09.07.2015 Aufrufe

Abitur D 2012 Epik - Kubiss.de

Abitur D 2012 Epik - Kubiss.de

Abitur D 2012 Epik - Kubiss.de

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Törleß beteiligte sich nicht an dieser übermütigen, frühreifen Männlichkeitseiner Freun<strong>de</strong>.60 Der Grund hiezu lag wohl teilweise in einer gewissen Schüchternheit ingeschlechtlichen Sachen, wie sie fast allen einzigen Kin<strong>de</strong>rn eigentümlich ist,zum größeren Teile jedoch in <strong>de</strong>r ihm beson<strong>de</strong>ren Art <strong>de</strong>r sinnlichenVeranlagung, welche verborgener, mächtiger und dunkler gefärbt war als dieseiner Freun<strong>de</strong> und sich schwerer äußerte.65 Während die an<strong>de</strong>ren mit <strong>de</strong>n Weibern schamlos taten, beinahe mehr um „fesch"zu sein, als aus Begier<strong>de</strong>, war die Seele <strong>de</strong>s schweigsamen, kleinen Törleßaufgewühlt und von wirklicher Schamlosigkeit gepeitscht.Er blickte mit so brennen<strong>de</strong>n Augen durch die kleinen Fenster und winkligen,schmalen Torwege in das Innere <strong>de</strong>r Häuser, daß es ihm beständig wie ein feines70 Netz vor <strong>de</strong>n Augen tanzte.Fast nackte Kin<strong>de</strong>r wälzten sich in <strong>de</strong>m Kot <strong>de</strong>r Höfe, da und dort gab <strong>de</strong>r Rockeines arbeiten<strong>de</strong>n Weibes die Kniekehlen frei o<strong>de</strong>r drückte sich eine schwereBrust straff in die Falten <strong>de</strong>r Leinwand. Und als ob all dies sogar unter einerganz an<strong>de</strong>ren, tierischen, drücken<strong>de</strong>n Atmosphäre sich abspielte, floß aus <strong>de</strong>m75 Flur <strong>de</strong>r Häuser eine träge, schwere Luft, die Törleß begierig einatmete.Er dachte an alte Malereien, die er in Museen gesehen hatte, ohne sie recht zuverstehen. Er wartete auf irgend etwas, so wie er vor diesen Bil<strong>de</strong>rn immer aufetwas gewartet hatte, das sich nie ereignete. Worauf ...? ... Auf etwasÜberraschen<strong>de</strong>s, noch nie Gesehenes; auf einen ungeheuerlichen Anblick, von80 <strong>de</strong>m er sich nicht die geringste Vorstellung machen konnte; auf irgend etwasvon fürchterlicher, tierischer Sinnlichkeit; das ihn wie mit Krallen packe undvon <strong>de</strong>n Augen aus zerreiße; auf ein Erlebnis, das in irgen<strong>de</strong>iner noch ganzunklaren Weise mit <strong>de</strong>n schmutzigen Kitteln <strong>de</strong>r Weiber, mit ihren rauhenHän<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>r Niedrigkeit ihrer Stuben, mit ... mit einer Beschmutzung an85 <strong>de</strong>m Kot <strong>de</strong>r Höfe ... zusammenhängen müsse .... Nein, nein; ... er fühlte jetztnur mehr das feurige Netz vor <strong>de</strong>n Augen; die Worte sagten es nicht; so arg, wiees die Worte machen, ist es gar nicht; es ist etwas ganz Stummes, - ein Würgenin <strong>de</strong>r Kehle, ein kaum merkbarer Gedanke, und nur dann, wenn man esdurchaus mit Worten sagen wollte, käme es so heraus; aber dann ist es auch nur90 mehr entfernt ähnlich, wie in einer riesigen Vergrößerung, wo man nicht nuralles <strong>de</strong>utlicher sieht, son<strong>de</strong>rn auch Dinge, die gar nicht da sind .... Dennoch wares zum Schämen.„Hat das Bubi Heimweh?" fragte ihn plötzlich spöttisch <strong>de</strong>r lange und um zweiJahre ältere v. Reiting, welchem Törleß' Schweigsamkeit und die verdunkelten95 Augen aufgefallen waren. Törleß lächelte gemacht und verlegen, und ihm war,als hätte <strong>de</strong>r boshafte Reiting die Vorgänge in seinem Innern belauscht.Er gab keine Antwort. Aber sie waren mittlerweile auf <strong>de</strong>n Kirchplatz <strong>de</strong>sStädtchens gelangt, <strong>de</strong>r die Form eines Quadrates hatte und mit Katzenköpfen 1gepflastert war, und trennten sich nun voneinan<strong>de</strong>r. [...]Katzenköpfe: KopfsteinpflasterII(Fortsetzung nächste Seite)


TextB12Aus einem wissenschaftlichen Aufsatz von Heinrich Kaulen zum Thema„ Jugend- und Adoleszenzromane ":[...] Der Begriff „Adoleszenzroman" meint also eine spezifische Erscheinungsformo<strong>de</strong>r Subgattung <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Jugendromans, und zwar eine solche, diedurch folgen<strong>de</strong> Merkmale <strong>de</strong>finiert ist:Geschil<strong>de</strong>rt wird die Adoleszenzphase eines (o<strong>de</strong>r mehrerer) Jugendlichen,5 früher traditionell meist die eines männlichen Hel<strong>de</strong>n, heute verstärkt auch dieeiner weiblichen Protagonistin im Alter von etwa 11/12 Jahren bis (maximal)Mitte o<strong>de</strong>r En<strong>de</strong> zwanzig.Diese Adoleszenzphase wird als Prozeß einer prekären I<strong>de</strong>ntitäts- und Sinnsucheaufgefaßt und fin<strong>de</strong>t ihre Binnenstrukturiemng in einer Reihe prägen<strong>de</strong>r10 Krisenerfahrungen o<strong>de</strong>r Initiationserlebnisse, die sich auf wenige, genaufestliegen<strong>de</strong> Problembereiche beziehen. Zu diesen Problemfel<strong>de</strong>rn zählen in <strong>de</strong>rHauptsache die Ablösung von <strong>de</strong>r Herkunftsfamilie, die Entwicklung eineseigenen Wertesystems, die ersten sexuellen Erfahrungen mit heterosexuelleno<strong>de</strong>r gleichgeschlechtlichen Partnern, <strong>de</strong>r Aufbau eigenständiger Sozialkontakte15 in <strong>de</strong>r Peergroup und die Übernahme einer neuen sozialen Rolle. [...]An<strong>de</strong>rs als die meisten problemorientierten realistischen Jugendromane arbeitet<strong>de</strong>r Adoleszenzroman nicht mit typisierten Figuren und exemplarischenHandlungskonstellationen, son<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>r radikalen Subjektkonzeption <strong>de</strong>sneuzeitlichen Romans, <strong>de</strong>r die Handlungspersonen als je individuelle und20 unverwechselbare Einzelpersonen auffaßt. Von daher ergibt sich die Fixiemngauf die psychische Innenwelt <strong>de</strong>r Hauptfiguren, die in ihren Krisen undVerwicklungen für <strong>de</strong>n Leser als wi<strong>de</strong>rsprüchliche und komplexe Individuenerfahrbar gemacht wer<strong>de</strong>n sollen. [...]

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!