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Peter Auer Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in Europa Übersicht ...

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<strong>Peter</strong> <strong>Auer</strong><strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Mehrsprachigkeit</strong> <strong>in</strong> <strong>Europa</strong>Übersicht1. <strong>Mehrsprachigkeit</strong> <strong>in</strong> <strong>Europa</strong>: Warum werden Gesellschaften e<strong>in</strong>sprachig,warum werden sie mehrsprachig?2. <strong>Mehrsprachigkeit</strong> <strong>in</strong> den „alten“ M<strong>in</strong>derheiten3. <strong>Mehrsprachigkeit</strong> <strong>in</strong> den „neuen“ M<strong>in</strong>derheiten4. <strong>Mehrsprachigkeit</strong> aufgrund exoglossischer Standards5. <strong>Mehrsprachigkeit</strong> im Zeitalter der Globalisierung1. <strong>Mehrsprachigkeit</strong> <strong>in</strong> <strong>Europa</strong>: Warum werden Gesellschaften e<strong>in</strong>sprachig,warum werden sie mehrsprachig?Wenn man <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> über <strong>Mehrsprachigkeit</strong> spricht, dann wird dieser Zustand<strong>in</strong> der Regel als die Ausnahme gesehen, der der unmarkierte Fall derE<strong>in</strong>sprachigkeit entgegen gehalten wird. Der Grund dafür lässt sich sehr leichtf<strong>in</strong>den: die marg<strong>in</strong>ale Rolle, die der <strong>Mehrsprachigkeit</strong> zugestanden wird, ist e<strong>in</strong>Ergebnis der europäischen Sprachideologie, die zu derselben Zeit (und <strong>in</strong> engerInteraktion) wie die Idee des europäischen Nationalstaates entstand. DerUntersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts wardeshalb ganz ‚natürlich’ e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelne Sprache (auch wenn diese klassifiziert,mit anderen verglichen und sogar historisch aus anderen abgeleitet wurde).Natürlich wusste man, dass Sprachen vone<strong>in</strong>ander ‚entlehnen’, aber dieserKontakt wurde nicht als Konsequenz von <strong>Mehrsprachigkeit</strong> gesehen und galtsowieso als e<strong>in</strong> sekundäres Phänomen, das erst dann e<strong>in</strong>tritt, wenn dieNationalsprachen bereits stabilisiert s<strong>in</strong>d und als autarke Systeme aufe<strong>in</strong>anderwirken. Die europäischen (Standard-) Sprachen wurden als ‚natürliche’Korrelate der Nationalstaaten, ja sogar als Rechtfertigung für deren Existenz(faktisch oder programmatisch) verstanden. E<strong>in</strong>e neu sich etablierende Nation


auchte deshalb auch fast automatisch e<strong>in</strong>e symbolische Rechtfertigung durchdie Existenz e<strong>in</strong>er eigenen Sprache. Aus der Perspektive der Sprecher gesehenwar umgekehrt klar, dass jeder Muttersprachler auch Teil der entsprechendenNation war (und umgekehrt). In dieser Vorstellung von Sprache(n) konnte<strong>Mehrsprachigkeit</strong> nur als Abweichung von e<strong>in</strong>er Norm (oder sogarGesetzmäßigkeit) verstanden und damit marg<strong>in</strong>alisiert werden. SolcheAbweichungen traten zu Beispiel auf, wenn die sprachliche Ordnung durchEroberungen oder Migrationsbewegungen gestört wurde, die dann zweiSprachsysteme <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en unerwarteten und ungehörigen Kontakt zue<strong>in</strong>anderbrachten, der oft zu e<strong>in</strong>er Vere<strong>in</strong>fachung der Grammatik führte – im Denken des19. Jahrhunderts zweifelsfrei e<strong>in</strong> Zeichen für den sprachlichen Verfall.Das bedeutet aber natürlich nicht, dass die europäischen Nationalstaaten vonAnfang an monol<strong>in</strong>gual waren (oder es je geworden s<strong>in</strong>d). Selbst dieklassischen, alten Nationalstaaten wie England oder Frankreich brauchtenJahrhunderte, um die ‚anderen’ Sprachen auf ihrem Territorium zumarg<strong>in</strong>alisieren (etwa die Kelten oder Basken); genauso lang brauchten sie, umihre Standardvarietäten zu homogenisieren. Heute kann man allerd<strong>in</strong>gsfeststellen, dass sie letztendlich fast erfolgreich gewesen wären: nur wenigeM<strong>in</strong>oritätssprachen haben <strong>in</strong>s 20. Jahrhundert überlebt, und viele davon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emschlechten Zustand. Mehrsprachig konzipierte Staaten wie das ÖsterreichischeKaiserreich oder das ottomanische Reich hatten ke<strong>in</strong>en Bestand. (Die e<strong>in</strong>zigeAusnahme ist die Schweiz mit ihrer bemerkenswert polyglossenSprachwirklichkeit und Sprachideologie.) E<strong>in</strong>wanderergruppen (wie dieHugenotten <strong>in</strong> vielen protestantischen Ländern oder die Polen im sich<strong>in</strong>dustrialisierenden Ruhrgebiet Deutschlands) passten sich sprachlich schnell anoder wurden dazu gewzungen. Das code-switch<strong>in</strong>g der Eliten, das bis zum 18.,<strong>in</strong> manchen Ländern bis <strong>in</strong>s 19. Jahrhundert weit verbreitet war (mit Late<strong>in</strong> undFranzösisch als den wichtigsten Sprachen, die zusätzlich zur eigenenUmgangssprache, manchmal auch <strong>in</strong> Konkurrenz zum eigenen


Nationalstandard, gesprochen wurden), wurde zunehmend unmodern undverpönt. Zweitspracherwerb erhielt e<strong>in</strong>e neue Dimension: er war nicht mehrdazu da, <strong>in</strong>nerhalb der Nation mit anderen zu kommunizieren, sondern – wonötig – mit Ausländern, also Sprechern anderer Standardsprachen.Mit diesen e<strong>in</strong>führenden Bemerkungen ist die Frage, wie e<strong>in</strong>e Gesellschafte<strong>in</strong>sprachig wird, schon ebenso beantwortet wie die Frage nach ihrer<strong>Mehrsprachigkeit</strong>. Zum<strong>in</strong>dest für <strong>Europa</strong> gilt:E<strong>in</strong>sprachig wird e<strong>in</strong>e Gesellschaft, wenn sie e<strong>in</strong>e Nation im S<strong>in</strong>ne dernationalstaatlichen europäischen Ideologie wird. Diese Ideologie kann sich aufverschiedene philosophische Quellen berufen kann: auf Herder und Humboldtauf der e<strong>in</strong>en, auf Locke auf der anderen Seite. Es gilt: e<strong>in</strong> Staat, e<strong>in</strong>e Nation,e<strong>in</strong>e Sprache. Dies impliziert die Bekämpfung der bestehenden<strong>Mehrsprachigkeit</strong> auf dem Boden des Nationalstaats durch- die Elim<strong>in</strong>ierung exoglossischer Standardsprachen und die alle<strong>in</strong>igeFörderung der endoglossischen Standardsprache (Beispiel:Marg<strong>in</strong>alisierung des Schwedischen zugunsten der f<strong>in</strong>nischenNationalsprache, Purifizierung von Sprachen wie dem Türkischennach der Sprachreform).- Druck auf die <strong>in</strong>nerhalb des Staatsgebiets lebendenanderssprachigen „Völker“, die damit zu (alten) M<strong>in</strong>derheitenwerden (Beispiele: die französische Sprachenpolitik).- Druck auf E<strong>in</strong>wanderer aus anderen Ländern, die mit e<strong>in</strong>er anderenSprache <strong>in</strong>s Land kommen (Beispiele: melt<strong>in</strong>g pot-Staaten wie dieUSA.)Umgekehrt stellt sich <strong>Mehrsprachigkeit</strong> e<strong>in</strong>


- wenn es nicht gel<strong>in</strong>gt, die M<strong>in</strong>derheiten auf dem Staatsgebietvollständig zur Aufgabe ihrer Sprache zu bewegen (Sorbisch);- wenn durch Veränderungen der Staatsgrenzen anderssprachigeBevölkerungsteile zum Staatsgebiet gehören, die ihre angestammteSprache nicht vollständig aufgeben (Elsaß);- wenn neue Immigrationsbewegungen zahlenmäßig so massiv oder<strong>in</strong> ihrem sprachlichen Identitätsgefühl so stark s<strong>in</strong>d, dass sie nichtzur Aufgabe der mitgebrachten Sprache bereit s<strong>in</strong>d, selbst nochnicht <strong>in</strong> der dritten Generation (Türken <strong>in</strong> <strong>Europa</strong>);- wenn andere als die endoglossische Standardvarietät e<strong>in</strong>e sobedeutende Rolle spielen, dass sie zu Zweitsprachen werden(Englisch <strong>in</strong> vielen Teilen <strong>Europa</strong>s).Weitere Fälle gibt es, sie s<strong>in</strong>d aber selten. E<strong>in</strong> prom<strong>in</strong>entes Beispiel ist dieSchweiz, die ihre Identität als Nation gerade nicht der E<strong>in</strong>sprachigkeit verdankt,sondern dem Zusammenschluss von Kantonen mit drei verschiedenen Sprachen.(Die vierte offizielle Sprache, das Rätoromanische, ist durch Marg<strong>in</strong>alisierungdieser Gruppe autochthoner Sprecher entstanden.)2. Alte (sog. autochthone) M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> <strong>Europa</strong>Was e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit(ssprache) ist, ist bekanntlich nur sehr schwer zuentscheiden. Die europäische Sprachpolitik gesteht diesen Status nur denautochthonen M<strong>in</strong>derheiten zu, nicht den neuen, durch Migration entstandenen(auch wenn deren Mitglieder die der ersten Gruppe um e<strong>in</strong> Vielfaches


übersteigen). Es ergeben sich bei der Def<strong>in</strong>ition von (sprachlichen)M<strong>in</strong>derheiten verschiedene Probleme:- wie alt muss e<strong>in</strong>e Gruppe se<strong>in</strong>, um als autochthon anerkannt zuwerden? Im Radikalfall: älter als die orig<strong>in</strong>ären Vertreter derjetzigen nationalen E<strong>in</strong>heitssprache (keltisch, slavisch aufgermanischsprachigem Staatsgebiet). Aber wie verhält es sich mitalten Immigratengruppen wie z.B. den deutschen Siedlern <strong>in</strong>Osteuropa? Den Juden <strong>in</strong> Osteuropa? Den kroatischen oderalbanischen Sprach<strong>in</strong>seln <strong>in</strong> Italien? Oder der kle<strong>in</strong>enkatalanischsprachigen M<strong>in</strong>derheit auf Sard<strong>in</strong>ien?- Was zählt als e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheitensprache, was nur als e<strong>in</strong> Dialekt derStandardsprache? Ist zum Beispiel das Niederdeutsche e<strong>in</strong>eM<strong>in</strong>derheitensprache <strong>in</strong> Deutschland? das Sizilianische e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>Italien?- Wie kle<strong>in</strong> muss e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>orität se<strong>in</strong>, um als solche anerkannt zuwerden? Dass Quantitäten nicht ausreichen, um e<strong>in</strong>eM<strong>in</strong>derheitensprache zu bestimmen, ergibt sich schon aus demumgekehrten Fall: das Irische wird nur von e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>derheit derIren gesprochen, würde aber <strong>in</strong> der Regel – da es dieNationalsprache der Republik Irland ist – nicht alsM<strong>in</strong>derheitensprache angesehen. In der Schweiz ist das Italienischebei weitem die kle<strong>in</strong>ste Amtssprache, aber dennoch ke<strong>in</strong>eM<strong>in</strong>derheitensprache.- Wie gut muss man e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheitensprache sprechen können, umMitglied e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>orität zu se<strong>in</strong>? Diese <strong>in</strong> der Öffentlichkeit immerwieder umstrittene Frage hat letztendlich als Folie das DenkenHerders, nachdem die Sprache die nationale Identität bestimmt:


wenn jemand die Sprache nicht kann, kann er auch nicht die dieserSprache zugeordnete Nationalität für sich beanspruchen. DieseAuffassung bestimmt zum Beispiel die E<strong>in</strong>wanderungspolitik derBRD <strong>in</strong> Bezug auf die sog. Russlanddeutschen seit e<strong>in</strong>iger Zeit.Dass es auch anders geht, zeigt die dänische M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong>Südschleswig, die e<strong>in</strong>e Optionsm<strong>in</strong>derheit ist: jeder kann sich ihrzugehörig fühlen, auch wenn er ke<strong>in</strong> Dänisch spricht, und erwirbtdamit zum Beispiel das Recht, als Däne abzustimmen oder se<strong>in</strong>eK<strong>in</strong>der auf e<strong>in</strong>e dänischsprachige Schule zu schicken.- Kann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em M<strong>in</strong>derheitensprachgebiet die Mehrheitssprache desjeweiligen Staates zur M<strong>in</strong>derheitensprache <strong>in</strong> derM<strong>in</strong>derheitensprache werden? Diese zunächst absurd ersche<strong>in</strong>endeMöglichkeit ist deshalb nicht so weit her geholt, als gerade dieerfolgreichen M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> (und z.B. auch <strong>in</strong> Kanada)selbst e<strong>in</strong>e am Ideal der nationalen E<strong>in</strong>sprachigkeit orientiertePolitik verfolgen: d.h., dass sie auf ihrem Gebiet die Anpassung andie lokale Norm der Sprachverwendung erzw<strong>in</strong>gen und damitmonol<strong>in</strong>guale Sprecher der staatsweit geltenden Standardsprache <strong>in</strong>die M<strong>in</strong>derheit zw<strong>in</strong>gen. Das geschieht zum Beispiel <strong>in</strong> Katalonien.Selbstverständlich s<strong>in</strong>d viele unterschiedlche Szenarien zuunterscheiden. Edwards (z.B. <strong>in</strong> <strong>Auer</strong>/Li Wei 2007:460) hat diefolgende e<strong>in</strong>flussreiche Klassifizierung e<strong>in</strong>geführt, die sowohl alte wieauch neue M<strong>in</strong>derheiten abdeckt. Sie basiert auf den KriterienUniqueness (kommt sonst nirgends vor)Cohesion (Mitglieder leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Region/Territorialität)Adjo<strong>in</strong><strong>in</strong>g (<strong>in</strong> mehreren Staaten liegendes Gebiet)


Local-only (Standardsprache <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Gebiet)Hier s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige Beispiele (aus Edwards 2007), die zugleich demonstrieren, wie diese Kriterien nicht nur aufauthochtone, sondern auch auf allochthone M<strong>in</strong>derheiten angewendet werden können:______________________________________________________________________________________TYPE INDIGENOUS MINORITIES IMMIGRANTMINORITIES______________________________________________________________________________________1. Unique Sard<strong>in</strong>ian (Sard<strong>in</strong>ia); Dialect communities oftenCohesive Welsh (Wales); religiously organised) <strong>in</strong>Friulian (Friuli-Venezia-Giulia) which the variety is nowdivergent from that <strong>in</strong> theregion of orig<strong>in</strong> (e.g.,Pennsylvania ‘Dutch’)---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------2. Unique Cornish (Cornwall) As above, but whereNon-cohesivespeakers are scattered---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------3. Non-unique Occitan (Piedmont and Liguria, Enclaves of immigrantsAdjo<strong>in</strong><strong>in</strong>g and <strong>in</strong> France); found <strong>in</strong> neighbour<strong>in</strong>gCohesive Basque (France, and <strong>in</strong> Spa<strong>in</strong>); statesCatalan (Spa<strong>in</strong>, and <strong>in</strong> Andorra)---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------4. Non-unique Saami (F<strong>in</strong>land, Norway, Sweden Scattered immigrants <strong>in</strong>Adjo<strong>in</strong><strong>in</strong>g and Russia) neighbour<strong>in</strong>g statesNon-cohesive--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------5. Non-unique Catalan (Spa<strong>in</strong>, and <strong>in</strong> Sard<strong>in</strong>ia) Welsh (Patagonia);Non-adjo<strong>in</strong><strong>in</strong>gGaelic (Nova Scotia)Cohesive---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------6. Non-unique Romany (throughout Europe) Scattered immigrants ofNon-adjo<strong>in</strong><strong>in</strong>gEuropean orig<strong>in</strong> <strong>in</strong> ‘new-Non-cohesiveworld’ receiv<strong>in</strong>g countries---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------7. Local-only French (Valle d’Aosta, and <strong>in</strong> French (<strong>in</strong> New EnglandAdjo<strong>in</strong><strong>in</strong>g France) town enclaves);CohesiveSpanish (southwest USA);Italian gastarbeiter (<strong>in</strong>Switzerland)---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------8. Local-only German (Piedmont, and <strong>in</strong> French (scatteredAdjo<strong>in</strong><strong>in</strong>g Switzerland) throughout New England)Non-cohesive---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------9. Local-only French (Apulia, and <strong>in</strong> France) Immigrant enclaves <strong>in</strong>Non-adjo<strong>in</strong><strong>in</strong>g‘new world’ countriesCohesive---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------10. Local-only Albanian (throughout the As above, but whereNon-adjo<strong>in</strong><strong>in</strong>g Mezzogiorno, and <strong>in</strong> Albania) speakers are scatteredNon-cohesive______________________________________________________________________________________Table 1: Examples of m<strong>in</strong>ority-language situations


Faktoren, die den Erhalt autochthoner M<strong>in</strong>derheitensprachen zu fördernsche<strong>in</strong>en, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbesondere- die Anzahl der Sprecher- die Unterstützung durch e<strong>in</strong>e Standardvarietät (leichter <strong>in</strong> „onlylocal“-Kontexten) und <strong>in</strong>tensive Kontakte mit dem Land, <strong>in</strong> demdiese Standardvarietät die Nationalsprache ist- hohe Autarkie der Region (Sprach<strong>in</strong>seln)- hohe ökonomische Prosperität (Katalonien)- Territorialität (dagegen z.B.: Romani)- Starke, gewachsene und durch kulturelle Artefakte unterstützteIdentität- Tolerante Sprachpolitik des Zentralstaates, daherFörderungsmöglichkeiten im Erziehungssystem- Marktwert der Sprachen (Kommodifizierung u.a.)Viele dieser Kriterien gelten auch für neue, allochthone M<strong>in</strong>derheiten.3. Neue M<strong>in</strong>derheiten (durch jüngere Migrationsbewegungen): BeispielTürken <strong>in</strong> DeutschlandDie Türken <strong>in</strong> Deutschland s<strong>in</strong>d genauso wenig wie e<strong>in</strong>e andereE<strong>in</strong>wanderergruppe e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit im juristischen S<strong>in</strong>n. Der Status e<strong>in</strong>erM<strong>in</strong>derheitensprache ist bis auf weiteres den ‚alten‘ M<strong>in</strong>derheiten im deutschenStaatsgebiet (und ihren Sprachen: Romani, Sorbisch, Friesisch, Dänisch)vorbehalten.


Faktisch hat sich die türkische Bevölkerungsgruppe seit den 60er Jahrenallmählich demografisch und sozial ausdifferenziert und mit dem Übergang vonder ersten (Arbeitsmigranten, „Gastarbeiter“) zur zweiten Generation derzweisprachig <strong>in</strong> Deutschland aufgewachsenen Türken und Türk<strong>in</strong>nen bis zur<strong>in</strong>zwischen dritten Generation der hier geborenen K<strong>in</strong>der von türkischenE<strong>in</strong>wanderern vom sozialen Prototyp des Gastarbeiters entfernt. Von den über 2Millionen türkischer Staatsangehöriger <strong>in</strong> der Bundesrepublik (Stand: 1997)leben etwa die Hälfte seit 1982 oder früher <strong>in</strong> der Bundesrepublik und habene<strong>in</strong>e langfristige Aufenthaltsgenehmigung, 70% der K<strong>in</strong>der und Jugendlichenunter 18 Jahren s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Deutschland geboren. Die Türken <strong>in</strong> Deutschlandverfügen über e<strong>in</strong>e stabile ökonomische Infrastruktur (über 35 000 privateKle<strong>in</strong>unternehmer), e<strong>in</strong>e zunehmende, wenn auch immer noch <strong>in</strong> Bezug auf dieAlterskohorte weit unterdurchschnittliche Zahl junger Türk<strong>in</strong>nen und Türkenbesuchen weiterführende Schulen und Universitäten.Andererseits hat diese Stabilisierung ke<strong>in</strong>eswegs zu e<strong>in</strong>er Assimilation an diedeutsche Gesellschaft geführt. In allen deutschen Großstädten gibt esStadtviertel, <strong>in</strong> denen der türkische Bevölkerungsanteil so hoch ist, dass dieGefahr türkischer Enklavenbildungen besteht, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong>e erhebliche Zahl nurrudimentär Deutsch sprechender Türken lebt; dazu hat die anhaltendeZuwanderung von Familienangehörigen und Ehepartnern aus der Türkeiwesentlich beigetragen. Dass <strong>in</strong> solchen Enklaven <strong>in</strong> den meisten Grund- undHauptschulklassen die türkischen K<strong>in</strong>der (<strong>in</strong>zwischen oft zusammen mit denrussisch sprechenden) die größte Gruppe darstellen, ist bekannt.Über das Türkische der 1. Generation der Immigraten (Gastarbeitergeneration)ist nichts gekannt. Wir können davon ausgehen, dass es sich um e<strong>in</strong> vonanatolischen Dialektalismen mit bestimmtes ländliches Türkisch bildungsfernerSchichten handelt, das kaum von Schriftlichkeit unterstützt wurde. In der 2. und3. Generation s<strong>in</strong>d zwei wichtige Veränderungen zu konstatieren.


Divergenzen vom TürkeitürkischenDas Türkische <strong>in</strong> der europäischen Diaspora entwickelt sich nicht unabhängigvon der türkeitürkischen Standardsprache; es ist nach wie vor mehr oderweniger stark auf diese Norm h<strong>in</strong> orientiert. Die türkeitürkische Standardvarietät(die von Istanbul geprägt wird) wirkt e<strong>in</strong>erseits durch die Medien (Zeitung,Fernsehen), andererseits durch den türkischen muttersprachlichen Unterrichtdirekt auf die Situation <strong>in</strong> der euroäpischen Diaspora e<strong>in</strong>. Letzterer mag zwar <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er Effizienz beschränkt se<strong>in</strong>, er stellt aber die Symbolkraft desStandardtürkischen als Sprache der türkischen Staatsnation sicher (die Türkeiwählt die Lehrer mit aus). E<strong>in</strong>e weitere, <strong>in</strong>direkte Rolle spielt das großstädtische,istanbuler Standardtürkische als Dist<strong>in</strong>ktionsmerkmal bestimmter Gruppen<strong>in</strong>nerhalb der türkischen Bevölkerung <strong>in</strong> <strong>Europa</strong>; Zugang zu dieser Norm undBeherrschung transportieren e<strong>in</strong> Prestige, dem sich auch die außerhalb derTürkei geborenen Türken und Türk<strong>in</strong>nen bisher nicht völlig entziehen können. 1Dieses Prestige lässt sich zum Beispiel auch <strong>in</strong> Zugangsprivilegien zubestimmten Positionen (etwa Türkisch-Lehrer für den türkischenmuttersprachlichen Unterricht) umsetzen.Trotz dieser fortdauernden Orientierung auf die türkeitürkische Standardvarietäth<strong>in</strong> zeigen sich im gesprochenen Türkischen <strong>in</strong> der europäischen Diasporajedoch bestimmte, bisher noch eher marg<strong>in</strong>ale systematischeSonderentwicklungen, die teils auf deutsche Interferenz, teils aufRestrukturierungen aufgrund der Integration deutscher Lexik, teils aufmündliche Vere<strong>in</strong>fachungsstrategien und teils auf dialektalen E<strong>in</strong>flusszurückgehen. Gut dokumentiert ist die generalisierte Verwendung vonV+yapmak auch <strong>in</strong> nicht-agentivischen Kontexten im als Mittel zurvere<strong>in</strong>fachten Integration germanischer Verbstämme (vgl. Backus 1996, Türker1 Chr. Schroeder, mündl. Mittl.


2000 Kap. 5). Boeschoeten (2000) beobachtet im Türkischen <strong>in</strong> denNiederlanden und anderswo die Übergeneralisierung des Adverbs hep ‚immer,vollständig‘ auf attributive emphatische Verwendungen (wie <strong>in</strong> bana hep dersvermiyorlar anstelle von std.türk. bana hiç ders vermiyorlar ‚sie br<strong>in</strong>gen mirüberhaupts nichts bei‘). Ebenfalls nach Untersuchungen desselben Autorsentfällt im Türkischen <strong>in</strong> der europäischen Diaspora - möglicherweise unterE<strong>in</strong>fluss der Kontaktsprache - die Genitivmarkierung bei Komposita und <strong>in</strong>Nom<strong>in</strong>alisierungen (wie etwa <strong>in</strong> bence Çiller git-me-si gerek-i-yor anstelle von... Çiller-<strong>in</strong>... ‚me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach muss Çiller gehen‘). Er sowie auch Türker(2000:153ff) und <strong>in</strong> schriftlichen Texten Aytemiz (1990:70) verweisen aufallgeme<strong>in</strong>e Veränderungen <strong>in</strong> der Struktur der türkischen Komposita (N gen +N poss ,d.h. Markierung des Kopfs der Konstruktion durch Possessivsuffix), woentweder das Genitivsuffix oder das Possessivsuffix ausgelassen wird. (BeideKonstruktionen s<strong>in</strong>d auch im umgangssprachlichen Türkeitürkisch möglich, siewerden jedoch <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> <strong>in</strong> ihrem Anwendungsbereich ausgedehnt.) Chr.Schroeder nennt als Beispiele für divergente Entwicklungen imDeutschtürkischen (die zugleich e<strong>in</strong>e direkte oder <strong>in</strong>direkte Konvergenz zuStrukturen des Deutschen erkennen lassen) den sich ausbreitenden Gebrauch derostanatolischen Variante des Komitativ/Instrumentalis –lEn/nEn (anstelle von –lE, etwa: sennen ‚mit dir‘), den erweiterten Gebrauch von Richtungsadverbienals Verbzustätzen (devam gittik ‚wir s<strong>in</strong>d weiter gegangen‘ nach dem Mustervon geri gittik ‚wir s<strong>in</strong>d zurück gegangen‘, vermutlich unte rdeutschemE<strong>in</strong>fluss), Veränderungen von Subkategorisierungsregeln für Verben wie almak(nach dt. Muster: uçağı aldım bu sefer ‚ich hab diesmal das Flugzeuggenommen‘) und die übermäßige Verwendung von ki als E<strong>in</strong>leitungspartikel fürsubord<strong>in</strong>ierte Strukturen, etwa für e<strong>in</strong>en Fragesatz: bunları kimler tarafından venereden sağlanıyorsunuz ... ki ders açısından tatm<strong>in</strong> oluyor mu öğrenciler<strong>in</strong>iz?‚von wem und woher bekommen Sie das und s<strong>in</strong>d dabei Ihre Studierenden mitdem Unterricht zufrieden?‘ (Chr. Schroeder, mündl.). Bei deutsch-türkisch


il<strong>in</strong>gualen K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> Deutschland stellen Herkenrath/Karakoç/Rehbe<strong>in</strong> (MS2002) asyndetische Strukturen nach dem Muster deutscher e<strong>in</strong>gebetteterFragesätze fest: Frau Münder hep bize bakıyor [kim öyle bir şey yapıyor] analogzu Frau Münder beobachtet uns immer, wer so etwas tut. (Türkeitürk. wäre:Frau Münder [kim böyle bir şey yapıyor diye] hep bize bakıyor mit diye alssubord<strong>in</strong>ierender Partikel.) Ob diese Strukturen allerd<strong>in</strong>gs imumgangssprachlichen Türkeitürkisch wirklich fehlen, bleibt empirisch zu klären.Umstritten ist auch, ob unter dem E<strong>in</strong>fluss der germanischen Kontaktsprachendie Personalflexion des Türkischen durch Endungen unnötigerweise durchPersonalpronom<strong>in</strong>a unterstützt wird. Özcan et al. (2000) konnten e<strong>in</strong>en solchenE<strong>in</strong>fluss des Dänischen auf die pro-drop Sprache Türkisch nicht nachweisen:Personalpronom<strong>in</strong>a werden nach ihrer Studie von bil<strong>in</strong>gualen K<strong>in</strong>dern nichtöfter gesetzt als von monol<strong>in</strong>gualen. Es handelt sich bei diesen Befundenallerd<strong>in</strong>gs oft um E<strong>in</strong>zelbeobachtungen, die vor allem nicht durchUntersuchungen mit vergleichbaren Sprechern <strong>in</strong> der Türkei abgesichert s<strong>in</strong>d(u.U. wegen fehlender Vergleichscorpora).Türkischstämmige K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> DeutschlandDie verfügbaren statistischen Materialien beziehen sich <strong>in</strong> der Regel auf die"Zuwandererk<strong>in</strong>der" <strong>in</strong>sgesamt und differenzieren nicht nach ethnischsprachlichenGruppen; wenn dies doch geschieht, zeigt sich, dass die türkischeGruppe <strong>in</strong> der Regel schlechter abschneidet als die übrigen. Sie erfassenaußerdem nur Personen, die im juristischen S<strong>in</strong>n Ausländer s<strong>in</strong>d, d.h. ke<strong>in</strong>e‚deutschstämmigen‘ E<strong>in</strong>wanderer aus Osteuropa mit russischem, polnischem,rumänischem o.ä. Sprachh<strong>in</strong>tergrund. Nach dem Bericht derAusländerbeauftragten (4. Bericht zur Lage der Ausländer <strong>in</strong> derBundesrepublik Deutschland, Berl<strong>in</strong>, Februar 2000) ist die Zahl derZuwandererk<strong>in</strong>der ohne Schulabschluss von Anfang der 80er Jahre bis 1996 von


ca. 30% auf ca. 15% zurückgegangen, die Anzahl der Zuwandererk<strong>in</strong>der auf denRealschulen ist auf 8% (Deutsche: 12%), die auf den Gymnasien auf 9%(Deutsche: 23%) angestiegen. Die Schulabschlüsse verteilten sich 1994 wiefolgt: 43.6% Hauptschulabschluss (8.8% Deutsche), 26,6% Realschule (37%Deutsche), 8.8% Hochschulreife (26,3%) (Quelle: Beauftragte derBundesregierung für die Belange der Ausländer 1997).Die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zu türkischen K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> DLzeigen - allerd<strong>in</strong>gs mit Ausnahme von denen Carol Pfaffs, die zum<strong>in</strong>dest beitürkischdom<strong>in</strong>anten K<strong>in</strong>dern spontansprachlich ke<strong>in</strong>e wesentlichen Defizite imErwerb der türkischen Morphologie erkennen konnte - , meist zu dem Ergebnis,dass die zweisprachigen K<strong>in</strong>der m<strong>in</strong>destens im Türkischen, teils auch imDeutschen „Defizite“ zeigen. Teils wird den K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen sogare<strong>in</strong>e „doppelseitige Halbsprachigkeit“ unterstellt. Kritisch ist zu diesen Studienanzumerken, dass die sprachlichen Kompetenzen e<strong>in</strong>er primär mündlichenKommunikationskultur <strong>in</strong> schriftbasierten bzw. an schulischen Verfahren(Nacherzählung) orientierten Tests zur Standardvarietät (‚Hochsprache‘) schondeshalb nicht umfassend gewürdigt werden können, weil diese die sprachlichenStandards e<strong>in</strong>er ganz anderen Sprach- und Schriftkultur messen (und dafürentwickelt worden s<strong>in</strong>d): nämlich der der Mittelschichten. Es soll damit nichtbehauptet werden, dass diese Standards nicht relevant s<strong>in</strong>d; sie müssen es se<strong>in</strong>,denn die Schule fordert sie, und der Erwerb bestimmter Bildungstitel istVoraussetzung für gesellschaftlichen Aufstieg. Schriftsprachliche oderschriftsprachlichen Techniken entlehnte mündliche Verfahren des Umgehensmit Texten spielen <strong>in</strong> der heutigen Welt nicht e<strong>in</strong>e herausragende und <strong>in</strong> jedemFall karrierebestimmende Rolle. Die mit Begriffen wie „doppelseitigeHalbsprachigkeit“ suggerierte Vorstellung, es werde mit den üblichenTestverfahren bereits ‚Sprache‘ <strong>in</strong>sgesamt adäquat erfasst (und nicht nur derenbesondere, im Schulsystem vermittelte und bewertete Aspekte) und dieSprecher, die <strong>in</strong> diesen Tests schlecht abschneiden, stünden unter e<strong>in</strong>em akuten


sprachlichen Notstand, ist aber falsch. Richtig dürfte allerd<strong>in</strong>gs se<strong>in</strong>, dass dieschriftsprachlichen Kompetenzen (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er „konzeptionellenSchriftlichkeit“) <strong>in</strong> vielen Immigrantenmilieus, besonders den türkischen, sehrschlecht ausgeprägt s<strong>in</strong>d - und dies gilt sowohl für das Deutsche wie auch fürdas Türkische - und das deutsche Schulsystem auch nicht <strong>in</strong> der Lage ist, dieseDefizite abzufangen.Im Wortschatz gehen die Autoren von Untersuchungen zum türkisch-deutschen‚Sprachstand‘ oft der ‚zweifach monol<strong>in</strong>gualen‘ Interpretation <strong>in</strong> die Falle; siesche<strong>in</strong>en von der Annahme auszugehen, dass e<strong>in</strong> ‚normaler‘ Bil<strong>in</strong>gualer se<strong>in</strong>Vokabular so weit ‚doppelt‘, dass er <strong>in</strong> jeder Lebenssituation jede der beidenSprachen gleich gut verwenden könnte. Erst auf diesem H<strong>in</strong>tergrund ist daswiederholt gefundene Ergebnis e<strong>in</strong>schlägiger Wortschatzuntersuchungen (z.B.Hepsöyler und Liebe-Harkort 1988, für die Niederlande auch Schaufeli 1991)verwunderlich - oder gar besorgniserregend - , dass die untersuchten türkischenSchüler <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong>en „ger<strong>in</strong>geren Wortschatz als die Vergleichsgruppe<strong>in</strong> Nicht-Migrationssituationen“ hätten (Hepsöyler und Liebe-Hartkort 1988:189). Diese Vorstellung ist aber nur für wenige Bil<strong>in</strong>guale auf der Weltrealistisch; <strong>in</strong> der Regel ergänzen sich der Wortschatz <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>en und der <strong>in</strong> deranderen Sprache. Es macht also wenig S<strong>in</strong>n, Untersuchungen zurWortschatzentwicklung nach den beiden Sprachen getrennt durchzuführen.Realistischer ersche<strong>in</strong>t hier, von den konkreten Lebensbed<strong>in</strong>gungen vonMigrantenk<strong>in</strong>dern auszugehen („lebensweltliche <strong>Mehrsprachigkeit</strong>“, Gogol<strong>in</strong>1988), also davon, dass e<strong>in</strong> bil<strong>in</strong>guales K<strong>in</strong>d die Sprachen so erwirbt, wie sie <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er Umwelt vorkommen und wie sie für den Alltag notwendig s<strong>in</strong>d. Hier wirdnicht e<strong>in</strong>e externe Norm als Maßstab für die Beurteilung vonSprachkompetenzen herangezogen, sondern der tatsächliche ‚Bedarf‘ ansprachlichen Ausdrucksmitteln. Der mag es zum Beispiel nahe legen, dass


estimmte Wortschatzfelder <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>en Sprache nur rudimentär vertreten s<strong>in</strong>d,während sie <strong>in</strong> der anderen funktional angemessen ausgebaut werden.Anstelle des monol<strong>in</strong>gualen Türkisch: code-switch<strong>in</strong>g und codemix<strong>in</strong>gProblematisch s<strong>in</strong>d viele Untersuchungen aber auch, weil sie die monol<strong>in</strong>gualenKompetenzen messen, während die Sprecher der zweiten und dritten Gernationsich oft entweder monol<strong>in</strong>gual deutsch oder bil<strong>in</strong>gual verhalten. E<strong>in</strong> Beispiel:(Keim, IDS Mannheim)((Situation: Hatice und ihre Schwester GL streiten sichdarüber, wer mit der kle<strong>in</strong>en Schwester Şükrüye zum Arzt gehenmuss))GL: Hatce? (-) gitçenmi şükrüyeyle oraya. (--)Hatice? (-) gehst du mit Şükrüye dah<strong>in</strong>. (--)HA: ne[den?warum?GL:[die heult fastHA: nee: (-)GL: dedi ki. (--) saat üçte yola çıkçakmışınız.sie hat gesagt (--) um drei Uhr geht ihr los.HA: ÜÇte:?um drei?GL:ah ja?HA: isch weiß nisch mal wo des arzt isGL: hasan amcanınk<strong>in</strong>e gitçeksie geht zu dem von Onkel HasanHA: üç buçukta dedi. (2.0)sie hat um halb vier gesagt.isch KANN nisch isch muss HAUSaufgabn machen.üç buçuk dedi.um halb vier hat sie gesagt.


GL: isch kann AU=nischts dafürHA: PESCH. (-) die hat PESCH.((...))HA: üç buçuk dedi hasan amcaum halb vier hat Onkel Hasan gesagtGL: bilmiyorum die hat um DREI gesagtich weiß nichtHA:NEIN (-) üç buçuk dedium halb vier hat sie gesagtGL: o zaman ona sordann frag sie/ihn malHA:komm. üç buçukhalb vierGL: o zaman ona sordann frag sie/ihn malHA:GL:halts maulhatce:-HA: MANN wegn der dumm KUH soll ich me<strong>in</strong>e HAUSaufgabn netmachen [langerGL:[ya:niye versprechen yaptın o zaman?warum machen dann (= warum hast du es dann versprochen?)HA: isch HAB ihr net versproechen. hasan amca [dediOnkel Hasan hat (es) gesagtGL:SAgen dass [du nicht kannst][ja: du sollst dann vẻHA[isch HAB gesagt] isch hab HAUSaufgaben dedimhab ich gesagtGL: GAR net (-) lüg nischtHA: verPISS disch mann((...))GL: ja: du sollst̉[( )


HA:[üç buçuk dedihalb vier hat er/sie gesagtGL: LÜG nischt hatçeHA: vallah üç buçuk dedi [( ) halts maulich schwör er hat halb vier gesagtGL:[geb net an((...))GL: başlattırmagleich schimpf ich los!HA: siktir lanleck mich MannBetrachtet man diesen Streit zwischen Hatice und ihrer Schwester als das, waser ist, nämlich e<strong>in</strong>e Interaktion im bil<strong>in</strong>gualen Modus, so fällt zunächst auf, dassdie Beteiligten ke<strong>in</strong>erlei Schwierigkeiten haben, sich auszudrücken – ke<strong>in</strong>e Spurvon ‚doppelseitiger Halbsprachigkeit‘. Dies ist gerade deshalb so, weil dieSprecher<strong>in</strong>nen beide Sprachen ‚natürlich‘ und unauffällig mite<strong>in</strong>anderkomb<strong>in</strong>ieren; der Übergang vom Deutschen <strong>in</strong>s Türkische und umgekehrterfolgt ohne großes Aufheben, ohne Markierungen, Pausen oder Verzögerungen.Er lässt sich sowohl an den Grenzen der Redebeiträge als auch <strong>in</strong>nerhalb vonRedebeiträgen beobachten, sowohl an syntaktischen Grenzen als auch <strong>in</strong>nerhalbvon syntaktischen E<strong>in</strong>heiten (vgl. niye versprechen yaptın o zaman oder ischhab gesagt isch hab hausaufgaben dedim). Die Sprecher<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d imGebrauch der beiden Sprachen weder durch ihre sprachlichen Kompetenzene<strong>in</strong>geschränkt (und ihr Code-Switch<strong>in</strong>g weist entsprechend ke<strong>in</strong>e Anzeichen auf,durch mangelnde Beherrschung der augenblicklichen Sprache ausgelöst zuse<strong>in</strong>), noch orientieren sie sich mit ihrer Sprachwahl an e<strong>in</strong>schneidendenVeränderungen der Situation (wie neuen Gesprächsteilnehmern, neuen Themenoder neuen Gesprächsgattungen). Das Wechseln zwischen den Sprachen ist ke<strong>in</strong>


esonderes Ereignis <strong>in</strong> ihrem Leben; eher wäre dies schon monol<strong>in</strong>gualesSprechen. Bei genauerem H<strong>in</strong>sehen dient er zum<strong>in</strong>dest an manchen Stellen abere<strong>in</strong>er differenzierten Gesprächsrhetorik; zum Beispiel <strong>in</strong> GL’s erstemRedebeitrag, um den Wechsel zwischen Bitte/Aufforderung und Begründung(‚account‘) zu markieren (gitçenmi şükrüyeyle oraya – die heult fast), anmehreren Stellen im Gespräch, um durch die Rekurrenz der türkischenZeitangabe üç buçuk Kohärenz herzustellen, e<strong>in</strong>mal, um e<strong>in</strong>en semantischenKontrast aufzubauen (statt e<strong>in</strong>er expliziten Markierung durch e<strong>in</strong>e Konjunktionwie sondern <strong>in</strong> Hatices isch hab ihr net versprochen – Hasan amca dedi), etc.Auch die Eskalation des Streits am Schluss des Ausschnitts sche<strong>in</strong>t durch denWechsel <strong>in</strong>s Türkische unterstrichen zu werden: Hatices siktir lan steht <strong>in</strong>Kontrast zu ihren vorherigen deutschen Verteidigungen gegen die Vorhaltungenihrer Schwester mit halts Maul!.Die türkischen Sprachstrukturen, die von den Mädchen verwendet werden, s<strong>in</strong>de<strong>in</strong>fach, aber grammatisch unauffällig. Zu dieser Unauffälligkeit gehören auchdie üblichen morphologischen Formen und Reduktionsprozessen dermündlichen türkischen Umgangssprache (etwa gitçen mi für gidecek mis<strong>in</strong>,gitçek für gidecek, Hatçe für Hatice; vgl. dazu Kap. 3). Im Deutschen fällt nebenregionalen Mannheimer Merkmalen 2 das Fehlen des expletiven es <strong>in</strong> ich hab ihrØ net versprochen (statt ich hab‘s ihr nicht versprochen) auf - e<strong>in</strong>es dertypischen Merkmale e<strong>in</strong>es sich entwickelnden Ethnolekts des Deutschen (s.unten). Auf der Ebene der Diskursorganisation ist die hohe Anzahl und dasdifferenzierte System von deutschen und türkischen Anredeformen <strong>in</strong> derFunktion von Nachlaufelementen (‚tags‘) bemerkenswert und charakteristisch;sie werden vor allem dann verwendet, wenn die Interaktion ‚<strong>in</strong> Fahrt kommt‘(also als Zeichen erhöhter Involviertheit). Typisch ist weiter, dass die Mädchendie maskul<strong>in</strong>e Variante dieser Anredeformen verwenden, d.h. im Deutschen2 Zu den lokalen Mannheimer Merkmalen gehört auch die vom Std.-Dt. abweichende Semantik des Verbsangeben <strong>in</strong> GL’s geb net an, etwa ‚spiel dich nicht auf‘/‘mach nicht so viel W<strong>in</strong>d‘.


maskul<strong>in</strong>e Morphologie und <strong>in</strong> beiden Sprachen Anredeformen mit maskul<strong>in</strong>erSemantik. So f<strong>in</strong>det man im Textausschnitt soll ich me<strong>in</strong>e Hausaufgaben netmachen Langer, verpiss disch Mann und schließlich siktir lan (allesamt an e<strong>in</strong>eweibliche Adressat<strong>in</strong> gerichtet).Viele K<strong>in</strong>der türkischer Eltern wachsen <strong>in</strong> den deutschen Großstädten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emUmfeld auf, <strong>in</strong> dem das Türkische e<strong>in</strong>e bedeutende Rolle spielt; sie bekommensowohl von ihren Eltern als auch von anderen Sprechern, <strong>in</strong> der Familie, <strong>in</strong> derÖffentlichkeit des Stadtviertels und nicht zuletzt durch die türkischenelektronischen Medien (Fernsehen, Video) genug sprachlichen Input <strong>in</strong> dieserSprache, um bis zum Schule<strong>in</strong>tritt e<strong>in</strong>e altersgemäße mündlicheSprachkompetenz aufbauen zu können. (Diese schließt die meisten Strukturendes Türkischen e<strong>in</strong>, nicht aber komplexe, vor allem <strong>in</strong> schriftnahen Registerngebrauchte Syntaxstrukturen.) Schon vor dem Schule<strong>in</strong>tritt, spätestens aber zudiesem Zeitpunkt kommen sie <strong>in</strong> der Regel mit dem Deutschen <strong>in</strong> Kontakt. Inden typischen ethnisch geprägten Stadtvierteln (wie etwa <strong>in</strong> Hamburg Altona,Mümmelmannsberg, Harburg oder Wilhelmsburg) verschw<strong>in</strong>det das Türkischeaber auch im Grundschulalter nicht aus dem Alltagsleben; vielmehr ist dieSchul- und Unterrichtssprache zwar deutsch, <strong>in</strong> der Interaktion der K<strong>in</strong>deruntere<strong>in</strong>ander – <strong>in</strong> Abwesenheit der Erwachsenen - spielen aber viele andereSprachen und vor allem das Türkische e<strong>in</strong>e bedeutende Rolle. Monol<strong>in</strong>gualdeutsche K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d oft <strong>in</strong> der M<strong>in</strong>derheit. Es gilt zwar die Regel, dass <strong>in</strong>Gegenwart der Lehrer<strong>in</strong> deutsch gesprochen wird, <strong>in</strong> der Interaktionuntere<strong>in</strong>ander wird aber nicht schon deshalb auf die Verwendung desTürkischen verzichtet, weil e<strong>in</strong>er der Gesprächsteilnehmer möglicherweise e<strong>in</strong>eandere dom<strong>in</strong>ante Sprache hat. Denn viele Mitschüler/<strong>in</strong>nen verstehen Türkischoder können diese Sprache sogar aktiv verwenden. Allerd<strong>in</strong>gs gel<strong>in</strong>gt es derSchule entgegen ihrem Anspruch de facto weder im Deutschen noch imTürkischen, die schriftsprachlichen Fähigkeiten zu vermitteln, die den


(bürgerlichen) Normen der nationalen Schriftkultur <strong>in</strong> Deutschland bzw. derTürkei entsprechen.Jugendliche mit türkischem Familienh<strong>in</strong>tergrund haben deshalb im Regelfall e<strong>in</strong>sprachliches Repertoire, das die lokale Varietät des Deutschen umfasst, die aberbestimmte ethnolektale Sonderersche<strong>in</strong>ungen aufweisen kann (dazu Dirim/<strong>Auer</strong>2003). Der Erwerb standardkonformer und schriftsprachlicher Kompetenzen istnicht selbstverständlich, sondern von den jeweiligen Lebensumständen abhängigund eher die Ausnahme. Andererseits gehört zu ihrem Repertoire auch dasTürkische, das aber weitaus offener für deutsche E<strong>in</strong>flüsse ist als das Deutschefür türkische; das betrifft zunächst den Wortschatz, schon das Türkisch derElterngeneration ist ja voll von deutschen Entlehnungen. Überdies zeigt dasTürkische nicht nur mündliche und dialektale Merkmale, sondern im Vergleichzum Türkeitürkischen ebenfalls bestimmte Sonderentwicklungen. Imschriftlichen Türkisch fühlen sich die türkischen Jugendlichen <strong>in</strong> der Regel nichtzuhause. Die Sprachpräferenz im Vorschulalter ist e<strong>in</strong>deutig türkisch, imSchulalter wechselt sie bei e<strong>in</strong>em Teil der K<strong>in</strong>der zum Deutschen, beiJugendlichen sche<strong>in</strong>t die normale Sprechweise im Freundeskreis und <strong>in</strong> derFamilie durch die Verwendung beider Sprachen gekennzeichnet zu se<strong>in</strong> (so auchPfaff 1999 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zelfallstudie <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>). Auf diese Weise entwickelt siche<strong>in</strong> typischer bil<strong>in</strong>gualer Interaktionsstil.Dieses Bild gilt für die relativ dicht strukturierten, durch e<strong>in</strong>e eigeneInfrastruktur zusammengehaltenen ‚ethnischen‘ Viertel, den eigentlichenkulturellen ‚Kern‘ der türkischen Bevölkerung <strong>in</strong> Deutschland. E<strong>in</strong> Übergang zue<strong>in</strong>em deutschen Monol<strong>in</strong>gualismus ist hier nicht festzustellen. Auch <strong>in</strong> derdritten Generation (die oft <strong>in</strong> Migrationsstudien als Träger des Sprachwechsels -language shift - identifiziert wurde) bleibt das Türkische erhalten – allerd<strong>in</strong>gsentspricht diese dritte Generation durch die anhaltende Zuwanderung vonmonol<strong>in</strong>gualen Ehepartnern aus der Türkei (die oft für die K<strong>in</strong>dererziehung


zuständig s<strong>in</strong>d) nur bed<strong>in</strong>gt dem soziologischen Prototyp. An den Rändern dertürkischen Geme<strong>in</strong>schaft(en) f<strong>in</strong>det man mehr oder weniger starke Tendenzenzur weiter gehenden Assimilation mit Aufgabe des Türkischen oder aber zurAnnäherung an die türkeitürkische (monol<strong>in</strong>guale) Norm (bei gleichzeitigerBeherrschung der deutschen).Warum werden nun die Türken und Türk<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> Deutschland nicht schnelle<strong>in</strong>sprachig, wenn doch das Deutsche zum<strong>in</strong>dest auf dem offiziellen Markt derSprachen (wie er durch die deutschen Institutionen, allen voran der Schulerepräsentiert wird) weitaus prestigereicher ist? Es sche<strong>in</strong>t, dass neben deranhaltenden Zuwanderung von türkischen Muttersprachlern und der medialenPräsenz des Türkischen dafür auch das „versteckte Prestige“ (um e<strong>in</strong>en BegriffLabovs zu verwenden) des Türkischen verantwortlich ist, das sich nicht auf demnationalen Sprachmarkt zeigt, sondern auf dem ‚subkulturellen‘ der türkischenGeme<strong>in</strong>schaften <strong>in</strong> den großen deutschen Städten.Ob man das Türkische <strong>in</strong> Deutschland <strong>in</strong> diesem sozialen Umfeld noch als(neue) M<strong>in</strong>derheitensprache bezeichnen möchte, ist deshalb letztendlich e<strong>in</strong>eFrage der Def<strong>in</strong>ition. Versteht man unter e<strong>in</strong>er (neuen) sprachlichen M<strong>in</strong>orität 3e<strong>in</strong>e, deren Sprache politisch, sozial, religiös, im Erziehungssystem, <strong>in</strong> derVerwaltung, etc. ignoriert wird (Simpson 1981), dann muss man sicherlich auchdas Türkische <strong>in</strong> der Bundesrepublik als M<strong>in</strong>derheitensprache bezeichnen. ImS<strong>in</strong>ne Pierre Bourdieus kann man staatliches Handeln zur Unterdrückung e<strong>in</strong>ersolchen M<strong>in</strong>oritätssprache mit der Festlegung der alle<strong>in</strong>e "legitimen Sprache" -nämlich der Majoritätssprache - gleichsetzen (Bourdieu 1982, etc.). Zur"legitimen Sprache" gehört allerd<strong>in</strong>gs nicht nur, dass sie die offiziellenstaatlichen Organe <strong>in</strong> Schule, Politik, etc. unterstützen, sondern auch, dass sie imRahmen e<strong>in</strong>es hegemonialen sprachlichen Diskurses propagiert wird, der dieMitglieder der Mehrheit und der M<strong>in</strong>derheit auf die unterschiedliche Bewertung3 Wir er<strong>in</strong>nern noch e<strong>in</strong>mal daran, dass wir hier nicht von M<strong>in</strong>derheiten im juristischen S<strong>in</strong>n sprechen; vgl.Fußnote 2.


der beteiligten Sprachen festlegt (also e<strong>in</strong>e entsprechende Sprachideologie).Oder, noch e<strong>in</strong>mal mit Bourdieu formuliert: es muss e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>samer Marktkonstituiert werden, auf dem der Wert der offiziellen, legitimenMajoritätssprache und der <strong>in</strong>offiziellen, nicht-legitimen M<strong>in</strong>oritätssprachedef<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d. Dieser Markt bestimmt den hohen symbolischen undökonomischen Wert der e<strong>in</strong>en und den (bestenfalls) Nischenwert der anderenSprache. Aus der Erfahrung der Mechanismen dieses Markts herausunterwerfen die Sprecher selbst der M<strong>in</strong>oritätssprache ihre Sprache <strong>in</strong> outgroup-Situationen der Zensur. E<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>oritätssprache ist deshalb Resultat der‚M<strong>in</strong>orisierung‘ von Sprechern im Diskurs (vgl. Allardt 1984 sowie Gumperz1989). Sie ist Resultat <strong>in</strong>terethnischen Aushandlungsprozessen, <strong>in</strong> denen AusundAbgrenzung stattf<strong>in</strong>den. Der vere<strong>in</strong>heitlichte Markt steht nicht schon vonvorne fest (etwa als notwendiges Korrelat e<strong>in</strong>es nationalökonomischen Marktsund e<strong>in</strong>er staatlichen Zentralmacht), sondern konstituiert sich im Handeln derbeteiligten Personen.So betrachtet hat das Türkische zwar nicht auf dem national-deutschen, wohlaber auf alternativen Märkten jugendlicher Netzwerke und subkulturellerZusammenhänge e<strong>in</strong>en Wert. Um ihn aus der Perspektive der Jugendlichen zurekonstruieren, kann man e<strong>in</strong>erseits die Sprachverwendung durch türkischeJugendliche und Erwachsene <strong>in</strong> gemischtkulturellen Gruppen <strong>in</strong>Selbstdarstellung und Praxis untersuchen. E<strong>in</strong>e andere Möglichkeit bestehtdar<strong>in</strong>, die Verwendung des Türkischen durch deutsche und drittethnischeJugendliche zu analysieren. Wir haben das vor e<strong>in</strong>igen Jahren <strong>in</strong> Hamburg getanund gezeigt, dass die Hegemonialisierung des sprachlichen Marktes durch dasDeutsche ke<strong>in</strong>eswegs vollständig und abgeschlossen ist (sondern vielmehr durchdie neuen 'M<strong>in</strong>derheiten' mehr und mehr bedroht wird). Wir haben belegt, dass<strong>in</strong> den von uns untersuchten sozialen Milieus ke<strong>in</strong> unifizierter sprachlicherMarkts existiert, auf dem das (Standard-)Deutsche unangefochten die höchstenProfite erzielt, und dass die Beziehung zwischen Deutsch und Türkisch


wesentlich komplexer ist, als dies die e<strong>in</strong>fache Dichotomie M<strong>in</strong>oritäts- vs.Majoritätssprache nahe legt. In unterschiedlichen situativen Kontexten gew<strong>in</strong>nenverschiedene Sprachen die Oberhand, und manchmal ist es durchaus dasTürkische, das die anderen Sprachen ‚m<strong>in</strong>orisiert‘, <strong>in</strong>dem es zur ‚Leitsprache‘avanciert und dann auch von deutschen und drittethnischen Jugendlichenerworben wird.‚Türkendeutsch‘ - e<strong>in</strong> umkämpfter ethnolektaler StilWie schon im letzten Beispiel beobachtet, kann das Deutsche von jungenSprechern mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund (auch <strong>in</strong> der zweiten und drittenGeneration) Merkmale aufweisen, die man im Standarddeutsch ebenso wenigf<strong>in</strong>det wie <strong>in</strong> den deutschen Dialekten. Wir wollen uns diese (poly-)ethnolektaleVarietät etwas genauer anschauen. Die folgenden Beispiele wurden <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>von Margret Selt<strong>in</strong>g und ihrem Forschungsteam gesammelt; sie stamen vonjungen Frauen mit türkischem Migrationsh<strong>in</strong>tergrund (das Orig<strong>in</strong>al steht l<strong>in</strong>ks,e<strong>in</strong>e Übertragung <strong>in</strong> nicht-ethnolektales Deutsch rechts):Beispiel (1)01 Gül guckmal früh MORgens,02 NEE;03 nach der Arbeit,04 isch geh so DINGS;= ich geh so zum DINGS05 zu a äh zum Auto; weißt du,06 (1.0)07 daNACH, da war08 v: vor me<strong>in</strong>em FENSter vor me<strong>in</strong>em FENSter


09 is=so BRIEF; so e<strong>in</strong> BRIEF;10 (1.2)11 isch GUCK so, ich GUCK so,12 isch dachte erstmal so STRAFzettel ich dachte erstmal so STRAFzettel13 Zel [((laughs))14 Gül: [isch GUCK so, ich GUCK so,15 da ist lie’ also BRIEF; da ist/liegt also e<strong>in</strong> BRIEF;Vorfeld l<strong>in</strong>ke Klammer Mittelfeld re.Kl.danach is vor me<strong>in</strong>em Fenster son Briefdanach vor me<strong>in</strong>em Fenster is son Brief---------------------Example (2)63 FR =ECHT,64 HA =isch hab GESTern gesEhn; was ich gestern gesehen habwar das65 sO=ne T h Üte? (.)66 dis war bestimmt ZEHN gramm;= dis warn bestimmt ZEHN gramm67 =oder t| sch| zwanzisch GRAMM; (-)68 der mann hat geGEben, (.) der mann hats ihm gegeben69 und dann hat er ihm Geldgegeben70 ZE e<strong>in</strong>fach SO: ---------Beispiel (3):403 Sem: du wirst dann AUCH so bald machen; du wirst’s dann auchbald so machen404 Esi: <strong>in</strong>shallah405 HOFfentlich; ((lacht))


406 Sem: m=FAtih hat wieder Angefangn FAHRschule,= Fatih hat wieder mitder Fahrschuleangefangen407 =hab=ich dir geSAGT? hab ich dirs gesagt?Warum sprechen diese jungen Leute türkischer Abstammung so? Was bedeutetdas aus e<strong>in</strong>er soziol<strong>in</strong>guistischen Perspektive? Die Sprechweise ist situativgesteuert (jedenfalls für viele Angehörige der Gruppe), d.h. er wird <strong>in</strong> derInteraktion untere<strong>in</strong>ander verwendet, nicht zum Beispiel bei e<strong>in</strong>emVorstellungsgespräch bei e<strong>in</strong>em deutschen Arbeitgeber. Es ist außerdem klarvon der sog. Gastarbeitervarietät unterschieden, e<strong>in</strong>er fossilisiertenLernervarietät. Dazu das folgende Beispiel:(aus Keim 2002, Transkription angepasst an GAT)((<strong>in</strong>terviewer IN is of German, TE and FU, her mother, are both of Turkish background. Topic: the newappartment of the family. There are 7 children and the dispute is about who will have to share a room withwhom.))Fu:In:seven children all wanten all extra roomdie wollen’ [jedes will=n [zimmerthey want each wants a roomFu: [isch’ [isch was machen?II what do? Te: (-)here sit where go?Fu:Te:çadır ne kız almanca?tent what girl <strong>in</strong>-Germançadırın adı [ne?tent-GEN name-POSS what[zelt is guttent is goodIn: everybody <strong>in</strong>-the tent


Fu:ja ja he heDie stilisierte Äußerung der Tochter (Te), mit der sie <strong>in</strong>s ‚Gastarbeiterdeutsch‘wechselt - ja was machen? hier sitzen woh<strong>in</strong> gehen? -, ist neben dem Fehlenvon Modalverben) besonders durch die f<strong>in</strong>iten (Inf<strong>in</strong>itiv-)Formen anstelleflektierter Verbformen gekennzeichnet. Diese lernersprachlichenVere<strong>in</strong>fachungen kommen <strong>in</strong> unserem ethnolektalen Material an ke<strong>in</strong>er Stellevor. (Wohl aber <strong>in</strong> Fu’s Vorgängeräußerung isch was machen?, also bei e<strong>in</strong>erSprecher<strong>in</strong> der ersten Gastarbeitergeneration.) Te imitiert also ganzoffensichtlich das defizitäre Deutsch ihrer Mutter und kritisiert dadurch diese,wie Keim nachweist, angesichts ihrer Hilflosigkeit im Umgang mit demFamilienkonflikt um die Zimmerverteilung. Neben dem grammatischen‚Nachäffen‘ der Mutter spielt dabei sicherlich auch e<strong>in</strong> stilistisches e<strong>in</strong>e Rolle:imitiert wird auch der Lamento-Stil der Mutter, der Jammern an die Stelle vonKonfliktlösungen stellt.Sie repräsentiert e<strong>in</strong>deutig nicht die eigene ‚Stimme‘ der Tochter, sondern e<strong>in</strong>efremde Stimme, die die der älteren Gastarbeitergeneration ist. Durch ihreVerwendung im Munde der Tochter ergibt sich im S<strong>in</strong>ne Bacht<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>eDoppelstimmigkeit, <strong>in</strong> der sowohl die ‚fremde Stimme‘ die eigene, wie auch die‚eigene Stimme‘ die importierte fremde bee<strong>in</strong>flussen.Der (Poly-)Ethnolekt der jungen E<strong>in</strong>wanderer ist längst <strong>in</strong> den Medien zumSymbol geworden; dabei ist er teilweise verändert, jedenfalls aber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erBedeutung transformiert worden, wie leicht aus dem folgenden Beispielersichtlich wird (aus e<strong>in</strong>er bekannten ‚Mundstuhl‘-Produktion 4 ):aus: „Dreiern BMW“ von 1998A: =isch habe SO konKRET korrekte AUto (.)4 Die Transkription folgt den GAT-Konventionen (vgl. Selt<strong>in</strong>g et al. 1998 sowie http://www.fbls.unihannover.de/sdls/schlobi/schrift/GAT/);sie s<strong>in</strong>d im Anhang zusammengefasst.


I have like concrete correct car[den geht ab wie [rakete weiß=du,him goes off like rocket youknowD: [was HAST du; [was HAST du für [auto;whatwhat car do you haveA: [ich hab dreier be em WE;I have BMW3D: konKRET;concrete[was hast du für maSCHInewhat eng<strong>in</strong>e do you haveA: [konKRETconcreteA: aber weißt du was isch NOCH gemacht hab?=but do you know what else I did?D: =sag;tellA: ich b<strong>in</strong> SO krass;I’m so grossich hab mir CAbrio gemacht mit FLEX.I made me convertible with flex ((a mach<strong>in</strong>e to cut metal))4. <strong>Mehrsprachigkeit</strong> aufgrund exoglossischer StandardsIn der Diskussion um die <strong>Mehrsprachigkeit</strong> <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> wird oft vergessen, dassdie nationalsprachliche Monol<strong>in</strong>gualität überall e<strong>in</strong>e späte Entwicklung ist, dieauf e<strong>in</strong>e Phase der <strong>Mehrsprachigkeit</strong> folgte, <strong>in</strong> der die Standardsprache e<strong>in</strong>e vonaußen importierte, mit der Volkssprache genetisch nicht unmittelbar verwandteVarietät war. Diese exoglossische Standardvarietät war im größten Teil <strong>Europa</strong>sdas Late<strong>in</strong>ische, im Osten auch das Altbulgarische oder Kirchenslavische, aufder iberischen Halb<strong>in</strong>sel bis zur reconquista das Arabische. (Dazu kommene<strong>in</strong>ige Spezialfälle wie das Hebräische, das man aber besser nicht als Standard-,sondern als Religionssprache bezeichnet.) Diese Sprachen konnten nicht


e<strong>in</strong>deutig e<strong>in</strong>er bestimmten Nation zugewiesen werden, sie galten vielmehr alsdie Standardsprachen ganzer Regionen. Sie s<strong>in</strong>d vom Mittelalter an <strong>in</strong>unterschiedlicher Geschw<strong>in</strong>digkeit zunächst <strong>in</strong> der Schrift, später auch imMündlichen durch die zu neuen Standardvarietäten entwickelten„Volkssprachen“ ersetzt worden. Die Übergangsphase war lang und zog sich <strong>in</strong>manchen Textsorten (Wissenschaftssprache) bis <strong>in</strong>s 18. Jahrhundert h<strong>in</strong>. Sie warmit Formen der <strong>Mehrsprachigkeit</strong> <strong>in</strong> den gebildeten Schichten verbunden, dieder heutigen <strong>Mehrsprachigkeit</strong> durch Migration sprachstrukturell und<strong>in</strong>teraktionstechnisch gar nicht so unähnlich s<strong>in</strong>d.Hier e<strong>in</strong> paar Beispiele aus den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts; der Sprechergilt als e<strong>in</strong>er der Schöpfer der heutigen deutschen Nationalsprache. Es handeltsich um ke<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>geren als Mart<strong>in</strong> Luther, dessen Tischgespräche von se<strong>in</strong>enSchülern mitgeschrieben wurden. Das kl<strong>in</strong>g dann so: 5Bsp (1) (Luther, Tischreden; Bd. III, 617, 3793., 27-31, Weimarer Ausgabe der WerkeLuthers, 1914; Mitschrift von Anton Lauterbach)(…) sic etiam ratio dienet dem glauben, das sie eim d<strong>in</strong>g nach denkt,so dient auch die Vernunft dem Glauben, dass sie über etwas nachdenkt,quando est illustrata; (…)wenn sie erleuchtet ist;Ratio autem illustrata nimbt alle gedanken vom verbo.Aber die erleuchtete Vernunft nimmt alle Gedanken vom Wort.Substantia bleybt, vanitas, die geht under, quando illustratur ratio a Spiritu.Die Substanz bleibt, die Eitelkeit, die geht unter, wenn die Vernunft vom (Hlg.) Geisterleuchtet wird.Sieht man e<strong>in</strong>mal vom eher opaken theologischen Inhalt dieses RedebeitragsLuthers zur Konversation bei Tisch ab, so fällt sofort auf, dass selbst <strong>in</strong> derMitschrift (<strong>in</strong> der vermutlich der O-Ton <strong>in</strong> Richtung auf e<strong>in</strong>e monol<strong>in</strong>guale,


schriftsprachliche Norm verfälscht worden ist), <strong>in</strong>nerhalb der Sätze mehrfachvom Late<strong>in</strong>ischen <strong>in</strong>s Frühneuhochdeutsche und zurück gesprungen wird.Teilweise werden e<strong>in</strong>zelne late<strong>in</strong>ische Wörter <strong>in</strong>s Deutsche <strong>in</strong>seriert (und dabeiim Kasus an die deutsche Satzmatrix angepasst; vgl. den Dativ oder Ablativverbo nach der deutschen Präposition vom, die selbst schon mit der Artikelformverschmolzen ist, wodurch sich e<strong>in</strong>e Doppelmarkierung des Dativs ergibt).Teilweise alterniert der Sprecher aber auch, d.h. er wechselt im Satz vollständigvon der e<strong>in</strong>en zur anderen Sprache; so etwa nach dem Subjekt ratio im erstenSatz oder für den temporalen Nebensatz im letzten Satzgefüge. Birgit Stolt hatschon 1964 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er wegweisenden Dissertation gezeigt, dass der Sprachwechsel<strong>in</strong> Luthers Tischreden ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>em „anyth<strong>in</strong>g goes“-Pr<strong>in</strong>zip folgt. ZumBeispiel werden late<strong>in</strong>ische Elemente <strong>in</strong>s Deutsche e<strong>in</strong>gebettet und dann gemäßden Regeln des Late<strong>in</strong>ischen flektiert, während das Umgekehrte nur seltenpassiert. Seither gibt es e<strong>in</strong>e umfangreiche Forschung, die <strong>in</strong> dem Befundübere<strong>in</strong>stimmt, dass <strong>in</strong> allen bil<strong>in</strong>gualen Geme<strong>in</strong>schaften bestimmt Regelngelten, die die Struktur des Sprachenmischung e<strong>in</strong>schränken. Insbesonderesche<strong>in</strong>en zwei Pr<strong>in</strong>zipien befolgt zu werden:- beim alternierenden Mix<strong>in</strong>g wird an Punkten gewechselt, an denen dieStruktur der beiden Sprachen homolog ist, 6 und- beim <strong>in</strong>serierenden Mix<strong>in</strong>g werden die Elemente der <strong>in</strong>serierten Spracheso <strong>in</strong> die Matrixsprache e<strong>in</strong>gebettet, dass deren Struktur nicht angegriffenwird (etwa <strong>in</strong> Bezug auf die Satzgliedstellung). Außer bei sog. Inselnkommen dann alle Systemmorpheme, die Bezüge <strong>in</strong>nerhalb des Satzesherstellen, aus der Matrixsprache. 7Die genauen Details können hier nicht weiter besprochen werden.5 Vgl. zum Codeswitch<strong>in</strong>g bei Luther Stolt 1964 und Klaus 1998. Dem letzteren Text habe ich die Beispiele 1-4übernommen. Vgl. zur Struktur des satz<strong>in</strong>ternen Wechsels auch Muhamedova & <strong>Auer</strong> 2006.6 Erstmals formuliert von Shana Poplack, 1980.7 Details <strong>in</strong> den zahlreichen Publikationen von Myers-Scotton zum Thema; etwa zusammenfassend <strong>in</strong> 2002.


Wir sehen bei Luther auch, dass der Wechsel zwischen den Sprachen wie imFalle der türkischstämmigen Jugendlichen stilistisch-rhetorischen Zweckendient; im folgenden Beispiel wird dadurch zum Beispiel Ironie markiert:(Bsp. 2) IV 121, 4081., 15-19, Mitschrift Anton LauterbachEgo uxorem meam <strong>in</strong> praeceptorem Germanicae l<strong>in</strong>guae propono.Ich empfehle Euch me<strong>in</strong>e Frau als Deutschlehrer<strong>in</strong>.Quae facundissima est;Sie ist sehr beredt;sie kans so fertig, das sie mich weitt damitt uberw<strong>in</strong>det.sie kann’s (=das Reden) so gut, dass sie mich damit weit übertrifft.Sed eloquentia non est laudanda <strong>in</strong> mulieribus;Aber Beredtsamkeit bei Frauen ist nicht lobsam;plus decet illas esse blaesas et balbas, das steht <strong>in</strong> wol besser an.es ist angemessener, wenn sie lispeln und stottern, das passt besser zu ihnen.Dass Luther se<strong>in</strong>e Ehefrau als e<strong>in</strong>e ihm überlegene Redner<strong>in</strong> e<strong>in</strong>stuft, istnatürlich ironisch geme<strong>in</strong>t, sondern Teil der Weiberschelte, die hier betriebenwird. Die Ironie wird durch den Wechsel <strong>in</strong>s Deutsche kontextualisiert. (In derletzten Zeile dient das Codeswitch<strong>in</strong>g dem Übergang von derTatsachenfeststellung zur Bewertung.)Codeswitch<strong>in</strong>g wird bei Luther auch verwendet, um durch Wiederholung desGesagten <strong>in</strong> der anderen Sprache den eigenen Worten Nachdruck zu verleihen,wie etwa <strong>in</strong> dem folgenden Ausschnitt, der übrigens auch die deutsch-türkischenBeziehungen betrifft:(Bsp. 3) (III, 591f, 3753., 12-10)((über die Türken))Contra tanti tyranni potentiam nos Germani, ignavum pecus, otia torpemus,


Gegen die Macht e<strong>in</strong>es so großen Tyrannen s<strong>in</strong>d wir Deutsche faules Vieh, krichen <strong>in</strong> Ruhe,crapulamur, ludimus otiosi, nihil movemur stragibus.s<strong>in</strong>d trunken, spielen müßig, werden nicht berührt durch die Niederlagen.Den er hat <strong>in</strong> dreysig jhar so gewaltig zugenummen,Denn der Türke ist <strong>in</strong> 30 Jahren so mächtig geworden,ut sit factus dom<strong>in</strong>us Aegypti, Arabiae, Persiae, Asiae et totius Greciae.dass er sich zum Herren gemacht hat über Ägypten, Arabien, Persien, Asien und ganzGriechenland.Germania semper fuit optima natio, es wirdt ir aber gehen sicut Ilium,Deutschland war immer die beste Nation, es wird ihr aber ergehen wie Troya,et dicitur: Germania fuit. Es ist aus.und man sagt: Deutschland war e<strong>in</strong>mal. Es ist aus.In der letzten, das Argument abschließenden Zeile wird dieselbe abschließendeAussage zunächst auf late<strong>in</strong>isch, dann auf deutsch formuliert: derSprachenwechsel verleiht dem Abschluss Bedeutung und Gewicht.E<strong>in</strong> letztes Beispiel zeigt, wie die Anführung fremder Rede durchCodeswitch<strong>in</strong>g markiert werden kann; es übernimmt dann die Funktion,verschiedene Stimmen im Diskurs gegene<strong>in</strong>ander abzusetzen:(Bsp. 4) (I, 149f, 357, Mitschrift vermutlich von Veit Dietrich)Wormaciae propositum ei,Zu Worms ist ihm (Luther) vorgeworfen worden,das ers dem keyser wolt heim stellen,dass er den Kaiser h<strong>in</strong>tergehen wolle,sed respondit, er woll ee das gleit auffgeben;aber er antwortete, er wolle zuvor die Gefolgschaft verweigernibi Fabian Feylisch:da sprach Fabian Feylisch:Das ist je gnug er botten!Das ist ja zuviel der Anmaßung!


Ibi cum urgerent, an non crederet caesarem christianum et christiane iudicaturum cum aliispr<strong>in</strong>cipibus?Als sie ihn bedrängten, ob er nicht glaube, dass der Kaiser christlich sei und christlich urteilenwürde mit den anderen Fürsten?Ob ers fur unchristen hielt?Ob er sie für Unchristen hielt?respondit:da antwortete er:Was solt ich den glauben, die yhr gleit nit gehalten haben et exusserunt libros meos nondumcognita causa?Warum soll ich denen glauben, die ihre Gefolgschaft nicht gehalten und me<strong>in</strong>e Bücherverbrannt haben, ohne me<strong>in</strong>en Fall untersucht zu haben?Insgesamt belegen die Beispiel (1)-(4) den bil<strong>in</strong>gualen Interaktionsstil e<strong>in</strong>erGruppe hoch gebildeter humanistischer Intellektueller, für die das Late<strong>in</strong>ischedie unmarkierte Umgangssprache des Gesprächs ist. Sie leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt, <strong>in</strong>der (noch) das Late<strong>in</strong>ische Garant für beruflichen erfolg und sozialen Status ist.Luther hat bekanntlich zahlreiche deutsche und late<strong>in</strong>ische monol<strong>in</strong>guale Texteverfasst. Im <strong>in</strong>formellen Gespräch setzt er jedoch ganz natürlich beide Sprachene<strong>in</strong>. Nicht etwa als Zeichen mangelnder Kompetenz im Late<strong>in</strong>ischen wird ausdem Deutschen <strong>in</strong> diese Sprache gewechselt; vielmehr ist gerade deralternierende und <strong>in</strong>serierende bil<strong>in</strong>guale Sprachgebrauch e<strong>in</strong> Symbol derZugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er Elite. Zugleich bietet der Wechsel zwischen denSprachen den Sprechern aber auch Möglichkeiten der Nuancierung undstilistischen Abstufung, die sonst nicht zur Verfügung stünden. Dabei wird diegrammatische Struktur des Late<strong>in</strong>ischen nie angegriffen; die Metagrammatik desCodemix<strong>in</strong>g lässt ich Sprache der Kirche <strong>in</strong>takt und verb<strong>in</strong>det das Deutschezugleich harmonisch mit ihr.Die Verwendung von exoglossischen Standardvarietäten ist aber natürlich mitdem Verschw<strong>in</strong>den des Late<strong>in</strong>ischen bzw. Kirchenslavischen längst nicht


abgeschlossen. Auch später noch wurde <strong>in</strong> vielen Gegenden <strong>Europa</strong>s e<strong>in</strong>eexoglossische Standardsprache verwendet, bis oft erst im 19. Jh. e<strong>in</strong>e eigene,endoglossische Standardvarietät entwickelt und durchgesetzt wurde; dasDeutsche <strong>in</strong> Tschechien und der Slovakei oder im Baltikum ist dafür ebenso e<strong>in</strong>Beispiel wie das Schwedische <strong>in</strong> F<strong>in</strong>nland, das Dänische <strong>in</strong> Norwegen, dasFranzösische <strong>in</strong> Russland sowie an vielen europäischen Höfen, oder dasOsmantürkische auf dem Balkan. Natürlich gilt dasselbe auch für alle kolonialenKontexte (<strong>in</strong> <strong>Europa</strong> zum Beispiel für die ehemalige englische Kolonie Zypern)und für die schon erwähnten autochthonen M<strong>in</strong>derheiten, <strong>in</strong> denen durchweg dienationale Standardvarietät zum<strong>in</strong>dest zusammen mit e<strong>in</strong>er eigenenStandardvarietät der M<strong>in</strong>derheitensprache Gültigkeit hat. Nach demVerschw<strong>in</strong>den solcher kolonialer Konstellationen muss die exoglossischeStandardvarietät, wenn sie entsprechendes Prestige hat, nicht unbed<strong>in</strong>gtebenfalls verschw<strong>in</strong>den; die ehemaligen Republiken der Sowjetunion, die heuteselbständig s<strong>in</strong>d, liefern hier viele und lehrreiche Beispiele. Sie zeigen imÜbrigen auch das Fortwähren des nationalen Sprachdiskurses, der dieVerwendung e<strong>in</strong>es exoglossischen Standards grundsätzlich nicht akzeptierenkann. Sprachause<strong>in</strong>andersetzungen wie im Baltikum s<strong>in</strong>d die Folge.5. <strong>Mehrsprachigkeit</strong> im Zeitalter der GlobalisierungDie jüngste Zeit ist allerd<strong>in</strong>gs nicht alle<strong>in</strong> durch diese neo-nationalen Tendenzengekennzeichnet; vielmehr ist e<strong>in</strong>e gegenläufige Tendenz zu verzeichnen, die<strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> (und andernorts) sogar die dom<strong>in</strong>ante zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t. Eshandelt sich um Entwicklungen, die den Nationalstaat und se<strong>in</strong>e sprachlicheSouveränität so fundamental bedrohen, dass die alte nationalstaatlicheSprachideologie und sprachpolitische Praxis zunehmend unterm<strong>in</strong>iert wird.Dazu gehört


- der Verlust an Souveränität der Nationalstaaten zugunsten überstaatlicherOrganisationen, <strong>in</strong>sbesondere der Europäischen Union und anderereuropäischer Institutionen, die e<strong>in</strong>e eigene, auf <strong>Mehrsprachigkeit</strong> undM<strong>in</strong>derheitenschutz h<strong>in</strong> orientierte Sprachenpolitik betreiben. Zugleichs<strong>in</strong>d diese Institutionen selbst mächtige mehrsprachige E<strong>in</strong>heiten, <strong>in</strong>denen die Nationalstaaten ‚ihre’ Sprachen nur mit Mühe gegen dieTendenz zur Bildung e<strong>in</strong>er suprastaatlichen europäischenSprachwirklichkeit schützen können. Die Konflikte <strong>in</strong> den europäischenInstitutionen s<strong>in</strong>d bekannt; sie tendieren aber zu e<strong>in</strong>er neuen europäischenSprachstruktur mit dem Englischen als allgeme<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>gua Franca undmöglicherweise e<strong>in</strong>igen anderen Sprachen (Französisch, Deutsch,Spanisch) als weniger wichtigen überstaatlichen Sprachen.- Der Verlust der Souveränität der Nationalstaaten auf wirtschaftlichemGebiet. Im Zuge der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte müssendie Nationalstaaten zunehmend die globalisierten Großunternehmen alsPartner akzeptieren, die sich auch sprachlich nicht an nationalstaatlicheRahmen halten. In den Großunternehmen wird – teils explizit, teilsimplizit – Sprachpolitik gemacht, und die <strong>Mehrsprachigkeit</strong> desgehobenen und höheren Managements wird auf diese Weise zu e<strong>in</strong>erSelbstverständlichkeit. Die Rolle des Englischen ist aber auch hierbesonders hervorgehoben. Es tritt zunehmend <strong>in</strong> die ehemalige Rolle desLate<strong>in</strong>ischen als der unmarkierten Sprache der Wirtschaft, aber<strong>in</strong>zwischen auch zu- und nachgeordneten Sektoren des öffentlichenLebens wie der Wissenschaft und der Jurisprudenz.- Der öffentliche Raum, <strong>in</strong> dem wir handeln, ist zunehmend nicht mehr nurder der nationalstaatlichen Öffentlichkeit. Durch die neuen Medien (vorallem das Internet), aber auch durch enorm verstärkte Mobilität vonTouristen, die Internationalität der Massenmedien, die Mobilität derArbeitskräfte (polnische Leiharbeiter <strong>in</strong> England, deutsche Leiharbeiter <strong>in</strong>


Irland, etc.) und die Internationalisierung des Erziehungssystems (für fastjeden deutschen Studierenden ist es heutzutage üblich, e<strong>in</strong> oder mehrereSemester im Ausland zu verbr<strong>in</strong>gen), werden grenzüberschreitendeöffentliche Räume geschaffen. Die Staatsgrenzen werden immer leichterüberw<strong>in</strong>dbar. Hunderttausende von Deutschen verbr<strong>in</strong>gen zum Beispielihr Rentenalter <strong>in</strong> Spanien.- Große Migrationsbewegungen globaler Art s<strong>in</strong>d nicht mehr, wie <strong>in</strong>früheren Zeiten, auf die Migration von Europäern <strong>in</strong> die übrigen, vorallem die kolonisierten übrigen Gebiete der Welt sowie <strong>in</strong> die typischenE<strong>in</strong>wanderungsländer wie U.S.A., Australien oder Brasilien, beschränkt,sie kehren sich vielmehr <strong>in</strong> die umgekehrte Richtung: aus aller Welt nach<strong>Europa</strong>. Die ungeheurere Sprachenvielfalt <strong>in</strong> den großen europäischenStädten lässt den Druck, die jeweilige nationale Standardvarietät zuerwerben, ger<strong>in</strong>ger werden: ethnolektales Sprechen ist der Normalfall.All diese Entwicklungen führen immer mehr dazu, dass Monol<strong>in</strong>gualität <strong>in</strong><strong>Europa</strong> wieder die Ausnahme wird. Es gibt immer mehr Menschen, die mitmehreren Sprachen aufwachsen, aber auch immer mehr, die im Laufe ihrerSozialisation andere Sprachen (vor allem das Englische) <strong>in</strong> Perfektion erwerben.Das Englische wechselt vor allem <strong>in</strong> Nord-<strong>Europa</strong>, aber auch <strong>in</strong> denNiederlanden, zunehmend von e<strong>in</strong>er Fremdsprache (die der englischen oderamerikanischen Nation) <strong>in</strong> die Rolle e<strong>in</strong>er Zweitsprache über, die überall präsentist und nicht mehr notwendigerweise mit diesen Nationen assoziiert wird. DieseEntwicklung wird teils bedauert und sogar bekämpft (zum Beispiel vonInstitutionen und Gesetzen, die sich dem „Schutz“ der Nationalsprache widmenund dabei den Purismus-Debatten des 17-19. Jh. nicht unähnlich s<strong>in</strong>d), sie wirdaber teils auch gefördert und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er aktiven Sprachpolitik (Stichworteuropäische Dreisprachigkeit) gefordert. Die alten Erwartungen an die Re<strong>in</strong>heite<strong>in</strong>er Sprache (oder der Performanz e<strong>in</strong>es Sprechers bzw. e<strong>in</strong>er Sprecher<strong>in</strong>)


werden sich <strong>in</strong> dieser soziol<strong>in</strong>guistischen Situation nicht mehr halten lassen:code-switch<strong>in</strong>g, aber auch Interferenzen, Ethnolekte, fossiliesierteLernervarietäten, Entlehnungen und „calques“ werden auf diese Weise wiederzum europäischen Alltag gehören. Unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen werden dieverschiedenen europäischen Nationalsprachen verschiedene Entwicklungennehmen. Es könnte se<strong>in</strong>, dass die Sprechweise Luthers und se<strong>in</strong>erhumanistischen Tischgenossen das Modell für die Zukunft ist.

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