musikwissenschaftler<br />
Alois Koch lebt und arbeitet in Luzern.<br />
Als Professor und ehemaliger Rektor der<br />
Musikhochschule Luzern widmet er sich<br />
besonders Fragen der historischen Aufführungspraxis,<br />
der geistlichen Musik<br />
sowie dem <strong>schweizerischen</strong> Musikschaffen.<br />
Darüber hinaus prägen Konzerte, Radioaufnahmen<br />
und CD-Produktionen sein<br />
Wirken. Als Domkapellmeister in Berlin<br />
und als Kirchenmusiker der Jesuitenkirche<br />
Luzern hat er zudem zahlreiche Erstund<br />
Urauffüh rungen initiiert und dirigiert.<br />
Literatur<br />
• Koch, Alois: Joh. Gustav Eduard Stehle<br />
und die katholische Kirchenmusik in der<br />
deutschen Schweiz zur Zeit der caecilianischen<br />
Reform, Gossau SG 1977<br />
• Gottwald, Clytus: Artikel Stehle in<br />
MGG, Personenteil Bd. 15, Kassel 2006