opa <strong>und</strong> in Amerika Einzug - u. a. in der Medizin, in der Psychologie, der Anthropologie wie auchin der Politik.Link (2008, 63) bezeichnet die modernen westlichen Länder als „verdatete Gesellschaften“ <strong>und</strong> dieGesamtheit der statistischen Verfahren, die Normalität <strong>und</strong> damit zugleich auch Abweichungenerfassen sollen, als „Normalismus“.Kennzeichnend für Normalität in Abgrenzung von Normativität sind folgende Charakteristika: 23Sie beruht auf Statistik <strong>und</strong> Durchschnittswerten. Typische Beispiele sind Normalmaße,Normalwerte, Normalgrößen.Es gibt ein breites Mittelfeld, den „Normalbereich“ (<strong>normal</strong> range) <strong>und</strong> an den Enden derVerteilung immer weniger Individuen.Im Gegensatz zur Normativität werden Normen erst im Nachhinein, also nach der Bildungeiner statistischen Mitte, wirksam.Normalität <strong>und</strong> Normativität können, wie Elisabeth von Stechow (2004, 26) feststellt, auch gleichzeitigexistieren: Normativ betrachtet ist eine Abtreibung aus juristischer, ethischer <strong>und</strong> religiöserSicht unzulässig. Im „alltäglichen“ Umgang hiermit wie auch aus der Perspektive der Frauenbewegunggilt Abtreibung allerdings mehr oder weniger als akzeptabel.Ein weiterer – auch für meine heutige Fragestellung – bedeutsamer Aspekt, den Link hervorhebt:Normalität kann Normativität weder aufheben noch ersetzen; sie beeinflusst sie aber stark. Sokönnen beispielsweise veränderte Haltungen zur Sexualität oder gegenüber Menschen mit Behinderungenzu einer veränderten Normativität <strong>und</strong> dann auch zu gesetzlichen Anpassungsprozessenführen. 246Für die Schulpraxis wie auch für die theoretische Auseinandersetzung mit Normalität ist eine Kernfragedie Grenzziehung: Was gilt noch als <strong>normal</strong>, <strong>und</strong> wo fängt die Randzone des A<strong>normal</strong>en an?Hier lassen sich zwei <strong>normal</strong>istische Strategien ausmachen, die zentral für Links Normalismuskonzeptsind:der Proto<strong>normal</strong>ismus <strong>und</strong>der flexible Normalismus.Beide Strategien basieren auf einer Annahme, die auf den französischen Physiologen Broussais 25wie auch den Mitbegründer der Soziologie, Auguste Comte 26 , zurückgeht, nämlich dass Normalität<strong>und</strong> A<strong>normal</strong>ität keine Gegensatzpaare sind. Vielmehr gibt es fließende Übergänge in beide Richtungen.2723 Vgl. Link (2008, 63); Dederich (2007, 133); von Stechow (2004, 26f.); Lingenauber (2008, 161).24 Vgl. Link (2008, 63).25 François Broussais (1772-1838) war ein französischer Mediziner.26 Auguste Comte (1798-1857) war Mathematiker, Philosoph <strong>und</strong> gilt als Mitbegründer der Soziologie.27 Hier gibt es auch Bezüge zu Aaron Antonovskys Konzept der Salutogenese, nach dem Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit aufeinem Kontinuum liegen <strong>und</strong> jeder Mensch ges<strong>und</strong>e <strong>und</strong> kranke Aspekte aufweist.
Abb. 1: Proto<strong>normal</strong>ismus 28Die proto<strong>normal</strong>istische Strategie ist historisch betrachtet die ältere Strategie. 29 Sie lässt sichdurch folgende Eigenschaften kennzeichnen:Die Normalitätszone ist sehr stark komprimiert.Um Abschreckung <strong>und</strong> Undurchlässigkeit zu gewährleisten <strong>und</strong> zugleich Angst vorDe<strong>normal</strong>isierung abzubauen, werden die Normalitätsgrenzen wie Mauern starr <strong>und</strong> enggesetzt. Es gibt also eine klare Trennung: Hier wir – dort die Anderen.Der Bereich der A<strong>normal</strong>ität ist als Folge des knapp bemessenen Normalbereichs breit<strong>und</strong> führt zwangsläufig zur Exklusion <strong>und</strong> möglicherweise zur Zuweisung zu Sondereinrichtungenwie Gefängnissen, Heimen oder Erziehungsanstalten. Das Menschenbild desNationalsozialismus zeigt ein besonders erschreckendes Beispiel für Proto<strong>normal</strong>ismus,bei dem der Ausschluss aus dem Normalbereich bis zur Ermordung führen kann.Ob ein Individuum innerhalb oder außerhalb des Normalfeldes verortet wird, wird durchvorab festgelegte Normen von außen bestimmt. 307Proto<strong>normal</strong>ismus führt nach Link (1997, 78) häufig dazu, dass Menschen eine „Fassaden-Normalität“ entwickeln: Äußerlich verhalten sie sich so, dass sie dem Normalfeld zugeordnet werdenkönnen, während sie heimlich Verhaltensweisen zeigen, die in den Bereich der A<strong>normal</strong>itätfallen. 3128 Abbildung entnommen aus: Lingenauber (2008); s. http://bidok.uibk.ac.at/library/lingenauber-<strong>normal</strong>itaet00.jpg29 Vgl. von Stechow (2004, 32): Im 19. <strong>und</strong> in der ersten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts war die proto<strong>normal</strong>istische Strategieabsolut dominant. – S. zum Folgenden auch: Link (2008, 65ff.); Dederich (2007), 135; Lingenauber (2008, 162f.).30 Vgl. auch Michel Foucault (1926-1984, Philosoph, Soziologe u. a.), der auf die Außenlenkung <strong>und</strong> Disziplinierung <strong>und</strong>die damit verb<strong>und</strong>ene Macht hinweist.31 Als Beispiel wird hier der Kinsey-Report zum Sexualverhalten der US-Amerikaner in den 1940er Jahren angeführt.