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Architektur und Elektrizität

978-3-939633-41-9

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INHALT<br />

Einleitung 6<br />

Teil 1<br />

Wirtschaft, Technik, <strong>Architektur</strong><br />

Kraftwerke – Zeichen eines neuen industriellen Zeitalters 9<br />

Experimente <strong>und</strong> Empirie (1885–1903) 10<br />

Systematisierung <strong>und</strong> Organisation (1904–1919) 28<br />

Rationalisierung, Verwissenschaftlichung <strong>und</strong> staatliche Lenkung (1920–1945) 44<br />

Teil 2<br />

Zivilisation, Fortschritt, <strong>Architektur</strong><br />

Kraftwerke – Provokation <strong>und</strong> Hoffnungsträger<br />

einer neuen Kultur 73<br />

„Ex tenebris ad lucem“: Vom Aufbruch in eine neue Zeit 74<br />

Industriearchitektur ist Kulturarbeit 76<br />

<strong>Elektrizität</strong> <strong>und</strong> Technikverherrlichung in den 1920er Jahren 87<br />

Kraftwerksbau im Nationalsozialismus als Sinnbild wirtschaftlicher Macht 90<br />

Teil 3<br />

Kunst, Technik, <strong>Architektur</strong><br />

Kraftwerke – baukünstlerischer Ausdruck<br />

von Technik <strong>und</strong> <strong>Elektrizität</strong> 97<br />

<strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> Stilgeschichte: Zwischen Historismus <strong>und</strong> Reformansätzen 97<br />

<strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> Technik: Ingenieurästhetik <strong>und</strong> Industriearchitektur 114<br />

<strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> Staat: Die Instrumentalisierung von Kraftwerksbauten im<br />

Nationalsozialismus 181<br />

Ausblick 199<br />

Literaturauswahl 203<br />

Bildnachweis 207


Abb. 74<br />

Skulpturen des<br />

Kraftwerkes Halle-<br />

Trotha, um 1920<br />

<strong>und</strong> Viktor Engelhardt den Ansatz, dass die Technik<br />

nicht mehr nur an sich, als materielles, „äußerliches<br />

<strong>und</strong> haptisches Problem <strong>und</strong> Phänomen, allein bedingt<br />

durch seine industrielle <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Bedeutung, zu begreifen ist, sondern auch als metaphysisch<br />

<strong>und</strong> gleichsam immanentes, die Lebenswelt<br />

quasi biologisch determinierendes Moment.“ 42<br />

Die Philosophie der Technik, wie Friedrich Dessauer<br />

1927 unterstrich, ist „aus der eigenen Anlage heraus<br />

eine heroisch-optimistische Philosophie, ein neuer<br />

Idealismus so wie eine Naturphilosophie […]“. 43<br />

Schon Anfang der 1920er Jahre war dieser „Trend“<br />

deutlich geworden. Der österreichische Philosoph<br />

Coudenhove-Kalergi definierte 1922 die Technik<br />

<strong>und</strong> deren Errungenschaften als im Wesentlichen<br />

ethisches Phänomen, das einen der Religion analogen<br />

Kulturwert besitzt: „In unserer europäischen<br />

Geschichtsepoche ist der Erfinder ein größerer<br />

Wohltäter der Menschheit als der Heilige.“ 44 Vor<br />

diesem Hintergr<strong>und</strong> stellt sich natürlich auch die<br />

Frage, inwieweit diese Ansätze Verbreitung in der<br />

Gesellschaft fanden <strong>und</strong> ob sie Einfluss auf den<br />

Kraftwerksbau hatten. Gerade die Schriften von<br />

Dessauer waren in der Weimarer Republik weit<br />

verbreitet. Davon zeugen nicht zuletzt auch die<br />

Neuauflagen seines Buches Philosophie der Technik<br />

bis 1933. Zur philosophischen Auseinandersetzung<br />

mit der Technik existiert für die 1920er <strong>und</strong><br />

1930er Jahre eine ganz umfangreiche Bibliografie.<br />

Schränkt man diese aber auf die <strong>Elektrizität</strong> oder<br />

auch den Kraftwerksbau ein, so sind entsprechende<br />

Publikationen nicht vorhanden. Bemerkenswert ist<br />

an dieser Stelle allerdings, dass beispielsweise die<br />

Werkb<strong>und</strong>zeitschrift Die Form 1929 einen Artikel<br />

Dessauers zur Philosophie der Technik mit Fotografien<br />

des Kraftwerkes Klingenberg illustrierte. 45<br />

Mehrheitlich kann jedoch beobachtet werden,<br />

dass der oftmals idealisierende Ansatz der Technikphilosophie<br />

vor allem in Wochenblättern <strong>und</strong><br />

Werkszeitschriften popularistisch Verbreitung fand.<br />

Im Wesentlichen stand die grenzenlose Faszination<br />

<strong>und</strong> Verherrlichung der gigantischen, bis dato nie da<br />

gewesenen Dimensionen <strong>und</strong> Möglichkeiten der<br />

<strong>Elektrizität</strong> <strong>und</strong> ihrer Maschinen im Mittelpunkt. An<br />

dieser Stelle darf nicht vergessen werden, dass die<br />

<strong>Elektrizität</strong>swirtschaft natürlich auch aus werbestrategischen<br />

Gründen eine derartige Heroisierung<br />

unterstützte. Turbinen wurden als „Giganten der<br />

Technik“ 46 bezeichnet. Die Kühltürme des Kraftwerkes<br />

Zschornewitz hielten sogar den Vergleich<br />

mit „Babylonischen Türmen“ 47 aus. Ausdruck fand<br />

diese Rezeption der <strong>Elektrizität</strong> auch in den Gebäuden<br />

der Stromproduktion. Insbesondere zeigte<br />

sich das in der Ausstattung mit Bauskulpturen <strong>und</strong><br />

in der Einrichtung der Schaltwarten. Bauskulpturen<br />

in Kraftwerken sind zu dieser Zeit eher selten anzutreffen,<br />

entsprechend rar sind demnach auch die<br />

heute noch auffindbaren Objekte. Im Unterschied<br />

zu den Allegorien der <strong>Elektrizität</strong> der Vorkriegszeit,<br />

die die neu aufkommende Industrie in Analogie<br />

setzte mit der griechischen Mythenwelt, stehen diese<br />

Figuren jetzt als Metapher für Macht, Stärke <strong>und</strong><br />

gebändigte Kraft. Beispielhaft sind hier die Skulpturen<br />

des Kraftwerkes Halle-Trotha zu nennen<br />

(Abb.74), die 1925/26 von dem Berliner Bildhauer<br />

Gustav Heinrich Wolff angefertigt wurden. Diese<br />

flankierten den Durchgang zum Maschinensaal. Es<br />

handelte sich um weibliche Gestalten, die keine<br />

Attribute oder Symbole trugen, sondern sich in<br />

zwei verschiedenen Phasen des Gewandablegens<br />

88


efanden. Noeldner führt aus, dass „die Nacktheit<br />

<strong>und</strong> das Verhülltsein Wolff als Symbole für Tag <strong>und</strong><br />

Nacht, für Leben <strong>und</strong> Tod erschienen <strong>und</strong> insofern<br />

die beiden Skulpturen in der Verbindung mit der<br />

funktionellen Portalsituation als ein Lebensgleichnis<br />

angesehen werden können.“ 48 Darüber hinaus<br />

erinnern sie durch die Art <strong>und</strong> Weise, wie diese<br />

Figuren in taille directe aus dem roh behauenen<br />

Muschelkalkstein herausgemeißelt <strong>und</strong> teilweise<br />

noch in ihm verwurzelt sind, an archaische „Urnaturen“.<br />

In dieser monumentalen Unbeweglichkeit<br />

scheint die gebändigte Kraft konzentriert. Ein<br />

weiteres Sinnbild für die Idealisierung sowie den<br />

Machtanspruch der <strong>Elektrizität</strong>swirtschaft kam in<br />

den Schaltwarten der Großkraftwerke zum Ausdruck.<br />

Die Errichtung von Kraftwerken mit gewaltigen<br />

Dimensionen ab Mitte der 1920er Jahre führte<br />

zum Bau von riesigen Schaltwarten. Sie bildeten<br />

das Herzstück eines Kraftwerkes. Anders als in den<br />

übrigen Funktionseinheiten waren hier keine Maschinen<br />

aufgestellt. Die Schalteinrichtungen wurden<br />

in die Raumwände eingelassen. Eine Pultreihe<br />

mit den Steuervorrichtungen, meist aus Marmor,<br />

war fast ausschließlich in der Mitte des Saales oval<br />

oder halbkreisförmig platziert. Das technische<br />

Equipment war symmetrisch angeordnet, so dass<br />

der ganze Raum gleichsam durch einen stereometrischen<br />

Rhythmus gegliedert wurde. Aufgr<strong>und</strong><br />

der inneren Zuordnung der Schaltzentrale zur Maschinenhalle<br />

sowie aus Sicherheitsgründen waren<br />

hier nur selten Fenster angebracht. Lediglich ein<br />

Dach aus eingetrübtem Glas, oftmals als stufenartige<br />

Bahnen über die gesamte Länge <strong>und</strong> Breite<br />

der Warte sich erstreckend, stellte die Lichtzufuhr<br />

sicher. Durch die derartige Anlage <strong>und</strong> Gestaltung<br />

der Schaltzentrale entstand eine ganz spezifische<br />

Raumwirkung, die Assoziationen an sakrale Räume<br />

zuließ. Die Schaltwarten glichen abstrakten, geometrisch<br />

angeordneten Organigrammen, die damit<br />

Abbild der neuen Struktur der Weltordnung wur-<br />

Abb. 75<br />

Ansicht der Schaltwarte<br />

des Kraftwerkes<br />

Klingenberg,<br />

1926/27<br />

89


144


nen verwies. Paul Klopfer versteht in diesem Rahmen<br />

sogar die Turbinenhalle der AEG von Behrens<br />

<strong>und</strong> Bernhard als gotisch: „Im höchsten Sinne ist diese<br />

Fabrik dem gotischen Dom verwandt. […] Der<br />

tiefe Unterschied liegt in der Art, wie der Zweck,<br />

die Aufgabe, die da <strong>und</strong> dort die gleiche, nämlich<br />

der Kampf <strong>und</strong> die Überwindung der Erdenkräfte<br />

ist, erreicht wird. Dies geschieht im gewaltigen Kirchenbau,<br />

indem der Baumeister all sein Schaffen<br />

auf das Jenseits (transzendent) einstellt – dadurch<br />

gewinnt er erst die gewaltige Schwungkraft, die wir<br />

heute in den Gewölben <strong>und</strong> Bogen der Dome anstaunen.“<br />

101 Auch wenn in der Zeit vor 1914 bereits<br />

in Industriebauten, wie beispielsweise denen von<br />

Hans Poelzig, eine Art „wesenhafte“ Beziehung zur<br />

Gotik hergestellt worden war, rekurrierten andere<br />

Architekten im Fabrikbau zunächst auf formale<br />

Bezugspunkte. Erst 1917 stellt Karl Scheffler einen<br />

deutlichen Zusammenhang zwischen der Gotik<br />

<strong>und</strong> dem Technischen, Wirtschaftlichen <strong>und</strong> Industriellen<br />

her. Er bezieht sich hierbei jedoch weniger<br />

auf Detailaspekte, sondern eher auf die Erscheinungsform<br />

des Gebäudes als Einheit: „Auch in der<br />

Baukunst ist dem Klassizismus <strong>und</strong> Renaissancesismus<br />

des neunzehnten Jahrh<strong>und</strong>erts eine neue<br />

Gotik gefolgt. Sie äußert sich in dem Interesse für<br />

großbegriffene <strong>und</strong> symbolhaft gesteigerte Zweckbauten,<br />

die den Zug zum Weltwirtschaftlichen, der<br />

unserer Zeit eigen ist, verkörpern; sie äußert sich<br />

in einer neuen Neigung zum Kolossalen, Konstruktiven<br />

<strong>und</strong> Naturalistischen, in der entschiedenen<br />

Betonung des Vertikalen <strong>und</strong> der ungebrochenen<br />

nackten Formen. Gotisch ist das Ingenieurhafte<br />

der neuen Baukunst. […] Die Linienempfindung<br />

weist unmittelbar oft hinüber zum Mittelalter <strong>und</strong><br />

zum Barock, ohne daß man aber von Nachahmung<br />

oder nur von Wahltradition sprechen dürfte. Das<br />

am meisten Revolutionäre ist immer auch das am<br />

meisten Gotische. Und die profanen Zweckbauten<br />

nehmen, wo sie ins monumentale geraten, wie von<br />

selbst oft Formen an, daß man an Fortifikationsbauten<br />

des Mittelalters denkt. Ein unruhiger Drang<br />

nach Mächtigkeit […] gewinnt in den Speicherbauten,<br />

Geschäftshäusern <strong>und</strong> Wolkenkratzern, in<br />

den Industriebauten, Bahnhöfen <strong>und</strong> Brücken Gestalt;<br />

in den rauen Zweckformen ist das Pathos des<br />

Leidens, ist gotischer Geist.“ 102 Als maßgebende<br />

Beispiele führt er verschiedene Bauten an, darunter<br />

die Frankfurter Gaswerke, 1910 errichtet von<br />

Peter Behrens, die Chemische Fabrik in Luban von<br />

Hans Poelzig sowie die südamerikanischen <strong>und</strong><br />

kanadischen Silobauten. Allen gemeinsam ist das<br />

Plastische, Modellierte, Monumentale <strong>und</strong> vertikal<br />

nach oben Strebende.<br />

Weiter ausdifferenziert wird die Auseinandersetzung<br />

mit der Gotik in den 1920er Jahren. Wieder<br />

war es zuerst Poelzig, der die Gotikeuphorie der<br />

frühen 1920er Jahre kritisch auf ihren Inhalt hinterfragte<br />

<strong>und</strong> damit auch eine ideengeschichtliche<br />

Verbindung. Schließlich revidierte er 1922 sein euphorisches<br />

Gotikbekenntnis der Vorkriegszeit: „Gewiß<br />

ist in der Gotik, soweit das überhaupt möglich<br />

ist, eine Verwandtschaft der Auffassung mit dem<br />

Eisenbau da, aber die Gotik ist eben schon in der<br />

Vergewaltigung des Steines, dem Formwillen zuliebe,<br />

so weit gegangen, daß ein weiterer Schritt nicht<br />

mehr möglich ist, sondern ästhetisch zur völligen<br />

Auflösung <strong>und</strong> Formvernichtung <strong>und</strong> konstruktiv<br />

zum Einsturz führt. […] Der Vergleich wird rein<br />

formalistisch von der Einzelform her ad absurdum<br />

führen, struktiv ist er nicht unberechtigt, eben gerade,<br />

weil die Gotik über die lagerhafte Natur des<br />

Steins kühn hinweggeschritten ist, <strong>und</strong> weil ein<br />

großer Reiz der gotischen Bauten in der märchenhaften<br />

Unwahrscheinlichkeit, in der scheinbaren<br />

Überwindung der Materie <strong>und</strong> der Schwere des<br />

Steines liegt.“ 103 Eine entgegengesetzte Position<br />

hierzu nahm bereits 1919 Ludwig Hilberseimer<br />

ein, der die Gotik vor allem als Ausdruck der Einheit<br />

von Kunst <strong>und</strong> Kultur verstand <strong>und</strong> als nahezu<br />

überzeitliche Logik definierte: „Die höchste Einheit<br />

verkörpert die Gotik in der Kathedrale: eine kristallisierte<br />

Idee von konsequenter Folgerichtigkeit.<br />

Alles irgendwie Dekorative unmöglich machend.<br />

Vehemente Entlastung seelischer Spannungen.<br />

Grandioses phantastisches Sichauftürmen. Innigstes<br />

Gefühl vergöttlicht, entmaterialisiert die Materie.<br />

Läßt alles Schwere vergessen.“ 104<br />

Wie gestaltete sich vor diesem Hintergr<strong>und</strong> in den<br />

1920er Jahren die praktische Auseinandersetzung<br />

mit dem „Geist der Gotik“ beim Bau von <strong>Elektrizität</strong>szentralen?<br />

Erste Beispiele für eine mögliche<br />

Gotikrezeption bei Kraftwerken wurden in den<br />

1921 begonnenen Planungen zum Bau des Kraftwerkes<br />

Borken in Hessen sichtbar, das gleichzeitig<br />

auch klassizistische Tendenzen verarbeitete. Es<br />

wurde bis 1923 von der AEG in Zusammenarbeit<br />

mit Klingenberg <strong>und</strong> Issel realisiert. Das Maschinenhaus<br />

sowie der das Kesselhaus flankierende<br />

Arkadengang scheinen sich noch am ehesten an<br />

Abb. 124<br />

Ansicht des<br />

Verwaltungsgebäudes<br />

<strong>und</strong> des<br />

Hilfsmaschinenhauses<br />

des Kraftwerkes<br />

Klingenberg, 1928<br />

145


zeigt sich aber, dass die Architekten trotz ihres eng<br />

definierten Handlungsspielraumes eine dem Charakter<br />

des Bauwerkes entsprechende <strong>Architektur</strong><br />

umsetzten. Der „Umweg“ über die <strong>Architektur</strong>geschichte<br />

war nun nicht mehr vorrangig notwenig,<br />

denn die als präzisionshaft interpretierte Maschine<br />

wurde nun auf einer übergeordneten Ebene zum<br />

Gestaltungskriterium. Fritz Schumacher unterstrich<br />

diese Tendenz im Industriebau der späten 1920er<br />

Jahre mit der Feststellung, dass „das Suchen nach<br />

einem Ausdruck für die technischen Zweckgebilde<br />

unserer Zeit, das vor dem Kriege einsetzt, jetzt<br />

zu einem Ergebnis [kommt, d. Verf.], das über gelegentliche<br />

besonders gelungene Künstlerleistungen<br />

hinaus eine gewisse Allgemeingültigkeit erhält.<br />

Für dieses weite Baugebiet unserer Tage wird eine<br />

Sprache gef<strong>und</strong>en, die wie eine Erlösung von dem<br />

Alpdruck der Ratlosigkeit wirkt, der über der Zeit<br />

lag.“ 133<br />

Backstein <strong>und</strong> Eisen: Von der<br />

Authentizität des Materials<br />

Mit der Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts einsetzenden<br />

Diskussion um die Erneuerung der Industriearchitektur<br />

rückte auch immer mehr die authentische<br />

Verwendung der verschiedenen Baumaterialien in<br />

den Mittelpunkt des Interesses. Bei der Debatte<br />

ging es um gestalterische Aspekte wie Monumentalität,<br />

Flächigkeit, die organische Entwicklung des<br />

dekorativen Elements aus dem Material heraus 134 ,<br />

die Betonung des Konstruktiven, formale, dem<br />

Material entsprechende Qualitäten, die Farbigkeit,<br />

Licht- <strong>und</strong> Schattenwirkung <strong>und</strong> letztlich vor allem<br />

um die Frage nach dem Ausdruck des Wesens<br />

des Materials. Demnach sollte es nicht mehr eine<br />

historische Form zum Ausdruck bringen, sondern<br />

durch sich selbst, gleichsam durch seine eigene Materialität,<br />

zum Ausgangspunkt der Formgestaltung<br />

werden. Erneut scheinen die Berliner Industriebauten<br />

der AEG, insbesondere die von Behrens, als<br />

beispielhaft rezipiert worden zu sein. So heißt es in<br />

der Zeitschrift Deutsche Bauhütte: „Die Kleinmotorenfabrik<br />

ist wohl das erfreulichste, was bisher<br />

an Fabrikbauten geschaffen wurde.“ 135 ; „Prächtig<br />

beherrscht hier […] das Stahlblau der Eisenklinker<br />

die Farbwirkung der Fassade. Erdverwandt steigen<br />

die wuchtigen Pfeiler in dem metallisch glänzenden<br />

Klinkerton vom Boden auf. Solche Bauten werden<br />

in der Tat dem Backstein seine alte Beliebtheit zurückerobern<br />

helfen.“ 136<br />

Auch zahlreiche weitere Kraftwerke zeigen ab<br />

1909/1910 die Tendenz, die in diesem Material<br />

liegenden gestalterischen Möglichkeiten für die<br />

<strong>Architektur</strong> nutzbar zu machen. Dabei spielen formale<br />

Referenzen an historische Stile, wie beispielsweise<br />

an die Backsteingotik, immer seltener eine<br />

Rolle, wenngleich die Beispiele aus der Gotik nach<br />

wie vor Relevanz für den Umgang mit Backstein<br />

behalten. In dem Zusammenspiel von Materialität<br />

<strong>und</strong> funktionellen Anforderungen wurde nun versucht,<br />

eine neue Formensprache zu entwickeln.<br />

Erste gestalterische Ansätze in dieser Richtung<br />

präsentierte das für die BEWAG 1910/1911 errichtete<br />

Kraftwerk Südwest in Berlin-Schöneberg<br />

der Architekten E. Schütze <strong>und</strong> Otto Kohtz (Abb.<br />

139). Auch wenn die formale Gr<strong>und</strong>haltung noch<br />

Anspielungen an Elemente der Backsteingotik offenbarte,<br />

nachzuvollziehen unter anderem an den<br />

die Seitenfassade rhythmisierenden Strebepfeilern,<br />

dokumentierten zahlreiche Detail-lösungen den<br />

Versuch einer materialgerechten Auseinandersetzung<br />

mit dem Backstein. In Form von nahezu<br />

ungegliederten Wänden unterstreichen sie den<br />

Aspekt der Flächenbewältigung durch das Material.<br />

Verb<strong>und</strong>en damit war die Möglichkeit, diesen<br />

Stein in seiner unterschiedlichen Farbigkeit wirken<br />

zu lassen. Auch im Hinblick auf die Formgestaltung<br />

fanden die Architekten individuelle Lösungsansätze.<br />

Durch ein Wechselspiel von unterschiedlich<br />

stark auskragenden Backsteinen wurde die damit<br />

geschaffene Fensterrahmung zu einem die Oberfläche<br />

gestaltenden Element der Fassade.<br />

Die vom <strong>Architektur</strong>büro Issel <strong>und</strong> Klingenberg für<br />

die AEG errichteten Kraftwerksbauten zeigten den<br />

Versuch der Monumentalisierung durch auf Fernwirkung<br />

angelegte Strukturen. Der Backstein als<br />

Ausgangspunkt für Massivität <strong>und</strong> Monumentalität<br />

stand hier eher im Mittelpunkt als die Suche nach<br />

neuen Detaillösungen. Dazu kam, dass sich die Details<br />

der Fassadenabwicklung im Wesentlichen an<br />

klassizistischen Vorbildern <strong>und</strong> der Behrens’schen<br />

Flächenornamentik orientierten. Auch hier überwog<br />

eher die Tendenz der Überhöhung des Industriecharakters<br />

durch Pathos.<br />

Theoretisch orientierte Auseinandersetzungen mit<br />

einem neuen <strong>und</strong> innovativen bautechnischen <strong>und</strong><br />

gestalterischen Umgang mit dem Backsteinmaterial<br />

entstehen erst nach 1914. Hier ist vor allem Fritz<br />

Schumacher zu nennen. Er publizierte 1917 Das<br />

Wesen des neuzeitlichen Backsteinbaus. 137 Im Mit-<br />

Abb. 136<br />

Ansicht der Achse des<br />

Kesselhauses der Zeche<br />

Zollverein XII,<br />

1930er Jahre<br />

159


Abb. 137<br />

Entwurf mit<br />

Verwaltungsgebäude<br />

<strong>und</strong> mit gehobenem<br />

Kesselhaus zur ebenerdigen<br />

Entaschung<br />

für die Gummifabrik<br />

Fromm in Berlin-<br />

Köpenick, Korn &<br />

Weitzmann, 1931<br />

telpunkt stand die Frage nach der dem Backstein<br />

innewohnenden künstlerischen Ausdrucksstärke,<br />

die er jenseits formal-historischer Vorgaben sah.<br />

Ziel sollte die „Zusammenführung des Technischen<br />

mit dem Ästhetischen sein.“ 138 Der gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

gestalterische Parameter des Backsteins war für ihn<br />

die Fähigkeit der Bewältigung von Fläche, Masse<br />

<strong>und</strong> Form. Hieraus leitete er einige gestalterische<br />

Hauptaspekte des Backsteins ab. Die Fläche galt für<br />

ihn als „Trägerin eines aktiv wirkenden farbigen Eindrucks“<br />

139 , woraufhin der Backstein die Form entbehren<br />

kann. 140 Die Möglichkeit der „koloristischen<br />

Entfaltung der Fläche“ 141 , die mit der Betonung der<br />

Fugen die Flächenwirkung maßgeblich prägen sollte,<br />

erwuchs als gestalterische Konsequenz. Die zweite<br />

Forderung – die Bewältigung der Masse – sah er<br />

durch die Fähigkeit der horizontalen Schichtbildung<br />

gegeben. Zudem vermochte der Backstein die<br />

Gr<strong>und</strong>probleme der Raumbildung zu lösen. Der<br />

Backstein „liefert mit gleicher Selbstverständlichkeit<br />

den Pfeiler <strong>und</strong> die Rippe, die Wand <strong>und</strong> die<br />

Schale. […] das heißt nicht weniger, als alle Gr<strong>und</strong>elemente,<br />

welche für das Problem der Raumumhüllung<br />

im senkrechten <strong>und</strong> im waagrechten Sinne<br />

in Betracht kommen.“ 142 Die letzte Forderung nach<br />

der Bewältigung der Form war für Schumacher an<br />

die Größe <strong>und</strong> die Form der Ziegeleinheit geb<strong>und</strong>en,<br />

so dass Formen hauptsächlich durch „Auskragungen<br />

der Ziegel-Schichten gegeneinander, durch<br />

Verschränkungen in der Art, wie man Ziegel verbindet,<br />

durch Aussparung von Löchern, durch Abtreppen,<br />

durch den Wechsel von Lager-Schichten<br />

<strong>und</strong> Roll-Schichten <strong>und</strong> dergleichen“ 143 entstehen<br />

können. In der Konsequenz, so unterstrich er, sind<br />

„die Modellierungen von einer gewissen primitiven<br />

Gewaltsamkeit“. 144<br />

Die theoretischen Ansätze von Schumacher lassen<br />

sich im Kraftwerksbau der 1920er Jahre nachvollziehen.<br />

Obwohl zunächst, bedingt durch die wirtschaftlichen<br />

Nöte der Nachkriegszeit, an künstlerisch<br />

ausgeführte Industrieanlagen kaum zu denken<br />

war, baute die AEG ab 1921/1922 einige Werke,<br />

bei denen zumindest ansatzweise versucht wurde,<br />

mit dem Baustoff Backstein zu einer Synthese von<br />

gestalterischen <strong>und</strong> technischen Lösungen zu gelangen.<br />

Als ein Höhepunkt des Einsatzes des Backsteins<br />

im Kraftwerksbau gilt das Kraftwerk Klingenberg.<br />

160


Abb. 138<br />

Ansicht von Maschinen<strong>und</strong><br />

Kesselhaus der<br />

Gummifabrik Fromm<br />

in Berlin-Köpenick,<br />

1931<br />

Alle Gebäudeteile sind in Klinker oder in einer<br />

Klinker-Eisenfachwerk-Verbindung ausgeführt. Zur<br />

Verwendung kam der sogenannte Ilse-Eisenklinker,<br />

dessen Farbigkeit zwischen rotorange <strong>und</strong> dunkelbraun<br />

variiert. Die bis dato reflektierten Möglichkeiten<br />

einer modernen, also dem Wesen des<br />

Materials entsprechenden Kraftwerksarchitektur<br />

in Klinkerausführung kommen in diesem Bau in<br />

ihrer Vielfalt zum Ausdruck. Gleichzeitig markiert<br />

das Werk den Umschwung zu einer sich dementsprechend<br />

durchsetzenden Tendenz starker<br />

Vereinfachung <strong>und</strong> Reduktion auf noch schlichtere<br />

Ausführungsmöglichkeiten mit Backstein. Die drei<br />

von Schumacher genannten Möglichkeiten, dem<br />

Backstein künstlerische Ausdrucksstärke abzugewinnen,<br />

also die Bewältigung der Fläche, Masse <strong>und</strong><br />

Form, wurden im Klingenbergkraftwerk umgesetzt.<br />

An den verschiedenen Teilen der Anlage lässt sich<br />

dies nachvollziehen. Trotz des als Pfeilerbau ausgeführten<br />

Gebäudes ist die Verwendung von Flächen<br />

als gestaltende Außenhaut vorhanden. Interessant<br />

hierbei ist, dass die Architekten überall das gleiche<br />

System der Flächengestaltung anwandten. Von der<br />

das Kraftwerk umgebenden Begrenzungsmauer bis<br />

hin zu den ausgefachten Flächen der Kesselhäuser<br />

weisen alle Außenwände die gleiche Gestaltung auf<br />

(Abb. 140). Die Wände oder Gefache wurden nach<br />

einem einfachen Verband aufgebaut. Hochkant vermauerte<br />

Klinker, die in Zweiergruppen im Wechsel<br />

waagerecht <strong>und</strong> senkrecht angeordnet sind, rhythmisieren<br />

die Wände. Durch diese Art der Vermauerung<br />

<strong>und</strong> durch die variierende Farbigkeit der<br />

Klinkersteine entstand ein wechselhaftes Spiel. Die<br />

Fläche, wie Schumacher es formulierte, wurde „zur<br />

Trägerin eines Farbausdruckes“, die letztlich auch<br />

jeden formalen Zusatz entbehren konnte. Durch<br />

die geschickte Betonung der Fugen zeigt sich die<br />

Wand gleichsam als abstraktes Linienspiel. Auch im<br />

Innenbereich (Kraftwerke Klingenberg <strong>und</strong> Schulau)<br />

kam dieser Ansatz der Auseinandersetzung<br />

mit Fläche <strong>und</strong> Fuge zum Ausdruck. Die Zeitschrift<br />

Neue Baukunst unterstrich die gelungene farbig<br />

changierende Ausführung in Klinkerstein im Innenbereich<br />

des Kraftwerkes Klingenberg <strong>und</strong> wies<br />

zudem auf die insgesamt vorhandene Farbigkeit<br />

bestimmter Räumlichkeiten des Werkes hin: „so<br />

sind im Erdgeschoß in der großen Empfangshalle<br />

[…] die Wände aus verschiedenfarbigen Klinkern<br />

161


zunächst eher selten umgesetzt. Erste Schritte zu<br />

einer gestalterischen Auseinandersetzung unternahmen<br />

ab 1906 einige deutsche Ingenieurfirmen,<br />

darunter Wayss & Freytag aus Frankfurt/Main, Dyckerhoff<br />

<strong>und</strong> Widmann aus Karlsruhe, aber auch<br />

Architekten wie die GbR. Rank <strong>und</strong> W. Bertsch<br />

aus München sowie Theodor Fischer. Eine theoretische<br />

Sensibilisierung für die Belange der künstlerischen<br />

Gestaltung der Eisenbetonbauten leistete<br />

als einer der Ersten 1909 der Ingenieur Emil von<br />

Mecenseffy im Handbuch für Eisenbetonbau. Er präsentierte<br />

als Vorreiter eine Art Überblick über die<br />

Möglichkeiten künstlerischer Formen des Eisenbetons<br />

in der Profan- <strong>und</strong> Zweckarchitektur. Erklärtes<br />

Ziel seiner Ausführungen war darüber hinaus, „das<br />

innere Wesen“ der modernen Bauweise erfahrbar<br />

zu machen, um über die mathematisch-physikalische<br />

Berechnung hinaus die ästhetischen Werte<br />

umzusetzen. Er entwickelte für den Eisenbetonbau<br />

in Deutschland eine Art Formkatalog für die Gestaltung<br />

dieses Materials.<br />

Zur Unterstützung seiner Ausführungen illustrierte<br />

er sein Buch mit einer Vielzahl zeitgenössischer<br />

deutscher <strong>und</strong> ausländischer Industriebauten. Er<br />

unterstrich im Hinblick auf die Oberflächenbehandlung<br />

des Eisenbetons, dass die materielle Authentizität<br />

der Eisenbetonoberfläche sich selbst<br />

genügen sollte, ohne zusätzliche Dekorationselemente<br />

oder Versatzstücke zu bemühen.<br />

Die im Buch von Mecenseffys aufgeführte Themen-<br />

<strong>und</strong> Beispielpalette verdeutlichte bereits zu<br />

diesem Zeitpunkt das Spannungsfeld, das sich im<br />

Rahmen der zukünftigen Entwicklung von Eisenbetonbauten,<br />

insbesondere im Industriebau, abzeichnen<br />

würde. So wurde einerseits die Tendenz<br />

deutlich, sich hauptsächlich an überlieferte Formen<br />

zu halten, indem mit dem Eisenbeton Motive von<br />

Renaissance- oder auch Barockarchitekturen nachgebildet<br />

wurden. Andererseits vertrat eine immer<br />

größer werdende Gruppe von Architekten <strong>und</strong><br />

Ingenieuren die Haltung, die konstruktiv-statischen<br />

Ergebnisse ästhetisch sichtbar zu machen, indem<br />

vor allem das Strukturelle, Konstruktive <strong>und</strong> Gerüsthafte<br />

im Mittelpunkt stehen sollte. Gerade diese<br />

gegenläufigen Tendenzen kennzeichneten nun<br />

auch die materialästhetische Auseinandersetzung<br />

mit dem Eisen- <strong>und</strong> Stahlbeton im Kraftwerksbau.<br />

In der Anfangsphase der Verwendung von Eisenbeton<br />

im Kraftzentralenbau wurde das Material<br />

zunächst ausschließlich zu rein konstruktiven Zwecken<br />

verwendet, wie beispielsweise für die Turbinenf<strong>und</strong>amente<br />

<strong>und</strong> andere F<strong>und</strong>amentgründungen. Ein<br />

architektonisch-künstlerischer Einsatz des Eisenbetons<br />

begann erst in der Zeit um 1909. Im Vergleich<br />

zu anderen Industriebauten ist die Beschäftigung<br />

mit ästhetischen Aspekten im Kraftwerksbau zunächst<br />

eher konservativ ausgerichtet. Deshalb wurde<br />

nicht ausdrücklich nach neuen Lösungen für<br />

Bauformen gesucht, sondern meist auf Elemente<br />

der klassischen Formensprache zurückgegriffen. Als<br />

beispielgebend für die materialgerechte Verwendung<br />

von Eisenbeton im Industriebau gilt um 1910<br />

der neue Gasbehälter in Dresden-Reick, errichtet<br />

unter der Leitung des damaligen Stadtbaurates<br />

Hans Erlwein in Zusammenarbeit mit der Firma<br />

Dyckerhoff <strong>und</strong> Widmann. Auch bei anderen, zeitgleich<br />

in Eisenbeton ausgeführten Industriebauten<br />

wurde gerade der materialgerechte, authentische<br />

Umgang als besonders wegweisend hervorgehoben.<br />

So sei an dieser Stelle noch die Bremer<br />

Rolandsmühle der Architekten Hildebrandt <strong>und</strong><br />

Günthel erwähnt, bei der gerade die in Eisenbeton<br />

ausgeführten, nach außen hin sichtbar gemachten<br />

Abb. 143<br />

Detail der<br />

Verbindungsbrücke<br />

zwischen Turbinenhausvorbau<br />

<strong>und</strong><br />

30.000-Volt-Schalthaus,<br />

1927<br />

Abb. 144<br />

Brecherturm des<br />

Kraftwerkes Schulau<br />

bei Hamburg, 1928/29<br />

167


188


hier der Typ eines schornsteinlosen Kraftwerkes<br />

errichtet werden sollte. Das Bauensemble erhob<br />

sich über einem Gr<strong>und</strong>riss, der sich aus den Gegebenheiten<br />

der Bauparzelle sowie gleichermaßen<br />

aus dem offensichtlichen Streben nach einer das<br />

Stadtbild bestimmenden Monumentalität ergab,<br />

was technisch sicher nicht unproblematisch gewesen<br />

wäre. Dabei wurde das mittig zur Straße hin<br />

liegende Maschinenhaus von zwei Seitenflügeln<br />

flankiert, in denen unter anderem die Verwaltung<br />

untergebracht werden sollte. Das Kesselhaus mit<br />

den integrierten drei Schornsteinen war hinter<br />

dem Maschinenhaus angeordnet. Der Kohlenbunker<br />

lag schräg hinter dem Kesselhaus. Aus dieser<br />

Anordnung ergab sich ein nach Volumen symmetrisch<br />

gestaffelter Baukomplex. Dabei überragten<br />

die ummantelten Schornsteinessen das Ensemble<br />

<strong>und</strong> markierten die zentrale vertikale Achse. Architektonisch<br />

gesehen, reihte sich das Gebäude in das<br />

neo-klassizistische Repertoire des NS-Regimes ein.<br />

Lediglich die durch Pfeiler strukturierten Fassaden<br />

verwiesen auf die industrielle Bestimmung des Gebäudes.<br />

Durch die auf der Zeichnung dargestellte<br />

Straßensituation wurde zudem die Maßstablosigkeit<br />

deutlich. Zwei weitere Entwurfszeichnungen<br />

von Issel aus dem Jahre 1935 sowie vermutlich<br />

aus den frühen 1940er Jahren zeigen ebenfalls vergleichbare<br />

Ansätze (Abb. 164, 165).<br />

Dass die Wahl für die Errichtung des Wilmersdorfer<br />

Kraftwerkes auf Werner Issel gefallen war, war<br />

kein Zufall. Immerhin baute er mit seinem Büro,<br />

das 1937 von Berlin ins anhaltische Ballenstedt verlegt<br />

wurde, für zahlreiche strategisch wichtige Industriebetriebe<br />

der Flugzeug- <strong>und</strong> Mineralölindustrie in<br />

Dessau, Bernburg, Schönebeck, Magdeburg, Pölitz<br />

<strong>und</strong> Brüx. 186<br />

Außerdem schlug Albert Speer Werner Issel in dieser<br />

Zeit für die Fassadengestaltung von Verwaltungsbauten<br />

großer Industriekonzerne wie die der AEG<br />

oder der Maggi-Gesellschaft vor. 187 Sie sollten im<br />

Rahmen der Bebauungen der sogenannten Nord-<br />

Süd-Achse in Berlin errichtet werden (Abb. 166).<br />

Für den damaligen Kraftwerksbau konnten bislang<br />

nur wenige weitere Kraftwerksentwürfe gef<strong>und</strong>en<br />

werden, deren <strong>Architektur</strong> sich eines vergleichbaren<br />

nationalsozialistischen, neo-klassizistischen Habitus<br />

bediente. Es existiert beispielsweise ein anonymes<br />

Projekt für ein schornsteinloses Kraftwerk, das der<br />

Ingenieur Karl Schröder 1942 in der Zeitschrift des<br />

Verbandes Deutscher Ingenieure publizierte. Der Autor<br />

dieser Entwurfszeichnungen konnte nicht ermittelt<br />

werden. Zu dieser Art <strong>Architektur</strong> hieß es:<br />

„Die mit Absicht dem Nüchternen, ‚Industriebaumäßigen‘<br />

abgewandte <strong>Architektur</strong> soll symbolisch<br />

die letzten Endes aus der Sonne geborenen Kräfte<br />

aus dem Rationalen ins Erhabene steigern.“ 188<br />

Es zeigt sich demnach, dass die nationalsozialistische<br />

<strong>Architektur</strong>vorstellung, die vornehmlich im Bereich<br />

der öffentlichen oder Staatsbauten zum Ausdruck<br />

kam, auch im Kraftwerksbau umgesetzt wurde. Allerdings<br />

darf man feststellen, dass die in neo-klassizistischen<br />

Formen entworfenen Kraftwerksbauten<br />

die Ausnahme blieben. Sie entstanden zudem<br />

meist nur auf dem Papier, wie beispielsweise auch<br />

ein Entwurf für ein schornsteinloses Kraftwerk in<br />

Berlin-Schöneberg zeigt (Abb. 167). Eher setzte<br />

sich das Formenvokabular der späten 1920er Jahre<br />

durch, das allerdings kombiniert wurde mit Dimensionen,<br />

die den Maßstab Mensch nicht mehr<br />

berücksichtigten <strong>und</strong> auch sonst die Konzepte der<br />

Moderne nicht integrierten.<br />

Abb. 162<br />

Kraftwerk des<br />

Hydrierwerkes<br />

Gelsenkirchen, Ende<br />

1930er Jahre<br />

Abb. 163<br />

Entwurfszeichnung<br />

für das Kraftwerk<br />

Berlin-Wilmersdorf,<br />

Ring III/<br />

Mecklenburgische<br />

Straße, 1942<br />

189

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