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Gemeinsam leben und lernen – Ist Inklusion normal?1

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„Krüppelbewegung“ der 1980er Jahre „Lieber <strong>leben</strong>dig als <strong>normal</strong>!“ Diese gerade genannten Beispielezitiert Jürgen Link (2008). Link, mittlerweile emeritierter Literaturwissenschaftler der UniversitätDortm<strong>und</strong>, hat entscheidend dazu beigetragen, Normalität theoretisch zu f<strong>und</strong>ieren. Dabeiist auch das von ihm maßgeblich beeinflusste DFG-Projekt „Leben in Kurvenlandschaften“ (abMitte der Neunziger Jahre) zu nennen, in dem auch einige Publikationen im Kontext mit Behinderungentstanden sind. Da sich im Rahmen der heutigen Fragestellung manche Querbezüge ergeben,möchte ich auf Jürgen Links Konzept des Normalismus nachfolgend wiederholt zurückkommen.20Die Begriffe <strong>normal</strong>, Normalität, Normalisierung <strong>und</strong> ihre Gegenbegriffe a<strong>normal</strong> <strong>und</strong> abnormstammen alle vom lateinischen Wort „norma“ ab. Die Norma war das Instrument der römischenBaumeister zur Bestimmung des rechten Winkels <strong>und</strong> wurde in der Folgezeit eine gebräuchlicheBezeichnung für jede Art von Regel.Die terminologische Unterscheidung von Norm <strong>und</strong> Normalität ist problematisch, wie Link (2008)feststellt. Schon allein das Wort „Norm“ hat mindestens drei sehr verschiedene Bedeutungen:1. Norm als (normative) Regel, Vorschrift, Ge- bzw. Verbot (im juristischen Sinne),2. Norm als Grenz- bzw. Schwellennorm (z. B. technische oder ökologische Grenzwerte, aberauch die „Olympia-Norm“ im Leistungssport als eine sehr hoch angesetzte Mindestleistung– sie ist das Gegenteil von Normalität, eher eine positive A<strong>normal</strong>ität),3. heute seltener <strong>und</strong> sehr missverständlich: Norm gleichgesetzt mit Normalität, z. B. wenngesagt wird, ein bestimmter IQ-Wert falle „noch in die Norm“. Hiermit ist weder eine Grenzenoch eine Regel gemeint, sondern ein sehr breiter Bereich, der die übergroße Mehrheitumfasst. Meistens wird aber auch hier eher der untere Grenzbereich betont, sodass es sichwiederum um die zweite Bedeutung, nämlich die Normalitätsgrenze handelt. 215Normativität ist gr<strong>und</strong>legend für alle menschlichen Gesellschaften – heute wie auch historisch gesehen.Normen sind dem Handeln prä-existent, d. h. sie sind dem Akteur im Voraus bekannt <strong>und</strong>sie haben, wie Link (2008, 62) formuliert, einen „juristischen Beigeschmack“. Sie können als Gesetze,als Ge- <strong>und</strong> Verbote oder als ethische Normen für unser Verhalten im Zusammen<strong>leben</strong> mit andereneine klare Orientierung bieten; bei Verstößen gegen Normen drohen Sanktionen. Dabei istdie Sichtweise binär (ein Beispiel aus der Justiz: Wurde vorsätzlich gehandelt oder nicht?).Normativität ist aber nicht mit Normalität gleichzusetzen. Normalität hat sich historisch entwickelt<strong>und</strong> ist im Gegensatz zur Normativität, die eine Erfüllungsnorm darstellt, eher eine „Orientierungskarte“.22 Link beschreibt Normalität als ein Produkt moderner Gesellschaften. Sie hat sich entwickeltmit Beginn der systematischen, massenhaften Datensammlung. Dieser umfangreiche Einsatzstatistischer Methoden zur Erhebung, Vermessung, Typisierung, zur Ermittlung von Mittelwerten<strong>und</strong> zur Darstellung von Verteilungskurven hielt im 18., besonders aber im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert in Eu-20 Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass Links Normalismus-Konzept wesentlich komplexer ist, als es an dieser Stelledargestellt werden kann.21 Vgl. Link (2008, 61).22 Vgl. von Stechow (2004, 26).

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