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Kindlers Literatur Lexikon - Buchkatalog

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die Macht des >conqueror worm< (Eroberer Wurm) und die menschliche Vergänglichkeit vor, woraufhin sie sich<br />

ein letztes Mal aufbäumt und mit dem Schlusssatz eines angeblichen Glanvill-Zitats, das der Erzählung<br />

vorangestellt ist, ihr irdisches Dasein beschließt. Der Erzähler zieht nach England, wo er sich eine abgelegene<br />

Abtei kauft, sich dem Opiumrausch hingibt und die blonde, blauäugige Lady Rowena Trevanion of Tremaine<br />

heiratet. Bald schon beginnt er, diese neue Braut ohne Geheimnis, die so ganz das Gegenteil der unirdischen<br />

Ligeia ist, zu hassen und sich mehr denn je nach seiner ersten Braut zurückzusehnen. Auch Rowena ereilt ein<br />

mysteriöser Tod. Der Erzähler versinkt beim Anblick ihrer Leiche in Erinnerungen an die tote Ligeia, vernimmt<br />

ein Seufzen und beobachtet eine leichte Wangenröte beim Leichnam. Seine Wiederbelebungsversuche sind<br />

jedoch vergeblich - die Leichenstarre tritt wieder ein. Dieser Vorgang wiederholt sich mehrmals, bis sich der<br />

Körper schließlich erhebt und durch den Raum schreitet. Der Erzähler wirft sich ihr zu Füßen, die<br />

Leichentücher lösen sich, schwarzes, zerzaustes Haar kommt zum Vorschein und schließlich öffnen sich die<br />

Augen dieses Körpers, in dem der Erzähler, nun ganz außer sich, Ligeia erkennt und ihren Namen ausruft.<br />

Ligeia, deren Name in der griechischen Mythologie eine der drei Sirenen bezeichnet und den Poe auch in dem<br />

Gedicht »Al Aaraaf«, 1829 (dtsch. 1922, K. Lerbs), verwendet, dient dem Erzähler als verherrlichtes<br />

Spiegelbild, in dem er sich selbst verlieren und das er zugleich vereinnahmen will. Von der geistigen<br />

Vereinigung mit Ligeia verspricht er sich eine >unio mysticaPlate articles< (die Poe als Auftragsarbeiten zur literarischen Illustration von Stichen verfasste) zu<br />

rechnenden Erzählung »Morning on the Wissahiccon« (auch bekannt als »The Elk«), 1843 (»Der Elch«, 1922,<br />

J. v. der Goltz). Sowohl der edle Elch in »Morning on the Wissahiccon«, der in der Vision eines ursprünglichen,<br />

vom modernen Fortschritt unberührten Amerika auftaucht, als sei er einem Szenario von James Fenimore<br />

Cooper entflohen, als auch das riesige, haarige Ungetüm, das der von Omen faszinierte Erzähler von »The<br />

Sphinx« erblickt, als er von einem Buch aufschaut, stellen sich als banale Lebewesen ohne jegliche Grandezza<br />

oder Erhabenheit heraus: Der Elch ist ein zahmes Haustier, das Monster ein winziges Insekt.<br />

Vor diesem Hintergrund wird umso klarer, dass die wie in Berenice oder The Tell-Tale Heart, 1843 (Das<br />

verrätherische Herz, 1883, J. Möllenhoff), monomanisch verfolgten Objekte der Begierde immer auch als<br />

Projektionen der Protagonisten selbst gelesen werden können. Dies gilt in William Wilson auch für den<br />

verhassten Doppelgänger des gleichnamigen Erzählers, dessen Geständnis am Sterbelager sich als wenig<br />

glaubhaft erweist. Der Doppelgänger, den Wilson schließlich tötet, womit er seinem eigenen Leben ein Ende<br />

setzt, sucht den Erzähler immer dann heim, wenn dieser sich Ausschweifungen und Betrügereien hingibt.<br />

In dieser Doppelgängerkonstellation wird der Zwiespalt der Figuren Poes deutlich, die einerseits um die richtige<br />

Handlungsweise wissen, andererseits aber dem Impuls unterliegen, diesem Wissen zuwider zu handeln. Diese<br />

Spannung ist das Thema der Erzählung »The Imp of the Perverse«, 1845 (»Der Teufel der Verkehrtheit«, 1922,<br />

G. Etzel), in der Poe eben solche amoralischen Zwangshandlungen als >pervers< definiert. Diese >perversity<<br />

steht auch in den beliebten Erzählungen The Black Cat und »The Tell-Tale Heart« im Mittelpunkt.<br />

In »The Tell-Tale Heart«, dem Musterbeispiel der Poe'schen Kurzgeschichte, das zu seinen Lebzeiten in keiner<br />

Sammlung erschien, berichtet der nervöse, übersensible Erzähler von seiner paranoiden Furcht vor dem<br />

schrecklichen Auge seines Mitbewohners, eines älteren Herren. Da dessen Auge ihn an das eines Geiers<br />

erinnert, plant und probt er minutiös den Mord des alten Mannes, den er nun immer um Mitternacht heimsucht,<br />

um in der Dunkelheit plötzlich mit einem schmalen Lichtstrahl auf dessen Auge zu leuchten. Er brüstet sich dem<br />

imaginären Adressaten gegenüber mit seiner überlegten, geschickten Vorgehensweise, wobei seine manische,<br />

von Wiederholungen, Ellipsen, Parenthesen, rhetorischen Fragen und Ausrufen geprägte Geschichte ganz und<br />

gar nicht von besonnener Gelassenheit zeugt. Als das verhasste Auge eines Nachts geöffnet ist, während der<br />

Lichtstrahl darauf fällt, erstickt der Erzähler den alten Mann, zerstückelt den Leichnam und versteckt diesen<br />

unter den Dielen. Als die Polizei ihn aufsucht, fordert er sie heiter auf, das Haus zu durchsuchen und setzt sich<br />

zum gemeinsamen Gespräch triumphierend just auf den Platz, an dem die Überreste seines Opfers verscharrt<br />

sind. Im Verlauf des Gesprächs hört er ein immer lauter werdendes Pochen - er meint, das Herz des alten<br />

Mannes schlagen zu hören. Er versucht immer verzweifelter, das Geräusch zu übertönen, ist schließlich aber<br />

überzeugt, das Herz habe ihn verraten, und schreit den Polizisten sein Geständnis entgegen. Das Objekt der<br />

Faszination wird auch hier wieder zur Projektionsfläche des Erzählers, der seine eigenen Todesängste in dem<br />

alten Mann mit dem >evil eyeTales of Ratiocination< (analytische Geschichten) um den<br />

Detektiv Auguste Dupin. Zu dieser Werkgruppe gehören die Erzählungen »The Murders in the Rue Morgue«,<br />

1841 (»Der Mord in der Rue Morgue«, 1875, A. Scheibe), »The Mystery of Marie Rogêt«, 1842/43 (»Der Fall<br />

Marie Rogêt«, 1882, A. Mürenberg), und »The Purloined Letter«, 1844 (»Der entwendete Brief«, 1882, A.

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