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Anthropology goes public! - Die Maske

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INHALT<br />

Salon…...................................Seite 3 - 18<br />

Ulf Hannerz im Gespräch - Norma Deseke & Birgit Pestal<br />

Wiener Lebensstile und Globalisierung - H. Mühlwisch<br />

Islam und Cola - Bernhard Fuchs<br />

Religion imZeitalter der Globalisierung-M.Six-Hohenbalken<br />

Biografien unter globalisierten Verhältnissen - Gerhard Jost<br />

Kolumne…...........................Seite 22 - 24<br />

Wir und die Anderen - Niko Reinberg<br />

Fachgebiete……..................Seite 25 - 39<br />

Anthropologie der Medien - Philipp Budka<br />

Mythen und Medien - Elke Mader<br />

Online-Journalismus/Filmkonsum - B. Fuchs & B. Pestal<br />

World of Warcraft - Birgit Pestal<br />

Ivo Strecker im Gespräch - Ixy Noever & Julia Pontiller<br />

Regionalgebiete…...............Seite 41 - 74<br />

Fremde Länder, Fremde Sitten - G. Fartacek & M. K. Lang<br />

Der Mazdakismus im Iran - Thomas Schmidinger<br />

<strong>Die</strong> alltägliche Gewalt - Ines Garnitschnig<br />

CASOP II - Gudrun Kroner<br />

Menschen im Gaza - Gudrun Kroner<br />

Nach dem Khalifat - Saya Ahmad<br />

Frauenpartizipation in der Türkei - Soma Ahmad<br />

LEEZA- Österreich - Mary Kreutzer<br />

Der Helfer braucht das Opfer - Monika Maria Kalscisc<br />

Hindunationalismus im Cyberspace - Christian Mazal<br />

Seriously Shah Rukh - Mehru Jaffer<br />

<strong>Die</strong> Politisierung der Tanzkultur - Erika Neuber<br />

Indische devadasis einst und jetzt - Eveline Rocha Torrez<br />

Reisen als Kind - Katherina Hammerle<br />

Wiener Institut…................Seite 75 - 87<br />

Nyahbinghi - Werner Zips<br />

Interview Bambi Schieffelin - St. Seitelberger & S. Hofmair<br />

Museum für Völkerkunde neu - Christian Feest<br />

Studentisches Engagement - IG und Stv<br />

Ein Poträt - Renate Fiala - Eveline Rocha Torrez<br />

Von der Schublade ins Internet - Thomas Müller<br />

Vernetzung….......................Seite 88 - 92<br />

Das Studium der Volkskunde - Malte Borsdorf<br />

Profile dreier KSA Zeitschriften - München<br />

„Ethnologik“; Halle „Cargo“; Zürich CLTR<br />

Das Projekt „<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong>“ - <strong>Die</strong> Redaktion<br />

Bücher&Filme...Seite 19/19/20/20/21/40<br />

Normieren, standardisieren, vereinheitlichen - Malte Borsdorf<br />

Grundkonzepte der KSAin der Globalisierungsdebatte-F. Kreff<br />

Einsame Weltmacht - Markus Chvojka<br />

Hinterm Zaun und davor - Malte Borsdorf<br />

The Cooperation - Lydia Garnitschnig<br />

Faszination Bollywood - Lisa Ringhofer<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

herausgegeben von<br />

WILHELM BINDER, NORMA DESEKE, BIRGIT PESTAL, URSULA PROBST<br />

<strong>Anthropology</strong><br />

<strong>goes</strong> <strong>public</strong>!<br />

<strong>Die</strong> zweite Ausgabe der MASKE – Zeitschrift für Kultur und<br />

Sozialanthropologie behandelt im Salon Aspekte der Globalisierung,<br />

das Fachgebiet Medienanthropologie und in der Rubrik Region<br />

widmen wir uns dem Nahen Osten und Indien.<br />

<strong>Die</strong> Anthropologie befindet sich im Wandel, sie ist das Fach der<br />

Globalisierung schlechthin. <strong>Die</strong> Verbindungen zwischen dem lokalen<br />

Lebensraum und den globalen Wirkungszusammenhängen und die<br />

hier entstehenden Kreuzungspunkte fordern die spezifischen Zugänge,<br />

die das Fach bereitstellt. Es liefert Perspektiven und Möglichkeiten,<br />

sich mit den kulturellen Dimensionen aller Lebensbereiche zu<br />

beschäftigen. Globalisierung ist streng genommen nichts Neues,<br />

dennoch erleben wir sie mit einer beispiellosen Beschleunigung und<br />

Intensität, die die Kultur- und Sozialanthropologie vor neue<br />

Herausforderungen stellt.<br />

Globalisierung bedeutet eine neue Zugänglichkeit zur kulturellen<br />

Vielfalt. Neue Medien wie das Internet ermöglichen eine Form der<br />

Vernetzung und Interaktion zwischen Menschen und über Grenzen<br />

hinweg, wie es bisher nicht möglich war. Gerade hier kommt auch den<br />

Massenmedien ihre zentrale Vermittlerposition zwischen Bevölkerung<br />

und Politik zu. Medien konstruieren Realitäten und klammern andere<br />

aus, sie selektieren Informationen und schaffen Deutungshoheiten<br />

über Konzepte.<br />

In diesem Zusammenhang erscheint es bedeutend, Wissen über<br />

Wertekonstruktionen und über die Vielfalt der menschlichen Organisationsformen<br />

zu vermitteln, um Konflikte zu vermeiden, Verständnis<br />

zu erzeugen oder Kritik anbringen zu können. <strong>Die</strong> Anthropologie<br />

liefert dieses Wissen, die Zeit der lediglich fachinternen Diskussionen<br />

ist vorbei – <strong>Anthropology</strong> <strong>goes</strong> <strong>public</strong>. <strong>Die</strong>ser Trend ist z.B. durch die<br />

neuen studentischen Zeitschriften in München, Halle, Zürich und<br />

Wien bemerkbar: <strong>Die</strong> Ethnologik in München nahm ihre<br />

Redaktionsarbeit wieder auf, die <strong>Maske</strong> in Wien wurde gegründet,<br />

StudentInnen in Halle reanimierten die Cargo und jetzt passiert auch<br />

etwas in Zürich, die Projektgruppe AG Medien arbeitet an der ersten<br />

Ausgabe der CLTR. Außerhalb des studentischen Rahmens zeigen sich<br />

ähnliche Tendenzen: So wird Arjun Appadurais The Fear of Small Numbers<br />

auf Deutsch im Suhrkamp Verlag erscheinen, ebenso erscheint im<br />

Herbst 2008 das Handbuch für Globalisierung - anthropologische und<br />

sozialwissenschaftliche Kenntnisse für die Praxis (Suhrkamp) in einer<br />

hohen Auflage. Zweifellos ist es eine spannende Zeit für lebendige,<br />

interdisziplinäre anthropologische Forschung. Eine neue Generation<br />

von AnthropologInnen arbeitet. Wir freuen uns, dabei zu sein! �<br />

Viel Spaß beim Schmökern!<br />

Norma Deseke<br />

Editorial<br />

1


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

hellwach – bei Gewalt gegen Frauen<br />

Das Projekt hellwach greift das Thema<br />

„Gewalt an Frauen“ auf und trägt es mit<br />

Hilfe der kunstpolitischen Interventionen in<br />

den öffentlichen und privaten Raum.<br />

<strong>Die</strong> Mittel, die wie verwenden sind:<br />

großflächige Botschaften und die Zusammenarbeit<br />

mit Gewaltschutz-, Integrationsund<br />

politischen Eintichtungen, der Wirtschaft<br />

und Kunstprojekten. Ziel ist es, das<br />

Thema mit künstlerischen Mitteln breit in<br />

den gesellschaftlichen Diskurs zu bringen<br />

und damit wichtige Präventions- und<br />

Aufklärungsarbeit zu leisten.<br />

<strong>Die</strong> Texte sind zweisprachig: in<br />

deutsch/türkisch und deutsch/serbokroatisch.<br />

Nehmen Sie die Kekse „mit<br />

Inhalt“ und verteilen Sie sie weiter. Ganz im<br />

Sinne des chinesischen Widerstander, als<br />

im 13./14. Jahrhundert die Chinesen mit<br />

Hilfe von Botschaften in Glückskeksen von<br />

den möglichen Besatzern befreien konnten.<br />

Carla Knapp & Angela Zwettler<br />

office@hellwach.info<br />

Spendenkonto: Verein hellwach<br />

PSK 00 510-021-088, BLZ 60000<br />

2 Anzeigen<br />

Von den einzigartigen<br />

Naturschönheiten in COSTA RICA<br />

über das Land der Revolutionen<br />

NIKARAGUA bis zur Welt der Mayas<br />

in GUATEMALA spannt sich der Bogen<br />

dieser Reise.<br />

Heidi & Pascal Violo erleben<br />

gemeinsam mit ihrer 2-jährigen Tochter<br />

Amelie-Fè eine Welt der kulturellen<br />

Vielfalt, die von den Begenungen mit<br />

den Menschen geprägt wird. Sie lernen<br />

das Volk der GUARI GUARI auf einer<br />

Insel in PANAMA kennen, treffen nach<br />

tagelangen Einbaumfahrten durch den<br />

Dschungel die MISKITO Indianer in<br />

HONDURAS und feiern ausgelassene<br />

Feste mit den GARIFUNAS an der<br />

Karibikküste.<br />

So ist die junge Familie immer<br />

„unterwegs um zu erleben, dass jede<br />

Schöpfung eine Kunst ist.“


Questioning<br />

A conversation about organization of diversity, challenges for anthropology<br />

and some central terms<br />

the Cosmopolitan<br />

von NORMA DESEKE und BIRGIT PESTAL<br />

Ulf Hannerz about the internally quite diverse<br />

Ulf Hannerz is a Swedish professor<br />

and one of the leading anthropologists<br />

worldwide. He sees culture as<br />

something being constantly in motion<br />

– this is fitting very well with the<br />

dynamic image of a world shaped by<br />

the ongoing excitement for<br />

globalization and interconnectedness.<br />

From this point of view, culture and<br />

meaning may become durable in the<br />

sense of „cultural invention“. Today’s<br />

Cultural <strong>Anthropology</strong> has moved on<br />

from what is used to be in its<br />

beginnings. As a voice for a new<br />

generation of anthropologists, Ulf<br />

Hannerz has focused on concepts like<br />

creolization, cultural flows, cosmopolitans<br />

or organization of diversity and therefore<br />

also provided useful tools for thinking<br />

about the increasingly popular term of<br />

„culture“. His work provides an<br />

account of culture in an ever more<br />

globalizing world.<br />

We met him in autumn 2007 in Vienna<br />

at the IFK (Internationales<br />

Forschungszentrum<br />

Kulturwissenschaften). The following<br />

interview aims to provide a summary<br />

of some of our main discussion points.<br />

How did your interest for KSA start?<br />

Like many people I came to anthropology without intending to stay in<br />

it forever. I had this interest in Africa. This was in the 1960s and Africa<br />

was becoming independent, one state after another. That was exciting<br />

but I really intended to go into zoology and decided just to take one<br />

course in what was called „ethnography“. I found that interesting – so<br />

I remained there. Ethnography was then a very small subject in<br />

Sweden, so I did what there was to do for an undergraduate, but since<br />

I was becoming more serious about it, I went on to an American<br />

university for a year. That broadened my new knowledge on what<br />

anthropology was really about. What I had studied in Stockholm was<br />

very old-fashioned. Then a little later I was invited to come and do<br />

research with a socio-linguistic project in Washington DC. The project<br />

was studying Black American dialect, and I provided ethnographic<br />

background information.<br />

Can you tell us more about your interest in West African culture?<br />

I did eventually go to West Africa, in the 1970s and 1980s, and did field<br />

work in a Nigerian town. That actually took me to my interest in globalization,<br />

and creolization, but that is another story. In the American<br />

context, there was this question to what extent Black Americans<br />

actually have anything West African in their culture, which has survived<br />

the slave trade and slavery and the incorporation into American<br />

life. That has been a controversial issue: are Black people just like any<br />

other Americans or do they really have a separate culture? I still feel<br />

that most Black Americans have never really become fully integrated<br />

and assimilated into American society. So there has been a degree of<br />

autonomy to maintain and develop some culture of their own. I think<br />

recently there has probably more readiness to acknowledge a certain<br />

distinctiveness in the black tradition.<br />

What do you mean by this distinctiveness?<br />

My most obvious example would be in Black American music which<br />

has always maintained a certain autonomy. Black culture is also about<br />

storytelling, the emphasis on speaking. That’s something that has been<br />

cultivated for generations. It is about telling a story well or winning in<br />

an argument: the mastery of words. But also I think of one figure<br />

which exists in West African culture and which I think somehow<br />

Salon – Globalisierung<br />

3


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

survived not only in Black America but also in the<br />

Caribbean. This is a trickster figure, who seems<br />

politically and physically weak but who is smart and can<br />

win conflicts by outwitting the opponents and doing this<br />

by being rather unpredictable and perhaps not always a<br />

fully respectable being. And I think you find this in some<br />

black political figures also, at least at the local level.<br />

So what do you think about the presidential candidate Barack<br />

Obama in this context?<br />

I don’t really think Obama belongs to this, because<br />

actually he does not come out of the African American<br />

tradition. His mother is a White American, his father was<br />

from Kenya, but during his early life Obama seems to<br />

have had little to do with Black America. His mother<br />

remarried someone from Indonesia, and Barack spent<br />

some years growing up there. Only when he became an<br />

adult he did turn into a community organizer in Black<br />

American neighbourhoods. I think he is a very<br />

interesting phenomenon for various reasons, but I think<br />

he’s a phenomenon on his own, really a cosmopolitan<br />

figure rather than a Black American figure.<br />

Is an anthropologist automatically a cosmopolitan?<br />

No (laughs). I think there is a certain potential in<br />

anthropology and it may draw people who have a<br />

cosmopolitan intention. Of course, one can do what’s<br />

called anthropology at home, you don’t necessarily go<br />

abroad. But even among colleagues who do go abroad in<br />

a conventional anthropological way to do fieldwork in<br />

one foreign country, you find that this may be the only<br />

place elsewhere in the world they become interested in.<br />

So they become locals of two places, but it does not<br />

necessarily mean that they are interested in lots of things<br />

in the entire wider world. Maybe a small step towards<br />

cosmopolitanism, but not quite.<br />

You live in Vienna now, doing a project called „The<br />

Geocultural Imagination: Scenarios and Story Lines“. What is<br />

it about?<br />

It’s something which I’ve been thinking about close to<br />

fifteen years. We have had in recent years a number of<br />

what I call world scenarios beginning with an American<br />

political scientist named Fukuyama, asking whether we<br />

have now reached The End of History, as liberal<br />

democracy seemed to have triumphed once and for all.<br />

Then there was Samuel Huntington with his ‚Clash of<br />

Civilizations theory‘. He said that now that the Cold War<br />

is over, it’s also the end of the battle between ideologies.<br />

So according to Huntington, there is the conflict of<br />

civilizations instead. I think many of these scenarios were<br />

the product of the end of the Cold War. Much of this<br />

genre of writing is about how politics relates to the<br />

geography of culture in the world. My particular interest<br />

4 Salon – Globalisierung<br />

in this genre is how do their statements and assumptions<br />

about culture match with what anthropologists<br />

nowadays think about culture – frequently not very well,<br />

really. Some of it is a very rhetorical use of culture to<br />

suggest that things are very strong, very widespread,<br />

very old and thick. When anthropologists, not least<br />

including myself, think of culture much more in<br />

processual terms and something that’s changeable and<br />

internally quite diverse it doesn’t fit well with the<br />

assumptions of Huntington and such people.<br />

Can you please try to sum up your concept of culture?<br />

In my book Cultural Complexity I pushed the idea of<br />

socially organized meaning, and I still tend to stick to it.<br />

My main point of departure would be that compared to<br />

other animals, human beings depend very much on<br />

continuous learning in all phases of life. We need to draw<br />

from ideas, skills, and all kinds of knowledge that are<br />

available in our social environment. It’s the old natureculture-divide<br />

again, which is always tricky. I mean you<br />

have a renewal of this debate because after all human<br />

biology certainly makes progress, and so we have to be<br />

prepared to think again about the details of that divide.<br />

Have you also used the term „software“ in this context?<br />

I’ve done it, but there are complications with this<br />

metaphor. On the whole it is useful to think of biology as<br />

„hardware“ and culture as „software“. But still – it’s very<br />

important to know when to leave aside this metaphor.<br />

There is sometimes this unfortunate tendency to think<br />

that culture is so determining that once you have learned<br />

something you can’t get away from it. That you’re<br />

becoming a kind of robot under whatever culture gets to<br />

you first. And then it would become much like what is<br />

biologically and genetically determined. With culture<br />

you can learn certain things but you can also learn other<br />

things and you may reject what you learned before.<br />

Culture is negotiable and changeable over time. We need<br />

to understand socialisation and resocialisation, the way<br />

that culture is continuously under negotiation. In the<br />

1960s, Anthony Wallace wrote about the „Organization<br />

of Diversity“, a marvellous formulation. The complex<br />

society involves people knowing and doing different<br />

things, and still fitting into some sort of organization.<br />

Let’s switch to the topic of individuality and the construction<br />

of identity…<br />

Sometimes when we talk about identities we have in<br />

mind collective identities, and sometimes personal,<br />

individual identities. Much talk about identity politics<br />

would involve collective identities in some sort: how do<br />

you belong to categories or group shared identities, to an<br />

ethnic group, or generation, or gender? But also you have<br />

a personal identity which may be entirely unique. With


this kind of organization of diversity, it is very likely that<br />

a larger proportion of things end up being quite<br />

individualized, at least in the collection of things put<br />

together.<br />

With globalization you have a certain rhetoric saying that<br />

people are becoming very similar all over the world. But<br />

at the same time, when people have so much more<br />

culture to pick from (literature, food, music), there is also<br />

a greater opportunity to put together an absolutely<br />

unique setup of knowledge and preferences, and in the<br />

end also identities. At one level I think that globalization<br />

can also contribute to individuation. Again, I think of<br />

Barack Obama as an example.<br />

How far is cultural homogenization happening?<br />

Homogenization has been very much tied to the market.<br />

The standard examples have become clichés like<br />

McDonalds, Starbucks, Ikea and Coca Cola<br />

– cultural commodities which are everywhere.<br />

They try to identify tastes that can be<br />

sold everywhere. But then the market will<br />

also be segmented. Consumers aren’t in fact<br />

going to be alike – they all have been<br />

socialized into different directions. So you can<br />

also find market niches which allow a lot of<br />

diversity. Undeniably homogenization has a<br />

certain impact, and the market is important.<br />

Then sometimes it is said that nation-states<br />

try to preserve their heritages, so they are<br />

forces against homogenization at the world<br />

level. But one should not forget that state machineries are<br />

likewise pushing similar things in many places – the idea<br />

of citizenship, for example, or universal primary<br />

education. States have these culture producing<br />

machineries which also lead in the direction of<br />

homogenization. I think since World War II the whole<br />

United Nations machinery provides an apparatus for<br />

spreading certain values, the Human Rights Declaration,<br />

for example. On the other hand, local, regional, and<br />

national traditions are still very strong and not entirely<br />

reachable for the market and for the state machineries.<br />

Theorizing the strength of everyday life in maintaining<br />

cultural diversity is very important.<br />

Are there existing universal values?<br />

A very good question. Probably, but then they may also<br />

contradict each other. Since values are in practice so<br />

much linked to context, I am afraid trying to state them<br />

generally, out of particular contexts, leads to a rather<br />

unrealistic understanding of human life. For example, I<br />

would think that „survival“ is probably a very basic<br />

human value. But then we have the exception of suicide<br />

bombers. How can anybody become one? We are getting<br />

a sizeable literature on this now. But still, basically I<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

would suppose that survival is pretty much a universal<br />

value.<br />

In context of the suicide bomber – Is rage a universal topic?<br />

Rage is a universal human sentiment that at times any<br />

human being can probably feel.<br />

<strong>Anthropology</strong> had this research genre of looking at<br />

feelings and sentiments. And trying to determine to what<br />

extent they are also culturally shaped. I haven’t followed<br />

that discussion so closely. I would think that it’s partly a<br />

matter of talking about emotions in different ways.<br />

Cultures have their vocabularies for such talk. I would<br />

believe human beings have certain sets of emotions<br />

which are biologically given but culturally handled.<br />

Should anthropologists take up more topics of emotions?<br />

Anthropologists are inclined to explore the cultural<br />

dimensions of just about anything. And<br />

emotions would tend to be one of these<br />

things. People may believe that emotions are<br />

beyond culture, a kind of rough biology<br />

– well, I think there is an interaction between<br />

nature and culture. Gender may come in<br />

here. There may be differences between the<br />

genders and also diversity within them. I<br />

think that’s very important to realize.<br />

Although I would suspect some biological<br />

base to this – however always intermingled<br />

with culture. The tendency to say that<br />

women do this and men do that – this is<br />

much too simple, because of the internal variations.<br />

In how far should scholars value the debates over controversial<br />

practices?<br />

One major value should be always being critical in the<br />

sense of also trying to see the weak points in one’s own<br />

position. And see if it really holds up. And that may be a<br />

rather difficult value to take into politics. If you decide to<br />

push one thing you are inclined to go for the strong sides<br />

and strong arguments for pushing that one thing. The<br />

balance between scholarship and politics is likely to be<br />

pretty tricky much of the time. It depends on what you<br />

mean by „politics“.<br />

Should anthropologists give advice to politicians? What about<br />

topics like female genital mutilation?<br />

My main principle in a lot of cases is: let the people<br />

decide. Let individuals themselves decide. In practice it<br />

still gets rather complicated. When it comes to practice<br />

like FGM or honour killings they tend to occur in situations<br />

where women have been the ones with less power<br />

and men have had more power – or where older people<br />

have more power than younger people. I think one<br />

problem with speaking about things like this in cultural<br />

Salon – Globalisierung<br />

5


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

terms is that culture is understood to involve some sort of<br />

consensus. You may say, well, FGM is part of their<br />

culture – which suggests that they have agreed on this. I<br />

have my doubts. Because I frequently think that culture<br />

is involved in a power equation, where whatever has<br />

been established as a cultural practice may be based on<br />

that power equation. If you change the power equation,<br />

are you really going to find all the people – men, women,<br />

young, old – still wanting to stick to these customs?<br />

Is there a (political) overregulation in many things?<br />

I would think on the whole yes. Sometimes cultural<br />

diversity may do better without multiculturalism. In a<br />

sense multiculturalism tends to involve political and<br />

administrative decisions. That’s the way the term<br />

multiculturalism has become established. It becomes a<br />

tool of the organizations and the state for taking<br />

collective decisions or administrative decisions rather<br />

then leaving decisions to the individuals. And I think<br />

once you made multiculturalism a kind of administrative<br />

and political concept you end up with something that's<br />

more large scale and more static than I think culture<br />

really should be. It’s in the logic of the state or the<br />

municipality to need very stable, well-bounded<br />

categories of people. People should have the right to say<br />

„on this point I don’t really belong to this group“. The<br />

logic of state or collective multiculturalism to me seems<br />

to go against spontaneous natural cultural process,<br />

where people do learn and relearn and change their<br />

minds. I think people should be entitled to do that.<br />

How would you define the role of the media within<br />

anthropological work?<br />

I always have been sort of fairly intensive media<br />

consumer in terms of reading newspapers and<br />

magazines as well as listening to the radio and watching<br />

television. For me personally media play a major part in<br />

my life. Individuation in context of globalization of<br />

course has a lot to do with the media. We can now<br />

consume media from such a great variety of sources and<br />

that may be quite important to who we are.<br />

When I started doing fieldwork as an anthropologist in<br />

Washington in the black neighbourhood in the 1960s, I<br />

found myself sitting there, watching television and it<br />

worried me because in the classic anthropological texts I<br />

had read you don’t find any media. So what am I doing<br />

here watching television – just wasting my time? But<br />

then I realized that the media were an integral part in<br />

everyday life. Not only television but also the black radio<br />

stations, which were central institutions to Black<br />

community life. So I felt since then that if ethnography<br />

does not take media into account it may have a lack in<br />

credibility. It took quite a long time for sociology and<br />

anthropology to really incorporate media into both<br />

6 Salon – Globalisierung<br />

method and theory, which is one reason why cultural<br />

studies developed as a field itself.<br />

What do think about the phenomenon of blogging?<br />

I don’t have a blog, and I haven’t really gotten around<br />

looking at blogs very regularly, partly as a matter of<br />

habit, partly as a matter of time. I do think they are<br />

interesting phenomena, but there may be getting to be<br />

too many of them. Does it become a kind of narcissism to<br />

have one’s own blog without anybody paying much<br />

attention, as a new form of self expression? But then, as I<br />

understand, some blogs are getting a lot of viewers. So in<br />

the American politics in the election year it seems like<br />

they can really make some difference in mobilizing<br />

opinion and in being dangerous for candidates who can<br />

also get destroyed by negative blogging.<br />

How do you see anthropology today?<br />

<strong>Anthropology</strong> has a lot of diversity inside itself, and I like<br />

that. I think it’s also important that people outside the<br />

university, in politics or wherever, have a reasonable<br />

understanding of what anthropologists do. And I think<br />

that’s a problem because there’s a conception that<br />

anthropologists are mostly antiquarians and study<br />

backwards, study the past, study what’s disappearing.<br />

I’m interested in these world scenarios we talked about<br />

before because they are future oriented, ways of trying to<br />

tell people what the world may be becoming. One should<br />

see them not as predictions, but as arguments about<br />

possibilities and risks. And I think anthropology can<br />

contribute here, because its methods, not least<br />

ethnography, should be good for identifying what are<br />

emergent tendencies in the present.<br />

What kind of new initiatives would you hope the next<br />

generation of anthropologists would launch?<br />

I hope they will continue to do a lot of different things,<br />

but also I hope they will perhaps be a bit more effective<br />

in bringing it to the ear and eye of a wider <strong>public</strong> than<br />

anthropologists have been doing. I think it’s dangerous to<br />

write in a style which is only for other researchers. We<br />

probably need to experiment with styles of writing and<br />

other communications. „<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong>“ fits precisely into<br />

that, but also in writing books we should try to put<br />

anthropological ideas across in more different ways.<br />

There is now much more anthropological film making<br />

than there used to be. That is also good, but I tend to be<br />

a writing person, so I think that other kinds of writings<br />

are as important. With the globalization in the sense of<br />

global interconnectedness, cultural and otherwise, that<br />

should open up possibilities. Ordinary people may<br />

become more concerned with the rest of the world. That<br />

should provide openings for anthropologists to make<br />

their work interesting for a broader audience. �


Wiener Lebensstile<br />

Eine kulturanthropologische Untersuchung zum<br />

Konsumverhalten beim Essen<br />

und Globalisierung<br />

Fast Food oder Wiener Küche…?<br />

Neue, meist aus den USA kommende<br />

Esstrends, wie z.B. Fast Casual, werden<br />

häufig als Produkte einer<br />

fortschreitenden Globalisierung<br />

gesehen. Fast Casual ist eine<br />

Verbindung zwischen Fast Food und<br />

Casual Dining. Beim Konsum von Fast<br />

Casual bleiben die äußeren Formen<br />

eines traditionellen Mittagessens<br />

aufrecht, aber im Unterschied zu<br />

herkömmlichem Fast Food werden<br />

frische und möglichst regionale<br />

Zutaten verwendet (vgl. Rützler 2005:<br />

50). In den USA hat der Konsum von<br />

Fast Food seit den achtziger Jahren<br />

längst alle kulturellen Grenzen<br />

gesprengt, sowie nahezu alle sozialen<br />

Schichten erfasst. Es stellt sich die<br />

Frage, ob sich der Verzehr von Fast<br />

Food in den letzten Jahrzehnten auch<br />

bei uns in solcher Weise etablieren<br />

konnte bzw. ob sich durch Prozesse<br />

der Globalisierung Veränderungen in<br />

unseren Lebensstilen erkennen lassen.<br />

von HELENE MÜHLWISCH<br />

<strong>Die</strong> von George Ritzer beschriebene Theorie der McDonaldisierung<br />

(Ritzer 2006) umfasst ein systematisches Vorgehen<br />

global agierender Unternehmen, deren Prinzipien zunehmend<br />

in verschiedensten Gesellschaftsbereichen Anwendung<br />

finden. Das Phänomen der McDonaldisierung sieht Ritzer als<br />

eine Erweiterung von Max Webers Theorie der formalen Rationalität<br />

an. Max Weber versteht darunter eine durch strenge Regeln und<br />

Vorschriften, sowie größere gesellschaftliche Strukturen geprägte<br />

menschliche Suche nach dem optimalen Mittel zum Erreichen eines<br />

Zwecks. Dabei geht er von einer rein quantitativen und zahlenmäßig<br />

erfassbaren Form des Wirtschaftens aus. <strong>Die</strong> menschlichen Komponenten<br />

werden hier nicht erfasst, weil Menschlichkeit im System der<br />

formalen Rationalität keinen Platz zu haben scheint. Als Musterbeispiel<br />

der formalen Rationalität beschreibt Weber die Bürokratie,<br />

deren wichtigste Vorteile vier grundlegende Prinzipien sind, die für<br />

Ritzer auch im System der McDonaldisierung zum Tragen kommen.<br />

Prinzipien der McDonaldisierung<br />

<strong>Die</strong> vier Grundpfeiler der McDonaldisierung lauten Effizienz,<br />

Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle. Effizienz ist eine<br />

Situation, in der eine Organisation die Vorteile und Gewinne<br />

maximiert, während die Anstrengungen und Ausgaben gleichzeitig<br />

verringert werden. So ist in mcdonaldisierten Systemen das Bemühen<br />

groß, Waren und <strong>Die</strong>nstleistungen zu vereinfachen und die<br />

KundInnen für unbezahlte Arbeiten selbst einzusetzen. Für Fast Food-<br />

Unternehmen ist es effizient, wenn die KundInnen an der Selbstbedienungstheke<br />

Schlange stehen. Wenn sie den eigenen Service<br />

übernehmen, anstatt komfortabel an einem Tisch sitzend einem<br />

Restaurantkellner ihre Essenswünsche mitzuteilen und bedient zu<br />

werden. Beim zweiten Prinzip der Berechenbarkeit liegt die Betonung<br />

auf der Quantität, für die zahlenmäßige Standards festgelegt werden.<br />

Es gilt hier jedoch auch eine wichtige Kehrseite zu beachten; nämlich<br />

die Tatsache, dass in einer Gesellschaft, die vor allem die Quantität<br />

betont, viele Waren und <strong>Die</strong>nstleistungen zunehmend an Qualität<br />

verlieren können. <strong>Die</strong> dritte Dimension der McDonaldisierung ist die<br />

Vorhersagbarkeit. KonsumentInnen von McDonald's wünschen keine<br />

Überraschungen, wenn sie einen BigMac bestellen. Sie wollen sicher<br />

Salon – Globalisierung<br />

7


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

sein können, dass dieser genauso schmeckt wie jener,<br />

den sie gestern gekauft haben und der, den sie morgen<br />

kaufen wollen. Erreicht wird die Vorhersagbarkeit vor<br />

allem durch die Schaffung gleicher Arbeits- und<br />

Besucherumgebungen, die Erstellung von gleichförmigen<br />

„Drehbüchern“ für die Kommunikation der<br />

MitarbeiterInnen mit den KundInnen, sowie die Erzeugung<br />

von einheitlichen Produkten. McDonald's Schlüssel<br />

zum Erfolg lautet: rationale Standardisierung und<br />

Uniformität! <strong>Die</strong> vierte Dimension der McDonaldisierung<br />

ist die Kontrolle, die überwiegend durch den<br />

Einsatz von nicht-menschlicher Technologie durchgeführt<br />

wird. <strong>Die</strong> Zubereitungsangaben für die diversen<br />

Fast Food-Produkte sind oft schon in den Maschinen<br />

integriert. In einer McDonald's-Küche summt und blinkt<br />

es überall, damit die Angestellten ganz genau wissen,<br />

was zu tun ist. An der Theke leuchten Tasten auf der<br />

Computerkasse auf und schlagen weitere Menübestandteile<br />

vor, wenn eine Bestellung aufgenommen wird. <strong>Die</strong><br />

höchste Stufe der Kontrolle ist dann erreicht, wenn<br />

Angestellte völlig durch nicht-menschliche Technologie<br />

ersetzt werden. In den Labors von McDonald's werden<br />

jedenfalls schon Experimente durchgeführt, in denen die<br />

Zubereitung der Pommes frites von einem Roboter<br />

erfolgt (vgl. Wagner 1995: 67).<br />

Globale Folgerungen der McDonaldisierung<br />

<strong>Die</strong> Theorie der McDonaldisierung ist in vieler Hinsicht<br />

global angelegt. Zunächst haben viele der Methoden, die<br />

von McDonald's und anderen Unternehmen der Fast<br />

Food-Industrie entwickelt wurden, weltweite Verbreitung<br />

gefunden. Beispielsweise, dass man KundInnen<br />

innerhalb des Konsumationsprozesses durch Praktiken<br />

der Selbstbedienung selbst arbeiten oder deren Konsum<br />

im eigenen Auto abwickeln lässt (Mc Drive). So können<br />

Unternehmen auf rationelle Weise Zeit und Kosten<br />

sparen. Neu strukturiert wurden Ritzer zufolge auch<br />

wesentliche Gesellschaftsbereiche, wie beispielsweise<br />

der Esskonsum. Hier würden weniger Mahlzeiten zu<br />

Hause eingenommen werden und häufiger Besuche in<br />

Fast Food-Restaurants stattfinden (vgl. Ritzer 2006: 239).<br />

Letztere von George Ritzer getroffene Feststellung habe<br />

ich unter anderem einer empirischen Überprüfung<br />

unterzogen. <strong>Die</strong> vier Prinzipien der McDonaldisierung<br />

verstehen sich als Aspekte vielfältiger Globalisierungsprozesse<br />

und sind als Indikatoren für spezifische<br />

Merkmale unterschiedlicher Essgewohnheiten in verschiedenen<br />

Wiener Restaurants und Fast Food Gastronomiebetrieben<br />

der Beobachtung zugänglich. Einige der<br />

vorher von mir festgelegten Beobachtungskriterien lauten<br />

beispielsweise: (Selbst)Bedienung der KundInnen,<br />

Tischabräumen bzw. Tablettbeseitigung durch Ange-<br />

8<br />

Salon – Globalisierung<br />

stellte und/oder KundInnen, Dauer des Speisen-services,<br />

Speisenwahl, Verhalten des Personals im Umgang mit<br />

KundInnen und vieles mehr. Ergänzend zu den<br />

durchgeführten Beobachtungen habe ich in qualitativen<br />

Interviews Erhebungen über gegenwärtige und frühere<br />

Ess-, Koch- und Einkaufsgewohnheiten, sowie Restaurantbesuche<br />

durchgeführt. <strong>Die</strong> relevantesten Ergebnisse<br />

sowohl aus den Beobachtungen als auch aus den Befragungen<br />

möchte ich nachfolgend vorstellen.<br />

Zubereitung, Essen und Esskonsum im<br />

Zeitalter der Globalisierung<br />

Unser Alltag wird nicht mehr wie früher durch die<br />

traditionell morgens, mittags und abends eingenommenen<br />

Mahlzeiten strukturiert. Angesichts einer sich im<br />

Wandel befindlichen Arbeitswelt haben sich unsere<br />

Essgewohnheiten rapide verändert. Durch neue weltumspannende<br />

Informationstechnologien sind wir vor allem<br />

in beruflicher Hinsicht an differenzierte Zeitordnungen<br />

gebunden, während gleichzeitig in sämtlichen Bereichen<br />

ein Höchstmaß an Leistungsfähigkeit, an Präsenz und an<br />

Einsatzbereitschaft gefordert wird. Für Berufstätige<br />

bedeutet das, die Organisation des Haushalts diesen<br />

neuen Strukturen des modernen Lebens anpassen zu<br />

müssen. Das betrifft vor allem die Zubereitung und<br />

Gestaltung der täglichen Mahlzeiten. So ist es nicht weiter<br />

verwunderlich, wenn ein unregelmäßiger und unaufwendiger<br />

Kochstil durch die zunehmende Verwendung<br />

von Convenience-Produkten gepflegt wird. Wir leben in<br />

einer „verbrauchsfertigen“ Welt, in der mit wenig<br />

Aufwand und in möglichst kurzer Zeit ein wohlschmeckendes<br />

Essen auf dem Tisch stehen soll. Ein<br />

weiterer Grund für einen bevorzugten Konsum von<br />

Convenience-Produkten betrifft die Zunahme der<br />

Einpersonenhaushalte. Je kleiner die Haushalte sind,<br />

desto seltener wird gekocht und umso einsamer wird<br />

eine Mahlzeit eingenommen. Derzeit wohnt in Österreichs<br />

Haushalten knapp jede/r Siebte allein, das<br />

entspricht 34,1 Prozent aller Haushalte (vgl. Klapfer et al.<br />

2004: 17). Für Georg Simmel ist das soziale Moment des<br />

gemeinsamen Essens das entscheidende Kennzeichen<br />

einer Mahlzeit (vgl. Simmel 1957: 243). Ohne die soziale<br />

Bindekraft der gemeinsamen Mahlzeiten wird das Essen<br />

zur wenig beachteten Nahrungsaufnahme. Im Vordergrund<br />

des Genusses stehen andere Tätigkeiten, wie<br />

Lesen oder Fernsehen. Dank der Erfindung der Mikrowelle<br />

muss ein stummes „Nebeneinanderessen“ vor<br />

dem Fernsehapparat nicht einmal mehr gemeinsam<br />

stattfinden. Mikrowellengerechte Fertiggerichte sind in<br />

wenigen Minuten aufgewärmt und ermöglichen es<br />

jedem Familienmitglied, seine individuellen Essenszeiten<br />

zu wählen. Das ist der Nährboden, auf dem der


Konsum von Fast Food-Produkten wachsen und stetig<br />

ansteigen kann. <strong>Die</strong> Erhebungsdaten im Rahmen meiner<br />

Diplomarbeitsrecherchen dokumentieren es, dass es vor<br />

allem die junge Generation unter 30 ist, die anstelle der<br />

früheren traditionellen Mahlzeiten bevorzugt mehrere<br />

kleine Imbisse über den Tag verteilt zu sich nimmt. Es<br />

scheint, als sickere langsam, aber unaufhörlich ein neuer<br />

Zeitgeist in unseren Esskonsum, getragen von den<br />

vielfältigen Prozessen der Globalisierung. Doch wie<br />

können diese Strömungen uns bzw. unsere „gewohnten“<br />

Lebensstile derart beeinflussen?<br />

In unserer modernen Gesellschaft geht es in hohem Maße<br />

auch darum, eine möglichst angesehene Lebensführung<br />

zu erreichen. Wir gestehen uns den inneren „Motor“<br />

meist nicht ein, der uns unentwegt zu einem sozialen<br />

und beruflichen Wettbewerb mit unseren Mitmenschen<br />

anzutreiben scheint. Es werden Berufe mit einem hohen<br />

sozialen Prestige und einem entsprechenden Einkommen<br />

angestrebt. Doch ein Großteil unserer beruflichen<br />

Verpflichtungen ist nicht mehr nur an einem einzigen<br />

Ort, an einer Arbeitsstätte lokalisiert. Auch täglich gleich<br />

bleibende, starre Arbeitsrhythmen sind längst flexibler<br />

Gleitzeit gewichen. Flexibilität heißt eines „der“ Schlagworte<br />

in unserer heutigen globalisierten Welt. Es gibt<br />

praktisch keine „reine“ Freizeit mehr, in der wir aufgrund<br />

modernster Kommunikationsmittel und Technologien<br />

– wie Internet, Mobiltelefone oder „mobile“ Büros<br />

– nicht für berufliche Verpflichtungen in Anspruch<br />

genommen werden können.<br />

In meiner empirischen Untersuchung konnte unter<br />

anderem eines zweifelsfrei gezeigt werden: der „wahre<br />

Regent“ unserer Ära ist die Zeit! Der Konsum von Fast<br />

Food und Fast Casual erfreut sich steigender Beliebtheit.<br />

Dennoch müssen Aussagen, wie jene von George Ritzer,<br />

wonach Globalisierungsprozesse weltweit den Esskonsum<br />

insofern verändert haben, als Mahlzeiten immer<br />

seltener zu Hause und immer häufiger in Fast Food-Restaurants<br />

eingenommen werden, zurückgewiesen werden.<br />

Es hat sich in den Befragungen meiner Untersuchung<br />

gezeigt, dass vor allem die junge Generation<br />

unter 30 den Geschmack von Fast Food schätzt;<br />

gleichzeitig jedoch liegt die Betonung einstimmig auf der<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Einnahme von mindestens einer warmen Mahlzeit pro<br />

Tag, die selbst gekocht wird. Hier berichten auch die<br />

interviewten Personen unter 30 von täglichen Kochzeiten<br />

bis zu einer Dreiviertelstunde. Wird außer Haus<br />

gegessen, dann lieber in Gastronomiebetrieben mit Wiener<br />

Küche, wo frisch gekochte Hausmannskost von<br />

einem aufmerksamen Bedienungspersonal serviert wird<br />

und das Sättigungsgefühl viel länger anhält als durch<br />

den Konsum von Fast Food. Helmut Österreicher, einer<br />

der bedeutendsten Köche Österreichs, weiß, dass Gäste<br />

eine abwechslungsreiche Küche zu schätzen wissen.<br />

Dass neue Gerichte für sie ein interessantes Aha-Erlebnis<br />

bedeuten, sie aber dennoch immer wieder auf ihr<br />

gewohntes Essen zurückkommen werden: auf die<br />

klassische Wiener Küche, mit der sie aufgewachsen sind.<br />

<strong>Die</strong> Wiener Küche ist eine Marke, die nicht von<br />

Werbefachleuten (wie beispielsweise diverse Fast Food-<br />

Produkte) gemacht worden ist, sondern von den<br />

Menschen, die sie verzehren. Für Helmut Österreicher<br />

liegt es somit auf der Hand, dass der Fast Food-Konsum<br />

die Wiener Küche nicht verdrängen kann. Seine<br />

Sichtweise wird auch durch die Ergebnisse meiner<br />

Untersuchung untermauert. Unser Esskonsum unterliegt<br />

den mannigfaltigen Veränderungen durch die Einflüsse<br />

der Globalisierung. Letztlich aber werden wir uns im<br />

Konsumverhalten beim Essen immer wieder auf unsere<br />

traditionellen Wurzeln besinnen und Altes mit Neuem<br />

kombinieren. �<br />

Helene Mühlwisch ist Studierende der Psychologie, sowie<br />

der Kultur- und Sozialanthropologie. Sie schließt ihr KSA-<br />

Studium im sechsten Semester mit der Diplomarbeit "Wiener<br />

Lebensstile und Globalisierung" ab. Ihre Interessensschwerpunkte<br />

sind Globalisierung und Interkulturalität.<br />

Literatur<br />

Klapfer K./Eichwalder R. Familien- und Haushaltsstatistik, Wien, 2004.<br />

Ritzer, George. <strong>Die</strong> McDonaldisierung der Gesellschaft, Konstanz, 2006.<br />

Rützler, Hanni. Was essen wir morgen? 13 Food Trends der Zukunft.<br />

Wien, 2005.<br />

Simmel, Georg. Soziologie der Mahlzeit. In: K.F. Koehler: Brücke und Tür.<br />

Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und<br />

Gesellschaft. Stuttgart, 1957, S. 243-250.<br />

Wagner, Christoph. Fast schon Food. <strong>Die</strong> Geschichte des schnellen Essens.<br />

Frankfurt, 1995.<br />

Interview, geführt am 11. Oktober 2007:<br />

Helmut Österreicher, Vier-Hauben-Koch, Österreicher im MAK, 1010<br />

Wien, Stubenring 5<br />

Salon – Globalisierung<br />

9


10<br />

<strong>Die</strong> „Coca-Colonialisierung“ führt zu Prozessen mimetischer Aneignung und zu einer<br />

Pluralisierung des Waren-Angebots durch nationale und lokale Varianten<br />

von BERNHARD FUCHS<br />

Coca Cola ist durch nichts zu ersetzen,<br />

außer durch ein Cola. So lautet eine<br />

These des indischen<br />

Kulturphilosophen Ashis Nandy<br />

(1994). Wo es einmal eingeführt<br />

wurde, muss das Bedürfnis nach Cola<br />

in irgendeiner Form gestillt werden.<br />

Doch die Befriedigung des Cola-<br />

Bedarfs wird nicht nur durch<br />

ökonomische Gründe sondern<br />

vorrangig durch ideologische<br />

erschwert. Hier erlangen Imitate eine<br />

Schlüsselstellung. <strong>Die</strong><br />

„Coca-Colonialisierung“, welche<br />

stets Bemühung um lokale Integration,<br />

eine Glokalisierung des globalen<br />

Unternehmens, enthält, wird daher<br />

ebenso begleitet von Prozessen<br />

mimetischer Aneignung. Kopien<br />

dienen paradoxerweise auch der<br />

Abwehr des Fremden.<br />

Salon – Globalisierung<br />

Cola und Islam<br />

Eine symbolische Begegnung<br />

Der Kulturtransfer von Cola-Getränken nimmt in der Globalisierungsforschung<br />

eine bedeutende Position ein. <strong>Die</strong><br />

Cola-Anthropologie erweist sich als ein erfrischendes und<br />

heuristisch wertvolles Unterfangen und besitzt durchaus<br />

gesellschaftliche Relevanz (vgl. Miller 1997; Gill 2004). Nicht alle<br />

Werke, die Coca Cola im Titel führen, setzen sich tatsächlich damit<br />

auseinander. Oft wird der Name benützt, um von seiner Ausstrahlung<br />

zu profitieren; in Werken wie „Islam und Coca Cola. Begegnung der<br />

Kulturen nach dem Irak-Krieg“ (Fikentscher 2003) wird Cola gar nicht<br />

thematisiert. <strong>Die</strong> semiotische Aufladung dieser Marke ist in der Tat so<br />

gewaltig, dass der populäre Mythos Coca Cola sich längst der<br />

Kontrolle des Firmenmanagements entzieht.<br />

Der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber (2002)<br />

beschwört kulturpessimistisch den Untergang der Demokratie in<br />

Folge der Konfrontation zwischen Coca Cola und Jihad. Seine unpräzise<br />

Verwendung des Begriffs Jihad irritiert ebenso wie das Bild,<br />

welches er von der Kulturanthropologie zeichnet: Er beklagt den<br />

„Rückgang des Teeverbrauchs, den Kulturanthropologen als ein unheilvolles<br />

Vorzeichen des Zerfalls der einheimischen Kultur ansehen“<br />

(Barber 2002: 78). <strong>Die</strong> Substitution von „traditionellen“ Getränken<br />

durch Cola wird zum Indikator des Kulturwandels. Der Coca-Cola-<br />

Culture würden sich nur religiöse Fundamentalismen und radikaler<br />

Nationalismus (zusammengefasst unter dem Schlagwort Jihad) entgegenstellen.<br />

<strong>Die</strong> Marke wird oft zur Synekdoche für amerikanischen<br />

Kulturimperialismus und kulturelle Homogenisierung, das Getränk<br />

zur Essenz des Amerikanismus (Pendergrast 1991).<br />

Das Schlagwort Coca-Colonialization etablierte einen festen Platz in<br />

populären sowie wissenschaftlichen Globalisierungsdiskursen. Doch:<br />

„<strong>Die</strong> ethnologische Konsumforschung in der Dritten Welt wird<br />

wesentlich durch die Intention geprägt, die Homogenisierungsthese<br />

(McDonaldisierung oder Coca-Colonization) zu widerlegen“ (Spittler<br />

2002: 17). Auch ganz unabhängig von der Absicht sind die Diversität<br />

und die Fülle an kulturellen Neubildungen offensichtlich.<br />

Es ist bemerkenswert, dass Coca Cola stets Anstoß für die Kreation<br />

unzähliger Imitate gibt. <strong>Die</strong>se erlangen häufig Bedeutung als Symbole<br />

des Nationalismus und Antiamerikanismus (vgl. Nandy 2000; Tweder<br />

1999). Auch in Österreich gab es ein nationalistisches Austro-Cola<br />

(Bandhauer-Schöffmann 1994). Das originale Coca Cola pocht<br />

weltweit auf seine Authentizität („It's the Real Thing.“) und ist<br />

bestrebt, die Marke im lokalen Kontext zu verankern. Doch ist das


Unternehmen erst Ende der 1990er Jahre von globalen<br />

Werbekampagnen abgerückt. Heute bemüht man sich,<br />

Amerikanität herunterzuspielen.<br />

Nationalistische Abwehrreaktionen und<br />

Anti-Amerikanismus<br />

Coca-Colonialisierung wurde in Frankreich bereits Ende<br />

der 1940er Jahre als ein Kampfbegriff in antiamerikanischen<br />

Kreisen geprägt (Kuisel 1991). <strong>Die</strong> Expansion<br />

von Coca Cola erfolgte im Zweiten Weltkrieg und in der<br />

Nachkriegszeit, als das Getränk primär US-amerikanischen<br />

Soldaten zur Verfügung stand, und daher nicht<br />

von ungefähr zu einem nationalen Symbol US-Amerikas<br />

wurde (Pendergrast 1993). Auch in Österreich bildete<br />

sich eine ähnliche Allianz aus Kommunisten und lokalen<br />

Unternehmern, welche gegen das „braune Amerikawasser“<br />

mobil machte (Bandhauer-Schöffmann 1994). Es<br />

wurden irrationale Ängste geschürt, Coca Cola würde zu<br />

Sucht und Wahnsinn führen oder die Eingeweide zerfressen.<br />

Letztlich taten derlei Gerüchte der Faszination, die<br />

Coca Cola und alles Amerikanische in dieser Zeit auf<br />

Europäer ausübten, keinen Abbruch. Als Cokelore,<br />

populäre Erzählungen, wurde Widerstand ebenso zum<br />

Bestandteil des Marken-Mythos, und wird als kulturelles<br />

Erbe (Heritage) in die offizielle Präsentation des Unternehmens<br />

integriert.<br />

In der Zeit des Kalten Krieges wurde Coca Cola zum<br />

Symbol des Westens. Mit der „neuen Weltordnung“<br />

setzte sich erneut die alte Dichotomie Orient-Okzident<br />

durch. In Folge des Irak-Konfliktes wird Coca Cola neuerlich<br />

als ein Symbol des aggressiven Amerikanismus<br />

identifiziert und zu dessen Boykott aufgerufen. <strong>Die</strong> kritische<br />

Position der Cola-Getränke ist nichts Neues im<br />

Nahost-Konflikt. Das Worldwide Web trug wesentlich<br />

zur Beschleunigung der Ausbreitung der Cola-Mythen<br />

bei, sowie zu deren Beharrung. Zur Abschreckung wird<br />

gern behauptet, Coca Cola sei haram, weil es Alkohol,<br />

Schweinefett oder gar -blut enthalte.<br />

„Cola-Islamismus“<br />

Ein in semiotischer Hinsicht faszinierendes Beispiel ist<br />

die These, das Logo von Coca Cola enthalte eine versteckte<br />

antiislamische Botschaft: Man müsse den bekannten<br />

Schriftzug nur spiegelverkehrt betrachten, um ihn als<br />

arabische Schriftzeichen zu lesen. So könne der blaphemische<br />

Aufruf „Nein zu Mekka, nein zu Mohammed!“<br />

entlarvt werden. Coca Cola wird nicht nur als der<br />

Inbegriff der USA sondern als die heimtückische Inversion<br />

des Islam hingestellt. <strong>Die</strong>ser Vorwurf wurde zwar<br />

von islamischen Gelehrten als irrational zurückgewiesen<br />

(schließlich wurde das Design 1886 von einem Ameri-<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

kaner in Atlanta entwickelt), doch damit ist dem<br />

Vorurteil keineswegs beizukommen: Im Internet zirkuliert<br />

der Hinweis weiter und wird nach wie vor als<br />

einleuchtende Erkenntnis entdeckt.<br />

Das Neue an der Anti-Cola-Welle des Jahres 2003 aber<br />

bestand darin, dass nun nicht bloß ein Konsum-Boykott<br />

gefordert wurde, sondern gleichzeitig „islamische“<br />

Alternativprodukte auf den Markt gebracht wurden.<br />

<strong>Die</strong>s entspricht der in modernen Konsumgesellschaften<br />

verbreiteten Ideologie des kritischen Konsumenten,<br />

welcher durch seine Kaufentscheidung politische<br />

Zeichen setzt; was sich umgekehrt in der postmodernironischen<br />

Integration revolutionärer Ikonographie in<br />

das Warenangebot ausdrückt: „Aufgeklärter Konsum“<br />

ersetzt Boykott und Revolution. Identität definiert sich<br />

primär über Konsum. Genau dieser Logik entsprechen<br />

muslimische Unternehmer, welche islamische Cola-<br />

Sorten auf den Markt brachten. Der Slogan von Mecca<br />

Cola forderte auf: „Trinke nicht sinnlos, trinke bewusst!“<br />

Mecca Cola, Qibla Cola, Arab Cola, Muslim Up und Salam<br />

Cola drängten auf den Markt, so dass die Medien schon<br />

von einem Cola Jihad kündeten.<br />

Es muss betont werden, dass die realen Cola-Sorten<br />

jedoch Ausdruck von Modernisierung und einer<br />

„islamischen Renaissance“, nicht aber von „Fundamentalismus“<br />

sind (vgl. Ammann 2004). „Islamismus“ stellt<br />

sich in der modernen Welt zunehmend als eine<br />

ökonomische Alternative, als ein kulturspezifisches<br />

Konsumangebot dar. Darüber hinaus versprechen<br />

islamische Colas auch soziales Engagement, indem 10%<br />

des Verkaufspreises für palästinensische Kinder und<br />

weitere 10% für lokale muslimische Sozialinitiativen<br />

verwendet werden. Damit folgen die Unternehmer<br />

einem Ideal der islamischen Ökonomie, institutionalisiert<br />

in der Armensteuer Zakat. Allerdings führt<br />

Glokalisierung, das „Assimilationsstreben“ von Coca<br />

Cola gleichfalls zu dessen „Islamisierung“ im regionalen<br />

Kontext. In Pakistan leistet das Unternehmen eine<br />

Abgabe für Arme (was auch dem westlichen Wohlfahrtskapitalismus<br />

entspricht) und finanziert ausgewählten<br />

Mitarbeitern die Hajj. Kulturelle Konvergenz betrifft<br />

daher Prozesse der „Islamisierung“ ebenso wie Zeichen<br />

der „Verwestlichung“.<br />

Cola-Kulturtransfer, Mimesis und Alterität<br />

<strong>Die</strong> neuen islamischen Alternativen waren vorrangig<br />

Produkte der Diaspora, Mecca Cola wurde von einem in<br />

Tunesien geborenen französischen Unternehmer gegründet.<br />

Das britisch-asiatische Produkt heißt nach der<br />

Gebetsrichtung der Muslime Qibla Cola, die Gründerin<br />

wurde in England geboren, mit pakistanischem Hintergrund.<br />

Salon – Globalisierung<br />

11


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Aus kulturanthropologischer Perspektive fällt der<br />

räumliche Diskurs auf: die Namen einiger islamischer<br />

Colas knüpfen an die Orientierung der Umma an, indem<br />

sie auf das heilige Zentrum der islamischen Welt<br />

hinweisen.<br />

Der israelische Soziologe Uri Ram (2007) bietet eine<br />

treffende Interpretation des Phänomens „islamischer“<br />

Colas: Er betont die analytische Unterscheidung zwischen<br />

struktureller und symbolischer Ebene. Während<br />

auf struktureller Ebene eine Homogenisierung festzustellen<br />

ist, findet gleichzeitig eine symbolische Heterogenisierung<br />

statt. Dazu sei aber ergänzend angemerkt,<br />

dass auch materielle Homogenisierung („dunkelbraune<br />

Erfrischungsgetränke“) eine symbolische Dimension<br />

besitzt. Imitation symbolisiert also Widerstand und auch<br />

Ebenbürtigkeit. Differenzierung impliziert eine symbolische<br />

Inszenierung von Gleichheit.<br />

In Prozessen des Cola-Kulturtransfers wiederholt sich<br />

das vom amerikanischen Kulturanthropologen Michael<br />

Taussig im kolonialen Kulturkontakt analysierte Prinzip<br />

von Mimesis und Alterität, wo Nachbildungen und<br />

Imitate zu einem wesentlichen Element der Verarbeitung<br />

von Fremdheit werden. Taussig greift dabei auf das<br />

Konzept der „sympathetischen Magie“ zurück: Nachahmung<br />

wird zu einem Mittel der Macht, Kopien werden<br />

instrumentalisiert, um auf den Fremden Einfluss zu<br />

gewinnen. Es würde zu weit führen, einen magischen<br />

Hintergrund für das globale Auftreten antiamerikanischer<br />

Cola-Kopien zu behaupten. Doch in einem<br />

übertragenen Sinn erfasst dieser Vergleich präzise das<br />

Wesen moderner Ökonomie.<br />

Der Cola-Kulturtransfer verstrickt die Welt in ein<br />

semiotisches Netz, ein komplexes System aus Mythen<br />

und Gegenmythen, die einander wechselseitig ausbeuten,<br />

aber trotz aller Heterogenität durch ihre interne<br />

Abhängigkeit eine Einheit bilden, denn Mecca Cola,<br />

Qibla Cola, oder Pepsi Cola wären undenkbar ohne Coca<br />

Cola. Vielmehr ziehen sie Kraft aus ihrem großen<br />

Kontrahenten. �<br />

Bernhard Fuchs, geboren 1966, ist Assistenzprofessor am<br />

Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien.<br />

Forschungsschwerpunkte: Stereotypen, Kulturtransfer,<br />

Migration, Medien.<br />

12<br />

Salon – Globalisierung<br />

Literatur<br />

Amman, Ludwig. Cola und Koran. Das Wagnis einer islamischen<br />

Renaissance. Freiburg im Breisgau 2004<br />

Bandhauer-Schöffmann, Irene. Coca-Cola im Kracherlland. In: Roman<br />

Sandgruber (Hg.): Genuss & Kunst. Innsbruck 1994, 92-101.<br />

Barber, Benjamin. Coca Cola und Heiliger Krieg: Jihad versus<br />

McWorld. Der grundlegende Konflikt unserer Zeit. Bern et al.,<br />

2002. [engl. Original 1996]<br />

Fikentscher, Rüdiger (Hg.). Islam und Coca Cola. Begegnung der<br />

Kulturen nach dem Irak-Krieg. Halle an der Saale 2003<br />

Kuisel, Richard F.. Coca-Cola and the Cold War: The French Face<br />

Americanization, 1948-1953. In: French Historical Studies, Vol. 17,<br />

No. 1 (Spring 1991), 96-116.<br />

Nandy, Ashis. The Philosophy of Coca Cola. 1994<br />

http://vlal.bol.ucla.edu/multiversity/Nandy/Nandy_coke.htm<br />

Nandy, Ashis. Gandhi after Gandhi after Gandhi. In: The Little<br />

Magazine. 2000 http://www.littlemag.com/2000/nandy.htm<br />

Miller, Daniel. Coca Cola: a black sweet drink from Trinidad. In:<br />

Material Cultures, Vol. 1, 4, November1997, 169-188.<br />

Pendergrast, Mark. For God, Country and Coca Cola: The<br />

unauthorized history of the great American soft drink and the<br />

company that makes it. New York. 1993<br />

Ram, Uri. Liquid identities: Mecca Cola versus Coca-Cola. In:<br />

European Journal of Cultural Studies, 10, 2007, 465-484.<br />

Spittler, Gerd. Globale Waren - Lokale Aneignungen. In: Brigitta<br />

Hauser-Schäublin und Ulrich Braukämper (Hg.): Ethnologie der<br />

Globalisierung. Perspektiven kultureller Verflechtungen. Berlin<br />

2002, 15-30.<br />

Taussig, Michael. Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige<br />

Geschichte der Sinne. Aus dem Amerikanischen von Regine<br />

Mundel und Christoph Schirmer. Hamburg 1997.<br />

Tweder, Fabian et al.. Vita-Cola & Timms Saurer. Getränkesaison in<br />

der DDR. Berlin 1999


<strong>Die</strong> Bedeutung von Religion für Identitätskonstruktionen von<br />

MigrantInnen aus der Türkei<br />

von MARIA SIX-HOHENBALKEN<br />

Religion im Zeitalter<br />

der Globalisierung<br />

Vernetzung von Glauben in der Diaspora<br />

In den letzten fünf Jahren wurde<br />

vermehrt festgestellt, dass Religion<br />

wesentlich für die<br />

Identitätskonstruktion von<br />

MigrantInnen ist. Religionsspezifische<br />

Fragen wurden im Migrationsdiskurs<br />

lange vernachlässigt. Religion ist ein<br />

Bindeglied für heterogene<br />

Zuwandererkommunitäten, sie wirkt<br />

über ethnische Grenzziehungen hinaus<br />

und kann eine Konkurrenzkategorie<br />

zu den politisch ausgerichteten<br />

Institutionen von MigrantInnen<br />

darstellen. Religion kann die<br />

Aufnahme in die als auch den<br />

Ausschluss von der Aufnahmegesellschaft<br />

bewirken, sie dient der<br />

Etablierung von Gemeinschaften und<br />

ist gleichzeitig ein Bindeglied zur<br />

Herkunftsgesellschaft. In Phasen der<br />

Unsicherheit ist Religion ein<br />

„Rettungsanker“ und bietet<br />

moralische, soziale und finanzielle<br />

Unterstützung.<br />

Einige kulturanthropologische Studien haben die Bedeutung<br />

von Religion im Migrationskontext bzw. in transnationalen<br />

Gemeinschaften untersucht (Baumann 1996, Peggy Levitt<br />

2001, Van der Veer 1995, 2001, Vertovec 2001). <strong>Die</strong>ser Beitrag<br />

basiert auf Befragungen von MigrantInnen aus der Türkei, die im<br />

Zuge von zwei Forschungen in Wien (1997-99 BMBWK, restudy 2006<br />

Hochschuljubiläumsfonds) durchgeführt wurden und soll einen<br />

kleinen Einblick geben.<br />

In den letzten zwei Jahrzehnten konnten Religionsgemeinschaften<br />

durch verbesserte Verkehrs- und Informationstechnologien vermehrt<br />

globale Netzwerke aufbauen. Religiöse Akteure, oft ausgebildet in<br />

mehreren Staaten, zirkulieren zwischen den transnationalen<br />

Kommuntitäten um sie zu betreuen. Moderne Kommunikationstechnologien<br />

spielen eine zunehmend wichtige Rolle, etwa websites für<br />

diverse <strong>Die</strong>nstleistungen oder chat rooms für religiöse Diskussionen.<br />

<strong>Die</strong>se globalen Bewegungen haben Rückwirkungen auf die Religion<br />

selbst, da beim Aufbau von Kommunitäten auf die rechtlichen<br />

Rahmenbedingungen in den Aufnahmeländern Bezug genommen<br />

und religiöse Praxen den nationalen Gegebenheiten angepasst werden<br />

müssen. Islamische Religionsgemeinschaften in Europa weisen eine<br />

Vielzahl von unterschiedlichen Orientierungen auf. Allein aufgrund<br />

der Diversitäten in den Herkunftsländern und den unterschiedlichen<br />

Bedingungen in den Aufnahmeländern haben MuslimInnen mehrere<br />

Optionen zur Religionsausübung (vgl Vertovec. 2001: 34ff.): Neben<br />

der Möglichkeit sekulär zu leben, können sie sozio-kulturellen<br />

Traditionen nachgehen ohne den religiösen Aspekt besonders zu<br />

betonen. Es können Kooperationen mit unterschiedlichen muslimischen<br />

Gruppen angestrebt werden, die die Rolle der Religion oder<br />

eine ethnisch-religiöse Orientierung hervorheben. Man kann religiöse<br />

Orientierungen allein durch moralisches Verhalten zum Ausdruck<br />

bringen oder eine ideologisch-politische Einstellung gegenüber dem<br />

offiziellen Islam in der Heimat, durch eine Verteidigungs- oder<br />

Oppositionshaltung einnehmen. Gläubige können versuchen intakte<br />

Strukturen zu (re)kreiren, homogenisierende Einstellungen vertreten,<br />

ökumenische Strukturen schaffen, spezifische religiöse Formen<br />

universalisieren oder eine kosmopolitische Einstellung vertreten, so<br />

Vertovec. Im europäischen Vergleich hat Österreich eine Sonder-<br />

Salon – Globalisierung<br />

13


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

stellung, da der Islam hier seit 1912 den Status einer<br />

Religionsgemeinschaft inne hat und 1979 als „Rechtsperson“<br />

vollständig anerkannt wurde. Etwa ein Drittel<br />

der ca. 350.000 MuslimInnen in Österreich stammen aus<br />

der Türkei. <strong>Die</strong> über 150 Moscheenvereine sowie zahlreiche<br />

Initiativen und Dachverbände spiegeln unterschiedliche<br />

Orientierungen und Herkunftsländer wider.<br />

Alleine bei der kleinen Anzahl von InformantInnen<br />

(zwölf Familien aus der Türkei, befragt 1997 und 2006)<br />

zeigen sich differenzierte religiöse Orientierungen und<br />

Transformationen.<br />

Bei Familie A war ein Wandel zu einem normativen Islam<br />

feststellbar. Vor einem Jahrzehnt war die Familie noch<br />

sehr türkeiorientier – aufgrund existenzieller Probleme<br />

kamen jährliche Familienurlaube in der Türkei nicht in<br />

Frage; auch hatte man keinen Besitz im Herkunftsland.<br />

Saudi-Arabien und die Teilnahme am Hajj steht nun im<br />

Zentrum der Reiseplanung der Eltern. <strong>Die</strong> Gespräche in<br />

dieser Familie konzentrierten sich häufig auf islamfeindliche<br />

Aussagen in der Öffentlichkeit. Beklagt wurden<br />

Stereotypisierungen und ein sozialer Ausschluss, der<br />

alle Familienmitglieder sehr belastete.<br />

Auch bei Familie B war ein Wandel in der Orientierung an<br />

der Türkei feststellbar. Es wurde nicht mehr in die<br />

Herkunftsregionen in Zentralanatolien investiert, sondern<br />

man orientierte sich an den Kinderwünschen und<br />

kaufte ein Sommerhaus am Meer. Trotz bestehender Türkeiorientiertheit<br />

sind die Familienmitglieder an Reisen<br />

nach Mekka interessiert, Frau B nahm im letzten Jahr<br />

zusammen mit Familie A am Hajj teil und plante im<br />

folgenden Jahr mit ihren sekulär eingestellten Kindern<br />

wieder daran teilzunehmen. Religion ist für die Familienmitglieder<br />

zunehmend ein kulturelles Identifikationsmerkmal,<br />

basierend auf den Vorschriften eines normativen<br />

Islams.<br />

Bei kurdischen Familien ist im letzten Jahrzehnt eine<br />

Neuorientierung feststellbar. Lange waren ethnopolitische<br />

Faktoren und politische Organisationen<br />

wichtig für ihre Identitätskonstruktionen, Religion<br />

spielte keine besondere Rolle. In den letzten Jahren<br />

gewann die religiöse Orientierung an Bedeutung für<br />

multiple Identitätskonstruktionen (von kurdischen<br />

SunnitInnen und AlevitInnen). <strong>Die</strong>se Entwicklung gipfelte<br />

in der Eröffnung einer kurdisch-sunnitischen Gebetsstätte<br />

– nach Vertovec also eine ethno-politische religiöse<br />

Orientierung. Bei einigen GesprächspartnerInnen wurde<br />

deutlich, welche Rolle den rechtlichen Rahmenbedingungen<br />

zukommt, um Religion zu praktizieren und sich<br />

im Residenzland „zu Hause“ fühlen zu können.<br />

<strong>Die</strong> gläubige Muslimin Frau C. kam als Schülerin aus<br />

dem Westen der Türkei nach Wien und konnte aufgrund<br />

14<br />

Salon – Globalisierung<br />

der Sprachproblematik nicht den von ihr gewünschten<br />

Schulerfolg erzielen, weshalb sie sich ausgeschlossen<br />

fühlte. Erst als sie die Möglichkeit hatte, als Kopftuchträgerin<br />

zu studieren – was in der Türkei nicht möglich<br />

gewesen wäre – und Kontakte zu vorurteilsfreien ÖsterreicherInnen<br />

aufzubauen, fühlte sie sich „ganz angekommen“<br />

und „zu Hause“. Sie wertet diese Möglichkeit als<br />

einen Beitrag zur Freiheit der muslimischen Frau.<br />

Frau H. gab an, aus einer sehr gläubigen Familie zu<br />

stammen, in der sich alle weiblichen Verwandten<br />

„bedecken“. Sie wurde nie von ihren Eltern dazu gezwungen,<br />

aber entfernte weibliche Verwandte übten<br />

soziale Kontrolle aus und forderten die Einhaltung von<br />

Kleidungsvorschriften. Frau H.s säkulare Einstellung<br />

wird von ihren Eltern akzeptiert und damit „entschuldigt“,<br />

dass sie ohne Eltern in die Türkei zurückgeschickt<br />

wurde um die Volksschule zu besuchen. Ihr „abweichendes“<br />

Verhalten wurde damit erklärt, dass sie unter<br />

der familiären Trennung in ihrer Kindheit gelitten hatte<br />

und man von ihr die Einhaltung der familiären Normen<br />

nicht mit Nachdruck einfordern könne. Für Frau H. war<br />

es von besonderer Bedeutung, dass ihr Freundeskreis<br />

multi-ethnisch und multi-religiös ist, ebenso für Frau K.<br />

Für Frau K ist es nicht die religiöse Praxis, sondern das<br />

Wissen um die religiösen Vorschriften und ihre „kulturelle“<br />

Vermittlerfunktion, die ihr Selbstverständnis ausmachen.<br />

Bei Integrationsprojekten in einem Gemeindebau<br />

kommt Frau K. eine besondere Rolle zu, da sie die<br />

Speisegebote und Kleidervorschriften kennt und diese<br />

Nicht-MuslimInnen vermitteln kann. Für sie hat Religion<br />

eher die Bedeutung einer sozio-kulturellen Orientierung:<br />

Als sie Probleme mit ihrem pubertierenden Sohn hatte,<br />

da er sich nicht respektvoll gegenüber älteren Personen<br />

und seinen Eltern verhielt, erklärte sie, dass sie es verabsäumt<br />

hätte ihn in den islamischen Religionsunterricht<br />

zu schicken, um dieses richtige Verhalten zu lernen.<br />

Weitere InterviewpartnerInnen vertraten säkuläre<br />

Einstellungen, bzw. meinten, dass der Glaube etwas<br />

Individuelles, wie auch eine Privatangelegenheit sei und<br />

Religion in einem demokratischen Land nicht überbewertet<br />

werden dürfe. Aufgrund der unterschiedlichen<br />

muslimischen Institutionen in Österreich sind transnationale<br />

religiöse Beziehungen für diese InformantInnen<br />

weniger von Bedeutung und waren eher auf<br />

den privaten Bereich beschränkt.<br />

Für demographisch kleinere Religionsgemeinschaften<br />

haben transnationale Verflechtungen hingegen eine<br />

besondere Relevanz. <strong>Die</strong> Herausbildung eines europaweiten<br />

Netzwerkes von türkischen und kurdischen<br />

AlevitInnen hat nicht allein zu einer Veränderung des


Selbstverständnisses in der Migration/Diaspora beigetragen,<br />

sondern einen transnationalen Raum entstehen<br />

lassen, der auf die alevitische Bewegung in der Heimat<br />

rückwirkt. So auch in Wien, wo es alevitische<br />

Vereinigungen gibt und ein cemhane (religiöse Stätte)<br />

geplant ist.<br />

Das Alevitentum – türkisch- wie kurdischsprachig<br />

– wird als die anatolische Variante des Schiismus<br />

gesehen, in den Elemente der islamischen Mystik und die<br />

Philosophie des Neuplatonismus eingeflossen sind. Das<br />

Alevitentum ist in sich sehr heterogen und wurde vor<br />

allem mündlich tradiert. Aufgrund der jahrhundertlangen<br />

Verfolgungen im Herkunftsland war es lange eine<br />

Geheimreligion – die Mitgliedschaft erfolgte über die<br />

patrilineare Abstammung. Jede/r Gläubige hat einen dede<br />

oder hoca (religiöser Würdenträger), den man mindestens<br />

einmal jährlich trifft. Es gibt in Mitteleuropa<br />

mittlerweile ein Netz von dedes, die ihre Gemeinden<br />

betreuen und zwischen den einzelnen Städten zirkulieren,<br />

jedoch stellen die in der Migration gegründeten<br />

Vereine eine gewisse Konkurrenz für die Autorität der<br />

religiösen Würdenträger dar (vgl. Sökefeld 2002).<br />

Seit Mitte der 1970er Jahre sind von christlichen<br />

Gruppierungen – infolge des Konflikts zwischen türkischem<br />

Militär und der kurdischen Widerstandsbewegungen<br />

– enorme Auswanderungs- und Fluchtwellen<br />

zu verzeichnen. Lebten Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

etwa 700.000 AssyrerInnen im Tur Abdin (SO-Türkei),<br />

sind es heute nur noch 1600 Personen. <strong>Die</strong> Bezeichnung<br />

Assyrer ist ein politischer Terminus, der Mitte des 19.<br />

Jahrhunderts durch die Entfaltung des Nationalgedankens<br />

unter den aramäisch sprechenden ChristInnen (d.h.<br />

syrisch-orthodoxen und chaldäischen ChristInnen)<br />

entstand. Aufgrund der Unmöglichkeit einer Remigration<br />

ist Religion und Glaube ein wesentlicher Bestandteil<br />

der Identitäten. Unterschiedliche Strategien in den<br />

Identitätskonstruktionen – religiös oder ethno-politisch<br />

orientiert – spiegeln sich auch in den Organisationen und<br />

Institutionen wider.<br />

In Österreich leben fast 7000 AssyrerInnen. Bereits von<br />

den ersten Flüchtlingen wurde eine syrisch-orthodoxe<br />

Kirche gegründet, eine weitere folgte in den 1990er<br />

Jahren. Eine andere Kirche wird hauptsächlich von<br />

Flüchtlinge aus dem Iran und Syrien besucht (syrischorthodoxe,<br />

chaldäische, armenische oder protestantische<br />

ChristInnen) deren Schicksal noch ungewiss ist. Hier<br />

werden religiöse Spaltungen, die lange Zeit in den<br />

Herkunftsländern eine Rolle spielten, überwunden. In<br />

kleinen ethnischen oder religiösen Gemeinschaften ist<br />

die Suche nach geeigneten HeiratspartnerInnen schwierig,<br />

wenn Wert auf eine intra-religiöse Eheschließung<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

gelegt wird. In den letzten Jahren sind Internetforen<br />

entstanden, über die HeiratspartnerInnen in den europäischen<br />

oder US-amerikanischen Diasporen gesucht<br />

werden. Zu diesem Trend meinte ein Informant, dass<br />

AssyrerInnen in Wien aus verschiedenen Ländern Westasiens<br />

stammen. <strong>Die</strong> erste Generation war multilingual,<br />

da es eine eigene Kultsprache und mehrere Verkehrssprachen<br />

gab. Durch die Migration ist diese Multilingualität<br />

nicht mehr gegeben, im Mittelpunkt steht vor<br />

allem die Sprache des Aufnahmelandes. <strong>Die</strong> verbindende<br />

Sprache im Internet ist Englisch, aber gerade in den<br />

unterschiedlichen Sprachkenntnissen liegt ein wesentliches<br />

Hindernis für die Schließung von transnationalen<br />

Ehen. �<br />

Dr. Maria Six-Hohenbalken ist wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

an der Forschungsstelle Sozialanthropologie, Zentrum<br />

Asienwissenschaften und Sozialanthropologie der ÖAW.<br />

Univ.-Lektorin am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie.<br />

Literatur<br />

Baumann, Gerd. Contesting culture: discourses of identity in multiethnic,<br />

London Cambridge University Press, 1996.<br />

Levitt, Peggy. Between God, Ethnicity, and Country: An Approach to<br />

the Study of Transnational Religion. In: WPTC - 01 - 13, 2001.<br />

Sökefeld, Martin. Alevi Dedes in the German Diaspora. The<br />

Transformation of a Religious Institution. In: Zeitschrift für<br />

Ethnologie 2002, 127. S. 163 - 186.<br />

Van der Veer, Peter. Nation and Migration. The Politics of Space in<br />

the South Asian Diaspora. Philadelphia: Univ. of Penn. Press, 1995.<br />

Van der Veer, Peter. Transnational Religion. In: WPTC - 01 - 18, 2001.<br />

Vertovec, Steven. Three meanings of ‚diaspora‘, exemplified among<br />

South Asian religions. Diaspora 7/2/1999<br />

online:<br />

http://www.transcomm.ox.ac.uk/working%20papers/diaspora.pdf,<br />

1.7.2005.<br />

Vertovec, Steven. Religion and Diaspora. In:WPTC- 01 - 01, 2001.<br />

WPTC: http://www.transcomm.ox.ac.uk/working_papers.htm<br />

Salon – Globalisierung<br />

15


16<br />

Flexible und mobiler werdende Lebensumstände schaffen ein neues<br />

Konzept von Identität<br />

von GERHARD JOST<br />

Flexibilisierung<br />

von Identitäten?<br />

Biografien unter globalisierten Verhältnissen<br />

Mit Globalisierung wird oft die<br />

Zunahme ungleicher Macht- und<br />

Verteilungsverhältnisse innerhalb und<br />

zwischen Ländern angesprochen:<br />

durch die Macht internationaler<br />

Unternehmenskonzerne und infolge<br />

neoliberaler Tendenzen werden sie nur<br />

unzulänglich reguliert. Globalisierung<br />

bedeutet jedoch genauso, dass ein<br />

größeres Potential an Mobilität besteht,<br />

das Biografien „strukturiert“. Mit<br />

solchen Tendenzen taucht die Frage<br />

auf, ob sich diese gesellschaftlichen<br />

Veränderungen in Prozessen der<br />

Identitätsbildung manifestieren.<br />

Salon – Globalisierung<br />

In industrialisierten Ländern zeigen Lebensgeschichten ein<br />

widersprüchliches Bild. Einerseits wurden Biografien durch<br />

differenzierte Arbeitsteilung, höhere Lebenserwartung und<br />

Vorsorgesysteme langfristiger planbar. Biografische Arbeit und<br />

Lebensplanung wurden zur Ressource, um sich innerhalb von<br />

Unwägbarkeiten sowie ausdifferenzierten sozialen und kulturellen<br />

Welten zu orientieren. Andererseits nehmen nun Risiken der Planund<br />

Berechenbarkeit des Lebenslaufs in diesen Ländern zu. Bereits für<br />

Angehörige der Mittelschicht entsteht ein beschleunigter Wandel, sei<br />

es durch neue Formen der Arbeitsorganisation, plurale Erwartungen<br />

oder durch flexible Arbeitszeiten und -orte. Solche Veränderungen<br />

könnten potentiell neue biografische Ordnungen nach sich ziehen.<br />

Identität als Notwendigkeit der „Moderne“<br />

Programmatisch lässt sich zunächst behaupten, dass „moderne“<br />

Gesellschaften stabile, unverrückbare Identitäten benötigen, die über<br />

verschiedene Lebensphasen und Lebensbereiche hinweg konsistent<br />

und kohärent sind. Sie sind bedeutend, weil sie als Planungsinstanz<br />

fungieren sowie die Gestaltung von Interaktionen in multiplen<br />

Lebenszusammenhängen anleiten. Ein integriertes "Ich", verstanden<br />

als Syntheseleistungen aus verschiedenen Erwartungshorizonten, ist<br />

handlungsfähig; ein dezentriertes hingegen birgt Symptome wie<br />

Identitätsdiffusion, Depersonalisation oder psychotische Subjektstrukturen<br />

in sich, aus denen soziale und gesundheitliche Probleme<br />

resultieren können. Zu verweisen ist auf die negativen psychischen<br />

Folgen fragmentierter Biografien, die auch in Form eines narzisstischindividualistischen<br />

Rückzugs auftreten können.<br />

Trotz der weitläufigen Verwendung des Begriffes ist Identität – ausgehend<br />

von Erikson (1966) – als Einheit zu verstehen. Erfahrungen<br />

werden durch einen selbstbezüglichen, reflexiv-synthetischen Prozess<br />

integriert. Gelungene Identitätsbildung bedeutet dann, dass sich die<br />

Struktur des Selbstausdrucks bzw. der Erfahrungen über zeitliche und<br />

räumliche Bereiche hinweg nicht grundlegend verändert. Kindheit<br />

und Jugend gelten als essentielle (Aus-) Bildungsphasen, in welcher<br />

der Kern der Identität festgelegt wird. Danach sollte sich eine relativ<br />

stabile Persönlichkeitsstruktur eingestellt haben, die auf Änderungen<br />

nur peripher anspricht. Teils werden jedoch auch die transformativen,


dynamischen Komponenten im Identitätskonzept stärker<br />

hervorgehoben (vgl. Keupp u.a. 1999).<br />

Identität wird in der Regel mit Bezug auf soziale<br />

Gruppen und Institutionen reflektiert. So wird von<br />

kulturellen, ethnischen, religiösen, beruflichen oder<br />

sozialen Identitäten gesprochen, um die Disposition<br />

eines Subjekts als Mitglied einer sozialen Einheit<br />

beschreiben zu können. Identität entsteht jedoch nicht<br />

ausschließlich durch die Übernahme der Perspektive<br />

„signifikanter Anderer“ („Me“), sondern wird mit den<br />

spontanen, kreativen Bedürfnissen („I“) balanciert und<br />

vermittelt somit zwischen Gesellschaft und Subjekt.<br />

Einflüsse durch „Globalisierung“<br />

Unter den Bedingungen der Globalisierung, stellt sich<br />

jedoch die Frage, inwieweit die Ausbildung einer<br />

konsistenten und kohärenten Identität heutzutage<br />

überhaupt noch möglich ist.<br />

Ein Merkmal der Globalisierung ist die zunehmende<br />

geografische und soziale Mobilität. Kommunikationsprozesse<br />

erfolgen heute über weite Zeit-Raum-Spannen,<br />

sodass sie nicht mehr vorrangig in regionalen Partikularitäten<br />

stattfinden. Dazu tragen international handelnde<br />

Unternehmen genauso bei wie neue Kommunikations-<br />

und Informationstechnologien. Mit dem tendenziellen<br />

Aufweichen der Normierungen lokaler bzw.<br />

nationaler Kollektive, entstehen nicht nur neue Handlungsfelder<br />

und Entwicklungsoptionen. Auch soziale<br />

Kosten sind mit dieser Entwicklung verbunden, die ein<br />

Gleichgewicht des familiären Umfelds und des Berufs<br />

erschweren.<br />

Statistiken über Binnen- und Zuwanderungen, über<br />

Arbeit (diskontinuierliche Berufsverläufe und Arbeitslosigkeit),<br />

sozialen Auf- und Abstieg (intergenerationelle<br />

Mobilität), Partnerschaft (Eheschließungen und Scheidungen)<br />

oder Parteienbindungen zeigen eine Zunahme<br />

von Mobilitätsprozessen (vgl. Preglau 1998: 363f.). <strong>Die</strong><br />

Internationalisierung von Betrieben sowie die<br />

Entstehung supranationaler Verbände und Non-Profit-<br />

Organisationen tragen zu verstärkter Mobilität bei. <strong>Die</strong>se<br />

wird wiederum dadurch gefördert, dass der lebenslange<br />

Verbleib in einem Beruf oder Betrieb weniger wahrscheinlich<br />

ist als in früheren Zeiten. Für Diskontinuitäten<br />

sorgen aber auch Entwicklungen innerhalb von Organisationen:<br />

Der Grad starrer und zentralisierter Führung<br />

hat zugunsten flacher Hierarchien und antiautoritäre<br />

Verhaltensmuster abgenommen. Dadurch werden Tätigkeitsfelder<br />

von Mitarbeitern wandelbarer. Auch neue<br />

atypische Formen von Arbeitsverhältnissen abseits der<br />

Normalarbeit, seien es Werkverträge durch outsourcing,<br />

neue Formen abhängiger (Schein-) Selbstständigkeit oder<br />

Telearbeit, genauso wie die Einführung neuer Arbeitszeitformen,<br />

bewirken neue soziale Ordnungen. Aber die<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Herauslösung aus herkömmlichen Arrangements unter<br />

neuen globalisierten Bedingungen ist mit Folgewirkungen<br />

verbunden. So verschärft sich bereits bei<br />

temporären Migrationen die Frage der Integration von<br />

Familie und Beruf, die Gestaltung intergenerationeller<br />

Beziehungen und generell die Bewältigung von<br />

Unsicherheiten eines neuen Umfeldes.<br />

Globalisierung und die Entwicklung<br />

von Biografien<br />

Eine These geht nun dahin, dass damit zunehmend nicht<br />

nur die Möglichkeit, sondern ein Zwang zur eigenständigen<br />

biografischen Arbeit entsteht (Beck u.a. 2003:<br />

10f.). Identität ist zwar weiterhin institutionell gebunden,<br />

doch stärker selbst zu organisieren. Noch weiter geht die<br />

These, wenn der „flexible Mensch“ als Resultat des<br />

neuen, globalen Kapitalismus konstatiert wird (vgl.<br />

Sennett 1998). Flexible Arbeitsmärkte und Organisationen,<br />

so die Ausführungen, bewirken einen Drift von<br />

Personen. Damit ist ein "Dahintreiben" gemeint, das als<br />

Gegensatz zur Kontrolle über die eigene Biografie<br />

angesprochen wird und im Kontext des Lebens mit<br />

Unsicherheit steht. Der Einzelne hält sich Optionen offen<br />

und integriert sich nur zeitlich begrenzt in sein soziales<br />

Feld. Es etabliert sich eine Kultur der Kurzfristigkeit, in<br />

der die Gegenwart bedeutender scheint, als Vergangenes<br />

sowie Zukünftiges. <strong>Die</strong> permanente Präsenz von Wandel<br />

und die damit verbundenen Ungewissheiten manifestieren<br />

sich in einer Kultur der Äußerlichkeit. Es besteht<br />

wenig Zeit, um Kontinuität und Vertrauen aufzubauen.<br />

Bindungen zu einem Betrieb werden etwa durch<br />

temporäre, professionelle Loyalitäten und durch eine<br />

flexible Leistungsbereitschaft abgelöst, wodurch das<br />

Individuum viel stärker mit anonymen Systemen<br />

konfrontiert ist. Es entsteht eine neue Form der<br />

Abstumpfung, die nun nicht mehr nur durch Routinetätigkeiten<br />

z.B. des Arbeiters in der Fabrik und<br />

technische Rationalität, sondern vor allem durch<br />

Mobilität und Flexibilität gekennzeichnet ist. Früher<br />

waren die Handlungsoptionen insbesondere durch das<br />

Normalarbeitsverhältnis und durch institutionelle<br />

Vorgaben beschränkt. Geringere Wahlmöglichkeiten<br />

bedeutete auch eine Begrenzung in sozialen, beruflichen<br />

und kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten. Unter<br />

Bedingungen der Entgrenzung regionaler und sozialer<br />

Einheiten wachsen zwar die Handlungsmöglichkeiten,<br />

jedoch nicht selbstverständlich auch die Autonomie.<br />

Folge dieser Entwicklungen ist, dass sich einzelne<br />

Fragmente nicht mehr zu einer linearen Lebensgeschichte<br />

bündeln lassen und sozialen Vorgängen die<br />

Innerlichkeit fehlt.<br />

Allerdings können Identitäten, selbst unter einer<br />

deregulierten Dynamik beschleunigten Wandels, nicht<br />

Salon – Globalisierung<br />

17


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

nur Momentaufnahmen sein und beliebig transformiert<br />

werden. Fortgeschrittene Flexibilität und Komplexität<br />

bedeutet im Prinzip noch nicht, dass die Konstruktion<br />

biografischer Sinnzusammenhänge nicht mehr notwendig<br />

wäre. Individuen benötigen aus gesellschaftlichen<br />

und individuellen Gründen eine Biografie, die ihrem<br />

Leben einen Sinn verleiht und an der sich Interaktionspartner<br />

orientieren können. Unumstritten ist<br />

daher, dass selbst unter globalisierten Bedingungen (der<br />

Postmoderne) ein biografisches Orientierungsmuster<br />

benötigt wird, d.h. Erfahrungen in irgendeiner Form<br />

geordnet sind. <strong>Die</strong> dabei entstehenden biografischen<br />

Strukturen sind veränderbar und werden anlässlich<br />

bedeutender Lebensereignisse überarbeitet. Soziologische<br />

Biografieforschung, die weder zu (starren) Identitätsvorstellungen<br />

noch zu postmodernen Konzepten wie<br />

jenem des „flexiblen Selbst“ tendiert, verweist stattdessen<br />

auf die Bedeutung von erzählten Biografien, die<br />

auch als narrative Identitäten (vgl. Lucius-Hoehne/<br />

Deppermann 2002) verstanden werden können. Mit<br />

ihnen kann der lebensgeschichtliche Prozess des<br />

Werdens fokussiert werden (vgl. Rosenthal 1999: 22).<br />

Gleichzeitig nimmt ein Konzept biografischer Strukturierung<br />

Abstand von der Normativität des Identitätskonzepts,<br />

welches auf einen Soll-Zustand des<br />

Individuums verweist (vgl. Fischer-Rosenthal 2000:<br />

227f.).<br />

Biografische Studien zu einzelnen Aspekten der<br />

Globalisierung beschäftigen sich dann weniger mit der<br />

Frage, inwieweit Biografien aufgrund von Fragmentierungen<br />

kohärent oder flexibel sind, sondern gehen<br />

beispielsweise auf die Bedeutung von Ethnizität und<br />

regionalen Handlungs- und Wissensstrukturen für die<br />

Gestaltung von lebensgeschichtlichen und sozialintegrativen<br />

Prozessen ein (vgl. Apitzsch 1999). Dabei<br />

werden auch Transformationsprozesse von Traditionalität<br />

in der globalen Peripherie untersucht (vgl. u.a.:<br />

Bosse 1999). Biografien von MigrantInnen stellen<br />

ohnehin ein wichtiges Thema der Biografieforschung<br />

dar, beginnend mit der klassischen Studie über polnische<br />

Bauern in Amerika (Thomas/Znaniencki 1958). In diesem<br />

Kontext sind auch die durch Globalisierungstendenzen<br />

getragenen Transmigrationen von Interesse, die durch<br />

professions- oder karrierebedingte Wechsel zwischen<br />

Heimatland und fremden Ländern entstehen. Analysiert<br />

werden unter anderem Biografien und Muster der<br />

Lebensführung von MitarbeiterInnen humanitärer<br />

NPO's, EntwicklungshelferInnen, WissenschaftlerInnen,<br />

oder Finanzbeschäftigen (vgl. Kreutzer/Roth 2006). �<br />

18<br />

Salon – Globalisierung<br />

Gerhard Jost ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut<br />

für Soziologie und empirische Sozialforschung an der WU.<br />

Forschungs- & Lehrschwerpunkte: Biografienforschung,<br />

Methoden der qualitativen Sozialfoschung, Migrationssoziologie,<br />

familiensoziologische Fragestellungen sowie Arbeit<br />

& Beruf.<br />

Literatur<br />

Apitzsch, Ursula (Hg.). Migration und Traditionsbildung. Opladen,<br />

1999.<br />

Beck, Ulrich /Vossenkuhl, Wilhelm/Rautert, Timm: Eigenes Leben.<br />

Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben. München,<br />

1995.<br />

Bosse, Hans. Zur Interdependenz individueller und kollektiver<br />

Sinnbildungsprozesse. Religiöse Erfahrungen jugendlicher<br />

Bildungsmigranten aus Papua Neuguinea. In: Apitzsch, Ursula<br />

(Hg.): a.a.O. 1999. S. 244-272.<br />

Erikson, Erik H. Identität und Lebenszyklus. Frankfurt am Main,<br />

1966.<br />

Fischer-Rosenthal, Wolfram. Melancholie der Identität und<br />

dezentrierte biografische Selbstbeschreibung. Anmerkungen zu<br />

einem langen Abschied aus der selbstverschuldeten Zentriertheit<br />

des Subjekts. In: Hoerning, E. M. (Hg.): Biografische Sozialisation.<br />

Stuttgart, 2000. S. 227-255.<br />

Keupp, Heiner/Ahbe, Thomas/Gmür, Wolfgang/Höfer, Renate/<br />

Mitzscherlich, Beate/Kraus, Wolfgang/Straus, Florian. Identitätskonstruktionen.<br />

Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne.<br />

Reinbek bei Hamburg, 1999.<br />

Kreutzer, Florian/Roth, Silke (Hg.). Transnationale Karrieren.<br />

Biografien, Lebensführung und Mobilität, 2006.<br />

Lucius-Höhne, Gabriele/Deppermann, Arnulf. Rekonstruktion<br />

narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer<br />

Interviews. Opladen, 2002.<br />

Preglau, Max. Postmodernisierung des Selbst? Versuch einer<br />

theoretischen und empirischen Annäherung. In: Preglau, M./Richter<br />

R. (Hg.): Postmodernes Österreich? Konturen des Wandels in<br />

Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur. Wien, 1998. S. 353-371.<br />

Rosenthal, Gabriele. Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt<br />

und Struktur biografischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt/New<br />

York, 1995.<br />

Sennett, Richard. Der flexible Mensch. Berlin, 1998.<br />

Thomas, William I./Znaniencki, Florian. The Polish Peasant in Europe<br />

and America. New York, 1958.


Kultur – praktisch?<br />

Sonja Windmüller, Saskia Frank (Hg.): Normieren,<br />

Standardisieren, Vereinheitlichen. Marburg, Hessische<br />

Blätter für Volks- und Kulturforschung, Jonas Verlag,<br />

2005, 194 Seiten, s/w-Abb.<br />

<strong>Die</strong> Hessischen Blätter legen zum Phänomen der Normierung<br />

einen Konzeptband vor. „Hat sich das ursprünglich<br />

technisch-ökonomische Phänomen doch längst in<br />

nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche ausgeweitet<br />

– Normierung ist zu einem zentralen Kulturprinzip<br />

avanciert“, schreiben die Herausgeberinnen in der<br />

Einleitung.<br />

<strong>Die</strong>sem Kulturprinzip spüren die Aufsätze des Bandes<br />

nach. Elke Gaugele untersucht in ihrem Text zum Avatar<br />

Körpervermessungen. Der Avatar ist eine virtuelle Puppe<br />

mit genauen Körpermaßen. „Über einen Avatar kann<br />

sowohl im Internet als auch in Modegeschäften Kleidung<br />

anprobiert und konsumiert werden.“ Gaugele kommt zu<br />

dem Schluss, dass sich darüber Körperbilder und -konstruktionen<br />

verbreiten, da in Großbritannien der Norm-<br />

Körper errechnet und statistisch erfasst wird.<br />

Anthropologie – theoretisch?<br />

Fernand Kreff. Grundkonzepte der Sozial- und<br />

Kulturanthropologie in der Globalisierungsdebatte.<br />

Berlin. <strong>Die</strong>trich Reimer Verlag 2003 233 S., 29,90 €<br />

<strong>Die</strong> Studie untersucht die Bedeutung der Debatte um<br />

Globalisierung für die Kultur- und Sozialanthropologie.<br />

Sie verfolgt dabei zwei Ebenen: <strong>Die</strong> fachinterne Auseinandersetzung<br />

mit den Bedingungen der Globalisierung<br />

hat zum einen die Entwicklung neuer Konzepte oder<br />

Modelle zur Interpretation und Erforschung der gegenwärtigen<br />

Situation herausgefordert. Neben den Konzeptionen<br />

von Kultur und Gesellschaft wurde insbesondere<br />

die Verortung soziokultureller Prozesse innerhalb eines<br />

globalen sozio-ökonomischen und politischen Rahmens<br />

zu einer der wichtigsten Problemstellungen für die<br />

Forschung. Damit wurden aber zugleich auch bis dahin<br />

von einem breiten Konsens getragene Grundkonzepte<br />

des Fachs überhaupt fragwürdig. Und nicht zuletzt sah<br />

sich die Anthropologie gezwungen, gegenüber anderen<br />

Fächern wie etwa den cultural studies, den postcolonial<br />

studies oder der Kultursoziologie Position zu beziehen.<br />

Ziel ist es, den LeserInnen einen Leitfaden entlang der<br />

Diskussionen und Neuansätze von Theorie und methodischem<br />

Zugang in die Hand zu geben: die neuen<br />

Forschungsobjekte und -felder werden dargestellt;<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Siegfried Becker untersucht das „Gestalten von Tieren<br />

nach den Bedürfnissen der Menschen“ anhand der<br />

Tierzucht. Hier werden weltweite Standards erstellt, wie<br />

Tiere auszusehen haben. Für Legehennen gibt es etwa<br />

nur wenige Basiszuchtbetriebe, „eine Globalisierung des<br />

Marktes, die zu einer extremen Verengung der genetischen<br />

Potentiale geführt hat.“<br />

Ähnlichen Globalisierungstendenzen spürt Manuel<br />

Trummer mit seinem Aufsatz zur "McKropolis-<br />

Revolution" nach. Es wird dabei untersucht, wie eine<br />

Nobilitierung schnellen Essens bei McDonalds oder<br />

Burger King angestrebt wird. Das liegt daran, dass es zu<br />

einer „nahezu kultischen Verehrung einzelner Lebensmittel,<br />

vor allem des Döners gekommen“ ist. Denn „die<br />

Perzeption der Kulturpraxis Standardisierung seitens<br />

des Konsumenten ist im Bereich der Ernährung überwiegend<br />

ins Negative gekippt.“<br />

Entstanden ist somit ein sehr fundierter Konzeptband,<br />

der das Phänomen Globalisierung anhand konkreter<br />

Beispiele untersucht. �<br />

rezensiert von Malte Borsdorf<br />

Probleme und Grenzen der neuen Konzepte ausgelotet.<br />

<strong>Die</strong> Auswahl der im Buch behandelten TheoretikerInnen<br />

aus Sozial- und Kulturanthropologie orientiert sich<br />

hauptsächlich daran, inwieweit diese ein ausgearbeitetes<br />

Modell zur Analyse soziokultureller Neupositionierungen<br />

im globalen Rahmen liefern. Dabei wurde die Darstellung<br />

eines möglichst breiten Spektrums an theoretischen<br />

Denktraditionen angestrebt.<br />

<strong>Die</strong> Präsentation der Ansätze erfolgt nicht nur im Kontext<br />

des Gesamtwerks der einzelnen AutorInnen, sondern<br />

berücksichtigt darüber hinaus den jeweiligen<br />

Diskurszusammenhang. Besonderes Gewicht liegt daher<br />

auf der theoriegeschichtlichen Verortung und gegenseitigen<br />

Anknüpfung bzw. Abgrenzung der besprochenen<br />

Modelle. In den zwischengestellten Kommentaren werden<br />

die einzelnen Modellbildungen zudem im Kontext<br />

anderer Fächer – etwa der Philosophie – beleuchtet.<br />

Das Buch bietet somit einen Einstieg in die anhaltenden<br />

Diskussionen um Globalisierung und führt über die<br />

kritische Reflexion der Disziplin selbst ins Zentrum der<br />

aktuellen sozial- und kulturanthropologischen Wissensproduktion.<br />

�<br />

präsentiert von Fernand Kreff<br />

Buchrezension/-präsentation<br />

19


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Einsame Weltmacht<br />

Raimund Löw. Einsame Weltmacht. <strong>Die</strong> USA im<br />

Abseits. Ecowin Verlag 2007 288 S., 23.60 EUR.<br />

ISBN 103902404477.<br />

Der Historiker und Journalist Raimund Löw arbeitete ab<br />

1988 als ORF-Korrespondent in Washington und<br />

Moskau, war danach Ressortchef Ausland-EU in der<br />

ZiB2, und bis August 2007 Leiter des ORF-Büros in Washington.<br />

Zu seinen Interview-Partnern zählten unter<br />

anderem Bill Clinton, George W. Bush, Arnold Schwarzenegger,<br />

Michail Gorbatschow, Tony Blair und Gerhard<br />

Schröder. Er wurde 2007 für seine Reportagen und<br />

Publikationen zu zeitgeschichtlichen Fragen und<br />

Themen der internationalen Politik zum Außenpolitischen<br />

Journalisten des Jahres gewählt.<br />

Das Buch Einsame Weltmacht beschäftigt sich hauptsächlich<br />

mit den USA nach den Anschlägen vom 11.<br />

September 2001. <strong>Die</strong> betrachteten Themen beschränken<br />

sich allerdings nicht auf den Terrorismus, sondern reichen<br />

von Zensur und dem USA Patriot Act, den Kriegen<br />

in Afghanistan und dem Irak (inkl. Massenvernichtungswaffen,<br />

den erfundenen Heldengeschichten<br />

und Ungereimtheiten bei der Vergabe von gut bezahlten<br />

Aufträgen), über Guantánamo zu den Folterskandalen<br />

und deren Hintergründen.<br />

Hinterm Zaun und davor<br />

Gmeinsam8ten, Heiligendamm 2007. Dokumentation.<br />

Sibylle Kappes. Deutschland. 2008.<br />

Schon im Vorfeld löste der G8-Gipfel Kontroversen im<br />

Kulturbetrieb aus. Der Abriss des unter Schutz stehenden<br />

Gebäudekomplexes „Perlenkette“ mit der Begründung,<br />

dass die PolitikerInnen dadurch eine bessere Aussicht<br />

auf die Ostsee haben würden, sorgte für Entrüstung.<br />

In Berlin entsteht derzeit ein Film mit dem<br />

Arbeitstitel Gmeinsam8ten, Heiligendamm 2007, der<br />

2008 an ausgewählten Orten zu sehen sein wird. <strong>Die</strong><br />

Regisseurin Sibylle Kappes sucht dafür einen künstlerischen<br />

Zugang. Gemeinsam mit VideoaktivistenInnen<br />

und professionellen Medienschaffenden dokumentiert<br />

sie die Geschichte der globalisierungskritischen Bewegung<br />

von Seattle bis Heiligendamm. Dargestellt wird die<br />

Entscheidung, aktiv zu werden oder nicht. Dazu<br />

sammelt der Film Informationen, die die offizielle Seite<br />

und die Alternativen immer weiter auseinander treiben.<br />

Denn im Diskurs über Globalisierung, so Kappes, wird<br />

nicht versucht Probleme anzusprechen um sie zu lösen,<br />

sondern nur, wie die Probleme der so genannten<br />

20<br />

Buch-/Filmrezension<br />

Ein Kapitel des Buches ist dem Bundesstaat Kalifornien<br />

gewidmet, mit Schwerpunkt auf Arnold Schwarzenegger<br />

als Gouverneur. Weitere Themen, von denen Löw<br />

berichtet, sind etwa die wandelnde Einstellung zum<br />

Umweltschutz, die Schere zwischen Arm und Reich, die<br />

Thematik der illegalen Einwanderer, das Gesundheitssystem<br />

und die Todesstrafe. Auch das Thema<br />

Religion kommt unter der Überschrift „Krieg um Gott“<br />

nicht zu kurz.<br />

<strong>Die</strong> Mischung von objektiver, unaufgeregter Erzählweise<br />

und persönlichen Erfahrungsberichten macht das Buch<br />

besonders lesenswert. So finden sich nach jedem Kapitel<br />

Quellenangaben und auch die Auswahl der Interview-<br />

Partner ist keineswegs einseitig. <strong>Die</strong> Schilderungen vom<br />

Dinner der White House Correspondents Association mit<br />

Präsident Bush und den Pressekonferenzen im White<br />

House briefing room lockern das Buch auf, und geben<br />

dem Leser das Gefühl dabei zu sein. Auch die Berichte<br />

über die Aufenthalte des Autors in Guantánamo und im<br />

Pentagon sind atmosphärisch geschrieben und sehr<br />

spannend zu lesen. Raimund Löw kann zurecht als<br />

„Augenzeuge der Weltpolitik“ bezeichnet werden.<br />

rezensiert von Markus Chvojka<br />

„Dritten Welt“ und der Umweltverschmutzung<br />

weggesperrt werden können. Symbolisch dafür steht der<br />

Aufbau des Zauns um Heiligendamm, den die Bilder des<br />

Kameramanns Peter Przyblinski dokumentieren. Ein<br />

Zaun, der den Ort zu einer Festung werden lässt.<br />

<strong>Die</strong> dialogischen Textpassagen des Films gliedern sich<br />

inhaltlich in drei Abschnitte: Zum einen die philosophisch-ethische<br />

Grundlage, die von einer Auswahl altgriechischer<br />

Textzitate zur Demokratie- und Staatstheorie<br />

ausgeht. Daraufhin geht der Film anhand des<br />

Beispiels einer Freihandelszone über zur Lebensrealität<br />

in kapitalistischen Systemen. Daraus ergibt sich als Drittes<br />

die Beschreibung des durch den Kapitalismus ausgelösten<br />

Akts zivilen Ungehorsams, der früheren Blockaden<br />

und der aus dieser Handlung folgenden Erfahrung<br />

von Inhaftierung und gewaltsamen Übergriffen, wie etwa<br />

in Genua 1998.<br />

Der Film wird im Sommersemester 2008 unter anderem<br />

am Institut für Europäische Ethnologie und im Schikane<br />

der-Kino gezeigt werden.<br />

rezensiert von Urs Malte Borsdorf


Multinationale Konzerne auf<br />

Psychiaters Couch<br />

The Cooperation. Dokumentation. Jennifer Abbott und<br />

Mark Achbar. Kanada. 2004. 145 Minuten.<br />

www.thecorporation.com<br />

<strong>Die</strong> kanadische Dokumentation The Corporation, die auf<br />

dem Sachbuch Das Ende der Konzerne. <strong>Die</strong> selbstzerstörerische<br />

Kraft der Unternehmen von Joel Bakan<br />

beruht, beschäftigt sich mit den Schattenseiten des<br />

Kapitalismus. Besonders hervorzuheben ist, dass neben<br />

AktivistInnen und GlobalisierungskritikerInnen wie<br />

Michael Moore oder Naomi Klein auch Personen der<br />

Geschäftsführung von z.B. Goodyear Tire und Pfizer unter<br />

den 43 Interviewten zu finden sind. Allen SprecherInnen<br />

wurde die Möglichkeit gegeben das Gesagte erneut<br />

aufzunehmen, falls sie mit dem Ergebnis unzufrieden<br />

seien, wodurch sich die Dokumentation stark von denen<br />

Moores, die polemische Tendenzen aufweisen, abhebt.<br />

Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass The<br />

Corporation gratis verfügbar ist und ursprünglich als<br />

dreiteilige Fernsehdoku ausgestrahlt wurde, also nicht<br />

aus kommerziellen Gründen vertrieben wird.<br />

Seit dem Ende des Bürgerkriegs in den USA 1865 gilt eine<br />

Kapitalgesellschaft als juristische Person. <strong>Die</strong> Dokumentation<br />

wirft die Frage auf, welche Wesenszüge diese<br />

„Person“ hat. Durch Fallbeispiele wird aufgezeigt, dass<br />

vieles, z.B. wiederholtes Lügen, die rücksichtslose<br />

Missachtung der Sicherheit anderer oder die Verletzung<br />

gesetzlicher Vorschriften, auf eine antisoziale Persönlichkeitsstörung<br />

hinweist (der veraltete Begriff für diese<br />

Beschreibung lautet „Psychopath“). Da eine Aktiengesellschaft<br />

verpflichtet ist, die finanziellen Interessen<br />

ihrer Aktionäre über alles zu stellen, scheint sie kein<br />

Moralempfinden zu haben. <strong>Die</strong> gesetzliche (relativ<br />

geringe) Geld-Strafe für irreführende Werbung oder<br />

Umweltschäden zu bezahlen ist (und das ist selbstverständlich)<br />

im Budget der großen Konzerne<br />

eingeplant. Oft wird abgewogen, ob es billiger ist sich an<br />

ein Gesetz zu halten oder es zu brechen. <strong>Die</strong> Reporter<br />

Jane Akre und Steve Wilson, die sich ausführlich mit<br />

Posilac, einem Mittel der Firma Monsanto zur Steigerung<br />

der Milchproduktion, beschäftigten, wurden beispielsweise<br />

gefeuert, weil sie sich weigerten die von FOX<br />

vorgeschriebenen Änderungen in ihrem Beitrag zu<br />

akzeptieren. Ein besonders plakatives Beispiel für das<br />

reine Profitdenken der Konzerne gibt Lucy Hughes, eine<br />

Mitarbeiterin der Mediaagentur Initiative Media. Ihrer<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Meinung nach müssen Kinder schon früh auf<br />

konsumorientiertes Verhalten konditioniert werden,<br />

damit ihnen die unterschiedlichen Firmen später schon<br />

vertraut sind. „You can manipulate consumers into<br />

wanting, and therefore buying, your products. It's a<br />

game.“ <strong>Die</strong> Frage, ob die Manipulation von Kindern<br />

moralisch vertretbar ist, stellt sich für Hughes gar nicht.<br />

Profitgierige Unternehmen beeinflussen neben den<br />

Medien, unserer Gesundheit und unserer Umwelt, aber<br />

auch die Politik. So verweist The Corporation z.B. darauf,<br />

dass Großkonzerne einen wesentlichen Beitrag zum<br />

Aufstieg des Faschismus in Europa leisteten. Noam<br />

Chomsky sagt allerdings: „When you look at a corporation,<br />

just like when you look at a slave owner, you want<br />

to distinguish between the institution and the individual.“<br />

Besonders deutlich verkörpert das Sir Mark<br />

Moody-Stuart, der ehemalige Vorsitzende von Royal<br />

Dutch Shell. Als DemonstrantInnen ein Banner mit der<br />

Aufschrift „Murderer“ auf sein Haus hängen wollen,<br />

beginnt er eine mehrstündige Diskussion mit ihnen, um<br />

zu beweisen, dass auch er sich Gedanken über die<br />

Umwelt und Menschenrechte macht. Wie das damit<br />

vereinbar ist, dass in vielen Ländern, in denen Öl<br />

gefördert wird, Royal Dutch Shell an Umweltverschmutzung<br />

und Unruhen mitschuldig ist und wer<br />

letztlich die Verantwortung trägt bleibt in der Dokumentation<br />

unbeantwortet. Auch wenn der Einzelne machtlos<br />

gegenüber diesem monströsen System wirkt, soll den<br />

Menschen aber auch Hoffnung gegeben werden, dass<br />

Veränderungen möglich sind. Oscar Olivera, der sich<br />

maßgeblich an Demonstrationen gegen die erzwungene<br />

Privatisierung der Wasserversorgung beteiligte, sagt<br />

diesbezüglich gegen Ende der Dokumentation „Unterschätze<br />

nie die Macht des Volkes! Vereint ist es<br />

unbesiegbar!“<br />

Fazit: Eine brisante und mit mehreren Publikumspreisen<br />

(sowie auch dem Sundance-Filmpreis) ausgezeichnete<br />

Dokumentation, die auch 3 Jahre nach ihrem Erscheinen<br />

keineswegs an Aktualität verloren hat. Ein globalisierungskritisches<br />

Fundstück, das interessante Fragen<br />

aufwirft.<br />

rezensiert von Lydia Garnitschnig<br />

Filmrezension<br />

21


Betrachtungen über Selbst- und Fremdzuschreibungen<br />

im österreichischen Fußballsport<br />

von NIKO REINBERG<br />

Wir und die Anderen<br />

Mentalitätskonstrukte im Männerfußball<br />

Mit seinen regional verschiedenen<br />

Spielweisen und den ebenso<br />

unterschiedlichen sportlichen Erfolgen<br />

einzelner Nationen bietet der<br />

Fußballsport ideale Vorrausetzungen<br />

für die Zuschreibung von Fremdem<br />

und Eigenem. In diesem Sinne ist der<br />

Fußballsport an der Entstehung<br />

bestimmter Bilder nationaler sowie<br />

regionaler kollektiver Identitäten<br />

beteiligt. Geht man allerdings nach<br />

den Spielregeln, so ist das<br />

Fußballspielen auf der ganzen Welt<br />

gleich. Trotzdem existieren<br />

verschiedene Stile und es treffen<br />

Menschen unterschiedlichster<br />

Herkunft, Sprache, sozialer Schicht<br />

und Hautfarbe in einem Team<br />

zusammen. Dabei werden Ansichten<br />

über die Menschen, mit denen oder<br />

gegen die gespielt wird, verfestigt,<br />

neu geformt oder revidiert. <strong>Die</strong><br />

vorliegende Kolumne beschäftigt sich<br />

mit eben diesen Ansichten und den<br />

damit verbundenen Erfahrungen von<br />

Männern, die, so wie der Autor selbst,<br />

in kleinen Vereinen Fußball spielen.<br />

„<strong>Die</strong> ausländischen Kinder turnen, uns’re<br />

österreichischen Kinder sitzen mit´m<br />

Fresspackl auf der Bank.“ (Zitat eines<br />

österreichischen Hobbyfußballers).<br />

22 Kolumne<br />

Im Zusammenhang mit dem argentinischen Fußball beschreibt<br />

der Sozialanthropologe Eduardo Archetti zwei große<br />

idealtypische Richtungen des Sportes. Zum einen den englischen<br />

Stil, der auf Attributen wie kollektive Disziplin, Mut und<br />

Willenskraft aufbaut, zum anderen einen criollo-Stil, der das<br />

Künstlerische und Improvisierende in den Vordergrund stellt. Der<br />

Autor beschreibt den argentinischen Fußball als eine Mischung dieser<br />

zwei Richtungen. <strong>Die</strong> Vermischung entstand laut Archetti durch die<br />

Hybridität der argentinischen Gesellschaft, die aus MigrantInnen aus<br />

Nord- und Südeuropa, indigener Bevölkerung und den Nachfahren<br />

ehemaliger SklavInnenen aus Schwarzafrika besteht. <strong>Die</strong> zwei von<br />

Archetti beschriebenen Richtungen sind, so meine ich, selbst auf<br />

lokaler Ebene die Grundlage vieler Fremd- und Eigenbilder im Fußball.<br />

Auf diese Bilder wird immer wieder Bezug genommen. In Analogie<br />

zu Archetti unterscheiden viele österreichische Hobbyfußballer<br />

zwei verschiedene Stile als entweder südländisch oder englisch.<br />

<strong>Die</strong> Gefahr der Verallgemeinerung und Stereotypisierung im Rahmen<br />

solcher dichotomen Zuschreibungen ist mir bewusst und ich weise an<br />

dieser Stelle darauf hin, dass Begriffe wie südländisch, jugoslawisch,<br />

türkisch, brasilianisch, österreichisch und englisch vor allem im<br />

Zusammenhang mit Mentalitätskonstrukten zumeist stark reduzierte<br />

Verallgemeinerungen und Rassismen darstellen. Trotzdem komme ich<br />

nicht umhin, mit diesen Begriffen zu arbeiten, denn sie sind ein<br />

essentieller Bestandteil der Diskurse um das Fußballspiel. Österreichisches<br />

wird im Fußball tendenziell als minderwertig angesehen.<br />

Grund dafür sind wohl die schwachen Leistungen österreichischer<br />

Vereine, mangelnde Begeisterung der Fans bzw. mangelnde Fans und<br />

die traurigen Darbietungen der Nationalmannschaft. Südländischer<br />

Fußball wird meist mit Ex-Jugoslawien, der Türkei, Afrika oder<br />

Brasilien in Zusammenhang gebracht.<br />

Im Rahmen eines Forschungsprojektes interviewte ich mehrere Spieler<br />

und Funktionäre des FC-Purkersdorf. <strong>Die</strong>se beschrieben den südländischen<br />

Spielertyp durchwegs als „temperamentvoller, technisch<br />

besser, heißsporniger“ aber auch als „ballgierig, schwer verspielt und<br />

eigensinnig“. Auffallend ist hier, dass positive Zuschreibungen als<br />

Komparativ und negative Zuschreibungen als für sich stehende Eigenschaftswörter<br />

genannt wurden. Ein Fußballer, der Türken und Spieler<br />

aus dem ehemaligen Jugoslawien als eigensinnig beschrieb, meinte,<br />

„die lassen sich nix dreinreden, das fehlt uns manchmal“, was die<br />

ambivalenten Interpretationsmöglichkeiten dieser Zuschreibungen<br />

illustriert.


„Der Goran muss einen, wenn nicht zwei überspielen, das ist<br />

einfach, sag ich mal, in den Jugoslawen drinnen, die sind alle<br />

ballverliebt.“ (Zitat eines österreichischen Hobbyfußballers).<br />

Spieler aus südlichen Ländern wurden von der Mentalität<br />

her als verspielt und eigensinnig beschrieben.<br />

Ausschlaggebend für die Entstehung dieser Mentalitätskonstrukte<br />

sind laut meinen Informanten persönliche<br />

Erlebnisse aus dem Urlaub, der Jugend in Wien oder<br />

Erfahrungen aus der unmittelbaren fußballerischen<br />

Lebenswelt. Tendenziell wurde der südländische Fußballertyp<br />

dem österreichischen übergeordnet. Englischer<br />

Fußball stand für England sowie Deutschland und wurde<br />

als geradliniger, hart aber auch technisch gut beschrieben.<br />

In Bezug auf Fremdheit wurde der englische Stil generell<br />

vom österreichischen Fußball getrennt, aber doch als<br />

verwandt betrachtet. In fast jedem Interview wurde ein<br />

Zusammenhang zwischen (nationaler) Mentalität und<br />

dem jeweiligen Stil geortet. Tatsächlich, so meine<br />

Beobachtungen (ich arbeitete mehrere Jahre in Wiener<br />

Parks als Jugendbetreuer bzw. Ferienanimateur, leitete<br />

öfters Fußballturniere von Wiener Jugendeinrichtungen<br />

und spielte eine Saison lang in einer mexikanischen<br />

Fußballliga), bewegen sich und spielen mexikanische,<br />

türkische oder aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende<br />

Jugendliche und Erwachsene tendenziell anders als viele<br />

meiner „österreichischen“ Fußballerkollegen.<br />

<strong>Die</strong> Erklärung für dieses Faktum liegt aber weniger in<br />

diffusen Mentalitätskonstrukten als in der Benützung verschiedenartiger<br />

Fußballplätze beim Erlernen des Fußballspiels.<br />

Während viele Jugendliche mit Migrationshintergrund<br />

auf Betonplätzen, Hinterhöfen, Sandplätzen<br />

und Sportkäfigen das Fußballer-Handwerk erlernen,<br />

spielt eine große Anzahl von Jugendlichen, die sich selbst<br />

als Österreicher sehen, auf weitläufigen Rasenplätzen.<br />

Am Beton oder harten Boden muss technisch feiner<br />

gespielt werden. Fouls und harte Attacken führen<br />

einfach leichter zu Verletzungen. Ein Fußballrasen hingegen<br />

erlaubt eine härtere Spielweise. Viele als technisch<br />

und kreativ geltende Spieler Österreichs, die eher mit<br />

dem südländischen Stil verbunden werden – wie zum<br />

Beispiel Herbert Prohaska – trainierten lange Zeit auf<br />

kleinen Betonsportplätzen. <strong>Die</strong> ersten aus wohlhabenden<br />

englischen Migranten geformten Fußballteams in<br />

Argentinien spielten, wie auch kaum anders zu erwarten,<br />

zumeist auf weitläufigen Rasenplätzen.<br />

In der Sportberichterstattung und in Alltagsgesprächen<br />

über Fußball wird immer wieder nach kulturellen<br />

Differenzen geurteilt. Oft werden diese Differenzen<br />

geradezu gesucht. Hierbei wäre es meines Erachtens aber<br />

wichtig, Kultur – im Sinne Arjun Appadurais – nicht als<br />

statische Substanz zu sehen, sondern als Phänomen, das<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

sich über die Wahrnehmung von Unterschieden in den<br />

sozialen Kontakten der Menschen manifestiert.<br />

Appadurai schreibt: „Culture is not useful regarded as a<br />

substance but is better regarded as a dimension of a<br />

phenomena, a phenomena that attends to situated and<br />

embodied difference (Appadurai 2000: 12-13). <strong>Die</strong> von<br />

vielen Fußballern und Fernsehkommentatoren wahrgenommene<br />

kulturelle Differenz ist nicht die Ursache einer<br />

unüberbrückbaren Differenz zweier unabänderlicher<br />

Kulturen, sondern vielmehr ein Merkmal verschiedener<br />

sozialer Hintergründe und Lebenswelten, die miteinander<br />

in meist hierarchischer Verbindung stehen (vgl.<br />

Tsing 2005, Appadurai 2000).<br />

„<strong>Die</strong> kulturellen Differenzen zwischen einer (konstruierten)<br />

einheimischen Bevölkerung und einer fremden Bevölkerung<br />

werden dabei als unüberwindbar dargestellt“ (Fanizadeh 2000).<br />

Auch im Fußball gibt es Unterschiede, sie zu negieren<br />

wäre genauso falsch wie sie über zu bewerten. Leider ist<br />

dies ist jedoch oft der Fall. Wallerstein und Balibar (1998)<br />

beschreiben diese Überbewertung als „Wesen des modernen<br />

Rassismus“. <strong>Die</strong>ser moderne Rassismus ist nicht<br />

mehr von überkommenen Biologismen, sondern von<br />

einer kulturell definierten Form der Diskriminierung<br />

getragen.<br />

Auch soziale Faktoren werden von vielen Fußballern für<br />

verschiedene Mentalitäten im Fußball verantwortlich<br />

gemacht. So wurde die andere Art zu spielen mit Armut<br />

in Verbindung gebracht. Ein Vereinsfunktionär des FC-<br />

Purkersdorf meinte, dass das „eigene“ österreichische<br />

Kolumne<br />

23


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Wunderteam, das 1934 den 4. Platz bei der Weltmeisterschaft<br />

erreichte, brasilianischen Fußball spielte.<br />

<strong>Die</strong> Menschen klammerten sich der Armut wegen an den<br />

Sport und erhoben diesen zur Passion. Der Wiener<br />

Fußball der Dreißiger Jahre soll tatsächlich ein technisch<br />

versierter, verspielter Fußball gewesen sein. Hier lässt<br />

sich der Bezug zu den Sportstätten herstellen: die<br />

meisten Fußballer des Wunderteams erlernten ihre Kunst<br />

unter ähnlichen Bedingungen wie viele junge<br />

brasilianische FußballerInnen der Gegenwart. Armut<br />

wird auch von einer Reihe aktiver Fußballer als<br />

wesentlicher Faktor für eine bestimmte Fußballer-<br />

Mentalität identifiziert. Das Mentalitätskonstrukt verliert<br />

somit an Starrheit da es von sozialen und wandelbaren<br />

Gegebenheiten abhängig gemacht wird.<br />

Generell muss hier angefügt werden, dass sich<br />

spielerische Eigenheiten im globalisierten Profisport in<br />

Richtung universale, Team und Körper betonte,<br />

gleichzeitig aber auch technisch perfekte Spielweise<br />

auflösen.<br />

„Wir spielen Fußball, die leben Fußball.“ (Zitat eines<br />

Hobbyfußballers).<br />

Interessanterweise haben meine Interviews und<br />

Gespräche mit Fußballern ergeben, dass die meisten<br />

– von der Art Fußball zu spielen ausgehenden – Fremdbilder<br />

positiv belastet sind. Viele „Andere“ haben also<br />

aus unterschiedlichsten Gründen eine andere Einstellung<br />

als „wir Österreicher“ zum Sport. Sie spielen deshalb<br />

besser. Keiner meiner Interviewpartner verband die<br />

Präsenz von „türkisch-stämmigen“ und aus dem<br />

ehemaligen Jugoslawien stammenden Jugendlichen als<br />

direktes Hindernis für – als solche bezeichnete<br />

– „österreichische Jugendliche“, das Fußballspiel zu<br />

erlernen und zu betreiben. Vielmehr wurde den<br />

Österreichern eine weniger ambitionierte Einstellung<br />

zum Sport zugeschrieben. Das eigene ist – so der Tenor<br />

unter Hobbyfußballern – sowohl der südländischen als<br />

auch der englischen Art zu spielen unterlegen. <strong>Die</strong><br />

Einstellung zum Sport sei sowohl in England als auch im<br />

Süden eine intensivere. In England „gibt es mehr<br />

Fußballplätze und daher auch mehr Tradition“,<br />

Engländer, Brasilianer und auch Afrikaner würden den<br />

„Fußball leben“ während er in Österreich, so das obige<br />

Zitat – „lediglich gespielt würde“.<br />

Im Fußballsport werden vorherrschende gesellschaftliche<br />

Strukturen und Bilder gespiegelt und produziert –<br />

Fußball widerspricht diesen Bildern aber auch. Fußball<br />

markiert Grenzen zwischen einem „Wir“ und „den<br />

Anderen“. Österreicher sehen sich hier tendenziell als<br />

„trendmäßig hinten nach bzw. unmotiviert“. Migranten<br />

24 Kolumne<br />

werden, genauso wie den Österreichern, bestimmte<br />

Eigenschaften zugeordnet. So werden über die Art<br />

Fußball zu spielen, eine Reihe positiver als auch<br />

negativer Stereotypen produziert. In Österreich oft<br />

negativ gegen sich selbst. Ich persönlich freue mich<br />

trotzdem schon sehr auf die erste Europameisterschaft<br />

mit österreichischer Beteiligung, auch wenn „Wir“ es<br />

echt nicht verdient haben… �<br />

Niko Reinberg, wohnt in Graz, ist Kultur und<br />

Sozialanthropologe, Erzähler, Autor, Rapid Wien Fan und<br />

Amateurfußballer. Vor kurzem erschien sein Buch “Jenseits<br />

von Sonnenpyramiden und Revolutionstourismus” in dem<br />

auch über Fußball in einer indigenen Comunidad berichtet<br />

wird.<br />

Literatur<br />

Appadurai, Arjun. Modernity at Large. Minneapolis, 2000.<br />

Archetti, Eduardo. Masculinities – Football, Polo and the Tango in<br />

Argentina. Oxford, 1999.<br />

Balibar, Étienne/Wallerstein, Immanuel. Rasse, Klasse, Nation.<br />

Ambivalente Identitäten. Hamburg, 1998.<br />

Tsing Lowenhaupt, Anna. Friction- Ethnography of Global<br />

Connection. Princeton, 2005.<br />

Fanizadeh, Franz. Kulturalismus und die Globalisierung im Fußball.<br />

In: Kurswechsel 1/2000.


Ein Überblick zu Geschichte, Konzepten, Methoden und Feldern<br />

der Medienanthropologie<br />

von PHILIPP BUDKA<br />

Anthropologie der Medien<br />

Ein aktuelles Forschungsgebiet<br />

<strong>Die</strong> Anthropologie der Medien kann<br />

zu jenen Forschungszweigen der<br />

Kultur- und Sozialanthropologie<br />

(KSA) gezählt werden, die im 21.<br />

Jahrhundert massiv an Bedeutung<br />

und Relevanz gewonnen haben.<br />

Indikator für diesen Aufschwung ist<br />

die steigende Zahl an fachrelevanten<br />

Publikation, Veranstaltungen,<br />

Organisationen, Netzwerken sowie<br />

Studiengängen und -schwerpunkten.<br />

Motivation für die KSA, sich nun<br />

endlich auch an den interdisziplinär<br />

geführten medientheoretischen<br />

Debatten zu beteiligen, scheint die<br />

Ignoranz anderer Disziplinen<br />

gegenüber nicht-westlichen<br />

Medientechnologien und -nutzungen<br />

zu sein (vgl. Ginsburg et al.: 2002). <strong>Die</strong><br />

in der KSA übliche Einbeziehung<br />

einer kulturvergleichenden<br />

Dimension erscheint jedoch sinnvoll,<br />

um etwa Fragen nach der Produktion<br />

von individueller und kollektiver<br />

Identität, der Konstruktion von<br />

Gemeinschaften oder der<br />

Verschiebung von Machtverhältnissen<br />

im Kontext von Medien befriedigend<br />

beantworten zu können. So treten<br />

Kultur- und SozialanthropologInnen<br />

auch verbreiteten Tendenzen<br />

entgegen, Medien getrennt vom<br />

soziokulturellen Leben der Menschen<br />

zu behandeln (vgl. Askew: 2002).<br />

Abgesehen von einigen Ausnahmen, wie die<br />

ethnographische Untersuchung von Hortense<br />

Powdermaker zur Filmindustrie in Hollywood in den<br />

1940er Jahren oder den zeitgleichen Filmdokumentanalysen<br />

von Margaret Mead und Gregory Bateson, wurden<br />

Medien erst ab Ende der 1980er Jahre systematisch von einigen<br />

Kultur- und SozialanthropologInnen untersucht (Ginsburg et al. 2002).<br />

Da dies zumeist im Rahmen eines nicht medienspezifischen<br />

Feldforschungkontextes geschah, schrieb Spitulnik noch 1993 „there is<br />

yet no ‚anthropology of mass media‘“ (Spitulnik 1993: 293).<br />

<strong>Die</strong> Gründe für das Desinteresse vieler Kultur- und SozialanthropologInnen<br />

besonders an den Massenmedien lassen sich bis in<br />

die 1940er Jahre zurückverfolgen. Während des Zweiten Weltkrieges<br />

wurden, etwa von den in die USA emigrierten Vertretern der Frankfurter<br />

Schule Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, elektronischen<br />

Massenmedien vor allem gefährliche Eigenschaften, wie die<br />

„Totalisierung“ der Gesellschaft und die „Massifizierung“ des Individuums<br />

zugeschrieben (vgl. Dracklé 1999). <strong>Die</strong>se Annahme führte<br />

letztlich zu einem Kulturpessimismus, der sich erst durch den<br />

Wechsel des analytischen Fokus von der bloßen Wirkung von Medien<br />

auf deren Rezeption abschwächte. Eine entscheidende Rolle bei<br />

diesem Paradigmenwechsel spielten die Cultural Studies, die sich in<br />

den frühen 1970er Jahren in Großbritannien zu etablieren begannen.<br />

Theoretiker wie Marx, Gramsci und Althusser, die sich mit Macht,<br />

dominanten Ideologien und Strukturen befassten, beeinflussten<br />

Vertreter der Cultural Studies wie Stuart Hall und David Morley und<br />

trugen wesentlich dazu bei, dass die Menschen nicht mehr<br />

ausschließlich als passive MedienkonsumentInnen gesehen wurden,<br />

sondern vielmehr als aktive RezipientInnen, die die Medien und deren<br />

Botschaften mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen und so auch<br />

in der Lage sind „Widerstand gegen dominante Ideologien“ zu leisten<br />

(Askew 2002, Dracklé 1999: 266). <strong>Die</strong>se optimistischere Darstellung<br />

vom sich frei entscheidenden Medienrezipienten wurde später, vor<br />

allem nach Einbeziehung von empirischem Forschungsmaterial,<br />

kritisiert, da sie den tatsächlichen Machtverhältnissen zwischen<br />

MedienproduzentInnen und -konsumentInnen zu wenig Bedeutung<br />

beimessen würde (vgl. Rojek 2003).<br />

Der Einfluss der „modernen“ Cultural Studies auf die KSA resultierte<br />

in einer verstärkten Beachtung von „Populärkulturen“ und deren<br />

Inhalten, wie eben Massenmedien, als Forschungsfelder (vgl. Dracklé<br />

1999). <strong>Die</strong> Gründe für das steigende Interesse der KSA an Medien<br />

können also mit einem Wechsel sowohl des theoretischen als auch des<br />

geographischen Fokus innerhalb der Disziplin erklärt werden. <strong>Die</strong><br />

Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

25


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

theoretischen und methodischen Umwälzungen in den<br />

1980er und 1990er Jahren – Stichwort „Postmodernismus“<br />

– sowie die Verlagerung von ethnographischen<br />

Forschungsfeldern von abgelegenen Dorfgemeinschaften<br />

in den „Entwicklungsländern“ in die urbanen Räume der<br />

Industriestaaten, die wesentlich stärker von<br />

Massenmedien durchdrungen sind, trugen maßgeblich<br />

zur Etablierung einer Medienanthropologie bei (vgl.<br />

Ginsburg et al. 2002).<br />

Konzepte und Methoden<br />

<strong>Die</strong> Medienanthropologie ist einerseits eng mit anderen<br />

wissenschaftlichen Disziplinen verwoben und übernimmt<br />

von diesen theoretische Konzepte. Andererseits<br />

trägt die KSA selbst zum Verständnis von Medienproduktion<br />

und -nutzung bei (vgl. Rothenbuhler/Coman<br />

2005).<br />

Prominente theoretische Konzepte, die in der Medienanthropologie<br />

Verwendung finden jedoch nicht der KSA<br />

entstammen, sind etwa Benedict Andersons’ Konzept der<br />

„vorgestellten Gemeinschaft“, das das Potential von<br />

Massenmedien zur Bildung von imaginierten Vergesellschaftungen<br />

– z.B. Nationalstaaten – aufzeigt, sowie<br />

Jürgen Habermas’ theoretischer Abriss zur<br />

„Öffentlichkeit“ oder die Aktor-Netzwerk-Theorie,<br />

entwickelt unter anderem von Bruno Latour und John<br />

Law, die besonders geeignet scheint, Prozesse in technologisierten<br />

„Netzwerkgesellschaften“ zu verstehen.<br />

Altgediente Konzepte der Kultur- und Sozialanthropologie<br />

werden wiederum nicht ausschließlich von<br />

AnthropologInnen verwendet, auch MedienwissenschaftlerInnen<br />

greifen in ihren Versuchen Medienphänomene<br />

theoretisch und analytisch zu erfassen<br />

immer häufiger auf diese zurück. Zu nennen wären hier<br />

etwa die diversen Theorien zu Ritual und Ritualisierung<br />

(z.B. Couldry 2003), Theorien zu Tausch und Handel,<br />

theoretische Konzepte der materiellen Kultur (z.B.<br />

Miller/Slater 2000), zentrale Konzepte zur kulturellen,<br />

geschlechtlichen und ethnischen Identität bzw. Identitätskonstruktion<br />

sowie Konzepte zu „Gemeinschaft“<br />

oder alternativen Vergesellschaftungsformen (z.B. Postill<br />

2006).<br />

Ein prominentes Beispiel für die Verschmelzung von<br />

medienanthropologisch-relevanten Theorien liefert<br />

Appadurai (1996). Er verwendet sowohl Andersons<br />

„vorgestellte Gemeinschaften“ um in seinen theoretischen<br />

Konzepten die Bedeutung von Imaginationen für<br />

die Bildung von transnationalen Medienlandschaften<br />

heraus zu arbeiten, als auch Habermas’ Verständnis von<br />

Öffentlichkeit, um eine „hypothetische Arena“ (<strong>public</strong><br />

26 Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

culture) zu umreißen, die sich von Unterscheidungen in<br />

„erste“, „zweite“ und „dritte“ Welt distanziert und eine<br />

„kulturelle Hierarchisierung“ ablehnt (Kreff 2003: 130).<br />

In dieser <strong>public</strong> culture spielen Massenmedien wiederum<br />

eine bedeutende Rolle.<br />

Wesentlichste Methode, um nun die unterschiedlichen<br />

Medienphänomene zu erfassen, ist für die Medienanthropologie<br />

die ethnographische Feldforschung. <strong>Die</strong><br />

Methode passt sich dabei sowohl dem Feld als auch den<br />

soziokulturellen Handlungsräumen der Menschen an<br />

und kann sich also nicht allein auf Inhalte und deren<br />

Rezeption beschränken. Sie muss auch die physischen<br />

und sensorischen Dimensionen von Medientechnologien<br />

mit einbeziehen, da über diese soziale Beziehungen<br />

hergestellt werden können.<br />

Felder<br />

In der Analyse von neuen Informations- und<br />

Kommunikationstechnologien (IKT) wird im sozial- und<br />

kulturanthropologischen Kontext gerne von Cyberanthropologie,<br />

Anthropologie des Cyberspace oder<br />

Anthropologie der Cyberkultur gesprochen. Bei dem Begriff<br />

Cyberspace handelt es sich um eine Wortschöpfung des<br />

Science Fiction Autors William Gibson, der diesen in<br />

seinem Buch Neuromancer 1984 prägte. Der Präfix<br />

„cyber“ wurde Ende der 1940er Jahre erstmals vom<br />

Mathematiker Norbert Wiener in dem Begriff cybernetics<br />

verwendet, um Mensch-Maschine oder Mensch-<br />

Computer Interaktion zu beschreiben. Cybernetics leitet<br />

sich dabei vom griechischen Wort für Steuermann<br />

– kybernetes – ab.<br />

Einer der ersten Kultur- und Sozialanthropologen, der<br />

sich grundlegend mit den neuen IKT befasste, war<br />

Escobar (1994) mit seinem Artikel Welcome to Cyberia.<br />

Dort entwickelt er das Konzept der „Cyberkultur“, das<br />

die strukturellen Veränderungen, die IKT sowie<br />

Biotechnologien in den „modernen“ Gesellschaften<br />

hervorrufen, analysieren und so zu verstehen helfen soll:<br />

„As a new domain of anthropological practice, the study<br />

of cyberculture is particularly concerned with the<br />

cultural construction and reconstruction on which the<br />

new technologies are based and which they in turn help<br />

to shape” (Escobar 1994: 211). Für die Kultur- und<br />

Sozialanthropologie eröffnen sich nach Escobar (1994)<br />

hier drei potentielle Forschungsprojekte:<br />

1) <strong>Die</strong> soziale Produktion von „virtuellen“ Technologien,<br />

die zu einer post-körperlichen Stufe in der menschlichen<br />

Entwicklung führen könnte.<br />

2) Eine Cyborg Anthropologie könnte sich mittels ethnographischer<br />

Forschung den zusehends verschwimmenden<br />

Grenzen zwischen Mensch und Maschine widmen.


3) Und im Rahmen einer Anthropologie der Cyberkultur<br />

könnten kulturelle Diagnosen zu den Transformationen<br />

und Veränderungen erstellt werden, die durch die<br />

Entwicklung neuer Technologien in den Gesellschaften<br />

ausgelöst werden.<br />

<strong>Die</strong>sen Überlegungen Escobars’ folgend haben sich auch<br />

andere Kultur- und SozialanthropologInnen Gedanken<br />

über die ethnographischen Forschungsfelder gemacht,<br />

die im Zuge der raschen Entwicklung neuer IKT<br />

entstehen. Etwa Hakken (1999), der in seiner Arbeit<br />

weitere Felder identifiziert und diskutiert oder Miller<br />

und Slater (2000), die die erste holistisch konzipierte<br />

ethnographische Untersuchung über das Internet und<br />

seine Anwendungen in Trinidad durchführten. Sie<br />

kommen gegen Ende ihrer Ethnographie zu dem Schluss,<br />

dass das Internet in Trinidad weniger als Technologie zu<br />

verstehen ist, sondern vielmehr als materielle Kultur, da<br />

die diversen Internettechnologien in unterschiedlichen<br />

Formen alltäglicher Praktiken eingebettet wurden. Oder<br />

anders formuliert: In einem Prozess der Konsumption<br />

wurde das Internet für die NutzerInnen von einer<br />

unpersönlichen Ware zu einer Sache mit (persönlicher)<br />

Bedeutung, versehen mit einem bestimmten Platz in<br />

deren Leben.<br />

Aktivitäten<br />

Immer mehr kultur- und sozialanthropologische<br />

Fachkonferenzen bieten Workshops oder Tagungsschwerpunkte,<br />

die sich dem Thema Medien widmen. So<br />

veranstaltete etwa die Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde<br />

bei ihren Tagungen 2005 und 2007 in Halle gleich<br />

mehrere medienanthropologisch relevante Workshops.<br />

Auch bei der 2006 in Bristol abgehaltenen Konferenz der<br />

European Association of Social Anthropologists (EASA)<br />

wurden Arbeitsgruppen zu Medien aus kultur- und<br />

sozialanthropologischen Perspektiven angeboten (vgl.<br />

Postill/Bräuchler 2008).<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Mitglieder der EASA haben sich zu einem Netzwerk<br />

zusammengeschlossen, das vor allem den Austausch von<br />

Informationen sowie die Koordination von Lehr- und<br />

Forschungsprojekten im Bereich der kultur- und<br />

sozialanthropologischen Bearbeitung von Medien<br />

fördern will (vgl. URL 1).<br />

<strong>Die</strong> Anthropologie der Medien ist also ein lebendiger<br />

und ständig wachsender Forschungszweig der Kulturund<br />

Sozialanthropologie, der sowohl theoretisch als auch<br />

methodisch bestens gerüstet ist, auch zukünftig zum<br />

Verstehen der soziokulturellen Bedeutungen und<br />

Kontexte von Medientechnologien aktiv und kritisch<br />

beizutragen. �<br />

Anm. des Autors: <strong>Die</strong>ser Artikel baut auf einem Vortrag,<br />

den ich im März 2006 bei den „Tagen der Kultur- und<br />

Sozialanthropologie“ in Wien gehalten habe, auf.<br />

Philipp Budka, Mag. Doktorand, Lektor und<br />

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kultur- und<br />

Sozialanthropologie sowie an der Fakultät für Sozialwissenschaften.<br />

Forschungsschwerpunkte: Medienanthropologie,<br />

Ethnographie, Indigene Organisationen und Netzwerke,<br />

Wissensvermittlung und -produktion, eLearning, Globalisierung<br />

und Fußballfankulturen. www.philbu.net.<br />

Literatur<br />

Appadurai, Arjun. Modernity at Large. Cultural Dimensions of<br />

Globalization. Minneapolis, 1996.<br />

Askew, Kelly. Introduction. In: Askew, Kelly, Wilk, Richard (Hg.): The<br />

<strong>Anthropology</strong> of Media. A Reader, Malden, MA, 2002. S. 1-13.<br />

Couldry, Nick. Media rituals. A critical approach. London, 2003.<br />

Dracklé, Dorle. Medienethnologie: Eine Option auf die Zukunft. In: Kokot,<br />

Waltraud, Dracklé, Dorle (Hg.): Wozu Ethnologie? Berlin, 1999.<br />

Escobar, Arturo. „Welcome to Cyberia. Notes on the <strong>Anthropology</strong> of<br />

Cyberculture“. In Current <strong>Anthropology</strong>, 35/3, 1994. S. 211-231.<br />

Ginsburg, Fay/Abu-Lughod, Lila/Larkin, Brian. Introduction. In: <strong>Die</strong>s. (Hg.):<br />

Media Worlds. <strong>Anthropology</strong> on New Terrain. Berkeley, 2002. S. 1-36.<br />

Hakken, David. Cyborgs@Cyberspace. An Ethnographer Looks to the Future.<br />

London, 1999.<br />

Kreff, Fernand. Grundkonzepte der Sozial- und Kulturanthropologie in<br />

der Globalisierungsdebatte. Berlin, 2003.<br />

Miller, Daniel/Slater, Don. The Internet. An Ethnographic Approach.<br />

Oxford, 2000.<br />

Postill, John. Media and Nation Building: How the Iban Became<br />

Malaysian. Oxford, 2006.<br />

Postill, John/Bräuchler, Birgit (Hg.). Theorising Media and Practice. Oxford,<br />

2008.<br />

Rojek, Chris. Stuart Hall. Cambridge, 2003.<br />

Rothenbuler, Eric/Coman, Mihai (Hg.). Media <strong>Anthropology</strong>. Thousand<br />

Oaks, CA, 2005.<br />

Spitulnik, Debra. „<strong>Anthropology</strong> and Mass Media“. In Annual Review of<br />

<strong>Anthropology</strong> 22, 1993. S. 293-315.<br />

URL 1: www.media-anthropology.net, 12.12.2007.<br />

Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

27


28<br />

Indische Populärkultur im<br />

globalen Kontext<br />

von ELKE MADER<br />

In einem deutschsprachigen Internet-<br />

Forum, in dem sich Fans des indischen<br />

Filmstars Shah Rukh Khan<br />

unterhalten, drängt die<br />

Administratorin auf das Einhalten von<br />

Regeln der Höflichkeit sowie generell<br />

auf gutes Benehmen. <strong>Die</strong><br />

TeilnehmerInnen antworten, dass sie<br />

sich natürlich an die Regeln halten<br />

werden – nichts Abfälliges über andere<br />

SchauspielerInnen, nichts Bösartiges<br />

zu den oder über die Mitglieder des<br />

Forums, keine unangebrachten<br />

Bemerkungen über die Ehefrau des<br />

Stars. „Ich bin eh so lieb“, schreibt eine<br />

Teilnehmerin „aber eben ein bisschen<br />

Bollywood-verrückt.“ Eine andere<br />

Person antwortet: „Ach ja, wir sind<br />

doch alle ein bisschen bolly….“<br />

Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

Mythen und Medien<br />

„Wir sind alle ein bisschen bolly…“<br />

Bolly-Sein ist zurzeit ein weltweites kulturelles Phänomen, das<br />

verschiedene Dimensionen von narrativer und visueller<br />

Kultur, von diskursiven und performativen Praktiken umfasst<br />

und sich in mehreren Medien manifestiert. Im Umfeld des<br />

indischen populären Kinos, seiner Filme und Stars entfaltet sich ein<br />

komplexes Szenario von signifying practises (Hall 1997). Dazu gehört<br />

die hindi-mania in Peru oder auch Fan-Kunst im Internet – wie etwa die<br />

ca. 1000 Video-Clips zu Shah Rukh Khan bei MyVideo.de, die von Fans<br />

aus dem deutschsprachigen Raum gestaltet wurden: Hier werden aus<br />

Bildern, Filmausschnitten, Musik und Text neue Beiträge zu einer<br />

„kosmopolitischen Populärkultur“ im Sinne von Henry Jenkins (2006)<br />

gebastelt, betrachtet und kommentiert. Eine ähnliche kulturelle Praxis<br />

beschäftigt sich mit der Gestaltung von Erzählungen und Gedichten<br />

– so genannte fan fiction: <strong>Die</strong> Bastelei erstreckt sich hier unter anderem<br />

auf die Produktion, Zirkulation und Diskussion von Texten, die sich<br />

auf Inhalte von Filmen sowie auf Stars beziehen – „… how stories<br />

travel,“ schreibt Salman Rushdie, „what mouths they end up in!“.<br />

Intertextualität, Konvergenz und mythscapes<br />

<strong>Die</strong>se Form der bricolage á la Lévi-Strauss ist einer von mehreren<br />

Berührungspunkten von Mythen und Medien in diesem<br />

Zusammenhang. Solche Verbindungen wurden in den vergangenen<br />

Jahren im Rahmen der Medienanthropologie häufig angesprochen:<br />

Eric Rothenbuhler und Mihai Coman argumentieren, dass Methoden<br />

und Konzepte aus anderen Forschungsfeldern der Kultur- und<br />

Sozialanthropologie wichtige Werkzeuge für die Analyse von<br />

medialen Prozessen darstellen. Theoretische Modelle aus der<br />

anthropologischen Auseinandersetzung mit Mythen, Ritualen und<br />

Religionen sind dabei besonders relevant und können an die neuen<br />

Forschungsgegenstände angepasst werden. <strong>Die</strong> Schnittstelle zwischen<br />

Mythen und Medien wird dabei aus mehreren Perspektiven<br />

untersucht, im Mittelpunkt vieler Studien stehen „… narrative<br />

patterns and figures considered to represent modern ‚mythologies‘ in<br />

movies, TV programs, advertising, music, sports, and other<br />

entertainments“ (Coman und Rothenbuhler 2005: 6).<br />

Einige Fragestellungen in diesem Zusammenhang beschäftigen sich<br />

mit dem Naheverhältnis von Mythen und Filmen. Sie erkunden die<br />

mythischen Topoi im Kino und setzten sich mit dem Film als<br />

Repräsentationsform traditioneller und neuer mythischer Erzählstoffe<br />

auseinander. Eine Reihe von Arbeiten untersucht darüber hinaus,<br />

inwieweit Mythen eine Matrix oder Metaerzählung darstellen, welche<br />

sowohl die narrative Struktur von Filmen als auch die Charak-


terisierung der Handlungsträger prägt. Andere Studien<br />

wiederum betrachten populäres Kino generell als<br />

Mythen der Gegenwart und analysieren Filme oft mittels<br />

erweiterter Methoden der anthropologischen Mythenforschung<br />

(vgl. z.B. Drummond 1996 für Hollywood-<br />

Blockbuster). <strong>Die</strong> oben skizzierten kulturellen Praktiken<br />

des „Bolly-Seins“ sprengen jedoch den Rahmen einer<br />

Filmanalyse in Hinblick auf mythische Kodes (vgl.<br />

Mader 2007). Aus der Perspektive der Medienforschung<br />

handelt es sich dabei zum einen um Phänomene einer<br />

„globalen Kultur der Medien-Konvergenz“ (vgl. Jenkins<br />

2006), zum anderen um „performative Intertextualität“<br />

(vgl. Petterson 2006). Der Begriff der globalen<br />

Konvergenz von alten und neuen Medien bezieht sich in<br />

diesem Zusammenhang auf neue Formen der Partizipation<br />

von KonsumentInnen an medialen Prozessen.<br />

Petterson (2006) stellt aufbauend auf Bhaktin (1981) das<br />

Dekontextualisieren und Rekontextualisieren – das<br />

Ausbauen und neu Zusammenfügen von Inhaltselementen<br />

medialer Herkunft – in den Mittelpunkt<br />

seiner Analysen. Er betont vor allem den Zusammenhang<br />

von Medientexten, der Kommunikation im Alltag<br />

und sozialen Praktiken.<br />

Foto: Elke Mader<br />

Shah Rukh Khan, Shreyas Talpade und Fans bei der<br />

Premiere von Om Shanti Om in London<br />

Eine Annäherung an diese Phänomene kann auch durch<br />

Ansätze der Anthropologie der Mythen erfolgen und<br />

diese auf die Untersuchung von neuen medialen Welten<br />

anwenden. Von Bronislav Malinowski bis Joanna<br />

Overing beschäftigt sich die sozialanthropologische<br />

Mythenforschung im 20. Jahrhundert mit verschiedenen<br />

Facetten der Verbindungen von Mythen (Texten) und<br />

sozialen sowie rituellen und/oder religiösen Kontexten.<br />

Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen die „mythmakers“,<br />

die Geschichten vermitteln aber auch gestalten,<br />

und ihre aktive Rolle bei der Interpretation, Zirkulation<br />

und Veränderung von Mythen. Inhalte, Figuren sowie<br />

das Wertsystem der Geschichten sind eng mit Alltagspraktiken<br />

verwoben und stellen – so Joanna Overing<br />

– mythische Landschaften (mythscapes) dar, in denen die<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

mythische Welt und die Alltagswelt miteinander<br />

verschmelzen, sie sind „landscapes of myth as situated<br />

practises in the world.“ (Overing 2004: 71) In Hinblick<br />

auf die flexible Konfiguration von Bedeutungen und<br />

Praktiken rund um Bollywood kann man von einer globalen<br />

und transkulturellen mythischen Landschaft<br />

sprechen, die Überschneidungen mit dem Konzept der<br />

medialen Landschaften (mediascapes) von Arjun<br />

Appadurai aufweist (vgl. Mader 2007). <strong>Die</strong>ser Raum geht<br />

außerhalb des indischen Subkontinents teilweise Hand<br />

in Hand mit dem ethnoscape der südasiatischen Diaspora,<br />

reicht aber auch weit darüber hinaus. So leben etwa in<br />

Peru oder Deutschland/Schweiz/Österreich nur wenige<br />

MigrantInnen aus dem indischen Raum, dennoch gibt es<br />

eine begrenzte, aber sehr ausgeprägte Bolly-Kultur.<br />

Ethnographische Fragmente aus „Bolly-Land“<br />

„Bollyscape“ oder „Bolly-Land“ ist auch als ein Raum zu<br />

verstehen, den es ethnographisch zu erforschen gilt. Er<br />

ist vielfach lokalisiert und immer auch deterritorial. Man<br />

begegnet dort einem Geflecht aus Geschichten und<br />

Bildern, aus mythischen Figuren und ihren Verkörperungen,<br />

den Stars, sowie Personen aus diversen<br />

kulturellen und sozialen Kontexten, die sich in diesem<br />

Raum bewegen – ihn durchwandern, betrachten und<br />

mitgestalten und dabei Beziehungen zu anderen<br />

Personen aufbauen. Manche sind neu im „Bolly-Land“<br />

und auf der Suche nach der Basis seiner Topografie, den<br />

Filmen. „Kann mir jemand sagen, wo ich hier indische<br />

Filme bekomme?“ erkundigt sich der 15jährige Pablo aus<br />

Pucallpa im peruanischen Amazonasgebiet per Internet<br />

bei einem Fan-Club in der Hauptstadt Lima, der über<br />

eine eigene Seite für Mitglieder aus der Provinz verfügt.<br />

Dort, beim Club de Fans de Shahrukh Khan, gibt es ein<br />

breites Spektrum von Aktivitäten. Einige kreisen um den<br />

großen Star, der einen Kristallisationspunkt im mythischen<br />

Raum darstellt. „I am just an employee of the Shah<br />

Rukh Khan myth“, sagt er über sich selbst (Chopra 2007:<br />

155), der indische Soziologe Rajinder Kumar Dudrah<br />

(2006) bezeichnet ihn als Bedeutungsvermittler und<br />

„glokale Ware“. Als eine Transfiguration seiner Rollen als<br />

Liebender, die auch mit diversen mythischen Geschichten<br />

verwoben sind, ist er für Viele eine Ikone für Liebe<br />

und Erotik. <strong>Die</strong>ser Aspekt seiner Star-Persona bildet den<br />

Kern für seine Repräsentation im Internet, für die<br />

affektiven Beziehungen der Fans zu ihm und für<br />

Diskurse über ihn. <strong>Die</strong> Gestaltung vieler Internetseiten<br />

weltweit und die Gespräche in einigen Foren stellen eine<br />

besondere Form der medialen Konvergenzen bzw. des<br />

Verschmelzens von Mythen und Alltag dar: Sie reflektieren<br />

sowohl die visuelle Kultur des populären<br />

indischen Films als auch lokale visuelle Repräsentationen,<br />

sie reden eine Sprache der Liebe, die wiederum<br />

Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

29


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

mit Inhalt und Form der filmischen Erzählweisen<br />

verbunden ist. <strong>Die</strong> Fans in Lima führen auch ein reges<br />

Vereinsleben mit diversen Treffen und Ausflügen – z.B.<br />

Reisen zu „Provinz-Mitgliedern“ ins Andenhochland<br />

oder zur Aufführung einer „Danza-Hindu“ Gruppe. Im<br />

Mai 2007 fand eine solche Veranstaltung in der Stadt<br />

Arequipa statt, wo ebenfalls eine rege Bolly-Tanzszene<br />

besteht. Das Vorbild für die Show in einem Kinosaal war<br />

die Welttournee der großen Stars Bollywood Temptations<br />

2004. Vor einer Kulisse bestehend aus einem riesigen<br />

Stoffbild des Taj Mahal präsentierten die jungen<br />

TänzerInnen aus der lokalen urbanen Mittelschicht<br />

Variationen über die Choreographien von Song and<br />

Dance-Nummern aus diversen indischen Filmen, die<br />

entsprechenden Videoaufnahmen kann man weltweit<br />

auf YouTube betrachten (zu Bollywood Fans in Österreich,<br />

online und offline, vgl. Fuchs 2007).<br />

Reisen im „Bolly-Land“ stehen auch in Zusammenhang<br />

mit besonderen Ereignissen, dazu zählen u.a. alle<br />

Veranstaltungen, bei denen Shah Rukh Khan persönlich<br />

anwesend ist. In England gab es im Jahr 2007 mehrere<br />

solcher Rituale der Begegnung, z.B. die Weltpremiere des<br />

Films Chak de India (Indien 2007, Regie Shimit Amin). An<br />

die 2000 Personen konnten an der Freilichtveranstaltung<br />

im Hof des Summerset House in London teilnehmen,<br />

neben vielen Menschen aus England (meist südasiatischer<br />

Herkunft) waren u.a. auch Gäste aus Frankreich,<br />

Deutschland, Österreich und Polen angereist – ein<br />

Fan hat eine 24stündige Busfahrt auf sich genommen um<br />

dabei zu sein. Sie ist Mitglied eines internationalen<br />

Internet-Forums und gekommen um SRK zu sehen, den<br />

sie seit vielen Jahren verehrt, aber auch um ihre<br />

FreundInnen aus dem Forum zu treffen. An die 20<br />

Personen aus diesem Kreis (vor allem aus Deutschland)<br />

haben sich bei der Premiere eingefunden, einige sind<br />

schon seit mehreren Jahren Bollywood und SRK Fans,<br />

andere erst seit kurzem. <strong>Die</strong> Reise wurde gründlich im<br />

Internet vorbereitet, neben der Premiere war auch ein<br />

Besuch in Southall, dem „Little India“ in der Umgebung<br />

von London, geplant. Ein Mitglied hatte das Glück zum<br />

roten Teppich der Presse Konferenz zu gelangen und war<br />

verzaubert von einem Moment der Nähe und einer<br />

Berührung von SRK. Andere mussten sich mit der<br />

zehnminütigen Ansprache des Stars, die immer wieder<br />

von der enthusiastisch schreienden Menge rund um sein<br />

Podium unterbrochen wurde, zufrieden geben. In den<br />

folgenden Tagen war dieses Ereignis ein zentrales Thema<br />

in vielen Internet-Foren, innerhalb weniger Stunden<br />

zirkulierten Bilder und Erlebnisberichte weltweit, und<br />

wurden dankbar von vielen Fans (u.a. in Peru)<br />

aufgenommen und kommentiert.<br />

30 Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

Ähnliches ereignet sich im November 2007 rund um die<br />

Premiere des neuen Films mit Shah Rukh Khan – Om<br />

Shanti Om (Indien 2007, Regie Farah Khan): Eine Gala<br />

Premiere mit dem Star in London ist angekündigt, die<br />

(voraussichtlich) einzige Premiere im deutschsprachigen<br />

Raum findet in Wien statt (allerdings ohne Stars). Und da<br />

ich beide Ereignisse teilnehmend beobachten möchte,<br />

und die Dokumentation der Wiener Premiere auch Teil<br />

eines Praktikums am Institut für Kultur- und<br />

Sozialanthropologie ist, mache ich jetzt schnell Schluss,<br />

denn – ich bin gerade ein bisschen bolly…. �<br />

Elke Mader ist Professorin am KSA-Institut. Arbeits- und<br />

Forschungsschwerpunkte: Mythen, Film, (Neue) Medien,<br />

Gender, transkulturelle Prozesse, Kultur- und<br />

Sozialanthropologie Lateinamerikas.<br />

Literatur<br />

Bakhtin, Mikhail. The Dialogic Imagination: Four Essays.<br />

Herausgegeben und übersetzt von Michael Holquist und Caryl<br />

Emerson. Austin und London, University of Texas Press, 1981.<br />

Chopra, Anupama. King of Bollywood: Shah Rukh Khan and the<br />

Seductive World of Indian Cinema. New York, 2007.<br />

Drummond, Lee. American Dreamtime. A Cultural Analysis of<br />

Popular Movies, and their Implications for a Science of Humanity.<br />

Maryland, 1996.<br />

Dudrah, Rajinder. Bollywood: Sociology <strong>goes</strong> to the Movies. London/<br />

New Delhi/Thousand Oaks, 2006.<br />

Fuchs, Bernhard. Bollywood-Fans meeting online and offline.<br />

Filmkultur im Internet, bei Stammtischen und auf Clubbings. ZfK-<br />

Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2: 69-84. Wien, 2007.<br />

Hall, Stuart. Representation. Cultural Representations and Signifying<br />

Practices. London, 1997.<br />

Jenkins, Henry. Fans, bloggers, and gamers. Exploring participatory<br />

culture. New York, 2006.<br />

Mader, Elke. Anthropologie der Mythen. Wien, 2007.<br />

Overing, Joanna. The Grotesque Landscape of Mythic 'Before Time';<br />

the Folly of Sociality in 'today time': an egalitarian aesthetics of<br />

human existence. In: Ernst Halbmayer and Elke Mader (Hg.): Kultur,<br />

Raum, Landschaft. Zur Bedeutung des Raumes in Zeiten der<br />

Globalität. Wien/Frankfurt, 2004.<br />

Peterson, Mark. Performing Media. Towards an Ethnography of<br />

Intertextuality. In: Eric Rothenbuhler und Mihai Coman (Hg.): Media<br />

<strong>Anthropology</strong>. Thousand Oaks/London/New Delhi, 2005.<br />

Coman, Mihai/Rothenbuhler, Eric.The Promise of Media <strong>Anthropology</strong>.<br />

In: Rothenbuhler, Eric und Mihai Coman (Hg): Media <strong>Anthropology</strong>.<br />

Thousand Oaks/London/New Delhi, 2005.


Blogger tragen zu einer Pluralisierung der Medienwelt bei und sind dabei auch<br />

VermittlerInnen zwischen Kulturindustrie und Medien-RezipientInnen<br />

von BERNHARD FUCHS und BIRGIT PESTAL<br />

Online-Journalismus und<br />

Filmkonsum<br />

Anmerkungen zur Bollywood-Blogosphere<br />

In der Bollywood-Fankultur spielt das<br />

Internet als ein Tandem-Medium zum<br />

Film eine bedeutende Rolle.<br />

Gerade in Europa und den USA<br />

kommt diese besonders zum Tragen,<br />

da hier die mediale Präsenz Bollywood<br />

nicht so ausgeprägt ist, wie am<br />

indischen Subkontinent. Das Internet<br />

gewinnt also an Bedeutung als ein<br />

Ergänzungsmedium für eine<br />

periphere Kulturindustrie. <strong>Die</strong><br />

Ausbreitung der Bollywood-Mediascape<br />

(vgl. Bollyscape, Mader, Seite 29) stützt<br />

sich ganz massiv auf neue Medien, die<br />

besonders für nicht-indisches<br />

Publikum eine essentielle Mittlerrolle<br />

besitzen. In diesem Beitrag<br />

konzentrieren wir uns auf die Weblogs<br />

der Bollywood-Fans, die sich selbst<br />

auch als Bollyblogger bezeichnen.<br />

Foto: Barbara Skoda<br />

Bollyblogger-Meeting in Wien, 2007<br />

Bollywood ist ein Begriff für den indischen Mainstream-Film in<br />

der Sprache Hindi, die Filme werden in der Metropole<br />

Mumbai produziert. Seit den 1970er Jahren wurde in<br />

journalistischen Kreisen die spöttische Bezeichnung Bollywood<br />

für das Bombay-Kino verwendet, die sich aber mittlerweile<br />

international etablierte – ganz ohne pejorativen Unterton. Auch „im<br />

Westen“ wird die indische Kulturindustrie zunehmend als eine<br />

ernstzunehmende Alternative für Hollywood-Produktionen betrachtet,<br />

im deutschsprachigen Raum hat die Fangemeinde eine<br />

anzuerkennende Größe erreicht. RTL2 zeigt seit dem Jahr 2005<br />

kontinuierlich Bollywoodfilme und entsprechende Clubbings finden<br />

vielerorts erfolgreich statt. Indische Popkultur und das „Indiengefühl“<br />

(Horkheimer 2007) halten Einzug in den Alltag vieler<br />

deutschsprachiger Fans. Special Interest-Magazine (z.B. Ishq-Bollywood<br />

& Lifestyle) bedienen bereits diesen Markt.<br />

<strong>Die</strong> Rezeption indischer Filme durch ein nicht-indisches Publikum ist<br />

noch ein relativ junges Forschungsthema. Bollyblogger nehmen in<br />

diesem Forschungsfeld eine Sonderposition ein – sie stehen (als<br />

virtuelle Kulturvermittler) zwischen der Hindi-Filmindustrie und<br />

dem deutschsprachigen Publikum. Sie übersetzen, machen und<br />

verbreiten News, sie kommentieren und kontrollieren sich gegenseitig<br />

und thematisieren Ereignisse im Kontext der indischen Traumfabrik,<br />

die große westliche Medien nicht registrieren. Sie sind somit Pioniere<br />

(oder auch Opinion Leader), die auf eine alternative Popkultur zum<br />

euro-amerikanischen Mainstream aufmerksam machen. Den Respekt<br />

der Fan-Community, der z.B. in Fan-Foren sichtbar wird, erwirbt sich<br />

ein Bollyblogger über seine kontinuierliche, ausführliche, vielleicht<br />

auch witzige und subjektive Beschäftigung mit der Thematik. <strong>Die</strong><br />

lokale Bollywood-Print-Berichterstattung, sofern diese überhaupt<br />

vorhanden ist, wird von Fans im Netz stark kritisiert, die Blogger<br />

hingegen sind hoch angesehen.<br />

Als Bloggen bezeichnet man eine Form des populären Online-<br />

Journalismus, die seit Ende der 1990er Jahre aufgrund benutzerfreundlicher<br />

Gratis-Software zunehmend bekannt wurde. „<strong>Maske</strong>n“,<br />

vorgefertigte Templates für Homepages, ermöglichen es auch Laien<br />

Online-Tagebücher zu verfassen, so genannte Weblogs, kurz Blogs.<br />

Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

31


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Wie bei einem Tagebuch werden hier laufend Einträge<br />

vorgenommen. <strong>Die</strong> VerfasserInnen geben ihrer Seite ein<br />

charakteristisches Layout, um auch graphisch eine<br />

Identität aufzubauen, welche dem gewählten textuellen<br />

Genre entspricht. Zahlreiche Extras (Bilder, Labels,<br />

Statistiken, RSS-Feeds, etc.) lassen sich auf einem Blog<br />

einfach einbauen. Der Bollywood-<br />

Newsblogger Michael z.B. hat ein eher<br />

minimalistisches Layout gewählt<br />

(www.bollywoodblog.de). Der Bollyblog<br />

von „Mariakäfer“ ist hin<br />

gegen sehr persönlich gestaltet<br />

(www.mariakaefer.de). Blogs sind eine<br />

relativ geschützte und sichere Variante<br />

sich selbst darzustellen. Identität wird<br />

also online konstruiert, was den<br />

Blogger vor die Aufgabe stellt (mehr<br />

oder weniger bewusst), wie eine<br />

eigenständige Ein-Personen-Redaktion<br />

zu agieren. Das betrifft z.B. die Selbstzensur,<br />

das Lektorat oder die Themen-<br />

Agenda. Ein großes Plus in der Ökonomie der<br />

Aufmerksamkeit: Blogs tauchen bei Google oft in<br />

privilegierter Position bei den Suchergebnissen auf, da<br />

große Suchmaschinen ihre Ergebnisse danach filtern, wie<br />

oft eine Webseite verlinkt ist. Blogger, z.B. Bollyblogger,<br />

vernetzen sich stark untereinander und bilden Netzwerke,<br />

sie tragen somit zu einer Demokratisierung –<br />

zumindest jedoch zu einer Pluralisierung – der<br />

Medienwelt bei.<br />

Subjektivität, Identität und Intimität<br />

Blogger gelten als bzw. sind tatsächlich oft Insider, die<br />

brisante Inhalte schneller und würziger vermitteln,<br />

übersetzen und kommentieren als Massenmedien.<br />

Umgekehrt werden sie aber kritisiert, irrelevantes,<br />

selbstverliebtes Geschwätz zu veröffentlichen und<br />

Banalitäten auf eine globale Bühne zu stellen. Das<br />

Individuelle und Persönliche steht hier aber auch klar im<br />

Vordergrund, es ist sogar erwünscht konkrete Aspekte<br />

aus einem größeren Kontext herauszugreifen.<br />

Blogs können ein Sprachrohr für private Ansichten<br />

darstellen. Sie lassen die Grenzen von Öffentlichkeit und<br />

Privatsphäre verschwimmen und drängen bisweilen<br />

auch Intimitäten in den Vordergrund, allerdings im<br />

Schutz einer (relativen) Anonymität. Das Phänomen lässt<br />

sich als Bestandteil eines allgemeinen Wandels der<br />

Zivilgesellschaft betrachten, auch im Sinne der von<br />

Richard Sennett beschriebenen „Tyrannei der Intimität“.<br />

LeserInnen, die kontinuierlich einen Blog besuchen,<br />

wissen, was sie dort erwartet. Erfolgreiche Blogger<br />

bleiben ihrem Schreibstil treu. „Ich blogge auf Englisch,<br />

32<br />

Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

Jeder Blogger ist<br />

Niemandem verpflichtet,<br />

auch anderen Bloggern<br />

gegenüber nicht. Der<br />

Blogger ist die gelebte<br />

Freiheit in guten, wie in<br />

schlechten Zeiten. Krisen<br />

sind durchzustehen.<br />

Schweigen ist verboten.<br />

(Ziffer 6 aus dem Blogger-Kodex von<br />

Bollybloggerin Maini)<br />

weil ich die Fremdsprache so übe, aber ich mache auch<br />

Bemerkungen in Hinglish oder Hindi, einfach weil ich<br />

eben cool sein will“, meint etwa die Bollywoodbloggerin<br />

Barbara Skoda. Ihr Blog (http://babasko.blogspot.com),<br />

den sie 2005 angelegt hat, verzeichnet heute mehr als 100<br />

LeserInnen pro Tag. Sie ist sowohl mit der deutschen als<br />

auch mit der internationalen Blogger-<br />

Szene vernetzt. Indische Filmplattformen<br />

kopieren ihre Film-Reviews<br />

und nebenbei bloggt sie auch auf der<br />

indischen Webseite von AOL. Barbaras<br />

Meinung ist gefragt – so wird sie z.B.<br />

persönlich gebeten auf großen Bollywood<br />

bezogenen Online-Plattformen<br />

Kommentare zu hinterlassen. „In<br />

Online-Foren ist man nur eine Stimme<br />

unter vielen. Bloggen ist definitiv eine<br />

Form von Narzissmus, ich find’ das<br />

ehrlich gesagt einfach genial, wenn<br />

Leute bei mir Kommentare hinterlassen<br />

oder meine Themen irgendwo wieder<br />

aufgegriffen werden. Auf der anderen Seite gibt es<br />

durchaus auch kontroverse Themen, wie z.B. die Sanjay<br />

Dutt-Affäre [es geht um einen berühmten Schauspieler,<br />

der 2007 zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, Anm.], bei<br />

denen ich meine Kommentare lieber in einem Forum [in<br />

deutscher Sprache] abgebe, weil ich hier quasi<br />

geschützter bin.“<br />

Galt das Internet früher eher als „abstrakte“ Männerdomäne,<br />

ist mit dem Weblog ein neues Medium aufgetaucht,<br />

das Frauen in hohem Maße auf einer kreativen<br />

Ebene anzusprechen scheint. Beim Bloggen ist insbesondere<br />

der spielerische Zugang und der Unterhaltungsaspekt<br />

für Frauen attraktiv. Tagebuchschreiben ist<br />

historisch sehr stark eine weibliche Aktivität (vgl.<br />

Schönberger 2006). Das Bloggen bringt diese Tätigkeit als<br />

eine Form der Äußerung auf eine öffentliche Bühne.<br />

Auch die Fangemeinschaft von kommerziellen Hindi-<br />

Filmen ist außerhalb Indiens primär weiblich (Pestal<br />

2007: 138).<br />

Bei der Suche nach deutschen Bollywood-Fanblogs<br />

finden sich viele liebevoll und aufwendig gestaltete<br />

sowie permanent aktualisierte Blogs, die auch die<br />

Persönlichkeit der AutorInnen stilvoll reflektieren (Etwa<br />

16 Bollyblogs finden sich im deutschsprachigen Internet,<br />

zehn davon werden von weiblichen Bloggern betreut).<br />

Über ein gemeinsames Interesse entwickeln sich über<br />

Blogs zudem soziale Netzwerke und Freundschaften, die<br />

durch symbolische Handlungen bekräftigt und sichtbar<br />

gemacht werden. Blogger, WebseitenbetreiberInnen und<br />

Fans finden in Foren zueinander und unternehmen<br />

gemeinsame Offline-Aktivitäten.


„Signifying practices“<br />

<strong>Die</strong> Unterscheidung von „virtuell“ und „real“ ist in<br />

intensiven Kommunikationszusammenhängen hinfällig.<br />

Tatsächlich erlaubt die Verbindung mit dem Internet<br />

einer cineastischen Subkultur die Überwindung<br />

räumlicher Barrieren bis hin zur globalen Vernetzung<br />

(vgl. Fuchs 2007).<br />

Es scheint ein Bedarf zu bestehen, diese virtuellen<br />

Beziehungen in Face-to-Face Beziehungen zu transformieren.<br />

In Bezug auf Bollywood lässt sich das verdeutlichen:<br />

Das erste Paneuropäische Internationale<br />

Bollywood Blogger Meeting (PEIBBM) fand im Frühjahr<br />

2007 in Wien statt und führte die deutschsprachige<br />

Blogger-Community erstmals im „realen Leben“ zusammen.<br />

Das Programm bestand aus einem gemeinsamen<br />

Brunch, einem Filmscreening mit Live-Blogging,<br />

und der Verleihung eines online inszenierten Bollywood-<br />

Publikums-Preises, dem ACEBA (Annual Central<br />

European Bollywood Award), für den im Vorfeld rund 1000<br />

Forumsmitglieder online über indische Stars und Filme<br />

abstimmten. <strong>Die</strong>ses Ereignis trug wesentlich zur<br />

Profilierung der Wiener Fan-Community bei. Das<br />

nächste PEIBBM wird bereits in größerem Rahmen konzipiert<br />

und soll im Frühling 2008 in München stattfinden.<br />

Blogger-Treffen dienen der Etablierung einer Gemeinschaft<br />

und auch deren Erhalt. Wichtig ist der sprachliche<br />

Aspekt: Deutschsprachige Bollywood-Blogger bilden<br />

eine eigene Community, die zwar sehr wohl die englischsprachigen<br />

Diskurse verfolgt und auch übersetzt, aber<br />

umgekehrt von außen kaum rezipiert werden kann.<br />

Im Herbst 2007 wurde das Mini-Khan Projekt ins Leben<br />

gerufen. Ziel ist die Intensivierung der Bollyblogger-<br />

Community. Es geht um eine Shah Rukh Khan Puppe,<br />

die von Blogger zu Blogger rund um die Welt geschickt<br />

wird, wobei jede/r sich etwas Kreatives überlegt, was er<br />

oder sie mit der Puppe unternimmt. Das verstärkt die<br />

wechselseitigen Blog-Besuche und Kommentare. <strong>Die</strong><br />

Idee entstand in einer amerikanisch-deutschen<br />

Kooperation; das Projekt reicht also über den deutschen<br />

Sprachraum hinaus.<br />

<strong>Die</strong> „Erlebnisse“ der zirkulierenden Puppe des<br />

Bollywood-Stars werden in einem Tagebuch festgehalten,<br />

und auch online dokumentiert. Es handelt sich<br />

um eine symbolische Praxis, die dazu beiträgt soziale<br />

Netzwerke zu intensivieren. Ganz im Stil des Kula-<br />

Handels der Trobriander bringt die Cyber Community<br />

der Bollywood-Fans ein signifikantes Objekt in Umlauf,<br />

um die Grundlage für künftiges Handeln zu festigen.<br />

Symbolisches Handeln macht aus Individuen, die<br />

einander in einer Cyber-Welt begegnen, signifikante<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Andere. Online Communities lassen sich als „Easy Entry<br />

– Easy Exit“-Gemeinschaften charakterisieren. <strong>Die</strong><br />

Etablierung von „Face to Face“-Beziehungen und<br />

symbolische Interaktionen steigern hier den Grad an<br />

Verbindlichkeit – indem sie Bindungen schaffen.<br />

Blogger schärfen allgemein den Blick auf neue Trends<br />

und kreieren eine alternative Medienlandschaft, die auch<br />

von größeren Medien anerkannt und wahrgenommen<br />

wird. Sie sind gleichzeitig KonsumentInnen und<br />

VermittlerInnen, die Grenzen von Konsumption und<br />

Produktion verschwimmen („Produser“). Blogs werden<br />

auch von „großen“ Printmedien rezipiert und kopiert.<br />

Sie umgehen also einerseits Massenmedien, sind aber<br />

gleichzeitig aufgrund ihrer größeren Freiheit in der Lage<br />

diese zu beeinflussen bzw. auch zu inspirieren. �<br />

Bernhard Fuchs, geboren 1966, ist Assistenzprofessor am<br />

Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien.<br />

Forschungsschwerpunkte: Stereotypen, Kulturtransfer,<br />

Migration, Medien.<br />

Birgit Pestal, geboren 1980, hat KSA und Publizistik<br />

studiert und ist heute als freie Journalistin tätig. Sie ist<br />

derzeit Lehrbeauftragte am Institut für KSA. Schwerpunkt:<br />

Medien, Kulturaustausch, Fankulturen, Bollywood.<br />

Literatur<br />

Fuchs, Bernhard. Bollywood-Fans meeting online and offline.<br />

Filmkultur im Internet, auf Stammtischen und bei Clubbings.<br />

Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Bd.2. 2007<br />

Horkheimer, Max. Trendreport 2007. http://www.zukunftsinstitut.de<br />

Interview Fuchs/Pestal mit Barbara Skoda, Wien, 26.10.1007<br />

Pestal, Birgit. Faszination Bollywood. Zahlen, Fakten und Hintergründe<br />

zum „Trend“ im deutschsprachigen Raum. Marburg, 2007<br />

Schmidt, Jan. Weblogs. Eine kommunikationssoziologische Studie.<br />

Konstanz, 2006<br />

Sennett, Richard. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: die<br />

Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main, 1983<br />

Winter, Rainer. Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als<br />

kultureller und ästhetischer Prozeß. München, 2005<br />

Schönberger, Klaus. Weblogs: Persönliches Tagebuch, Wissensmanagement-Werkzeugund<br />

Publikationsorgan. In: Schlobinski,<br />

Peter (Hg.): Von »hdl« bis »cul8r«.Sprache und Kommunikation in<br />

den neuen Medien. DUDEN Thema Deutsch. Bd. 7.Mannheim et al.<br />

2006, S. 233-248.<br />

Maini (Bollybloggerin): http://maini.wordpress.com<br />

Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

33


34<br />

Kooperative Beziehungen im spielerischen virtuellen Umfeld umgehen traditionelle<br />

Machtbeziehungen und territoriale Zugehörigkeiten - aber sie erschaffen auch neue<br />

von BIRGIT PESTAL<br />

World of Warcraft<br />

Vignetten aus einem virtuellen Wunderland<br />

Massive(ly) Multiplayer Online Role-<br />

Playing Games (MMORPGs), also<br />

Online-Rollenspiele, sind ein<br />

besonderes mediales und soziales<br />

Phänomen unserer Zeit und<br />

verzeichnen einen massiven Zuwachs<br />

an SpielerInnen. World of Warcraft<br />

(kurz: WOW) ist mit rund 9 Millionen<br />

AbonentInnen (Stand vom 24.Juli<br />

2007) das meistgespielte<br />

Onlinerollenspiel der Welt. Ebenso<br />

viele Forschungsfragen eröffnen sich<br />

bei einem Rundgang durch diese<br />

atmosphärische Spielwelt. Ein kurzer<br />

Blick auf den Forschungsstand zeigt,<br />

dass MUDs (Multi User Dungeons),<br />

die Vorgänger der MMPORGs, noch<br />

immer besser untersucht zu sein<br />

scheinen, als diese weitaus<br />

komplexeren Spielwelten des neuen<br />

Jahrtausends. <strong>Die</strong>ser Artikel will ein<br />

sehr spannendes und junges<br />

Forschungsfeld skizzieren – ohne sich<br />

in den faszinierenden Details dieses<br />

phantasievollen Online-Universums<br />

zu verlieren.<br />

Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

Wer WOW verstehen will, muss es selbst spielen. Also<br />

zunächst einmal einen Charakter erschaffen. Ihn<br />

entwickeln, „skillen“ und „hochleveln“. Aufgaben und<br />

Rätsel lösen. Berufe erlernen. Gildenmitglied werden.<br />

Das Auktionshaus verwenden. Einer Schlachtgruppe beitreten.<br />

Rufpunkte sammeln. Wahrhaft epische Rüstungsgegenstände und<br />

Waffen erwerben. Addons (externe Applikationen) installieren. Makros<br />

programmieren. Kommunikationskanäle benutzen. Kontakte pflegen.<br />

Strategien besprechen. Und es geht immer so weiter.<br />

Wenn das Ziel des Spiels sein soll, den gesamten Content (Spiel-Inhalt)<br />

zu ergründen, wird dieses Unterfangen von der Hersteller-Firma<br />

Blizzard erfolgreich sabotiert. Immer neue Gebiete und Spielvarianten<br />

werden zu der bestehenden Welt hinzugefügt. World of Warcraft<br />

wächst und expandiert kontinuierlich. Das letzte Addon erschien am<br />

17. Jänner 2007. Eine buchstäblich neue Welt tat sich punkt<br />

Mitternacht auf. <strong>Die</strong> Begeisterung unter den SpielerInnen war<br />

grenzenlos und die Spielerweiterung in vielen Geschäften schnell<br />

ausverkauft. Mit nahezu 3,5 Millionen verkauften Exemplaren im<br />

ersten Monat, brach das Addon in Nordamerika und Europa sämtliche<br />

Verkaufsrekorde für PC-Spiele. WOW ist zweifellos der Harry Potter<br />

unter den Onlinespielen.<br />

In diesem Spiel lassen sich mühelos Tage, Wochen und sogar Jahre<br />

verbringen. <strong>Die</strong> Atmosphäre der virtuellen dreidimensionalen Welt<br />

will buchstäblich eingeatmet werden. Das Online-Rollenspiel ist auf<br />

hochspezialisierte Kampfaktionen in einem Herr der Ringe-ähnlichen<br />

Umfeld ausgerichtet (Freigegeben ist es ab 12 Jahren). Gemeinsam<br />

überwinden die SpielerInnen hier verschiedene Herausforderungen<br />

oder Gegner (d.h. NPCs, also Non Player Character, das sind<br />

vorprogrammierte Figuren, die nicht von anderen Menschen gespielt<br />

werden). Daneben können die SpielerInnen auch in verschiedenen<br />

Spielmodi gegeneinander antreten, z.B. in „Duellen“, in der „Arena“<br />

oder auf „Schlachtfeldern“. <strong>Die</strong>ses Player vs. Player-spielen (PVP)<br />

schafft für viele WOW-Gamer einen besonderen Anreiz. Ein anderer<br />

Motivationsfaktor, der die SpielerInnen jahrelang an das Spiel bindet,<br />

ist das Spielen in großen Stammgruppen, die in beschränkten<br />

Bereichen der Spielwelt (Instanzen) mächtige „Endbosse“ (z.B.<br />

Drachen) überwinden.


Unkonventionelle soziale Vernetzung<br />

<strong>Die</strong> Mitgliedschaft in einer „Gilde“ oder Stammgruppe,<br />

also einer Vereinigung innerhalb des Spiels, fördert erwiesenermaßen<br />

den Spielkonsum. Laut einer Studie von<br />

Olgierd Cypra gaben insgesamt 9226 Befragte an, Mitglied<br />

einer Gilde zu sein, dies sind 80,6% des Gesamtsamples.<br />

Außerdem zeigt die Studie: <strong>Die</strong> Anzahl der<br />

durch das Spielen gefundenen Freundschaften erhöht<br />

den Spielkonsum. Und: Der Spielkonsum unter den<br />

Gildenmitgliedern fällt vor allem dann hoch aus, wenn<br />

die dortigen Kontakte als qualitativ hochwertig (den<br />

realweltlichen Kontakten mindestens ebenbürtig) angesehen<br />

werden. <strong>Die</strong> Anonymität ermöglicht demokratische<br />

und offene Kommunikation im Chat oder im<br />

„Teamspeak“ (Gruppen-Online-Telefonie). Das kann z.B.<br />

bedeuten: Ein deutscher Mathelehrer spielt inkognito mit<br />

seinen eigenen Schülern. Oder: Ein erwachsener<br />

Familienvater ordnet sich im Gruppenspiel einem<br />

16jährigen unter, in manchen Fällen ohne es überhaupt<br />

zu wissen. „Das wäre vielleicht im echten Leben auch<br />

manchmal nicht so schlecht“, meint dazu ein 36-jähriger<br />

Psychologe und erfahrener WOW-Spieler.<br />

„Make Love not Warcraft“<br />

Kurz gesagt sei es ein „Ultrawahnsinnsspiel“, so meint er<br />

im Teamspeak während des Spielens. Besonders spannend<br />

findet er z.B. die Sachlage, dass viele Frauen männliche<br />

Avatare (Charaktere) erschaffen und umgekehrt.<br />

„Vielleicht will man nur etwas anderes ausprobieren,<br />

vielleicht wird aber auch irgendetwas kompensiert.“<br />

Möglicherweise will eine Frau aber auch nicht unbedingt,<br />

dass sie im Spiel gleich als Frau identifiziert wird.<br />

„Einmal als Frau erkannt, ist man in dem Spiel bereits<br />

Freiwild und wird oft angeflirtet“, meint dazu die langjährige<br />

Spielerin und Stammgruppenleiterin namens<br />

Swiby, die auch schon im wahren Leben mit dem Namen<br />

ihres WOW-Avatars angesprochen wird. Ihr Lebenspartner<br />

und WOW-Spielgefährte Jebbie ergänzt: „Und vielleicht<br />

schaut man als Mann, wenn man schon so viele<br />

Stunden vor dem PC verbringt, ganz einfach lieber einer<br />

weiblichen, wohlgeformten Nachtelfe beim interagieren<br />

zu, als z.B. einem männlichen Avatar.“ Tatsächlich ist der<br />

Anteil weiblicher Nachtelfen bei WOW bemerkenswert<br />

groß. Und jener der männlichen WOW-Spieler ist immer<br />

noch signifikant. <strong>Die</strong> beiden Schweizer spielen seit der<br />

Betaphase (2005) und organisieren heute regelmäßig<br />

große Spielevents mit 25 bis 40 SpielerInnen. Der soziale<br />

Aspekt ist mittlerweile für die beiden die Hauptantriebsfeder<br />

weiterzuspielen.<br />

„In WOW ist es egal, ob jemand groß oder klein oder<br />

dick oder dünn ist, oder Pickel hat. Wir haben ein gemeinsames<br />

Hobby und eine gleiche Wellenlänge und<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

darauf kommt es an. <strong>Die</strong> Menschen lernen sich ingame<br />

[im Spiel, Anm.] kennen. Da gibt es keine Vorurteile.<br />

Menschen, die sich im wahren Leben schwer tun<br />

Freunde zu finden, werden hier respektiert. Bei LAN-<br />

Parties kann man dann beobachten, wie diese Menschen<br />

ganz normal integriert werden“, meint Swiby. In WOW<br />

gibt es hohe moralische Werte, Ritterlichkeit und<br />

Fairplay. Ideale also, die wir nicht immer im wahren<br />

Leben finden. Dazu Jebbie: „WOW ist schon irgendwie<br />

eine Metapher für unsere Welt, wenn man sich z.B. die<br />

Mythologie anschaut. Es gibt ‚Rassen‘, die sich<br />

bekriegen. Das ist eigentlich brutal. Aber es stört mich<br />

sehr, wenn Außenstehende WOW mit Ego-shootern<br />

[Schießspielen, Anm.] in einen Topf werfen und als<br />

gewaltverherrlichend abtun.“<br />

WOW ist tatsächlich vergleichsweise steril. Es gibt keine<br />

kämpferischen Blutgemetzel. In China wird die Grafik<br />

außerdem noch zusätzlich an einen gewissen kulturellen<br />

Ländercode angepasst, da manche Grafiken als morbide<br />

empfunden werden: Hier gibt es z.B. keine Leichen (von<br />

besiegten Gegnern) oder Untote (Skelette) zu sehen, die<br />

Texturen werden aufwendig verändert. Das letzte Addon<br />

kam (u.a.) daher auch mit einem halben Jahr Verspätung<br />

nach China. <strong>Die</strong> Spielserver sind übrigens grundsätzlich<br />

in Sprachgebiete unterteilt, aber es ist technisch möglich<br />

auch auf ausländischen Servern zu spielen. Ein relativ<br />

bekanntes Phänomen sind z.B. ChinesInnen, die auf<br />

ausländischen Servern spielen, die so genannten<br />

Chinafarmer.<br />

Echtes Geld wert<br />

WOW hat China schon lange erobert. Ein besonderes<br />

Phänomen ergibt sich aus der Sachlage, dass es<br />

außerhalb Chinas SpielerInnen gibt, die nicht erst selbst<br />

Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

35


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

einen Charakter auf Level 70 spielen wollen, sondern sich<br />

nur für das Raiden, also das Spielen in großen Highlevel-<br />

Schlachtgruppen interessieren. Für reales Geld wollen sie<br />

einen hochgelevelten Charakter unter anderem via eBay<br />

erwerben. Dasselbe gilt auch für virtuelle Gegenstände<br />

(Items), wie z.B. Waffen. Das Geschäft<br />

wird über eBay abgewickelt – die Items<br />

werden ingame übergeben. In China ist<br />

eine Debatte um das so genannte farmen<br />

(d.h. das Erwerben von virtuellem Gold<br />

oder Gegenständen) entstanden. Eine<br />

unüberschaubare Zahl (geschätzte<br />

100.000, vgl. Geiges 2006) Jugendlicher<br />

verdient so heute bereits echtes Geld.<br />

Eine ganze Berufsparte inkl. Gesetzgebung<br />

ist in China entstanden. Hier<br />

gibt es nicht nur Zensur und Versuche<br />

den Zugang zum Spiel einzuschränken, sondern auch<br />

offenbar eine echte Angst, dass Jugendliche vom Land,<br />

die eigentlich die reale Ernte von den Feldern einbringen<br />

sollten, lieber ihre Zeit in der Online-Welt verbringen,<br />

um für einen ungefähren Monatslohn von 800 Yuan (vgl.<br />

Geiges 2006) virtuell zu farmen. <strong>Die</strong> Abnehmer für die<br />

gefarmten Items sind, so könnte man zumindest leicht<br />

vermuten, vorwiegend in Europa oder den USA zuhause.<br />

Sie haben mehr Interesse am ausgereiften Gruppenspiel<br />

als am „mühsamen“ hochleveln der Spielfiguren.<br />

Organisation, Dynamik und Innovation<br />

Gilden oder Stammgruppen verhalten sich wie lernende<br />

Organisationen. Sie betreiben Aktivität auf Dauer, haben<br />

gemeinsame Ziele, sie interagieren arbeitsteilig, es gibt<br />

Mitgliedschaftsregeln und Kompetenzverteilung, ein<br />

Logo (Gildenwappen), eigene Kommunikationsnetze,<br />

Systeme die Anreize schaffen (z.B. Ehren-Punktesysteme)<br />

und gezielte Problemlösungsprozesse bzw.<br />

Konsensfindung. Eine lernende Organisation ist<br />

idealerweise ein System, welches sich ständig in<br />

Bewegung befindet. Gewisse Ereignisse werden als<br />

Anregung aufgefasst und für Entwicklungsprozesse<br />

genutzt, um die Wissensbasis und Handlungsspielräume<br />

an die neuen Erfordernisse anzupassen. Dem zugrunde<br />

liegt eine offene und von Individualität geprägte<br />

Organisation, die ein innovatives Lösen von Problemen<br />

erlaubt und unterstützt. All das lässt sich in einer WOW-<br />

Stammgruppe erleben. Jede WOW-Gruppe erfindet<br />

dabei eigene Methoden und Wege das Spiel zu meistern.<br />

Bestimmte Gruppen sind besonders erfolgreich, wie z.B.<br />

Nihilum, die so gut wie jeden „Endboss“ als erstes besiegt<br />

haben. In vielen Fan-Foren wird die Frage diskutiert, ob<br />

diese SpielerInnen überhaupt noch ein Privatleben<br />

haben. Bei Jebbie und Swibys sehr erfolgreicher<br />

Stammgruppe Unmatched spielen persönliche Kontakte<br />

36<br />

Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

„Im wahren Leben<br />

bin ich nur ein<br />

einfacher Geologe,<br />

aber HIER bin ich<br />

FALCON,<br />

Verteidiger der<br />

Allianz. Jäger der<br />

Stufe 2.“<br />

(Zitat aus South Park)<br />

allerdings eine wichtige Rolle. <strong>Die</strong> SpielerInnen treffen<br />

sich auch im wahren Leben und unternehmen<br />

gemeinsame Offline-Aktivitäten. Im Spiel selbst wird<br />

auch viel Privates ausgetauscht. Es wird über<br />

Musikvorlieben oder Tages-Politik geplaudert. Der<br />

Feierabend wird gemeinsam zelebriert. Und<br />

auch Geschehnisse aus dem wahren Leben wie<br />

z.B. Hochzeiten oder Todesfälle werden ingame<br />

reproduziert und ausgelebt. <strong>Die</strong> Kulturwissenschaftlerin<br />

und Spieltheoretikerin<br />

Adamowsky meinte dazu, dass persönliche<br />

Beziehungen im Cyberspace möglich sind, sie<br />

funktionieren anders, doch das heißt nicht,<br />

dass sie weniger intensiv sind. Man kann also<br />

durchaus den Wunsch erkennen, ein soziales<br />

Band zu schaffen, das „sich nicht auf<br />

territoriale Zugehörigkeiten, institutionelle<br />

Beziehungen oder Machtbeziehungen gründet, sondern<br />

auf die Vereinigung durch gemeinsame Interessen, auf<br />

einen spielerischen Umgang, die Mitteilung des Wissens,<br />

auf einen kooperativen Lernprozess und auf offene<br />

Prozesse der Zusammenarbeit.“ �<br />

Birgit Pestal, geboren 1980, hat KSA und Publizistik<br />

studiert und ist heute als freie Journalistin tätig. Sie ist<br />

derzeit Lehrbeauftragte am Institut für KSA. Schwerpunkt:<br />

Medien, Kulturaustausch, Fankulturen, Bollywood.<br />

Literatur<br />

Adamowsky, Natascha. Spielfiguren in virtuellen Welten, Frankfurt/<br />

New York, 2000<br />

Cypra, Olgierd. Warum spielen Menschen in virtuellen Welten? Eine<br />

empirische Untersuchung zu Online-Rollenspielen und ihren<br />

Nutzern. http://www.mmorpg-research.de. Diplomarbeit. Mainz<br />

2005<br />

Geiges, Adrian. Goldrausch in Azeroth. In: Stern 19/2006<br />

Götzenbrucker, Gerit. Integrationspotentiale neuer Technologie am<br />

Beispiel von Multi User Dimensions. Eine empirische Analyse<br />

gemeinschaftsbildender Prozesse in kollaborativen Spielewelten.<br />

Dissertation. Wien 2001<br />

Interview mit den WOW-Stammspielern Jebbie und Swiby in Wien<br />

am 19.10.07. Link: http://www.unmatched-guild.com<br />

„Make Love not Warcraft“: Unter diesem Titel kam im Oktober 2006<br />

eine Folge der berühmten Comic-Serie „South Park“ heraus. <strong>Die</strong><br />

Episode karikierte, unterstützt von Blizzard, die Klischees mit denen<br />

WOW-SpielerInnen immer wieder konfrontiert werden. Siehe hier:<br />

http://www.youtube.com/watch?v=xAEMVwb6Y5k


In Filmen und Projekten versucht Ivo Strecker die Lebenswelt der Hamar in Äthiopien<br />

greifbar zu machen<br />

von IXY NOEVER und JULIA PONTILLER<br />

Ivo Strecker im Gespräch<br />

Ein ethnographischer Filmemacher<br />

Ivo Strecker zeichnen besonders die<br />

enge Verwobenheit seiner beiden<br />

Berufe sowie seine tiefe Verbundenheit<br />

mit den Hamar in Südäthiopien<br />

aus, zu denen er und seine Frau Jean<br />

Lydall seit den 1970er Jahren Feldforschungsreisen<br />

unternehmen. Von<br />

1984 bis zu seiner Pensionierung 2005<br />

war Ivo Strecker Professor für Ethnologie<br />

am Institut für Ethnologie und<br />

Afrikastudien der Johannes-<br />

Gutenberg-Universität Mainz. Seine<br />

ethnologischen Arbeiten und Filme<br />

können wie Puzzelstücke betrachtet<br />

werden, in denen er sich bestimmten<br />

Themenschwerpunkten zuwendet.<br />

Puzzelstücke, die sich wie zu einem<br />

Bild der umfassenden Lebensweise<br />

der Hamar zusammenfügen lassen<br />

und die zeigen, wie sehr Ivo Strecker<br />

während der letzten drei Jahrzehnte<br />

mit ihrer Lebenswelt verbunden war<br />

und ist.<br />

Wie sind Sie zu den Hamar gekommen?<br />

Robert Gardner (ein amerikanischer Filmemacher, der sich auf Filme<br />

ethnographischen Inhalts spezialisierte, zu seinen bekanntesten<br />

Werken zählen Dead Birds oder Forest of Bliss) drehte gerade seinen<br />

Film Rivers of Sand und wir wurden von ihm aufgefordert, ihm als<br />

anthropologische BeraterInnen zur Seite zu stehen. Während wir den<br />

Film vorbereiteten, lernten wir die Sprache der Hamar. Wir waren tief<br />

in ihren Alltag eingetaucht und hatten uns vom Drama des dortigen<br />

Lebens leiten lassen. Das Tonbandgerät und die Filmkamera spielten<br />

dabei eine große Rolle. All dies konnten wir unter der Obhut von<br />

Baldambe verwirklichen. Er war unser Gastgeber, Freund, Lehrer und<br />

Mentor. So wuchsen wir über die Jahre immer tiefer in die Kultur der<br />

Hamar hinein.<br />

Wie hat sich Ihre filmische Arbeit entwickelt?<br />

<strong>Die</strong> Themen, die wir in den Filmen behandelten, haben sich durch<br />

Gespräche mit unseren Hamarfreunden entwickelt. Ich beschäftige<br />

mich in meinen Filmen mit den Themen Männerwelt, Initiation,<br />

Symbole, rituelle Schlachtung und Weissagung während sich meine<br />

Frau Jean Lydall mit der Beziehung zwischen den Geschlechtern und<br />

allem, was Kinder- und Frauenwelten anbelangt, auseinandersetzt.<br />

Sie haben den Aufsatz „Filming Dreams“ geschrieben und man hört immer<br />

wieder Kritiken, dass Sie Träume filmen – quasi nur die schönen Seiten im<br />

Leben der Hamar?<br />

<strong>Die</strong> Idee zu diesem Aufsatz war, zu sagen, dass wir alle von positiven<br />

Erfahrungen leben. Auf allerhöchster Ebene ist dies das Prinzip der<br />

Hoffnung. Aber Hoffnungen sind immer zeit-, orts-, gesellschafts- und<br />

kulturspezifisch. Man lebt z.B. auch von der Hoffnung, dass die Sonne<br />

wieder scheinen wird, selbst in langen Zeiten des Hungers lebt man<br />

bei den Hamar von dem Traum, der einmal Wirklichkeit war, dass<br />

man wieder satt wird. Fremde Kulturen werden oft nur als<br />

Hungerkulturen dargestellt – wie das nun auch definitiv mit Äthiopien<br />

der Fall ist; Äthiopien ist ja weltberühmt für seine Hungeropfer.<br />

Wir haben gefilmt, wie die Leute nun nicht hungern. Den Traum, dass<br />

das Leben möglich sein könnte als Glücksleben, den kulturspezifischen<br />

Traum, den man als Ethnograph auch herüberbringen<br />

muss, und dann können auch die Schreckensdinge kommen. Filming<br />

Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

37


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

dreams bedeutet, die Träume anderer sichtbar zu machen<br />

und mit ihnen zusammen zu träumen.<br />

Wie weit fühlen Sie sich in die Kultur der Hamar integriert?<br />

Ich sehe die größte ethnographische Herausforderung<br />

darin, dem Eigenen und dem Fremden gleichen Raum,<br />

gleiche Ausdruckskraft, gleiche Möglichkeiten für<br />

Enthüllung und Geheimnis zu geben, und die<br />

Schnittpunkte zu finden, an denen sich die geistigen<br />

Bahnen kreuzen und zum Klingen kommen. Während<br />

der Feldforschung erfährt man aber oft auch schmerzlich,<br />

dass die eigene geistige und emotionale Bewegung<br />

zwar auf den anderen zuführt, dann jedoch an ihm<br />

vorbeigeht und umgekehrt, der andere sich im Begriff<br />

wähnt, den Ethnographen zu verstehen, nur um<br />

festzustellen, dass Verständnis eine Illusion sein kann.<br />

In ihrem letzten Film „Bury the Spear“ geht es um<br />

Friedensverhandlungen. Sie waren damals sehr enttäuscht,<br />

dass der Film nicht im Fernsehen gezeigt wurde.<br />

Der Film Bury the Spear ist zum Teil als Antwort auf den<br />

Wunsch eines Mannes tief im südlichen Äthiopien<br />

entstanden, der sagte: „Lasst uns hier Frieden machen.“<br />

Eine Gruppe von EthnologInnen meinte: „Da helfen wir<br />

mit, wenn sechs verschiedene Gruppen miteinander<br />

verhandeln wollen.“ Eine Friedensgeschichte wurde<br />

vorbereitet, die wir dann mit ganz einfachen Mitteln<br />

gefilmt haben. Damals gab es in Somalia und im Sudan<br />

Krieg, daher wollten wir der Welt zeigen, dass es auch<br />

einen Willen zum Frieden gibt. Nachdem wir die<br />

Geschichte verfilmt hatten vergingen mehrere Jahre,<br />

dann erreichte uns die Nachricht von dem Alten, der es<br />

geschafft hatte, Frieden zu stiften. Ich sollte kommen. Er<br />

sagte nun: „Der Film soll gesehen werden auf der ganzen<br />

Welt!“, und dann ist das der einzige Film, den das<br />

Fernsehen nicht senden will. Er ist nämlich technisch<br />

nicht so gut, und schon wird er nicht gezeigt, darin liegt<br />

die große Enttäuschung.<br />

Wie ist Ihre Idee zum South Omo Research Center entstanden?<br />

<strong>Die</strong> Idee für ein Museum und Forschungszentrum in<br />

Südäthiopien entstand nur langsam und speiste sich aus<br />

verschiedenen Interessen und Visionen. Als ich an der<br />

Uni Mainz lehrte, lud ich Baldambe ein, mir bei meinen<br />

Seminaren zur Kultur der Hamar zur Seite zu stehen,<br />

und eigentlich nahm die Entstehung des South Omo<br />

Research Centers (SORC) hier ihren Anfang. Im SORC bin<br />

ich der Moderator eines Projekts, das beim Abbau<br />

38<br />

Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

politischer Spannungen in Südäthiopien mitwirken soll.<br />

Zu den für Entwicklungsarbeit wichtigen Wissenschaften<br />

gehört auch die Ethnologie. <strong>Die</strong>s gilt nicht<br />

zuletzt für Äthiopien, ein Land, das gegenwärtig versucht,<br />

sich von einer langen und qualvollen Geschichte<br />

sozialer und kultureller Ungerechtigkeit zu verabschieden.<br />

Besonders seit dem Fall des Mengisturegimes<br />

(1991) und der Einführung einer neuen Verfassung,<br />

die den einzelnen „Zonen“ Äthiopiens zumindest<br />

auf dem Papier eine gewisse Eigenständigkeit<br />

garantiert, versucht sich Äthiopien zu einem modernen,<br />

demokratischen und föderalen Staat zu entwickeln.<br />

Was sind die Ziele dieses Zentrums?<br />

Ziel und Aufgabe ist es, zur Erforschung und<br />

Dokumentation sowie zum Erhalt des kulturellen Erbes<br />

Äthiopiens beizutragen. <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit galt<br />

anfangs vor allem den alten, auf dem Gebrauch der<br />

Schrift aufbauenden „Hochkulturen“ Nord- und<br />

Zentraläthiopiens. Inzwischen kommen auch die<br />

ehemals „marginalen“ oder „Randvölker“ Äthiopiens<br />

hinzu. Hier steht das Zentrum vor der schwierigen<br />

Aufgabe, den ethnischen Minderheiten des Landes zu<br />

helfen, sich aus ihrer historischen Stigmatisierung zu<br />

befreien und eigene Institutionen zur Bewahrung ihres<br />

kulturellen Erbes zu gründen. Das South Omo Research<br />

Center stellt einen ersten Modellversuch in diese<br />

Richtung dar und soll sich neben der Bewahrung<br />

kulturellen Erbes insbesondere auch der angewandten<br />

sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung<br />

widmen, mit dem Ziel, das Bestreben nach good<br />

governance und Demokratisierung in der Region<br />

tatkräftig zu unterstützen.<br />

In Ihren Arbeiten und speziell in Zusammenhang mit den<br />

Hamar beziehen Sie sich immer wieder auf den „woko“. Was<br />

versteht man darunter?<br />

Der woko ist ein Stock, der sich an einem Ende gabelt und<br />

am anderen Ende zu einem Haken formt. Wie bei aller<br />

Symbolik, gibt es zuerst einmal eine praktische Ordnung<br />

der Dinge. Mit der Gabel des Stockes drückt man die<br />

dornigen Zweige des Busches zur Seite. <strong>Die</strong>se praktische<br />

Funktion lässt sich nun analog auch auf andere Bereiche<br />

erweitern. Das heißt, mit der Gabel kann man auch<br />

andere dornige Dinge wie Hunger, Krankheit, Krieg, von<br />

sich abwehren, und mit dem Haken kann man gute<br />

Dinge wie Bienen, Regen, Frieden heranholen. Man kann<br />

sagen, dass jeder Mensch in sich einen woko trägt und<br />

dass ihn erst das Leben lehrt, kunstvoll damit zu<br />

hantieren. Denn: besteht nicht die Kunst des sozialen


Lebens darin, immer die richtige Distanz zum „anderen“<br />

zu gewinnen und zu halten? Kommt uns jemand zu<br />

nahe, dann schieben wir ihn oder sie mit der Gabel<br />

unseres unsichtbaren wokos in die richtige Distanz.<br />

Wollen wir aber, dass uns der andere nicht entflieht,<br />

dann drehen wir den woko um und holen ihn wieder zu<br />

uns zurück. Auf diese Weise ist der woko ein Symbol für<br />

das universale Problem von Nähe und Distanz, das wir<br />

auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens antreffen und<br />

das letztlich auch die ganze Ethnologie motiviert. �<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Julia Pontiller, 1974 in Innsbruck geb., ist diplomierte<br />

Ethnologin und Filmcutterin, sie arbeitet als selbständige<br />

Cutterin und freie Lektorin an den Universitäten in Wien und<br />

Innsbruck zu visueller Anthropologie und Schnitt.<br />

Ixy Noever, 17 .7.1969 in Wien geb., Studium: Ethnologie an<br />

der Uni. Wien, Selbstständige Tätigkeit als Mediatorin und<br />

Beraterin, Lehraufträge an verschiedenen Instituten österr.<br />

Universitäten (Visuelle Anthropologie, Scheidungen im<br />

Kulturvergleich), Filmregisseurin.<br />

Fachgebiet – Medienanthropologie<br />

39


Zahlen, Fakten und Hintergründe zum „Trend“<br />

im deutschsprachigen Raum<br />

Faszination Bollywood<br />

Autorin: Birgit Pestal<br />

Tectum Verlag Marburg 2007<br />

ISBN 978-3-8288-9315-3<br />

Bestellungen: www.tectum-verlag.de<br />

Ziel des Buches ist es, mithilfe quantitativer Daten,<br />

Zahlen und Hintergrundinformationen die Faszination<br />

Bollywoods in Österreich, der Schweiz und Deutschland<br />

zu porträtieren. <strong>Die</strong> Fragestellungen sind umfassend,<br />

reichen vom Erforschen des Bekanntheitsgrades Bollywoods<br />

im deutschsprachigen Raum, hin zur Dokumentation<br />

der Prozesse, die zu einer verstärkten Wahrnehmung<br />

des indischen Filmgenres geführt haben. Um<br />

die Dynamik dieses Themenfeldes besser darzustellen,<br />

gewährt dieses Buch ebenfalls einen Einblick in die<br />

Veränderungen der indischen Unterhaltungsindustrie<br />

im Lichte der immer stärker voranschreitenden Globalisierungswelle<br />

gewähren.<br />

40 Buchrezension<br />

Jede Menge statistisch ausgewertete Daten über die<br />

Zusammensetzung und Präferenzen des deutschsprachigen<br />

Bollywoodpublikums bereichern die Lektüre<br />

in Form von Tabellen und narrativen Beschreibungen,<br />

die im leicht-lockeren Stil nebst einfallsreich gewählten<br />

Überschriften, Zitaten und (vielleicht an mancher Stelle<br />

zu vielen) Quellenangaben das Leserinteresse wecken.<br />

So erfahren wir etwa in der detailreichen Einleitung<br />

nicht nur von der spannenden Geschichte des indischen<br />

Films, sondern auch von de vergleichsweise engen<br />

Beziehungen der Bollywoodindustrie mit der Schweiz,<br />

Deutschland und Österreich. Wussten sie z.B., dass,<br />

obwohl Österreich in Sachen Bollywood von der Autorin<br />

als „Entwicklungsland“ bezeichnet wird, die Tiroler<br />

Berglandschaft anscheinend die perfekte Kulisse für den<br />

Dreh dieser farbenprächtigen, durchaus melodramatischen,<br />

stimmungsvollen Bollywoodfilme bietet?<br />

In den darauf folgenden Kapiteln illustriert die Autorin<br />

mit aufschlussreichem Hintergrundmaterial, dass<br />

Bollywood heute längst keine flüchtige Modeerscheinung<br />

mehr darstellt; so wird fast nebenbei<br />

erwähnt, dass Bollywood weltweit auf eine Milliarde<br />

mehr ZuseherInnen vorweisen kann als Hollywood!<br />

<strong>Die</strong> lesenswerten Schlussbetrachtungen spannen den<br />

resümierenden Bogen und stellen klar die Forschungserkenntnisse<br />

in den Mittelpunkt: Im deutschsprachigen<br />

Raum ist das Potenzial Bollywoods bemerkenswert,<br />

nicht nur hinsichtlich der Reichweiten von Filmausstrahlungen,<br />

sondern auch in Bezug auf Bollywood<br />

als Lifestyle-Phänomen. Auf das westliche Publikum<br />

scheinen das visuelle Arrangement, die Musik, Farbenpracht<br />

und Stimmung eine besonders starke Anziehungskraft<br />

auszuüben. Auch ist ein gewisses Konkurrenzpotenzial<br />

zwischen Bolly- und Hollywood nachvollziehbar.<br />

Es entstehen hybride Formen der indischen<br />

Unterhaltungsindustrie, ganz im Zeichen der ökonomischen<br />

und kulturellen Globalisierungstendenzen<br />

des 21. Jahrhunderts.<br />

Sowohl eine Pflichtlektüre für die bereits bestehende<br />

Bollywood-Fangemeinde, als auch für diejenigen, die<br />

Bollywood fälschlicherweise als unbedeutenden Ableger<br />

Hollywoods betrachtet haben, ist dieses kenntnisreiche<br />

Buch absolut empfehlenswert. �<br />

rezensiert von Lisa Ringhofer


Betrachtungen zur Struktur von Ritualen anhand ethnographischer Beispiele aus dem<br />

Nahen Osten und der Mongolei<br />

von GEBHARD FARTACEK und MARIA-KATHARINA LANG<br />

Fremde Länder, fremde<br />

Sitten?<br />

Rituale und Tabus in Zeiten des Übergangs<br />

„Als meine Freundin Duniya<br />

geheiratet hat, ging ich zu ihr, um zu<br />

gratulieren. Kaum saß ich in ihrem<br />

neuen Wohnzimmer, da läutete es.<br />

Eine weitere Besucherin, betrat die<br />

Türschwelle – blieb kurz stehen – und<br />

während sie auf eine Kristallvase am<br />

Wohnzimmertisch blickte, rief sie voll<br />

Bewunderung: ‚Hee, was hast du<br />

denn da für eine schöne Schale!‘ Und<br />

sie sagte nicht: ‚mashallah‘ [was Gott<br />

will]. Noch im selben Moment<br />

zerbrach die Schale – wie von selbst.“<br />

Für viele EuropäerInnen mag diese<br />

Begebenheit kurios klingen. Im Nahen<br />

Osten hingegen ist sie Teil der<br />

Alltagswelt. Sie ist eine von den<br />

tagtäglich erzählten Geschichten zur<br />

Wirkung des Bösen Blickes. <strong>Die</strong>ser<br />

wird ausgelöst, wenn jemand<br />

Bewunderung ausdrückt und<br />

gleichzeitig vergisst bestimmter<br />

ritualisiert Redewendungen<br />

auszusprechen.<br />

Tabus und Rituale sind Ausdruck von Glaubensgrundsätzen<br />

und dienen zur Verhaltensorientierung. Inhaltlich gesehen<br />

sind sie in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich, dennoch<br />

lassen sich auf struktureller Ebene allgemeine Aussagen<br />

– hinsichtlich Funktion und Aufbau – treffen. In diesem Beitrag stellen<br />

wir drei sozialanthropologische Thesen vor, die wir mit ethnographischen<br />

Beispielen aus nicht-säkularisierten Gesellschaften belegen:<br />

1. Das Ritual als „gesicherter“ Übergang in einen anderen<br />

Lebensabschnitt: Übergangszeiten sind Zeiten der Ungewissheit,<br />

die rituell abgesichert werden (müssen).<br />

In allen Kulturen gibt es umfangreiche Rituale, die jeweils zu Beginn<br />

eines neuen Lebensabschnittes vollzogen werden. In der Mongolei<br />

wird der Übergang vom Kind-sein zum Erwachsen-sein nicht durch<br />

einen Initiationsritus im eigentlichen Sinn markiert, sondern durch<br />

das Ereignis der Hochzeit. <strong>Die</strong>ses traditionelle mongolische<br />

Hochzeitsritual wird heute nur noch unter den nomadisierenden<br />

ViehzüchterInnen in vereinfachter Form praktiziert (vgl. Lang 1998).<br />

Ist der Tag der Hochzeit festgelegt, beginnt für die Braut das<br />

Abschiednehmen von ihrer Familie. <strong>Die</strong> Jurte für das zukünftige<br />

Ehepaar wird neben der Jurte der Eltern des Bräutigams errichtet.<br />

Noch vor der Hochzeit wird der Herd aufgestellt und von der<br />

Bräutigam-Mutter mit Feuer aus ihrem Herd angezündet. <strong>Die</strong><br />

eigentliche Hochzeit findet daraufhin in drei Etappen statt: Zunächst<br />

mit einem Festessen in der Jurte der Brauteltern, an dem auch der<br />

Bräutigam mit seinen engsten Angehörigen teilnimmt. Am nächsten<br />

Morgen wird die Braut von ihrem Bräutigam abgeholt. Hierbei kommt<br />

es häufig zu einem symbolischen Widerstand von Freunden und<br />

Verwandten der Braut, der vom Bräutigam und seinen Begleitern<br />

gebrochen werden muss. Ist dies gelungen reitet das Brautpaar mit der<br />

Gruppe von Verwandten und Gästen, die die Mitgift der Braut<br />

transportieren, zur neuen Jurte, wo die Braut zum ersten Mal Tee<br />

aufstellt, den Platz der Hausfrau ein die Gäste bewirtet. Schließlich<br />

zieht sie sich zurück, um mit Hilfe von Frauen aus ihrer Familie neu<br />

gekleidet und frisiert zu werden. Anschließend begibt sich die Braut<br />

zu der Jurte ihrer Schwiegereltern, wobei sie auf dem Weg dorthin<br />

zwei brennende Feuerstellen passieren muss. Dort angekommen<br />

Region – Naher Osten/Mongolei<br />

41


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

verbeugt sie sich vor dem Herd, den Familiengottheiten,<br />

den Schwiegereltern sowie vor den Ehrengästen und<br />

bringt der Schutzgottheit des Herdfeuers ein Opfer dar.<br />

Dann trinkt das Brautpaar gegorene Stutenmilch, danach<br />

beginnt das Festessen. <strong>Die</strong> Feuerzeremonien sind die<br />

wichtigsten rituellen Handlungen im Lager der Familie<br />

des Bräutigams, da sie den eigentlichen Eintritt der Braut<br />

in den Clan des Mannes markieren. Zum einen wird ein<br />

Fruchtbarkeitsritus vollzogen, zum anderen wird die<br />

Frau vom Einfluss der Geister ihrer Familie gereinigt.<br />

Traditionellerweise ist die jungvermählte Frau im ersten<br />

Ehejahr einigen beträchtlichen Reglementierungen unterworfen.<br />

Ihre Aufnahme in die Familie stellt eine potentielle<br />

Gefahr dar. Neben den Geistern ihrer Herkunfts-<br />

Familie bringt eine Schwiegertochter auch "fremde Sitten"<br />

mit. Verhaltensregeln, wie die Gebote des Nichtanschauens,<br />

Nichtberührens und Nichtbenennens, stellen<br />

dieser Auffassung zufolge Schutzmaßnahmen für die<br />

Familienmitglieder des Mannes dar. <strong>Die</strong> Hochzeit wird<br />

also als Zeit des Übergangs gesehen, die mit potentiellen<br />

Gefahren verbunden ist. Das Ritual schafft Sicherheit,<br />

wo sonst Unsicherheit wäre und gewährleistet auf diese<br />

Weise einen „gesicherten“ Übergang in den nächsten<br />

Lebensabschnitt. Darüber hinaus wird beim Hochzeitsritual<br />

noch ein weiterer Aspekt deutlich: Der Übergang<br />

zwischen nicht-verheiratet-sein zu verheiratet-sein und<br />

der damit verbundene Austausch sozialer Kategorien.<br />

Dazu die nächste These:<br />

2. Das Ritual als Austausch sozialer Kategorien:<br />

Zeitliche Begrenzungen von sozialen Kategorien<br />

werden durch Rituale markiert, wodurch der<br />

Wechsel von einer Kategorie zur anderen vollzogen<br />

werden kann.<br />

Ein Ritual, das von der Westsahara bis Usbekistan und<br />

von der Türkei bis in den Jemen, von AnhängerInnen<br />

unterschiedlicher Religionsgemeinschaften nahezu gleichermaßen<br />

praktiziert wird, ist das Ablegen von Gelübden<br />

(vgl. Fartacek 2003: 177-186). Es ist oft üblich zu<br />

einem lokalen Heiligtum zu pilgern, wenn das soziale<br />

Leben aus den Bahnen gerät. Am Pilgerort tritt man dann<br />

mit dem dort verehrten Heiligen in Kontakt und legt ein<br />

Gelübde ab: Man bittet ihn um Hilfe bei der Problemlösung<br />

und verspricht als Gegenleistung den Vollzug<br />

eines Opfers, welches sobald das Problem behoben ist,<br />

erbracht werden muss. Zur Illustration dieses Vorganges<br />

ein Fallbeispiel aus dem Ladaqiye-Gebirge in Syrien:<br />

Ein älterer Mann litt an extremen Bauchschmerzen und<br />

musste dringend operiert werden, wofür der Familie allerdings<br />

das notwendige Geld fehlte. In seiner Not pilgerte<br />

der Mann zu einem lokalen Heiligtum, das einem<br />

gewissen Scheich Hassan gewidmet war, und legte dort<br />

ein Gelübde ab: „Ich gelobe, ein Schaf zu opfern, wenn<br />

42<br />

Region – Naher Osten/Mongolei<br />

Handabdrücke aus Opferblut an einem Heiligtum in<br />

Nordsyrien<br />

ich nur wieder gesund werde. Das Schlachtopfer soll hier<br />

an diesem [heiligen] Ort vollzogen werden und ist dir,<br />

Scheich Hassan, gewidmet!“ Anschließend übernachtete<br />

der Mann am heiligen Platz, am nächsten Morgen<br />

bemerkte er das Wunder: Über Nacht war er auf übernatürliche<br />

Weise von Scheich Hassan geheilt worden. An<br />

seinem Bauch sah man einen frisch vernähten Schnitt -<br />

die Narbe ist heute noch sichtbar. Der Mann war anfangs<br />

von der Operation noch etwas geschwächt. Als er wieder<br />

in den Status des Gesundseins eintrat, vollzog er das versprochene<br />

Schlachtopfer. Im Zuge dieses Rituals tauchte<br />

er seine rechte Hand in das Blut des Tieres und drückte<br />

sie an die Wand der Pilgerstätte, um so auf symbolische<br />

Weise in Beziehung zum Opfertier und zum sakralen<br />

Platz zu treten. Unter großer öffentlicher Anteilnahme<br />

wurde das Schaf an Ort und Stelle zubereitet und verzehrt.<br />

Nur der Mann, der das Opfer darbrachte, war von<br />

der Mahlzeit ausgeschlossen, da dies sonst als eigennützig<br />

angesehen worden wäre.<br />

<strong>Die</strong>se Begebenheit, die sich erst vor wenigen Jahren ereignet<br />

haben soll, stellt in der Wahrnehmung vieler Menschen<br />

dieser Region keinen Einzelfall dar. Ähnliche Geschichten<br />

werden von den BewohnerInnen des Ladaqiye-<br />

Gebirges gerne erzählt und dienen dazu, die Kraft des sakralen<br />

Platzes bzw. des Heiligen zu unterstreichen. Hier<br />

werden einige grundsätzliche Prinzipien des Gelübdewesens<br />

deutlich: Ein Gelübde wird in der Regel als individueller<br />

Vertrag zwischen demjenigen, der es ablegt<br />

und dem jeweiligen Heiligen aufgefasst. In diesem Vertrag<br />

sollten möglichst alle Einzelheiten geregelt sein,<br />

nachträgliche Änderungen sind nicht möglich. Ein Gelübde<br />

wird in der Regel konditional verstanden: Nur<br />

wenn der Wunsch in Erfüllung geht, muss ein Opfer<br />

dargebracht werden. Hat man ein Gelübde abgelegt,<br />

befindet man sich bis zu dessen Einlösung in der Rolle<br />

des Schuldners. Beim Ablegen des Gelübdes wird der<br />

Nicht-Schuldner zum Schuldner, bei der Einlösung des<br />

Gelübdes erfolgt die Umkehrung. Dem Ritual wird also<br />

grundsätzlich eine Doppelfunktion zuteil: Einerseits


führt es den Austausch der sozialen Kategorien herbei,<br />

andererseits werden die einzelnen sozialen Kategorien<br />

jeweils zeitlich markiert, d.h. es wird Klarheit geschaffen,<br />

bis zu welchem Zeitpunkt man welchen sozialen Status<br />

innehat. Bei dem geheilten Mann, markierte das Ritual<br />

nicht nur den Übergang von Schuldner-sein zum Nicht-<br />

Schuldner-sein, sondern auch den Übergang vom Kranksein<br />

zum Gesund-sein.<br />

3. Das Ritual als Manifestation von Mythen:<br />

Religiöse Rituale stehen in einem direkten<br />

Zusammenhang mit Mythen und umgekehrt<br />

– Mythen sind auf Rituale bezogen.<br />

<strong>Die</strong>ser Aspekt wird beim religiösen Schlachtopfer<br />

deutlich, dessen Durchführung mit einem mythologischen<br />

Ereignis begründet wird, das der Koran ebenso erwähnt<br />

wie die Bibel (Sure 37, 99-113 bzw. Gen. 22,1-19):<br />

Abraham, „Vater aller Religionen“, hatte einst einen prophetischen,<br />

ständig wiederkehrenden Traum: Er sah sich<br />

seinen Sohn Ismael opfern. Für Abraham gab es nur eine<br />

Schlussfolgerung: Es musste Gottes Wille sein, dass er<br />

seinen geliebten Sohn Ismael opfern sollte. Abraham erzählte<br />

den Traum seinem Sohn, dieser fügte sich seinem<br />

Schicksal. Im entscheidenden Augenblick erschien der<br />

Engel Gabriel zusammen mit einem großen Widder:<br />

„Nimm den Widder als Ersatz und opfere ihn Gott!“ Seit<br />

damals ist es üblich, Tiere (insbesondere Widder) stellvertretend<br />

für Menschen zu opfern.<br />

Während in der jüdischen und christlichen Tradition<br />

diese Bibelstelle häufig so interpretiert wird, dass Gott<br />

Abraham auf die Probe stellen wollte, sehen viele<br />

Menschen islamischen Glaubens darin eine mythologische<br />

Begründung für die Durchführung von Schlachtopfern.<br />

Hier dient dieses Beispiel dazu, zu zeigen, dass in<br />

Ritualen auch Glaubensdoktrinen, Mythologien und<br />

damit verbundene Weltbilder zum Ausdruck kommen.<br />

Rituale sind keine Tätigkeiten oder Handlungen, die isoliert<br />

für sich betrachtet eine Bedeutung hätten. Vielmehr<br />

erlangen sie diese erst in Beziehung mit anderen Zeichen<br />

und Symbolen einer Kultur. Sie sind immer eingebettet in<br />

Glaubenssysteme und Wertvorstellungen und erst als<br />

Teil davon ergeben sie einen „Sinn“.<br />

Fazit<br />

Rekapitulieren wir die angesprochenen Dimensionen des<br />

Rituals: 1. Rituale treten in Übergangszeiten auf, 2. sie<br />

bewirken eine Änderung von Status und Rolle der<br />

Betroffenen, und 3. sie sind mit Weltbildern verknüpft.<br />

Übergangszeiten gelten als Zeiten der Gefahr, sie sind<br />

mit Unsicherheiten und Tabus assoziiert. Von strukturalen<br />

Ansätzen ausgehend können sie als Grenzzonen,<br />

als „Schwellenzustände“ zwischen unterschiedlichen<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

sozialen Kategorien interpretiert werden. Epistemologisch<br />

betrachtet besteht Ungewissheit darüber, welche<br />

der jeweils angrenzenden Kategorien Gültigkeit erlangt.<br />

Rituale geben Sicherheit, sie markieren und gewährleisten<br />

die Bewältigung von Übergängen sozialer, zeitlicher<br />

und räumlicher Kategorien.<br />

Auf der Grundlage dieser Überlegungen möchten wir<br />

nun zum eingangs erwähnten Bösen Blick zurückkehren.<br />

Dabei wird deutlich, dass Zeit und Ort des Unglücks<br />

keine Zufälle sind. Das Unglück geschah aufgrund der<br />

Nichtbeachtung eines Rituals – die Besucherin sagte<br />

nicht ‚mashallah‘. Zeitlich und räumlich betrachtet<br />

passierte es in Momenten des Übergangs – und zwar in<br />

mehrerlei Hinsicht: Es findet genau zu der Zeit statt, als<br />

Duniya heiratet, eine Übergangszeit, die im gesamten<br />

orientalischen Raum mit dem Wirken des Bösen Blicks<br />

verbunden wird. Und es findet genau in dem Moment<br />

statt, in dem die Besucherin eintritt und in die soziale<br />

Rolle des Gast-seins schlüpft. Auch räumlich gesehen<br />

passiert das Unglück an einer Grenze, und zwar an der<br />

Türschwelle, die als Grenzzone zwischen dem privaten<br />

und öffentlichen Raum interpretiert werden kann. <strong>Die</strong><br />

„Erklärung“, dass für das Zerbrechen der Vase der „Böse<br />

Blick“ der Besucherin verantwortlich ist, ist wiederum<br />

Ausdruck eines bestimmten Glaubenssystems bzw.<br />

Ausdruck eines orientalischen Weltbildes. �<br />

Anm. der AutorInnen: Bei diesem Beitrag handelt es sich um die<br />

stark gekürzte Fassung eines Artikels, der im Zuge<br />

sozialanthropologischer Projektarbeit an der Österreichischen<br />

Akademie der Wissenschaften (ÖAW) entstanden ist und<br />

bislang nicht publiziert wurde.<br />

Gebhard Fartacek, Mag. Dr. phil., wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter und stellvertretender Direktor an der<br />

Forschungsstelle Sozialanthropologie (ÖAW), Universitätslektor<br />

am Institut für KSA (Wien). Forschungsschwerpunkte:<br />

Kosmologien und religiöse Glaubenssysteme im Nahen Osten<br />

sowie lokale Strategien der Konfliktbewältigung<br />

Maria-Katharina Lang, Mag.a phil., wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Sozialanthropologie<br />

(ÖAW) und am Museum für Völkerkunde Wien.<br />

Forschungsschwerpunkte: Soziokulturelle Transformationsprozesse<br />

im zentralasiatischen Raum und Kunstethnologie.<br />

Literatur<br />

Fartacek, Gebhard. Pilgerstätten in der syrischen Peripherie. Eine<br />

ethnologische Studie zur kognitiven Konstruktion sakraler Plätze und<br />

deren Praxisrelevanz. Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse 700. Band,<br />

Wien: ÖAW-Verlag. 2003.<br />

Lang, Maria-Katharina. Ein Schmuckstück aus der Mongolei/Sammlung<br />

des Museums für Völkerkunde Wien als Ausgangspunkt für die<br />

Untersuchung soziokultureller Zusammenhänge. Diplomarbeit. Wien,<br />

1998.<br />

Region – Naher Osten/Mongolei<br />

43


Zur Zeit der sassanidischen Herrschaft [225 n. Chr. - 651 n. Chr.] entstand durch den<br />

sozialrevolutionären Mazdak eine kritische Bewegung<br />

von THOMAS SCHMIDINGER<br />

Der Mazdakismus im Iran<br />

Widerstand gegen eine Theokratie<br />

Schon vor 1500 Jahren fielen im Iran<br />

religiöse und politische Herrschaft<br />

zusammen. <strong>Die</strong> zarathustrische<br />

Theokratie der Sassaniden war jedoch<br />

genauso umstritten wie die heutige<br />

islamisch-schiitische Theokratie. Um<br />

das Jahr 500 wurde sie von einer<br />

revolutionären sozialen Bewegung,<br />

dem Mazdakismus herausgefordert.<br />

Das Leben Mazdaks und die<br />

Geschichte der MazdakitInnen sind<br />

nur äußerst spärlich dokumentiert.<br />

Wie bei anderen gescheiterten<br />

Oppositionsbewegungen steht die<br />

heutige Geschichtsschreibung auch<br />

hier vor dem Problem, eigentlich nur<br />

über Quellen der siegreichen Gegner<br />

zu verfügen.<br />

44 Region – Iran<br />

Für Mazdak und seine AnhängerInnen ist die Quellenlage<br />

besonders prekär. Das dürfte daran liegen, dass andere<br />

religiös-politische Oppositionsbewegungen wie die christlichen<br />

Kirchen oder der Manichäismus als weit weniger<br />

gefährlich für die Sassanidenherrschaft eingestuft wurden (Klima,<br />

1977: 16). <strong>Die</strong> Syrische Chronik des Josua des Styliten ist die einzige<br />

bekannte zeitgenössische Quelle; alle anderen Texte wurden viel<br />

später verfasst. Trotzdem beschäftigten sich nicht nur frühe arabische<br />

und persische Historiker, wie z.B. al-Tabar, mit dieser Bewegung,<br />

sondern auch späte römische Autoren wie Prokopios von Caesarea<br />

und Agathias.<br />

<strong>Die</strong> Sassaniden und ihre Staatsreligion<br />

Das Sassanidenreich (224 – 651) hatte in seinem überzeichneten Rückgriff<br />

auf „altiranische“ Kulturelemente den Zorastrismus zu einer<br />

Staatskirche erhoben. <strong>Die</strong> rund 1800 Jahre vor Christi vermutlich im<br />

heutigen Khorasan entstandene Religion mit einem starken Dualismus<br />

zwischen Gut und Böse und ihrer Verehrung des „heiligen Feuers“,<br />

wurde damit von einer vielfältigen und regional durchaus<br />

unterschiedlich ausgeprägten Glaubensgemeinschaft zu einem<br />

monopolisierten Staatskult. Dabei wurde dem guten Gott Ahura<br />

Mazda und seinem „bösen“ Gegenspieler Ahriman mit Zervan, dem<br />

Gott der Zeit, noch ein Schöpfergott vorgesetzt, der aus sich heraus<br />

erst Ahura Mazda und Ahriman geboren hatte. Der Zervanismus bzw.<br />

Zervani-sche Zorastrismus war damit zu einer streng monotheistischen<br />

Staats-religion geworden. Ähnlich wie bei seinem großen<br />

Gegenspieler, dem christlich-orthodoxen Oströmischen Reich, befand<br />

sich auch hier die Religion in einem sehr engen Verhältnis zur<br />

Staatsmacht. Allerdings bedeutete im Iran bereits damals die Existenz<br />

einer Staatsreligion nicht automatisch das generelle Verbot aller<br />

anderen Religionen. Neben dem Zorastrismus existierte noch eine<br />

Fülle weiterer kleinerer und größerer Religionsgemeinschaften, die<br />

meist stark unterdrückt wurden. So lobt etwa der zarostrische Priester<br />

Kidir die Verfolgung von Juden (yahud), Buddhisten (saman),<br />

Hinduisten (braman), Nazarenern (nasra), Christen (kristiyan),<br />

Täufern (makdag) und Manichäern (zandik) unter König Vahram II.<br />

(267 – 293) (Wiesehöfer, 1993: 266). Im Gegensatz zur völligen<br />

Verfolgung und Unterdrückung aller Nichtchristen im Oströmischen<br />

Reich, akzeptierte jedoch auch bereits die sassanidische Staatsreligion<br />

vielfach die Existenz anderer religiöser Überzeugungen, solange diese<br />

die Position des Zorastrismus als Staatsreligion nicht in Frage stellten.<br />

Nicht alle Iraner mussten Zorastrier sein, aber alle mussten<br />

akzeptieren, dass der Zorastrismus die Religion war, die Reich und


Gesellschaft dominierten, ein Konzept an das nach 651<br />

das islamische „Toleranzverständnis“ mit dem Status der<br />

Gläubigen der Buchreligionen als Dhimmis durchaus<br />

anknüpfen konnte. In dieser vielfältigen religiösen<br />

Landschaft wuchs jedoch die mazdakitische Bewegung<br />

zwei Jahrhunderte nach den Massakern unter König<br />

Vahram II. zu einer ernsthaften Gefahr für den Adel und<br />

die Geistlichkeit heran.<br />

Mazdak und die Mazdakitische Bewegung<br />

In einer Phase der gesellschaftlichen und politischen<br />

Erstarrung um 500 schrieb nun die mazdakitische<br />

Bewegung Geschichte. Dabei gehen bis heute die<br />

Positionen der Historiker und Iranisten über den<br />

wirklichen Begründer der mazdakitischen Bewegung<br />

auseinander. Der deutsche Orientalist Theodor Nöldeke,<br />

kommentierte 1879 in seiner Übersetzung der<br />

„Universalgeschichte“ al-Tabars: „Als Stifter des<br />

Mazdakismus wird gewöhnlich Mazdak, Sohn des<br />

Bamdadh angesehn, aber [...] Tabari [...] nennt als solchen<br />

den Zaradust, Sohn des Choraran, aus Pasa, während<br />

Mazdak nur sein Apostel beim Pöbel gewesen sei“<br />

(Nöldeke, 1879: 456). Weitgehende Übereinstimmung<br />

gibt es lediglich darin, dass Mazdak im weltlichen Besitz<br />

die Wurzel allen Übels sah und dies zumindest in Teilen<br />

der Bewegung die Idee einer frühkommunistischen<br />

Gütergemeinschaft hervorrief. Dabei ist auch von der<br />

Forderung nach einer „Frauengemeinschaft“ die Rede,<br />

wobei diese – wie bereits erwähnt – nur über Quellen der<br />

Gegner der Be-wegung überliefert ist.<br />

Über die Biographie Mazdaks ist so wenig bekannt, dass<br />

manche IranistInnen seine reale Existenz überhaupt in<br />

Frage stellen und ihn eher als mystische Gründerfigur<br />

sehen. U.U. kam es auch zu einer Vermischung ursprünglich<br />

unterschiedlicher Gruppierungen zu einer<br />

Bewegung, die religiöse und sozialrevolutionäre Momente<br />

in sich vereinte. Unabhängig von der realen<br />

Existenz der Gründerfigur Mazdak ist jedenfalls unumstritten,<br />

dass es eine breite religiöse und politische<br />

Strömung unter dem Sassanidenherrscher Kavad<br />

(488 – 496, 499 –531) gab, die sich auf Mazdak berief.<br />

Umstritten ist jedoch, ob der Mazdakismus eine Häresie<br />

der Zarostrischen Staatsreligion oder des Manichäismus<br />

– einer damals sehr starken, anwachsenden, aber auch<br />

massiv verfolgten Religionsgemeinschaft – darstellte<br />

oder ob es sich dabei um eine von beiden Religionen unabhängige<br />

Neugründung handelte. In der „Enzyclopedia<br />

of Islam“ heißt es dazu: „The movement seems to have<br />

been Zoroastrian rather than Manichaean in origin,<br />

although it acquired gnostic features that gave it an<br />

affinity to Manichaeism.“ (Enzyclopedia of Islam, 1991:<br />

949). Durch die Vernichtung der mazdakitischen Schriften<br />

sind die Inhalte der mazdakitischen Lehre aus-<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

schließlich aus den Werken ihrer GegnerInnen und den<br />

Folgen ihres Aufstandes zu entnehmen. In sozialer Hinsicht<br />

war wohl der Gemeinschaftsbesitz die wichtigste<br />

sozialrevolutionäre Forderung Mazdaks, die auf<br />

theologischem Gebiet mit mystischen Vorstellungen die<br />

teilweise an die Gnostik der Manichäer erinnern, ergänzt<br />

wurden.<br />

„Mazdak lehrte, daß alle Menschen gleich geschaffen<br />

seien und daß es ein Unrecht sei, wenn der Eine mehr<br />

Güter und mehr Weiber habe als der Andre. Daß die Ehe<br />

von ihm principiell aufgehoben sei, behaupten die<br />

arabischen Quellen nicht gradezu, aber schon die<br />

gewaltsame Wegnahme der Weiber, welche einer zu viel<br />

habe, und die Aufhebung der Vermögens- und<br />

Standesunterschie-de führte mit Notwendigkeit dazu:<br />

dauerhafte Güter-gleichheit ist nur denkbar bei<br />

Gütergemeinschaft d. h. bei Aufhebung alles persönlichen<br />

Eigentums; wer dieses zerstören will, der muss die<br />

Erblichkeit und die damit auf's engste verbundene<br />

Familie abschaffen“ (Nöldeke, 1879: 458). Obwohl<br />

Mazdak vermutlich weder die „freie Liebe“ noch eine<br />

frühe Form von Feminismus predigte, hatte die<br />

„Frauengemeinschaft“ – so sie historisch überhaupt real<br />

und keine Erfindung der Gegner des Mazdakismus war<br />

– doch u.U. einen emanzipatorischen Effekt, der zum<br />

besonderen Hass gegen den Maz-dakismus beigetragen<br />

haben könnte. „Wem die patrilineare Abstammung sowie<br />

die Bewahrung des Haushalts in männlicher Linie<br />

Grundvoraussetzungen und -anliegen gesellschaftlichen<br />

Lebens waren, dem konnten die Geltung matrilinearer<br />

Deszendenz als Folge unsicherer Vaterschaft und die<br />

Übertragung familiärer Erziehungsaufgaben an die<br />

Gemeinschaft nur als ungeheuerlich erscheinen“<br />

(Wiesenhöfer, 1993: 279-280).<br />

Vom Mazdakismus sind auf der einen Seite gewisse<br />

hedonistische Bestrebungen überliefert, die auf ein angenehmes<br />

Leben für alle abzielten, allerdings auch sehr<br />

strikte ethische Gebote wie das „Verbot des Blutvergießens<br />

und des Fleischgenusses“ (Nöldeke, 1879: 460). <strong>Die</strong><br />

soziale Basis des Mazdakismus dürfte überwiegend aus<br />

der armen Landbevölkerung, die sich gegen die<br />

Oberschicht des strikten kastenartigen Systems zur Wehr<br />

setzen wollte, bestanden haben. Allerdings wurde der<br />

Mazdakismus auch von Teilen der Herrschenden selbst<br />

zeitweise auch positiv aufgenommen. Schah Kavad I.<br />

zeigte sich von der neuen religiösen Bewegung angetan,<br />

trat ihr dennoch nicht bei. <strong>Die</strong>se freundliche Duldung<br />

des Mazdakismus stellte wohl eine Art taktisches<br />

Bündnis gegen den Adel und die mächtige zorastrische<br />

Priesterschaft dar, deren Einfluß er zurückdrängen<br />

wollte.<br />

Region – Iran<br />

45


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

<strong>Die</strong> so in die Enge getriebenen, setzten Kavad 496 jedoch<br />

ab und ersetzten ihn durch Zamasp, der bereits erste<br />

Verfolgungen gegen die MazdakitInnen einleitete. Ein<br />

Vierteljahrhundert nach Kavads Rückkehr in den<br />

Königspalast hatten sich die MazdakitInnen wieder so<br />

weit erholt, dass sie sich laut Timotheus, Malala und<br />

Theophanes in den Poker um die Nachfolge Kavads einmischten<br />

und den ihnen ergebenen Prinzen Pataswarsah<br />

auf den Thron setzen wollten. Kavad soll zum Schein auf<br />

diesen Vorschlag eingegangen sein und sämtliche<br />

MazdakitInnen mit Frauen und Kindern zur Übergabe<br />

der Macht an Pataswarsah versammelt haben, um sie<br />

dann alle niedermetzeln zu lassen. Nach dem Massaker<br />

wurde die Habe der Getöteten durch den Staat<br />

konfisziert. Überlebende MazdakitInnen sollten ebenso<br />

wie ihre Lehren dem Feuer übergeben werden und ihre<br />

Gebetsstätten wurden laut Malala den Christen zugeteilt.<br />

(vgl. Nöldeke, 1879: 462 – 463). Ob diese Berichte<br />

stimmen, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Sicher<br />

ist lediglich, dass entweder kurz vor oder nach der<br />

Übernahme der Regierungsgewalt durch Xusro I. – dem<br />

Nachfolger Kavads – im Jahr 531 eine massive Verfolgung<br />

von MazdakitInnen im ganzen Land begann, die<br />

beinahe die vollständige Ausrottung der Gemeinschaften<br />

zur Folge hatte.<br />

Nach der Verfolgung<br />

Nach der Niederschlagung des Mazdakismus als soziale<br />

Bewegung trat ihr religiöser Charakter in den Vordergrund.<br />

In Kleingruppen überlebte die Religionsgemeinschaft<br />

vor allem an den Rändern des Sassanidenreiches.<br />

Erst die Eroberung des Sassanidischen Iran<br />

durch Islamische Armeen brachte den MazdakitInnen<br />

wieder etwas mehr Freiraum. Allerdings waren sie zu<br />

diesem Zeitraum bereits so geschwächt, dass sie sich im<br />

8. und 9. Jahrhundert in verschiedenste Kleinstsekten<br />

spalteten. Viele ehemalige MazdakitInnen dürften auch<br />

– so wie andere von den Sassaniden unterdrückte Minderheiten<br />

– eher dem Islam beigetreten sein, den sie<br />

durchaus als Befreiung von der Sassanidenherrschaft<br />

empfanden. So kamen auch mazdakitische Einflüsse in<br />

den iranischen Islam, der auch andere synkretistische<br />

Elemente aus vorislamischen Religionen des Iran<br />

aufgenommen hatte.<br />

Neo-Mazdakitische Gruppen leisteten vor allen einen<br />

Beitrag zur Entwicklung von Kaysaniyya-Schiiten.<br />

Otokar Klima sieht in der Sekte der Khurramiten, die<br />

zum ersten Mal im Jahr 118 H. (736-737 n.Chr.) auftauchte<br />

ebenso einen islamisierten Nachfolger der Mazdakiten<br />

wie im Aufstand des zarathustrischen Magiers<br />

Sunbad. In Zentralasien überlebte der Maz-dakismus bis<br />

ins 12. Jahhundert in den Gegenden von Kish, Nakhshab<br />

und in einigen Dörfern in der Umgebung von Buchara.<br />

46 Region – Iran<br />

Noch in der Ilkhanidischen Periode wurden die<br />

Mazdakiten als eine von vierzehn zarathustrischen<br />

Sekten aufgezählt. Im Rudbar von Qazwin, nordwestlich<br />

von Teharan, soll mazdakitische Sekte namens Maraghiyya<br />

existiert haben, die in sieben Dörfern bis ins 20.<br />

Jahrhundert überlebt haben soll (Enzyclopedia of Islam,<br />

1991: 951-952).<br />

Rezeption im Iran<br />

<strong>Die</strong> spärliche Literatur über die Mazdakiten in Europa<br />

kann nicht darüber hinweg täuschen, dass Mazdak im<br />

Iran selber immer erwähnt und seine Bewegung als<br />

umstürzlerischer Referenzpunkt in der iranischen<br />

Geschichte herangezogen wurde. Nicht nur Geschichtswerke<br />

wie Firdausis Schahname beinhalteten die MazdakitInnenaufstände<br />

seit Jahrhunderten, sondern die<br />

MazdakitInnen wurden auch immer wieder zum<br />

Synonym für dissidente gesellschaftliche Gruppen und<br />

Häretiker. Je nach ideologischer Ausrichtung der<br />

AutorInnen wird Mazdak zum subversiven Element,<br />

zum Staatsfeind, zum Revolutionär, zum Sektenführer …<br />

In der Spätphase der Pahlavi-Dynastie verwiesen Teile<br />

der iranischen Linken auf Mazdak als subversives<br />

Gegenprogramm. Während Shah Reza Pahlavi 1971 sich<br />

selbst und 2500 Jahre iranisches Kaiserreich in Persepolis<br />

feiern ließ, sammelten sich bereits die verarmten und<br />

unterdrückten Massen, um acht Jahre später in einer<br />

erfolgreichen Revolution der Monarchie ein Ende zu<br />

bereiten. Dass diese dabei schließlich an die Macht<br />

gekommenen neuen Herren keine Demokratie<br />

errichteten, sondern mit der „Islamischen Republik“<br />

wiederum ein System, in dem politische und religiöse<br />

Herrschaft zusammenfielen, sollte vor dem Hintergrund<br />

der iranischen Geschichte eine Warnung sein. �<br />

Thomas Schmidinger hat in Wien Politikwissenschaft und<br />

Ethnologie studiert und ist derzeit Lehrbeauftragter am<br />

Institut für Politikwissenschaft, Flüchtlingsbetreuer in<br />

Niederösterreich, Obmann der in Kurdistan tätigen Hilfsorganisation<br />

LEEZA (Liga für Emanzi-patorische Entwicklungszusammenarbeit,<br />

vormals WADI Österreich) und<br />

Vorstandsmitglied des Österreichisch-Irakischen Freundschaftsvereins<br />

IRAQUNA.<br />

http://homepage.univie.ac.at/thomas.schmidinger/<br />

Literatur<br />

Encyclopedia of Islam, New Edition IV MAHK-MID. Leiden, 1991.<br />

Klima, Otakar. Beiträge zur Geschichte des Mazdakismus. Prag, 1977.<br />

Nöldeke, Theodor. Geschichte der Perser und Araber zur Zeit der<br />

Sassaniden. Aus der Arabischen Chronik des Tabari, übersetzt und<br />

mit ausführlichen Erläuterungen und Ergänzungen versehen von<br />

Th. Nöldeke. Leyden, 1879.<br />

Wiesehöfer, Josef. Das antike Persien. Zürich, 1993.


Irakische Frauen als Betroffene von Gewalt:<br />

Staat, Milizen und Familienangehörige als Täter<br />

von INES GARNITSCHNIG<br />

<strong>Die</strong> alltägliche Gewalt<br />

Frauenleben im Irak<br />

Viereinhalb Jahre sind vergangen,<br />

seit das Ba’th-Regime im Irak gestürzt<br />

wurde. <strong>Die</strong> Aufbruchstimmung, die<br />

danach zu spüren war, ist angesichts<br />

des sich ausweitenden Terrors vielfach<br />

wieder Resignation und Angst<br />

gewichen. Über geographische,<br />

soziale, historische, ethnische und<br />

religiöse Unterschiede hinweg haben<br />

Frauen im Irak heute wie damals vor<br />

allem eines gemeinsam: Sie leben<br />

doppelt, dreifach, mehrfach unter<br />

Gewaltverhältnissen. Nicht nur als<br />

Menschen, die dem täglichen Terror<br />

der Milizen ausgesetzt sind, nicht nur<br />

als Angehörige einer bestimmten<br />

sozialen Gruppe oder als Flüchtlinge,<br />

sondern auch als Leidtragende von<br />

gezielter Gewalt gegen Frauen – heute<br />

nicht mehr durch den Staat, sondern<br />

durch Milizen, Terrororganisationen<br />

und Banden und nach wie vor vielfach<br />

durch die eigene Familie.<br />

Mit der Machtergreifung der Ba’th-Partei 1968 erlitt die<br />

irakische Frauenpolitik einen herben Rückschlag. Kurze<br />

Zeit danach wurden viele Frauenverbände verboten und<br />

die ba’thistische General Federation of Iraqi Women<br />

(GFIW) gegründet. Aber erst in den 1980ern, mit dem Einsetzen des<br />

Iran-Irak-Kriegs, wandelte sich die Lage der Frauen drastisch. Bildungsprogramme<br />

nahmen ab, die Repression hingegen zu. Im Golfkrieg<br />

festigte die Ba’th-Partei ab 1990 ihre Machtposition durch Allianzen<br />

mit religiösen Führern und Clanchefs und nahm islamische Symbole<br />

und Denkweisen in ihre Politik auf. Während der gesamten Herrschaft<br />

der Ba’th-Partei waren Frauen als politische AktivistInnen, als<br />

Angehörige von politischen AktivistInnen, als Mitglieder bestimmter<br />

ethnischer Gruppen und als (angebliche) Prostituierte physischer wie<br />

sexualisierter Gewalt durch Angehörige des Regimes ausgesetzt. Das<br />

Ausmaß dieser sexualisierten Gewalt gegen Frauen war enorm. Der<br />

irakische Geheimdienst hatte eigens Männer für die Vergewaltigung<br />

von gefangenen Frauen angestellt. In jedem größeren Gefängnis befand<br />

sich neben den Folterkammern auch ein speziell ausgestatteter<br />

Raum für Vergewaltigungen. Ebensowar es staatliche Politik der Ba’thisten,<br />

sexualisierte Gewalt gegen Frauen als Mittel einzusetzen, um jemandem<br />

„das Auge zu brechen“, Familienangehörige öffentlich zu demütigen.<br />

Ein weiteres Mittel war die Erpressung von Frauen durch<br />

heimliches Filmen, etwa in der Umkleidekabine eines noblen Bagdader<br />

Modegeschäfts.<br />

Gegenüber kurdischen Frauen griff die Ba’th-Partei zu besonderen<br />

Mitteln der Repression. So wurden etwa zahlreiche Kurdinnen,<br />

besonders Überlebende der Anfal-Kampagne, zur Zwangsprostitution<br />

in arabische Nachbarstaaten verkauft. Ein weiteres brutales Kapitel<br />

staatlicher Gewalt gegen Frauen im Irak ist die Verfolgung von Frauen,<br />

denen Prostitution vorgeworfen wurde. Zwischen 1991 und 2002<br />

wurden 1500 solcher Frauen von den Feddayin, Udai Saddam<br />

Husseins Elitetruppe, ermordet. Viele von ihnen wurden öffentlich<br />

enthauptet, die Köpfe wurden an den Häusern der Familien<br />

aufgepfählt. Auch rechtlich waren Frauen unter dem Ba’th-Regime<br />

benachteiligt. <strong>Die</strong> Spitze des Eisbergs bildete ein in den 1980ern<br />

erlassenes Gesetz, das die „Bestrafung“ von Frauen durch männliche<br />

Angehörige bis zum Mord legalisierte. Frauen hatten auch eine<br />

wesentlich schwächere Position vor Gericht als Männer.<br />

Heute ist die direkte Gewaltausübung von Seiten des Staates<br />

weitgehend eingedämmt. In rechtlicher Hinsicht und als Teilnehmende<br />

am öffentlichen Leben sind Frauen aber nach wie vor benachteiligt.<br />

Der Beschluss 137, ein Antrag des Regierungsrats vom Jänner<br />

2004, das Personenstandsrecht durch die islamische Rechtssprechung<br />

der Sharia zu ersetzen, wurde durch das Engagement von zahlreichen<br />

Einzelpersonen und über 80 Organisationen, die an den Demonstrationen<br />

teilnahmen, zu Fall gebracht (Mahmoud, Houzan 2004: 330f).<br />

Region – Irak<br />

47


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Gewalt durch islamistische Milizen,<br />

Terrororganisationen und Banden<br />

Bereits ab Ende der 1990er etablierten sich islamistische<br />

Gruppen in einigen Städten im Süd- und Nordirak. Seit<br />

dem Ende der Ba’th-Herrschaft stieg die Anzahl<br />

islamistischer Gruppen drastisch. Frauen, die sich nicht<br />

entsprechend der islamischen Kleiderordnung anziehen,<br />

werden bedroht, mit Säure überschüttet oder anderweitig<br />

tätlich angegriffen. Unter dem Ba’th-Regime war es<br />

lebensgefährlich, sich politisch zu engagieren. Heute<br />

treten Menschen für ihre Anliegen ein, unzählige<br />

Zeitschriften werden publiziert und Demon-strationen<br />

abgehalten. Aber immer noch sind besonders politisch<br />

aktive Frauen in ständiger Lebensgefahr. Zahlreiche<br />

Frauenrechtsaktivistinnen und Politikerinnen wurden mit<br />

dem Tod bedroht oder ermordet, viele haben inzwischen<br />

das Land verlassen.<br />

Während früher viele Eltern Angst hatten, ihren Töchtern<br />

den Besuch einer Universität zu erlauben, weil Saddam<br />

Husseins Söhne Frauen von der Universität<br />

verschleppten, vergewaltigten und oftmals ermordeten,<br />

ist diese Angst nun jener vor Anschlägen, Überfällen,<br />

Entführungen, Vergewaltigungen und Morden<br />

islamistischer oder mafiaähnlicher Gruppen gewichen.<br />

Ein Beispiel von vielen: Im November 2006 wurden im<br />

Bagdader Leichenschauhaus innerhalb von zehn Tagen<br />

150 Frauenleichen eingeliefert, nach denen niemand<br />

fragte. Viele davon waren geköpft, verstümmelt oder<br />

zeigten Anzeichen extremer Folter (Organization of<br />

Women’s Freedom in Iraq, 2007). Gewalt gegen Frauen<br />

und Mädchen, vor allem Entführungen und Vergewaltigungen,<br />

werden als Mittel eingesetzt, um Familien<br />

unter Druck zu setzen und die Gesellschaft als ganze zu<br />

demoralisieren und zu traumatisieren. Besonders<br />

Angehörige von Mitgliedern internationaler Organisationen,<br />

Menschenrechtsorganisationen sowie Intelektuelle<br />

sind gefährdet. Zudem ist der Frauenhandel weit verbreitet.<br />

Seit 2003 sind 4.000 Frauen und Mädchen verschwunden,<br />

viele davon wurden vermutlich verkauft (ebd.).<br />

Gewalt innerhalb der Verwandtschaft<br />

<strong>Die</strong> weltweit am stärksten verbreitete Form von Gewalt<br />

gegen Frauen ist jene, die im häuslichen Bereich von<br />

Familie und Verwandtschaft ausgeübt wird. <strong>Die</strong>se Formen<br />

von Gewalt werden bisher in weiten Teilen der<br />

Gesellschaft wenig problematisiert. Entsprechend sind<br />

hier die Dunkelziffern wohl meist erheblich höher als die<br />

berichteten Zahlen, ein Anstieg derselben ist vor diesem<br />

Hintergrund oft eher ein Zeichen für gestiegenes<br />

Problembewusstsein bzw. größeres Vertrauen in staatliche<br />

Institutionen. So ergab eine 2003 im Südirak<br />

durchgeführte Umfrage, dass sowohl die Hälfte der<br />

Frauen als auch der Männer es als Recht eines Mannes<br />

48 Region – Irak<br />

erachtete, seine Frau zu schlagen, wenn sie ihm nicht<br />

gehorcht. <strong>Die</strong>se Auffassung wird bis heute von irakischen<br />

Gesetzen gedeckt. Darüber hinaus gilt es als eine<br />

Verletzung der Familienehre, sich öffentlich als Betroffene<br />

von häuslicher Gewalt zu positionieren. Mit häuslicher<br />

Gewalt eng verbunden sind Gewalttaten, die oft als<br />

„traditionsbedingte Gewalt“ bezeichnet werden. Hierzu<br />

zählen so genannte Ehrenmorde und die Verstümmelung<br />

von Frauen. Ehemänner, Brüder, Väter und Söhne<br />

handeln teilweise nach Beschlüssen der Familien oder<br />

auch von Clanältesten, die meinen, eine Frau oder ein<br />

Mädchen habe durch ein (tatsächliches oder ihr<br />

zugeschriebenes) Verhalten die Ehre der Familie verletzt,<br />

die durch das Verbrechen an der Frau wiederhergestellt<br />

werden müsse. <strong>Die</strong> Organisation Kurdish Women Against<br />

Honour Killings (KWAHK) berichtet von hunderten<br />

Frauen, die zwischen 1991 und 1998 aus Gründen der<br />

„Ehre“ – wegen (angeblicher) außerehelicher sexueller<br />

Beziehungen, Verweigerung einer Zwangsheirat oder der<br />

(geplanten) Heirat gegen den Willen der Familie –<br />

ermordet wurden. Laut dem elften Bericht der United<br />

Nations Assistance Mission in Iraq (UNAMI) über die<br />

Menschenrechtssituation im Irak sind Morde aus<br />

Gründen der „Ehre“ derzeit wieder im Steigen begriffen.<br />

Allein die offiziellen Statistiken der kurdischen<br />

Regionalregierung hierzu sprechen von 137 solchen<br />

Morden im Zeitraum April bis Juni 2007 (UNAMI 2007).<br />

Erst 2002 wurde im kurdischen Nordirak die Basis für eine<br />

Verurteilung der Täter geschaffen: Eine Gesetzesnovelle<br />

verhindert, dass „ehrenwerte Motive“ als mildernder<br />

Umstand im Zusammenhang mit Verbrechen aufgrund<br />

der „Ehre“ akzeptiert werden.<br />

Ebenso gestiegen ist in den letzten Jahren die berichtete<br />

Zahl der Vergewaltigungen. <strong>Die</strong> betroffenen Frauen sind<br />

auch nach der Vergewaltigung extrem gefährdet, da sie als<br />

„minderwertig“, als entehrt gelten und viele von ihnen<br />

getötet oder mit ihren Vergewaltigern „versöhnt“ werden.<br />

So wurden laut Berichten des irakischen<br />

Frauenministeriums in den ersten vier Monaten des<br />

Kriegs mehr als 400 Entführungen und Vergewaltigungen<br />

von Frauen gemeldet – mehr als die Hälfte davon wurde<br />

danach von Familienangehörigen ermordet. Zahlreiche<br />

Irakerinnen nehmen sich aufgrund von<br />

Familienstreitigkeiten, Gewalt und Zwangsehen das<br />

Leben. Erst in den letzten Jahren ist zudem durch die<br />

Arbeit von WADI allgemein bekannt geworden, dass in<br />

einigen Gebieten im Nordirak die Praxis der<br />

Genitalverstümmelung (FGM) weit verbreitet ist.<br />

<strong>Die</strong> Situation der Flüchtlinge<br />

Vor allem wegen des sich ausweitenden Terrors, aber auch<br />

wegen der damit zusammenhängenden schwindenden<br />

Lebensgrundlage sind inzwischen über 2,2 Millionen<br />

Menschen aus dem Irak geflüchtet. Etwa 1,2 Millionen


IrakerInnen versuchten sich seit 2003 dem Terror durch<br />

Binnenflucht zu entziehen, die meisten davon mussten<br />

ihre Wohnorte nach dem Bombenanschlag auf die<br />

Moschee in Samarra im Februar 2006 verlassen. Allein die<br />

Hälfte der Flüchtlinge außerhalb des Irak befindet sich<br />

derzeit in Syrien. Dort sowie in Jordanien arbeiten<br />

zahlreiche junge Mädchen aus Mangel an legalen<br />

Beschäftigungsmöglichkeiten für irakische Flüchtlinge als<br />

Sexarbeiterinnen. Viele Familien sehen darin ihre einzige<br />

Chance, das Notwendigste zum Überleben zu sichern.<br />

Unter den extrem schlechten Lebensbedingungen leiden<br />

auch hier die Frauen doppelt: <strong>Die</strong> häusliche Gewalt nimmt<br />

immer größere Ausmaße an.<br />

Kein Ende in Sicht …<br />

Nach dem Sturz des Ba’th-Regimes änderten sich die<br />

Lebenssituationen von Frauen in vielerlei Hinsicht. Ebenso<br />

haben sich die Formen von Gewalt gewandelt. Zahlreiche<br />

Frauen nahmen ihre Chance wahr, selbstbestimmter<br />

zu leben und sich am sozialen und politischen<br />

Geschehen zu beteiligen. Dann nahmen die Anschläge<br />

zu, der Druck auf Frauen wuchs. Sicher fühlt sich<br />

niemand mehr. Nun, viereinhalb Jahre nach dem Sturz<br />

Saddam Husseins, ist die Aufbruchstimmung, die unter<br />

irakischen Frauen zu spüren war, weitgehend verschwunden.<br />

Gegen das extrem hohe und stetig steigende<br />

Ausmaß an Gewalt haben sie kaum Chancen. Solange<br />

Frauen und Mädchen nicht mehr Wert als Personen<br />

zugestanden wird, werden sie immer gefährdet bzw.<br />

Gewalt ausgesetzt sein – sei es durch FGM, islamistischen<br />

Terror, Entführungen durch Milizen, Vergewaltigungen<br />

oder sogenannte „Ehrenmorde“.<br />

Ein Hoffnungsschimmer …?<br />

Das Leben der meisten Frauen im Irak ist derzeit äußerst<br />

schwierig. Aber immerhin gibt es einige wenige Möglichkeiten<br />

für Frauen, Gewaltverhältnissen zu entkommen.<br />

Erst 1998 öffnete in Suleymania das erste Frauenschutzhaus,<br />

weitere Häuser im kurdischen Autonomiegebiet<br />

folgten. Im Jahr 2004 eröffneten schließlich Frauenschutzhäuser<br />

in Bagdad und Kirkuk. Nach wie vor gut<br />

besucht sind auch die Frauenzentren, etwa in den<br />

Regionen Germiyan und Hawraman, die als Kommunikationsund<br />

Ausbildungszentren fungieren. Das Radio Dengî<br />

Nwê, das sich besonders für Frauen und Jugendliche<br />

einsetzt, wurde vor kurzem als beliebteste Radiostation<br />

der Region ausgezeichnet. Frauen leiden im Irak heute<br />

sehr stark unter dem Terror und dessen Folgen. Und sie<br />

leiden ebenso unter sozialen Strukturen, die sie Gewalt<br />

aussetzen und ihnen Selbstbestimmung versagen.<br />

Dennoch haben sie inzwischen mehr Möglichkeiten und<br />

Mittel als unter dem Ba’th-Regime, an politischen<br />

Prozessen teilzuhaben, ihre Meinung zu äußern, sich<br />

gegen Gewalt zu wehren, für die Bestrafung der Täter zu<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

sorgen und ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu<br />

gestalten. Es bleibt zu hoffen und vor allem daran zu<br />

arbeiten, dass diese Möglichkeiten nicht weiter<br />

schwinden, sondern im Gegenteil: wachsen. �<br />

Ines Garnitschnig ist Psychologin, in feministischen und<br />

antirassistischen Zusammenhängen aktiv und Mitglied der<br />

Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit<br />

LEEZA (vormals WADI). Siehe: www.wadinet.at<br />

Literatur<br />

Al-Khayyat, Sana. Ehre und Schande. Frauen im Irak. München:<br />

Kunstmann. 1991.<br />

Houzan, Mahmoud. Partizipation durch Widerstand. Der Beschluß 137 und<br />

die neue Frauenbewegung für Gleichberechtigung und Frieden. In:<br />

Kreutzer/Schmidinger 2004: 330 f<br />

Kreutzer, Mary & Schmidinger, Thomas (Hg.). Irak. Von der Republik der<br />

Angst zur bürgerlichen Demokratie? Freiburg: ça ira. 2004<br />

Makiya, Kanan. Re<strong>public</strong> of Fear. The Politics of Modern Iraq. Berkeley,<br />

Los Angeles: University of California Press. 1989/1998<br />

Internet<br />

Iraq Decades of suffering, Now women deserve better (22.2.2005):<br />

http://web.amnesty.org/library/Index/ENGMDE140012005?open&of=ENG-IRQ<br />

Haukari e.V. – Arbeitsgemeinschaft für internationale Zusammenarbeit:<br />

www.haukari.de<br />

Organization of Women’s Freedom in Iraq: http://www.equalityiniraq.com<br />

Bericht der UNAMI – United Nations Assistance Mission in Iraq – vom 11.<br />

10. 2007: www.uniraq.org<br />

Women’s Commission for Refugee Women and Children:<br />

www.womenscommission.org<br />

Region – Irak<br />

49


CASOP (Capacity Building in Social Sciences for<br />

Palestine) ist ein von der EU gefördertes TEMPUS Projekt<br />

und reiht sich in den großen Rahmen der Joint<br />

European Projects (JEP). Das Ziel von JEP Projekten ist eine<br />

Intensivierung der Kooperationen und der Netzwerke im<br />

Hochschulwesen zwischen EU-Mitgliedsländern und den<br />

verschiedenen Partnerländern. <strong>Die</strong>se Projekte unterstützen<br />

unter anderem die Entwicklung und Überarbeitung von<br />

Lehrplänen, Reformen der Hochschulstrukturen und -<br />

einrichtungen sowie ihrer Verwaltung, die Schaffung<br />

berufsbezogener Ausbildungslehrgänge und den Beitrag<br />

der Hochschulbildung und -ausbildung zur Entwicklung<br />

des Staatsbürgertums und zur Stärkung der Demokratie.<br />

Struktur<br />

Der Antragsteller und „grant holder“ von CASOP ist die<br />

Forschungsstelle Sozialanthropologie der Österreichischen<br />

Akademie der Wissenschaften (ÖAW), die Partnerinstitutionen<br />

sind die Universität Aix-en-Provence bzw.<br />

IREMAM (Institut de Recherche et d'Etudes Méditerranéennes<br />

sur le Monde Arabe) und die Birzeit Universität<br />

in Palästina. Eine Besonderheit dieses Projektes ergibt sich<br />

daraus, dass die offizielle Koordination vom Partnerland<br />

übernommen wurde. Unter Berücksichtigung der oben<br />

genannten Ziele hat CASOP vor die Curriculumsentwicklung<br />

in Palästina aufzubauen und eine Angleichung<br />

an den Bologna Prozess zu erreichen. Das Projekt ist aus<br />

mehreren Bausteinen zusammengesetzt: Zwei Kurse mit<br />

methodischem und methodologischem Inhalt werden an<br />

der Universität Birzeit abgehalten, wobei die Vortragenden<br />

vor allem aus Frankreich und Österreich kommen.<br />

Gleichzeitig entsteht eine Projekt-Homepage auf der man<br />

Literatur, Videoaufnahmen der Seminare und diverse<br />

Vorträge finden kann. Ein Ziel ist die Etablierung eines<br />

e-learning Programms, da die Studierenden oft durch<br />

Straßensperren und Checkpoints daran gehindert<br />

werden, zur Universität zu gelangen. Auf der Website<br />

wird es auch ein Forum geben, in dem sich die Studierenden<br />

untereinander, aber auch Interessierte von außerhalb,<br />

austauschen können. Des weiteren werden fünf<br />

palästinensische Studierende für ein Semester nach Europa<br />

(Frankreich oder Österreich) eingeladen. In dieser Zeit<br />

sollen sie die Möglichkeit haben, Kurse zu belegen, die für<br />

den Abschluss ihres Studiums in Birzeit hilfreich sind.<br />

Zudem wird von Seiten der ÖOG (Österreichische Orient-<br />

Gesellschaft Hammer-Purgstall) versucht, Geld für Stipendien<br />

zu akquirieren, damit mindestens zwei dieser<br />

Studierenden ein Doktoratsstudium in Österreich absolvieren<br />

können. Um den Menschen dieses Sprachraum-<br />

50<br />

Ein EU-Projekt verbindet österreichische Institute mit palästinensischen Universitäten<br />

von GUDRUN KRONER<br />

CASOP – Ein EU-Projekt<br />

Geförderter Erfahrungs- und Wissensaustausch<br />

Region – Palästina<br />

es methodologische Grundlagen der Sozialwissenschaften<br />

zugänglich zu machen, soll zu diesem Thema ein Buch<br />

auf Englisch und Arabisch herausgegeben werden. Besonders<br />

die arabische Version ist wichtig, da es für viele<br />

sozialwissenschaftliche Fachtermini keine adäquaten Übersetzungen<br />

gibt. Hauptaufgabe des Buches ist es also, Termini<br />

für diese Begriffe zu finden oder sogar zu kreieren.<br />

Geschichte und Politik<br />

<strong>Die</strong>sem Projekt ging bereits ein erfolgreich abgeschlossenes<br />

TEMPUS MEDA voran, bei dem ebenfalls die ÖAW<br />

Antragsteller war. Während dieses Projektes gab es bereits<br />

einen Methodenkurs für DiplomandInnen der Birzeit<br />

Universität, sowie zwei Studien über die Situation und das<br />

Angebot an Sozialwissenschaften an den Universitäten in<br />

Gaza und dem Westjordanland. JEP Projekte sind auf drei<br />

Jahre beschränkt, im Fall von CASOP (das eine Laufzeit<br />

von zwei Jahren hat) wird jedoch versucht, langfristige<br />

Ziele zu erreichen. Dazu gehört das Vorhaben ein PhD-<br />

Programm in Sozialwissenschaften in Palästina aufzubauen,<br />

da palästinensische Studierende bisher nur im Ausland<br />

die Möglichkeit hatten, den Doktortitel zu erlangen.<br />

Aufgrund der politischen Situation wird dies jedoch immer<br />

schwieriger, gerade auch für Frauen die zusätzlich durch<br />

bestimmte Gesellschaftsnormen Probleme haben einen<br />

Auslandsaufenthalt durchzusetzen. Nur in wenigen Fällen<br />

ist es jungen Frauen möglich, alleine, d.h. ohne ihre<br />

Familien, im Ausland zu leben, deshalb wäre ein PhD-Programm<br />

in Palästina ein zusätzlicher Beitrag zur Fauenförderung.<br />

Für die Studierenden des Instituts der KSA<br />

bedeutet das Programm die Möglichkeit eines Erfahrungsund<br />

Wissensaustausches mit palästinensischen Kolleg-<br />

Innen im akademischen Rahmen, die unter besonderen<br />

Umständen sozialwissenschaftlich arbeiten. Zusätzlich sollen<br />

aber auch die Beziehungen zwischen den Instituten,<br />

Universitäten und Regionen verstärkt werden. �<br />

Gudrun Kroner ist als CASOP-Koordinatorin (für Österreich)<br />

an der FS Sozanth, ÖAW, teilbeschäftigt.<br />

http://ec.europa.eu/education/programmes/tempus/index_en.html


<strong>Die</strong> Lage in Gaza verschlechtert sich zunehmend, doch die BewohnerInnen und ihre<br />

Probleme werden von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen<br />

Menschen in Gaza<br />

von GUDRUN KRONER<br />

Eingeschränkt durch Okkupation und Gesellschaft<br />

“A lot of families prevent their<br />

daughters in this Intifada to spend<br />

hours at the checkpoints and to come<br />

back to the house at midnight. Some<br />

are even forced to stay at home. And<br />

some of them, because of financial<br />

problems, they prefer their sons go<br />

to study and the girls have to stay<br />

at home.”<br />

<strong>Die</strong> BewohnerInnen Gazas (besonders<br />

die Frauen) werden eingeschränkt:<br />

Sowohl geographisch, politisch als<br />

auch gesellschaftlich. So kam es als<br />

Reaktion auf die Besetzung u.a. zu<br />

einer Islamisierung der Gesellschaft,<br />

wodurch der ohnehin schon geringe<br />

Handlungsspielraum von Frauen<br />

weiter verkleinert wurde.<br />

Foto: Gudrun Kroner<br />

Gaza zählt mit ca. 1,3 Millionen Menschen auf nur 365 km²<br />

zu den am dichtesten besiedelten Gebieten weltweit. Über<br />

eine Million der BewohnerInnen Gazas sind bei der<br />

UNRWA (United Nations Relief and Work Agency for<br />

Palestinian Refugees in the Near East) als Flüchtlinge registriert.<br />

Während des Arabisch-Israelischen Krieges 1948 kamen 200.000<br />

Flüchtlinge aus den umliegenden Ortschaften in das damals 80.000<br />

EinwohnerInnen zählende Gebiet (Sayigh 1979). <strong>Die</strong> Unterbringung<br />

als auch die wirtschaftliche Versorgung für „the poorest, least skilled,<br />

and least priviliged of all groups forced to flee Palestine” stellten<br />

große Probleme dar (Graham-Brown 1984: 227). <strong>Die</strong> Anzahl dieser<br />

stieg durch den Sechstagekrieg 1967 und den Golfkrieg 1990 an, aber<br />

vor allem durch die Vererbbarkeit des Flüchtlingsstatus.<br />

Gaza wurde 1948 zunächst von Ägypten, nach dem Sechstagekrieg<br />

von Israel okkupiert. <strong>Die</strong> erste Intifada, der Aufstand gegen die<br />

israelische Besatzung, brach 1987 im größten Flüchtlingscamp Gazas<br />

aus. Trotz Intifada und langen Perioden der Ausgangssperren<br />

arbeiteten damals viele PalästinenserInnen als (schlecht bezahlte)<br />

TagelöhnerInnen in Israel. Seit dem Beginn der zweiten Intifada<br />

(2000) und der dadurch bedingten immer strikteren Abriegelung<br />

Gazas kommt es zu einem permanenten Anstieg der wirtschaftlichen<br />

Probleme und der daraus resultierenden sozialen Schwierigkeiten.<br />

<strong>Die</strong> Arbeitslosigkeit stieg innerhalb weniger Jahre auf 65%, die<br />

Armutsrate sogar auf über 80% (Worldbank 2002). Aufgrund der<br />

katastrophalen wirtschaftlichen Zustände sind immer mehr<br />

Menschen auf die Nothilfe der UNRWA, aber auch auf die<br />

Versorgung durch die Hamas angewiesen.<br />

Gaza - von der Welt vergessen?<br />

Schon 1997 bemerkte Tuastad, dass Gaza in der Wissenschaft<br />

vernachlässigt wird: Lediglich sieben von 107 Untersuchungen in<br />

Palästina befassten sich damals mit Flüchtlingen in Gaza (Tuastad<br />

1997). Seither hat sich diese Situation aufgrund der schwierigen<br />

Sicherheitslage und durch die Abschottungspolitik Israels (seit<br />

kurzem dürfen nur noch DiplomatInnen, JournalistInnen und<br />

MitarbeiterInnen von namhaften (I)NGOs nach Gaza einreisen) noch<br />

verschärft.<br />

Bei politischen Verhandlungen oder internationalen Diskussionen<br />

über Palästina wird vor allem das Westjordanland angesprochen.<br />

Gaza wurde aufgrund seiner Hamas-Regierung zur „terra non grata“.<br />

Bei der Unterstützung wird Gaza zwar nicht vergessen, aber<br />

Region – Gaza<br />

51


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

abgedrängt: z.B. bekommt die Region nur 19%, das<br />

Westjordanland hingegen 81% des Gesamtbudgets für<br />

NGO-Projekte, obwohl Gaza 35 % der gesamten<br />

palästinensischen Bevölkerung beherbergt und eine<br />

höhere Armutsrate und Arbeitslosigkeit aufweist (Hanafi<br />

/Tabari 2005: 343). Auch in Berichten über das Tagesgeschehen<br />

wird die Region – mit Ausnahme von Berichten<br />

über Bombenanschläge – vernachlässigt.<br />

„Gaza is like a big prison“<br />

Seit Monaten sind die Grenzübergänge immer wieder<br />

geschlossen. Am bekanntesten ist Rafah, der Grenzübergang<br />

zu Ägypten, er bietet für die BewohnerInnen die<br />

einzige Möglichkeit, ins Ausland zu gelangen. <strong>Die</strong> meisten<br />

Menschen, die versuchen über Rafah auszureisen,<br />

suchen medizinische Behandlung in Ägypten. In letzter<br />

Zeit saßen immer wieder tausende Menschen für Wochen,<br />

manchmal sogar für Monate, auf beiden Seiten der<br />

Grenze fest. Immer häufiger werden auch die Importwege<br />

für Waren blockiert. <strong>Die</strong>s hat desaströse Auswirkungen<br />

auf die ohnehin sehr schlechte wirtschaftliche<br />

Lage des kleinen Gebietes, da alle Rohstoffe und viele<br />

Lebensmittel eingeführt werden müssen. <strong>Die</strong>ser Umstand<br />

erschwert die Planung für Geschäftsleute wesentlich.<br />

Alle Menschen, mit denen ich gesprochen habe,<br />

fühlen sich in Gaza wie in einem Gefängnis. Frauen sind<br />

hier doppelt betroffen: Einerseits durch die Okkupation,<br />

andererseits durch die Gesellschaft. In der (arabischen)<br />

Gesellschaft werden Frauen vor allem über Männer<br />

definiert. Verheiratete Frauen sind kaum unter ihrem<br />

eigenen Namen bekannt, sondern als Mutter ihres erstgeborenen<br />

Sohns (z.B. Umm Naseem, Umm Mohamed).<br />

Ein weiteres Beispiel für die Dominanz der Männer ergab<br />

sich aus einem Gespräch mit zwei Schwestern: Während<br />

Umm Naseem meinte, sie kämen aus dem Dorf Masmia<br />

Kbira (dem Ort von dem ihre Eltern flohen, beide Frauen<br />

wurden bereits in Gaza geboren), widersprach Umm<br />

Mohamed: sie stamme aus Bergera, dem Dorf ihres<br />

Mannes.<br />

<strong>Die</strong>se Männerdominanz zeigt sich auch in der Politik der<br />

Hilfsorganisationen. Nur Kinder von Flüchtlingsvätern,<br />

nicht aber jene von Flüchtlingsmüttern haben ein Anrecht<br />

auf den Flüchtlingsstatus (Gilen 1994). Ebenso wird<br />

die palästinensische Staatsbürgerschaft über den Vater<br />

definiert (Abdo 1999). Es gab jedoch auch eine<br />

Veränderung in der Rolle der Frauen, dies wurde<br />

besonders während der ersten Intifada behauptet. Zu<br />

jener Zeit wurde– vor allem wegen der Gründung von<br />

Frauenkomitees – von einer „Modernisierung“ der Gesellschaft<br />

gesprochen. Doch bereits während der Intifada<br />

wurde das Konzept von „Ehre und Schande“ von<br />

israelischer Seite für ihre Zwecke verwendet: Samira Haj<br />

spricht über die alarmierenden Zahlen von „gefallenen“<br />

52 Region – Gaza<br />

Frauen, die zu Kollaborateurinnen wurden. Vorangegangen<br />

war zumeist ein sexueller Angriff von israelischen<br />

Soldaten oder Kollaborateuren, anschließend<br />

wurde den Frauen gedroht, die sexuellen Übergriffe<br />

öffenlich zu machen. So wurden sie zur Zusammenarbeit<br />

mit den Israelis gezwungen, um etwa über politische<br />

Aktivitäten der PalästinenserInnen zu berichten (Haj<br />

1992). Sexuelle Belästigungen<br />

durch Soldaten führten auch<br />

zu einer Senkung des Heiratsalters,<br />

ein gegenläufiger Trend<br />

zu anderen arabischen Ländern.<br />

Umm Hussein verheiratete<br />

ihre beiden Töchter im<br />

Alter von 15 Jahren. Sie<br />

„rechtfertigte“ dies folgendermaßen: „We had to marry<br />

them off because we did not feel security and safety for our<br />

girls, […] because the soldiers sometimes make troubles.“<br />

Foto: Gudrun Kroner<br />

Nach der ersten Intifada kam es zu einer weiteren<br />

Einschränkung im Leben der Frauen. Es wurde von<br />

ihnen erwartet, ihren „ursprünglichen“ Platz in der Gesellschaft<br />

wieder einzunehmen. Trotz dieser neuen/alten<br />

Einschränkungen mussten immer mehr Frauen neben<br />

ihren Haushaltsverpflichtungen arbeiten, damit ihre Familien<br />

überleben konnten. Heute ist das Straßenbild Gazas<br />

von verschleierten Frauen geprägt, da ab der ersten<br />

Intifada Männer Frauen in den Straßen dazu aufforderten,<br />

sich zu verschleiern (Hammami 1990) und<br />

lange Gewänder zu tragen. Es wurde berichtet, dass<br />

Männer Frauen, die sich nicht an die neuen Kleidungsvorschriften<br />

hielten, Säure auf die Beine sprühten.<br />

Während meiner Forschung konnte ich zwar keine Frau<br />

finden, der dies tatsächlich passierte, aber auch wenn<br />

dies – wie öfters behauptet – nur Gerüchte waren, der<br />

Effekt war derselbe: Frauen änderten ihr Verhalten und<br />

ihre Kleidung nicht aufgrund ihrer Überzeugung,<br />

sondern aus Angst.<br />

Dennoch schufen sich viele Frauen einen – zumindest<br />

informellen – Freiraum durch die Abwesenheit der unter<br />

der Woche in Israel arbeitenden Männer. Wochentags<br />

trafen sich Frauen um z.B. Stickereiarbeiten gemeinsam<br />

zu verrichten. Seitdem ihre Männer arbeitslos sind und<br />

oft frustriert zu Hause sitzen, fühlen sich manche Frauen<br />

sehr eingeschränkt, so Umm Ahmed: „Before I had time<br />

to do my work and sit with Umm Naseem and stitch or<br />

also go to Gaza to talk with people from the women<br />

organisations. Now he is always home, asks me where I<br />

go, who I meet. Sometimes he is depressed because there<br />

is nothing to do and he cannot bring us money,<br />

sometimes he is also aggressive. I miss the old time, but<br />

we have to deal with this situation now“. <strong>Die</strong>se Zitat<br />

spricht ein weiteres Problem an: die häusliche Gewalt. In


den letzten Jahren stieg die Anzahl von gewaltsamen<br />

Übergriffen stark, die Direktorin eines „Women's<br />

Empowerment Project“ meint, dass bei einer<br />

Untersuchung 65% der befragten Frauen darunter litten,<br />

die Dunkelziffer jedoch viel höher sei. Einer der Gründe<br />

für den Anstieg sei die ständige Anwesenheit und die<br />

Frustration der Männer. Zusätzlich mehrten sich Fälle<br />

von Blutrache und Ehrenmorden.<br />

<strong>Die</strong> Verringerung der Bewegungsfreiheit im Alltag wird<br />

jedoch nicht nur von der Familie hervorgerufen, sondern<br />

v.a. durch israelische Checkpoints. Obwohl Männer und<br />

Frauen darunter leiden sind Frauen doppelt betroffen,<br />

denn wie Bornstein bemerkt: „For women, the border<br />

was a place not of physical but of moral danger. In this<br />

case, it was the judgement of other Palestinians that kept<br />

women from crossing the border.“ (Bornstein 2001: 80).<br />

Eine ehemalige Studentin bekräftigte diese Aussage:<br />

„Now I cannot continue with the university, before I<br />

came 3 days in one week to Gaza city to attend my<br />

lectures. But now because the checkpoint is closed I<br />

cannot reach the university […]. I cannot afford to rent a<br />

room in Gaza City, also my parents would not allow me<br />

to live there alone without relatives.“<br />

In den letzten Monaten hat sich die Lebenssituation für<br />

die BewohnerInnen Gazas weiter verschlechtert. Israel<br />

hat Gaza offiziell zu einer „enemy/hostile entity“ erklärt,<br />

es kontrolliert die Grenzen, den Luftraum, die Küstengebiete,<br />

Wasserressourcen und liefert 60% des Stroms,<br />

der nun nach Gutdünken der israelischen Regierung abund<br />

angestellt wird. Eine Reaktion auf diese Lebensbedingungen<br />

ist die Zuwendung zur Hamas. Viele Frauen<br />

wurden in deren Hilfseinrichtungen aktiv, um ihre Familie<br />

finanziell zu unterstützen, aber auch junge Frauen,<br />

die keine Arbeit finden konnten, wurden in Kleinprojekten<br />

gefördert. Der Sieg der Hamas bei den Wahlen hat<br />

verschiedene Auswirkungen auf Frauen: Der soziale<br />

Druck auf „angemessenes“ Verhalten und Kleidung<br />

steigt, andererseits wurden viele Frauen in der Hamas-<br />

Bewegung politisch aktiv. Sie agieren nun nicht mehr nur<br />

im Haus oder als Unterstützung für ihre Männer, wie<br />

man das von einer traditionellen, religiösen Bewegung<br />

erwarten könnte, sondern auch im öffentlichen Leben.<br />

<strong>Die</strong> erste gewählte Bürgermeisterin Palästinas kommt<br />

aus den Reihen der Hamas. In den Richtlinien der Hamas<br />

(www.hamasonline.org) wird behauptet, dass Frauen im<br />

Befreiungskampf keine geringere Bedeutung als Männer<br />

haben, und dass sie eine große Rolle durch die Erziehung<br />

der neuen Generationen innehaben. Auch steht hier, dass<br />

es wichtig ist, den Mädchen und Frauen eine Ausbildung<br />

in Schulen und Universitäten zu ermöglichen. Dennoch<br />

wird gleichzeitig ihre Position eingeschränkt, indem<br />

Frauen nur als Mütter und Schwestern von Kämpfern<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

beschrieben werden.<br />

<strong>Die</strong> Situation der BewohnerInnen Gazas verschlechtert<br />

sich zusehends. Eine Besserung der Lage ist zurzeit nicht<br />

in Sicht. �<br />

Gudrun Kroner studierte KSA und schloss 2006 ihre<br />

Dissertation mit dem Thema „Jenseits von Ortsgebundenheit:<br />

Eine komparatistische Analyse von weiblichen Flüchtlingsschicksalen<br />

in der arabisch-islamischen Welt“ ab. Derzeit ist<br />

sie an der FS Sozanth, ÖAW durch ein Drittmittelprojekt<br />

teilbeschäftigt. Sie ist affiliated Researcher am FMRS (Forced<br />

Migration and Refugee Studies) an der American University<br />

in Cairo. In den letzten Jahren führte sie zahlreiche Feldforschungen<br />

in Ägypten (zwei Jahre), Gaza (acht Monate) und<br />

Jordanien (drei Monate) durch. Schwerpunkte: Flüchtlingsforschung,<br />

Naher Osten, NO-Afrika, Feldforschungsmethoden,<br />

Genderstudies.<br />

Literatur<br />

Abdo, Nahla. Gender and Politics Under the Palestinian Authority. In:<br />

Journal of Palestine Studies Vol. 18. No. 2. Berkley, 1999. S. 38-51.<br />

Bornstein, Avram S. Crossing the Green Line between the West Bank<br />

and Israel. Philadelphia, 2002.<br />

Gilen, Signe et al. FAFO Report 177: Finding Ways – Palestinian<br />

Coping Strategies in Changing Environments. Oslo, 1994.<br />

Graham-Brown, Sarah. Impact on the Social Structure of Palestinian<br />

Society. In: Aruri, Naseer (Hg.): Occupation: Israel over Palestine.<br />

London, 1984. S. 223- 254.<br />

Hammami, Rema. Women, the Hijab and the Intifada. In: Middle<br />

Eastern Report No. 164/165. 1990. S.24-28.<br />

Hanafi, Sari/Tabari Linda. The Emergence of a Palestinian Globalized<br />

Elite: Donors, International Organizations and Local NGOs.<br />

Jerusalem, 2005.<br />

Sayigh, Rosemary. Palestinians: From Peasants to Revolutionaries,<br />

London, 1979.<br />

Tuastad, Dag H. The Organisation of Camp Life: The Palestinian<br />

Refugee Camp of Bureij, Gaza. In: Hovdenak, Are; Peterson, Jon et<br />

al.: Constructing Order: Palestinian Adaptations to Refugee Life.<br />

Fafo-Report 236, Oslo, 1997. S. 103-156.<br />

Empfehlungen<br />

Palestinian Centre for Human Rights (PCHR): www.pchrgaza.org<br />

Haaretz daily newspaper Israel: http://www.haaretz.com<br />

Region – Gaza<br />

53


Ein historischer Abriss zur Entwicklung des politischen Islams in der Türkei als<br />

Gegenideologie zum Kemalismus<br />

von SAYA AHMAD<br />

Nach dem Khalifat<br />

Während des türkischen Befreiungskriegs (1919–1922)<br />

spielte der Islam eine wesentliche Rolle als<br />

Mobilisierungsmittel. Nach der Gründung der Türkischen<br />

Republik 1923 änderte sich die Situation jedoch<br />

für viele gläubige Muslime radikal. Mustafa Kemal<br />

kehrte der Religion den Rücken und führte eine<br />

laizistisch-nationalistische Ideologie ein, die durch die<br />

Einparteienherrschaft vertreten wurde und deren Religionspolitik<br />

jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens<br />

tangierte. Zahlreiche Reformen wurden durchgesetzt,<br />

die zum Teil auf eine drastische Art und Weise religiöse<br />

Elemente der Gesellschaft entfernen sollten. Religion<br />

musste sich auf den privaten Raum beschränken, was<br />

einen radikalen Bruch mit den praktizierten Traditionen<br />

des Osmanischen Reiches bedeutete. Das Säkularisierungsprogramm<br />

war jedoch nicht imstande, alle Teile der<br />

Bevölkerung zu integrieren, der politische Islam<br />

kristallisierte sich als Gegenideologie zum Kemalismus<br />

heraus.<br />

<strong>Die</strong> Jahre danach (1946–1980)<br />

1946 wurde das Mehrparteiensystem eingeführt. Das<br />

Jahr wird als großer Erfolg für den politischen Islam in<br />

der türkischen Republik gefeiert, denn die Abschaffung<br />

der Einparteienherrschaft ebnete den Weg für islamische<br />

Kräfte auf die politische Bühne. Tatsache ist, dass die Religion<br />

in der Türkei nie ganz von der Bildfläche verschwand.<br />

Atatürks Ziel, Religion vom Staat zu trennen,<br />

wurde nur teilweise erreicht. Ein großer Teil der Bevölkerung<br />

konnte für diese Denkweise nicht gewonnen werden.<br />

<strong>Die</strong>s zeigte sich in den ersten demokratischen Wahlen<br />

1950. <strong>Die</strong> Republikanische Volkspartei (CHP) Atatürks<br />

wurde von der Demokratischen Partei (DP), die auch<br />

islamische Kräfte unter ihremDach vereinte, geschlagen.<br />

Der Militärputsch 1960 wurde nicht zuletzt mit dem<br />

Argument geführt, den Laizismus zu retten. Erst in den<br />

1970erJahren erlebten islamistische oder nationalreligiöse<br />

Parteien wie die MSP oder die MHP ein Revival. <strong>Die</strong><br />

Dekade war geprägt von politischen Konflikten,<br />

Terroranschläge destabilisierten die Situation im Land.<br />

<strong>Die</strong> Gewaltwelle führte zu einem generellen Misstrauen<br />

der Bevölkerung gegenüber der Politik und schließlich<br />

1980 zum Militärputsch. <strong>Die</strong>smal reagierte das Militär<br />

gegenüber den islamistischen Kräften vergleichsweise<br />

tolerant. Der Islam wurde bewusst eingesetzt, um linke<br />

Kräfte zurückzudrängen. <strong>Die</strong> vorherrschende Ideologie<br />

des dreijährigen Militärregimes zielte auf das Zusam-<br />

54 Region – Türkei<br />

menspiel von Nationalismus und Islam ab und fand<br />

gewisse Resonanz in der Bevölkerung. Der Einfluss von<br />

religiösen Orden und Bruderschaften nahm zu.<br />

Parlamentarischer Islamismus<br />

Als 1983 das Militär einer zivilen Regierung wich, sich<br />

jedoch politischen Einfluss sicherte, gelang es der<br />

ANAP-Partei mit Turgut Özal an der Spitze, die Wahlen<br />

für sich zu entscheiden. Özal gehörte dem Nayshidany-<br />

Orden an. Bis zum Beginn der 1990erJahre waren die<br />

gemäßigten Islamisten damit mächtiger als liberale<br />

Kräfte. Orden und Bruderschaften gründeten in diesen<br />

Jahren Schulen, Zeitungen und führten Unternehmen.<br />

Auch die Liberalisierung des Marktes erleichterte die<br />

Islamisierung der Türkei. Viele soziale Leistungen<br />

konnten vom Staat nicht finanziert werden, diese Lücke<br />

wurde von islamischen Gruppen gefüllt. So entstand in<br />

den 1980erJahren in den Großstädten eine neue<br />

Generation weltlicher, religiöser Intellektueller. Anfang<br />

der 1990erJahre kam die islamistische Refah-Partei unter<br />

Erbakan an die Macht. Ihre Führung konnte sie bis 1998<br />

aufrechterhalten. Schließlich spaltete sich die<br />

Nachfolgepartei der Refah-Partei in zwei Flügel: einen<br />

religiös-liberalen (die AKP unter Erdogan) und einen<br />

islamistischen Flügel (die Saadet Partisi unter Erbakan).<br />

Ausblick<br />

In welche Richtung die Entwicklung der Parteien des<br />

politischen Islam geht, ist in der türkischen<br />

Öffentlichkeit heftig umstritten. Einerseits wird in der<br />

Verfassung das Prinzip des Laizismus aufrechterhalten,<br />

andererseits wird die Religion von der AKP-Regierung<br />

instrumentalisiert, um die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen<br />

in der Türkei zu einen. Obwohl die AKP<br />

ihre Wurzeln in islamistischen Strömungen hat, ist es<br />

schwierig, sie einfach nur als islamistisch abzustempeln.<br />

Bisher verfolgte die Regierung eher einen Europäisierungsdenn<br />

einen Islamisierungskurs. �<br />

Saya Ahmad, geb. in Kirkuk/Irak, lebt seit 15 Jahren in<br />

Österreich. Aufgewachsen in Kärnten, studiert sie seit 2003<br />

Internationale Entwicklung und Arabistik an der Universität<br />

Wien und ist Mitarbeiterin der LEEZA (vormals WADI<br />

Österreich).<br />

Anmerkung der Redaktion: <strong>Die</strong>ser Artikel wurde in<br />

voller Länge in WADI - News Nr. 4, 2007/2 veröffentlicht.


Zeynep Alemdar ist Assistenz-Professorin für die<br />

Abteilung Internationale Beziehungen an der Okan<br />

Universität in Istanbul. Ihr Schwerpunkt liegt auf den<br />

Bereichen Zivilgesellschaft, Global Governance sowie<br />

Frauen und Politik. Das Interview führte Soma Ahmad,<br />

Mitarbeiterin der Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit<br />

LEEZA (vormals WADI<br />

Österreich) im Oktober 2007.<br />

Wie stark ist die feministische Bewegung in der Türkei?<br />

Frauenorganisationen haben in den letzten Jahren an<br />

Stärke gewonnen. Einerseits liegt es an der Liberalisierung<br />

der Politik in den 1990erJahren, die feministischer<br />

Arbeit mehr Freiraum gewährt hat. Andererseits<br />

öffnete sich der Spielraum für die türkischen Frauenorganisationen<br />

nach dem EU-Gipfel in Helsinki, als<br />

die Türkei zu einem Beitrittskandidat deklariert wurde,<br />

da sich die Frauenorganisationen nun leichter mit ihren<br />

(west-)europäischen PartnerInnen vernetzen konnten.<br />

Wie hoch ist die Anzahl der Frauen im Parlament?<br />

Heute sind 46 Frauen im Parlament (bei insgesamt 550<br />

Abgeordneten, Anm.). Nach den Wahlen 2002 gab es nur<br />

21 Repräsentantinnen, nach den Wahlen in diesem Jahr<br />

(2007) hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Es ist zwar<br />

eine große Steigerung, aber die Anzahl der Frauen im<br />

Parlament ist immer noch sehr niedrig.<br />

Wie beeinflusst die AKP die Frauenbewegung in der Türkei?<br />

<strong>Die</strong> AKP (Adalet ve Kalk¦nma Partisi, die Partei für<br />

Gerechtigkeit und Aufschwung ist eine islamischkonservativ<br />

ausgerichtete politische Partei in der Türkei,<br />

Anm. der Red.) und ihre Vorgänger haben erfolgreich<br />

Frauengruppen organisiert. Das Organisieren von<br />

Frauengruppen und die Tatsache, dass sich immer mehr<br />

Frauen am politischen Geschehen beteiligen, ist eine<br />

positive Entwicklung. Aber die viel wichtigere Frage ist,<br />

wie viel diese zu einer Verbesserung der Frauenrechte<br />

beitragen. Ich persönlich habe gehört, dass eine<br />

Parlamentarierin der AKP gefordert hat, dass Frauen nur<br />

auf lokaler und nicht auf nationaler oder internationaler<br />

Ebene politisch aktiv sein sollen. Ihr Verständnis von<br />

Frauenpartizipation ist, dass sich Frauen nur zu<br />

„Frauenthemen“ einbringen sollen, nämlich Familienangelegenheiten,<br />

Kinderbetreuung etc., aber die<br />

„wichtigeren“ Themen sollten die Männer regeln. Wenn<br />

man Frauenrechte aber nur auf jene Bereiche reduziert,<br />

Frauenrechte nur auf „women’s issues“ zu reduzieren,<br />

ist ein Schritt in die falsche Richtung<br />

von SOMA AHMAD<br />

Frauenpartizipation in der Türkei<br />

Interview mit Zeynep Alemdar<br />

mit denen klassischerweise Frauen assoziiert werden,<br />

und sie dabei gleichzeitig von anderen Aspekten des<br />

Policy Makings ausschließt, trägt man nicht wirklich<br />

etwas Positives zur Frauenbewegung bei.<br />

Welche Änderung wollte die AKP zum Familienstandsrecht<br />

durchführen?<br />

Als sich der EU-Beitrittsprozess beschleunigt hatte, setzte<br />

sich die EU für die Frauen in der Türkei ein. <strong>Die</strong> AKP hat<br />

2004, trotz der Proteste der Frauenorganisationen,<br />

vorgeschlagen, Ehebruch zu kriminalisieren. <strong>Die</strong> EU war<br />

hilfreich, da sie die Regierung unter Druck gesetzt hat,<br />

diesen Vorschlag zurückzuziehen. Günter Verheugen,<br />

Erweiterungskommissar der EU, hat den türkischen<br />

Premierminister und den Parteichef der AKP gewarnt,<br />

dass dieses Thema die Kampagne für eine Aufnahme in<br />

die EU unterminiere. Im September 2004 einigte sich das<br />

türkische Parlament auf den Gesetzesentwurf für das<br />

Strafgesetzbuch, der von Frauengruppen – auf Initiative<br />

von Women’s Working Group on the Turkish Penal Code<br />

– ausgearbeitet worden ist.<br />

Was bedeutet kemalistischer Feminismus?<br />

Der Kemalismus war die offizielle Staatsideologie in der<br />

Türkei seit dem Unabhängigkeitskrieg. <strong>Die</strong> kemalistische<br />

Revolution hat jeden Aspekt des osmanischen Systems<br />

abgeschafft, um einen modernen, säkularen türkischen<br />

Staat zu gründen. Einige FeministInnen behaupten<br />

allerdings, dass der Kemalismus nicht alle Aspekte von<br />

Gender umfasst. �<br />

Soma Ahmad ist Mitarbeiterin der Liga für Emanzipatorische<br />

Entwicklungszusammenarbeit LEEZA (vormals WADI<br />

Österreich), geboren in Kirkuk, studiert Politikwissenschaft<br />

und Arabistik an der Universität Wien.<br />

Anm. d. Red.: <strong>Die</strong>ser Artikel wurde bereits in WADI-<br />

News Nr. 4, 2007/2 veröffentlicht.<br />

Region – Türkei<br />

55


LEEZA - Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit<br />

(vormals WADI Österreich)<br />

von MARY KREUTZER<br />

Feministische Projekte im<br />

Irak und in der Türkei<br />

Gelebte Solidarität und Demokratisierung<br />

LEEZA (vormals WADI Österreich),<br />

ist eine Hilfsorganisation, die<br />

emanzipatorische und feministische<br />

Projekte im Irak und in der Türkei<br />

unterstützt und durch die<br />

Zusammenarbeit mit demokratischen<br />

ExilantInnen aus dem Nahen Osten<br />

und der Türkei einen Beitrag zur<br />

Demokratisierung, zur Einhaltung<br />

von Menschenrechten und der<br />

Gleichberechtigung der Geschlechter<br />

in der Region leistet.<br />

56 Region – Türkei/Irak<br />

Wir unterstützen v. a. Projekte mit und für Frauen im Irak,<br />

sind aber auch in Europa für die Rechte von AsylwerberInnen<br />

und in der Informationsarbeit über den<br />

Irak, Syrien, den Sudan und andere Staaten der Region<br />

aktiv. Weiters versenden wir kostenlos Newsletter mit aktuellen<br />

Informationen und Analysen zum Thema, welche per Mail bei uns<br />

bestellt werden können. All diese Aktivitäten geschehen in aktiver<br />

Zusammenarbeit mit den demokratischen (oft oppositionellen)<br />

Kräften in diesen Staaten.<br />

In der ostanatolischen Hauptstadt Diyarbakir unterstützen wir seit<br />

Sommer 2007 das Frauenberatungszentrum EPI-DEM, im Nordirak<br />

laufen zur Zeit verschiedene, von uns mitfinanzierten Projekte: Drei<br />

Frauenzentren (in Halabja, Biyara und Kifri), der freie Radiosender<br />

Dengi Nwe, ein frauengeleitetes Mobiles Team, und eine breit<br />

angelegte Anti-FGM-Kampagne.<br />

Frauenzentrum in der Osttürkei<br />

Hauptziel dieses Projektes ist es, Frauen durch psychologische,<br />

medizinische, juridische Hilfe, sowie durch das Angebot eines Alphabetisierungs-<br />

und Türkischsprachkurses bei den Problemen, die durch<br />

Migration und Urbanisierung für sie entstehen, zu unterstützen.<br />

Frauen sollen lernen über ihren Körper selbst zu bestimmen und mit<br />

einfachen Methoden Empfängnisverhütung zu betreiben, dabei soll<br />

geholfen werden die hohe Rate an Selbstmordversuchen unter Frauen<br />

zu senken. <strong>Die</strong>ses Projekt sieht Alphabetisierungs- und Türkischkurse<br />

für kurdischsprachige Frauen vor. Weiters werden in medizinischen<br />

und juridischen Seminaren Themen wie Familienplanung, Frauengesundheit,<br />

Verhütung, Menschenrechte, und insbesondere Frauenrechte,<br />

besprochen. Da Frauen durch die Migration entwurzelt werden<br />

und ihr soziales Netzwerk verloren haben, steht ihnen während der<br />

gesamten Projektzeit eine Psychologin zur Verfügung.


Frauenzentren im Nordirak<br />

Im Irak ist, wie in den meisten Staaten des Nahen Ostens,<br />

die öffentliche Sphäre weitgehend den Männern<br />

vorbehalten, während die Frauen im Privaten oft unter<br />

sich sind. Öffentliche Orte der Begegnung gibt es für<br />

Frauen selten. Bildungsmöglichkeiten sind für Männer<br />

viel leichter zugänglich als für Frauen. Genau hier sollen<br />

die Frauenzentren, die von LEEZA unterstützt werden,<br />

gegensteuern und einen Begegnungsraum schaffen, in<br />

dem sich Frauen und Mädchen treffen und fortbilden<br />

können. Gerade dort, wo der Einfluss reaktionärer<br />

Islamisten stark ist, muss Frauen erst wieder ein Zugang<br />

zu öffentlichem Handeln ermöglicht werden. In Halabja<br />

und in der Region Hawraman, in der die radikalislamistische<br />

Ansar al-Islam bis 2003 ein Terrorregime<br />

errichtet hatte, wurden nach der Vertreibung der<br />

Islamisten drei Frauenzentren eröffnet. In Kifri wurde<br />

2005 ein weiteres Frauenzentrum eröffnet. Dort können<br />

Frauen ihre Erfahrungen austauschen und Freiräume<br />

selbstbestimmt nützen. <strong>Die</strong>se Zentren sind mit Bibliothek<br />

und Computerraum ausgestattet. Es werden verschiedenste<br />

Kurse angeboten, die vom Näh- und<br />

Schminkkurs über Alphabetisierungskurse bis zum<br />

Computerkurs reichen. Frauen und Mädchen bekommen<br />

so nicht nur endlich Zugang zu Bildung, sondern können<br />

auch selbst ihren öffentlichen Raum mitgestalten.<br />

Frauenhäuser<br />

Im Jänner 1999 eröffnete in Suleymaniah das erste<br />

Frauenhaus im Nahen Osten außerhalb Israels. 2002<br />

folgte ein weiteres in Hawler /Erbil. In diesen<br />

Schutzhäusern finden Frauen Zuflucht, die vor Gewalt in<br />

der Familie, „Ehrenmord“ oder Zwangsheirat bedroht<br />

sind. Viele Frauen kommen mit selbst- oder fremdzugefügten<br />

schweren Verletzungen ins Frauenhaus und<br />

benötigen zusätzliche medizinische Betreuung. <strong>Die</strong><br />

Frauen und Mädchen erhalten hier Unterkunft und Verpflegung,<br />

sowie rechtliche und psychosoziale Betreuung.<br />

Den betroffenen Frauen wird also nicht nur Schutz vor<br />

Gewalt geboten, vielmehr werden sie auch intensiv<br />

betreut. Ziel ist es, ihnen wieder ein möglichst selbstbestimmtes<br />

Leben außerhalb des Frauenhauses zu<br />

ermöglichen.<br />

Gewalt gegen Frauen ist keineswegs ein auf den Irak, den<br />

Nahen Osten oder die „islamische Welt“ beschränktes<br />

Phänomen. Allerdings gibt es in den meisten Staaten des<br />

Nahen Ostens bislang wesentlich weniger bis gar keine<br />

Einrichtungen für Frauen, die einer unerträglichen<br />

Situation entfliehen wollen. Unsere Frauenhäuser sollen<br />

einen ersten kleinen Beitrag leisten, auch hier das<br />

Bewusstsein der politisch Verantwortlichen und der<br />

Gesellschaften zu verändern und die Notwendigkeit von<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Einrichtungen für Frauen, die Unterstützung benötigen,<br />

sichtbar zu machen.<br />

Frauengeführte mobile Teams<br />

Seit 2003 betreuen sechs mobile Teams Frauen und<br />

Kinder in den Regionen Mossul, Hawler/Erbil, Kirkuk,<br />

Suleymaniah, Halabja und Germian. <strong>Die</strong> Teams bestehen<br />

aus einer Ärztin und einer Krankenschwester, die Gesundheitsberatung<br />

und ambulante Untersuchungen anbieten,<br />

sowie aus einer Sozialarbeiterin bzw. Psychologin,<br />

die den Frauen in rechtlichen und psychosozialen<br />

Fragen zur Seite steht. <strong>Die</strong> Aufklärung über Frauenrechte<br />

und die Thematisierung von Gewalt in der Familie<br />

tragen dazu bei, die gesellschaftliche Stellung von Frauen<br />

und Kindern zu stärken. Zusätzlich erhalten besonders<br />

bedürftige Familien materielle Unterstützung in Form<br />

von Lebensmitteln, Kleidung und Medizin.<br />

<strong>Die</strong> mobilen Teams setzen sich dabei aus gebildeten<br />

jungen Frauen der jeweiligen Region zusammen. In<br />

multiethnischen Regionen, wie Kirkuk wird darauf<br />

geachtet, dass auch die unterschiedlichen Sprachgruppen<br />

in einem Team gemeinsam vertreten sind, was<br />

das Vertrauen der lokalen Bevölkerung in die mobilen<br />

Teams stärkt.<br />

Viele Frauen in den Dörfern haben durch die Ärztinnen<br />

der mobilen Teams erstmals Zugang zu medizinischer<br />

Versorgung und Beratung. Dabei werden auch Daten<br />

über die allgemeine gesundheitliche und soziale<br />

Situation in den Dörfern aufgenommen, um langfristige<br />

Verbesserungen zu erreichen.<br />

Kampagne gegen Weibliche<br />

Genitalverstümmelung (FGM)<br />

<strong>Die</strong>se frauengeführten mobilen Teams organisieren seit<br />

mehreren Jahren in den verschiedenen Regionen des<br />

Nordirak Frauenversammlungen, diskutieren über<br />

gesundheitliche sowie gesellschaftliche Probleme und<br />

leisten Hilfestellung. Dabei wurden die Mitarbeiterinnen<br />

der Teams immer wieder mit der Existenz von Weiblicher<br />

Genitalverstümmelung (FGM – Female Genital Mutilation)<br />

konfrontiert. Im Oktober und November 2004<br />

wurde eine erste Erhebung in ca. 40 Dörfern der Region<br />

Germian (im südlichen Nordirak) durchgeführt, deren<br />

Ergebnis zeigte, dass etwa 60 Prozent der Frauen und<br />

Mädchen unter 10 Jahren beschnitten worden waren.<br />

Eine umfassendere Studie soll in Zukunft Daten über die<br />

Verbreitung von FGM liefern, die für politisch<br />

MandatsträgerInnen und NGOs zur Verfügung stehen<br />

sollen. Im Sommer 2005 wurde ein Aufklärungsfilm<br />

über die schädlichen Konsequenzen von FGM gedreht,<br />

Region – Türkei/Irak<br />

57


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

der nun von den Teams mittels mobiler Kinovorstellungen<br />

in den Dörfern und Städten der Region gezeigt wird.<br />

Freies Radio für Frauen und Jugendliche<br />

Nach dem Sturz des Ba’th-Regimes entstand im Irak ein<br />

Freiraum für neue Medien, der trotz des anhaltenden<br />

Terrors und der patriarchal geprägten Gesellschaftsstrukturen<br />

genutzt wird. Zum Beispiel von jenen Frauen<br />

und Jugendlichen im nordirakischen Gebiet von Shara<br />

Sur, Halabja und Hawraman, die mit dem Sender<br />

Dengue Nwe (Neue Stimme) ein einzigartiges Projekt<br />

umsetzten: Sie gründeten ein dezidiert parteiunabhängiges<br />

Community-Radio, das nach acht Monaten<br />

Vorbereitungszeit und Probebetrieb im September 2005<br />

live on air ging. Der Sender besteht aus sechs Mitarbeiterinnen<br />

und vier Mitarbeitern. Sie sind allesamt Überlebende<br />

des Giftgasangriffs Saddam Husseins auf<br />

Halabja und teilen das Trauma von Tod und Vertreibung,<br />

Flucht und Exil, Rückkehr und Internierung in so<br />

genannten Collective Towns.<br />

Thematisch umfasst das Radioprogramm gesellschaftsrelevante<br />

Aspekte wie u.a. Umgang mit Behinderungen,<br />

Gewalt an Frauen und Jugendlichen, Gesundheit,<br />

Sexualität und den rechtlichen Status von Frauen. Dadurch<br />

soll das Bewusstsein für Frauenrechte und das<br />

Verständnis für die Jugend gestärkt werden. Frauen wird<br />

ein öffentliches Forum geboten, in dem sie über ihre<br />

Situation und Erfahrungen berichten können. Den<br />

TeilnehmerInnen soll dabei auch die Fähigkeit zu<br />

journalistischer Arbeit vermittelt werden. Weiters will<br />

das Team über Gleichberechtigung von Männern und<br />

Frauen, Hintergrundinformationen zu Ausbildungsmöglichkeiten,<br />

Musik, Mode, sowie internationale<br />

Kultur berichten.<br />

Und die Finanzierung?<br />

Für die Projekte in der Türkei und im Irak erhalten wir<br />

ausschließlich „Ko-Finanzierungen“. Das heißt, dass ein<br />

Teil der Gelder aus Spenden bestehen muss, um Anspruch<br />

auf öffentliche Gelder der OEZA (Österreichische<br />

Entwicklungszusammenarbeit) geltend machen zu<br />

können. Auch die Stadt Wien, der Weltgebetstag der<br />

Frauen, das Land Oberösterreich und amnesty<br />

international unterstützen unsere Projekte.<br />

In Österreich engagieren sich die zehn LEEZA-<br />

MitarbeiterInnen ehrenamtlich. Da es keine Basisfinanzierung<br />

für uns gibt, können wir auch leider kein Büro<br />

unterhalten und müssen von zu Hause aus arbeiten.<br />

Auch der Umstand, dass wir dringend zumindest eine<br />

Bürokraft bräuchten, die uns bei den Abrechnung<br />

58 Region – Türkei/Irak<br />

der – zurzeit doch sehr zahlreichen und aufwendigen<br />

– Projekte unterstützt, macht uns immer wieder zu<br />

schaffen.<br />

Als klassische NGO sehen wir uns nicht. Wir bieten eine<br />

Struktur, in der sich feministische und demokratische<br />

Personen engagieren können: Es können Projekte<br />

konzipiert und besucht, JournalistInnen-Aufenthalte<br />

organisiert und Kontakte mit Gleichgesinnten im Nahen<br />

Osten und in der Türkei gepflegt und genutzt werden.<br />

Das ist unser Beitrag zur Demokratisierung des Nahen<br />

Ostens, gegen die Schürung von Feindbildern und für<br />

gelebte Solidarität auf Augenhöhe. �<br />

Mary Kreutzer ist Mitbegründerin von LEEZA (vormals<br />

WADI Österreich). Sie ist Politikwissenschafterin, Redakteurin<br />

der Zeitschrift der „Liga für Menschenrechte“ und Vorstandsmitglied<br />

der „Gesellschaft für kritische Antisemitismusforschung“<br />

(www.antisemitismusforschung.net). Zuletzt<br />

forschte sie über weibliche Genitalverstümmelung (FGM) in<br />

Spanien für die spanische Ausgabe von „Schmerzenskinder“<br />

(Waris Dirie/Corinna Milborn) und leitete die Recherche für<br />

das Buch „Festung Europa“ (Corinna Milborn). Zur Zeit<br />

schreibt sie ein Buch über Frauenhandel von Afrika nach<br />

Europa.<br />

Literaturtipps<br />

Kontakt<br />

LEEZA (vormals Wadi<br />

Österreich)<br />

Liga für Emanzipatorische<br />

Entwicklungszusammenarbeit<br />

leeza@gmx.org<br />

www.leeza.at<br />

Tel.: 0699-11365509<br />

Postfach 105,<br />

1181 Wien<br />

Spendenkonto<br />

LEEZA<br />

Knt. Nr.: 6.955.355 BLZ: 32.000,<br />

Raiffeisen Landesbank NÖ<br />

Zeitschrift des Vereins LEEZA (wird kostenlos per Post<br />

zugeschickt)<br />

Mary Kreutzer, Thomas Schmidinger (Hg.), Irak. Von der<br />

Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie? ça ira<br />

Verlag, 2004


Der Helfer braucht das Opfer<br />

Wer hilft wem?<br />

Es muss Anfang April gewesen sein. Anfang April vor<br />

vier Jahren. Über der Grenze tobte ein Krieg<br />

von dem ich nichts sah, aber vieles mitbekam. Es war ein<br />

sonnendurchtränkter lauer Abend. Wir saßen in einem<br />

großen Patio eines weiß gestrichenen einstöckigen<br />

Vierkanthauses; eine kleine Gruppe von acht Leuten.<br />

Unsere gemeinsame Sprache war Englisch. Wir lachten<br />

über unseren Akzent. Sie redeten ein Arabisch-Englisch<br />

und ich ein Deutsch-Englisch. Wir unterhielten uns über<br />

unsere Studien, unsere Familien, unsere Leben in Wien<br />

und in Bagdad. Sie waren Flüchtlinge aus dem Irak und<br />

ich war Katastrophenhelferin aus Österreich. Wir<br />

befanden uns im syrisch-irakischen Grenzgebiet. Es war<br />

mein erster Einsatz, der mich lehrte, nichts zu glauben,<br />

was ich nicht selbst gesehen habe. Das Kriegsopfer saß<br />

vor mir und war Mensch. Kein Entmündigter. Kein<br />

hilfloses Objekt. Das Opfer trug eine schöne Lederjacke,<br />

die nicht zu ihm passte, fanden MedienvertreterInnen<br />

und Hilfsorganisationen, denn Flüchtlinge sehen so<br />

nicht aus. Seit damals weiß ich: Nicht jedes Opfer eignet<br />

sich als Opfer. Wir suchen es uns aus.<br />

Je besser sich die Betroffenengeschichten an das<br />

schlechte Gewissen der satten Gesellschaft verkaufen<br />

lassen, desto mehr wird darüber berichtet und<br />

gespendet. Indien hatte nach der Tsunami-Katastrophe<br />

das mediale Nachsehen, denn die umgekommenen<br />

TouristInnen hatten die falsche Nationalität: Es waren<br />

fast ausschließlich Einheimische. Als im Juni 2005 im<br />

westafrikanischen Niger die Hirseernte wegen Dürre<br />

ausfiel, organisierten wir vor Ort Nothilfe mit den<br />

lokalen Caritas-Partnern. Das Geld für die<br />

Lebensmittelversorgung der betroffenen Menschen ging<br />

uns aus. <strong>Die</strong> Öffentlichkeit erreichten wir nicht, denn<br />

Niger war keine News-Katastrophe. Wenn es zum<br />

Sterben kommt auf Europas südlichem Nachbarkontinent,<br />

dann heben wir kurz ein Augenbraue hoch,<br />

um uns enttäuscht wieder abzuwenden, denn: nichts<br />

Neues aus Afrika. Doch dann im Juli ein Aufschrei, der<br />

mediales Gehör fand. In einem Spital in Maradi: dürre<br />

Babys mit aufgeblähten Bäuchen und Ärmchen, die<br />

kleiner sind als die Infusionsnadeln, die in die<br />

ausgezehrten Körper gestochen werden. Bändchen in<br />

drei Farben markieren den Grad der Lebenschancen: rot<br />

Eine journalistische Reflexion über das Verhältnis des Helfers zum Opfer.<br />

von MONIKA MARIA KALCISC<br />

für die fast schon Toten, grün für die man noch<br />

Hoffnung hat und weiß für die Überlebenden. Das hat<br />

Dramatik. TV-Teams rücken heran. Auf der Suche nach<br />

den Opfern plötzlich die Feststellung: Hier fehlen die<br />

Toten. Nicht die stillen Tode in den Dörfern, die das<br />

gestresste Auge des Kriegsreporters nicht erreichen,<br />

nein, es fehlt die sichtbare Masse.<br />

Ich finde es befremdend, wenn ich sehe, wie mit Opfern<br />

von Katastrophen Geschäfte gemacht werden. Ich sollte<br />

mich mittlerweile daran gewöhnt haben – an<br />

berechnende Plus-Minus-Kalkulationen von Medien<br />

genauso wie an das Katastrophenmanagement von<br />

PolitikerInnen, Behörden und NGOs.<br />

Der Wunsch zu helfen ist nicht genug. Das haben mich<br />

Hilfsorganisationen gelehrt, die wie Heuschreckenschwärme<br />

in ein Katastrophengebiet einfallen und nach<br />

kurzer Zeit wieder abziehen. Kein Opfer will einen<br />

Helfer, der es gut meint, aber nicht gut kann. Der hilflose<br />

Helfer braucht aber das Opfer, um seine Erfüllung zu<br />

finden: Ich bin du und du bist ich. Das Opfer wird zum<br />

Mittel, damit der Helfer zu sich findet: Dein Leid ist<br />

mein Leid. Es wird gehandelt, ohne zu hinterfragen. Das<br />

Opfer verliert in der Not seine letzte Würde, weil falsche<br />

Hilfe über ihm ausgeschüttet wird. Ihm wird die<br />

einfachste und gleichzeitig so schwere Frage nicht<br />

gestellt: Was brauchst du? Ich tue nichts für dich,<br />

sondern mit<br />

dir. Ich habe kein Mitleid, sondern Mitgefühl. Hilfreich<br />

sein ohne paternalistisches Gehabe funktioniert. Was<br />

daraus folgt ist der sinnvollste Moment meiner<br />

Hilfsarbeit: Ich mache mich selbst überflüssig. �<br />

Monika Maria Kalcsics ist Radiojournalistin und<br />

Katastrophenhelferin. Sie studierte Politikwissenschaft und<br />

Spanisch in Innsbruck, Madrid und Mexico City. Seit 2000<br />

arbeitet sie als Freie Mitarbeiterin beim ORF, im Radiosender<br />

Österreich 1. Seit 2003 leistet sie Katastrophenhilfe für Caritas<br />

Österreich und Caritas Internationalis.<br />

Anm. d. Red.: <strong>Die</strong>ser Beitrag entstand für die Ö1 Sendung<br />

„Diagonal“ und wurde am 18.11.2006 ausgestrahlt.<br />

Region – Irak<br />

59


Der Cyberspace als virtuelle Kampfzone für extreme Ideologien<br />

von CHRISTIAN MAZAL<br />

Hindu-Nationalismus im<br />

Cyberspace<br />

Virtuelle Identitäten und reale Gewalt<br />

„The most alarming development in<br />

Indian context has been the rise of<br />

rabid Hindutva for the creation of a<br />

Hindu nation“ (Radhakrishnan 2004).<br />

Der Boom der Informations- und<br />

Kommunikationstechnologien in<br />

Indien bietet neue Berufsfelder, in<br />

den Städten wächst eine gebildete<br />

und mobile Mittelschicht heran.<br />

Zugleich verstärkt sich der soziale<br />

Kontrast zur Mehrheit der<br />

Bevölkerung, die auf dem Land<br />

oder auch in den Slums der<br />

Metropolen lebt. Nach wie vor wird<br />

die Gesellschaftsordnung vom<br />

hinduistischen Kastensystem geprägt.<br />

<strong>Die</strong> soziale Spaltung setzt sich im<br />

eingeschränkten Zugang zum Internet<br />

fort. „The result is continued<br />

upper-caste dominance in the<br />

professions, business, culture and the<br />

world of Information Technology“<br />

(Omvedt 2004). Im Cyberspace, also in<br />

virtuell interaktiv und damit<br />

sozialen Räumen, kommt es in letzter<br />

Zeit vermehrt zu kulturellen und<br />

religiösen Identitätskonstruktionen.<br />

So wird einerseits der spirituelle<br />

Hinduismus präsentiert, andererseits<br />

aber auch die Ideologie der Hindutva,<br />

die ich im Folgenden näher erläutern<br />

möchte.<br />

60 Region – Indien<br />

<strong>Die</strong> Einheit aller Hindus in einem Hindu-Staat ist das<br />

politische Ziel des Neo-Hinduismus. <strong>Die</strong>ses soll durch eine<br />

neu interpretierte Gemeinsamkeit der indischen Geschichte,<br />

Nation, Kultur und Religion verwirklicht werden. <strong>Die</strong><br />

Kombination aus Religion und nationalistischer Politik zeichnet sich<br />

durch die Abgrenzung zum Islam, Christentum und politischen<br />

Säkularismus aus. <strong>Die</strong>ser Aufbau von Feindbildern birgt sozialen und<br />

politischen Sprengstoff und führt zu „disastrous consequences for the<br />

secular and pluralist nature of Indian democracy, for the diversity of<br />

Hinduism, and for minority religions“ (Radhakrishnan 2004). Das<br />

Konzept einer politischen Hindu-Identität wurde bereits in den 1920er<br />

Jahren von Vinayak Savarkar entwickelt, der für einen gewaltsamen<br />

Befreiungskampf gegen die britischen Kolonialherren eintrat. Er<br />

prägte für seine hindunationalistische Ideologie die Bezeichnung<br />

Hindutva (Hindutum). Das Blut der eingewanderten Arya, das sich<br />

mit der ansässigen Bevölkerung vermischte, bildet die Grundlage<br />

dieser Identität. „For Savarkar, Hindutva, the essence of the Hindu,<br />

comprised a common nation, a common civilization and a common<br />

‚race‘. This idea of ‚race‘ was defined by the blood that Hindus share<br />

and which has flowed down from the ancient Vedic fathers“<br />

(Bhatt/Mukta 2000). <strong>Die</strong>se Vorstellungen finden sich in den religiösnationalistischen<br />

Ideologien der Gegenwart wieder und erweisen sich<br />

als markantes Beispiel für die Erfindung einer „ursprünglichen<br />

Tradition“ im <strong>Die</strong>nste einer Politik der Ausgrenzung.<br />

Das Netzwerk<br />

Im Jahr 1925 als patriotische Freiwilligenbewegung gegründet, besitzt<br />

der Rashtriya Swayamsevak Sangh RSS bis heute größten Einfluss als<br />

ideologische Dachorganisation des Hindu-Nationalismus. <strong>Die</strong><br />

emotionale Basis für die Konstruktion der Hindu-Identität liegt in der<br />

Personifizierung und Verehrung Indiens als Bharat Mata (Mutter<br />

Indien). Der RSS organisiert paramilitärische Trainingslager für<br />

männliche Hindus, „so that they would be able to fight for Hindutva“<br />

(Bhatt/Mukta 2000). <strong>Die</strong> zweite Achse bildet der Vishva Hindu<br />

Parishad (VHP) mit dem Ziel der Verbreitung des Hindu-<br />

Nationalismus und des Widerstands gegen Verwestlichung,<br />

Kommunismus und „fremde“ Religionen. „<strong>Die</strong> dem Hinduismus<br />

zugrunde liegende ethnische, religiöse und linguistische Vielfalt wird


einer uniformen Einheit von Staat, Religion und Nation<br />

geopfert, die durch die Arisierung und Sanskritisierung<br />

ganz Indiens erreicht werden soll“ (Ceming 2004). <strong>Die</strong><br />

Niederlassungen des VHP in den Ländern der indischen<br />

Diaspora bilden ein ideologisches und finanzielles<br />

Netzwerk zwischen den EmigrantInnen und ihrer alten<br />

Heimat. Als politischer Arm dient dabei die indische<br />

Volkspartei Bharatiya Janata Party (BJP), die für das<br />

traditionelle Kastensystem und gegen die staatliche<br />

Förderung niederer Kasten und Dalits eintritt. Zum<br />

Sangh Parivar, der Familie der Hindutva, zählen neben<br />

vielen lokalen Vorfeldorganisationen auch die Frauenbewegung<br />

Rashtriya Sevika Samiti, der Akhil Bharatiya<br />

Vidyarthi Parishad für StudentInnen, die Gewerkschaft<br />

Bharatiya Mazdoor Sangh, der Bajrang Dal mit seinen<br />

bewaffneten Jugendbanden und die Partei Shiv Sena.<br />

Von Bal Thackeray gegründet, hat sich diese als militante<br />

politische Kraft vor allem in Mumbai etabliert: „<strong>Die</strong><br />

Schlägertrupps der Shiv Sena sind nicht nur bei fast allen<br />

blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und<br />

Muslimen an vorderster Front, sondern sie sind auch<br />

oftmals deren Drahtzieher“. Thackerays Vision von<br />

Indien ist Hindustan, „ein religiös dominierter Staat, in<br />

dem ausschließlich die Gesetze des Hinduismus<br />

Gültigkeit haben“ (Ceming 2004).<br />

Neo-Hinduismus online<br />

Verbreitet wird die Ideologie der Hindutva über ein<br />

internationales Netz neo-hinduistischer Websites. So<br />

bietet etwa das Hindu Students Council ein Forum für<br />

StudentInnen in den USA und wirbt über das Interesse<br />

an Kultur und Yoga, Gesundheits- und Umweltthemen<br />

für das rechte Hindutum. Moralische und finanzielle<br />

Unterstützung bekommt das Netzwerk von der wachsenden<br />

Hindu-Mittelschicht inner- und außerhalb Indiens.<br />

<strong>Die</strong> Angst vor kultureller Entfremdung macht indische<br />

EmigrantInnen empfänglich für die Attraktivität<br />

einer transnationalen Hindugemeinschaft mit ihrem<br />

kulturellen Identifikationsmodell und kultischen<br />

Angeboten. „The dependence on cults […] for very materialistic<br />

ends signals a frantic need to latch onto certainties<br />

in the face of the destabilizing pulls of modernization<br />

and globalization“ (Robinson 2004). <strong>Die</strong> leicht<br />

verdauliche Kombination von Materialismus, indischer<br />

Spiritualität und nationalem Stolz punktet durch ihre<br />

Kompatibilität mit den ökonomischen Interessen der<br />

Mittelklasse und scheint ein Erfolgsrezept zu sein. Eine<br />

für die global community des Internets verfasste Einführung<br />

in den Hinduismus präsentiert die Website Hindu<br />

Unity. Der Glaube an den einen Gott, der sich in der<br />

Welt inkarniert, bildet die Basis des Hindu-Seins. Unter<br />

den Inkarnationen wird Lord Rama zuerst genannt, er<br />

verweist auf das mythologische Königreich Ayodhya im<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Epos Ramayana. Nationalistische Gruppen setzen den<br />

Geburtsort des Götterkönigs Ram mit der heutigen Stadt<br />

Ayodhya im Bundesstaat Uttar Pradesh gleich. Dort<br />

stand die 1528 angeblich auf den Trümmern eines Ram-<br />

Tempels erbaute Babri Masjid, jene Moschee, die am 6.<br />

Dezember 1992 von Hindu-AktivistInnen im Rahmen<br />

einer Welle anti-muslimischer Gewalttaten zerstört<br />

wurde. Den NationalistInnen gilt Ayodhya als „das<br />

geistige Zentrum der Hindu-Nation und Ram ihr Führer<br />

und Herrscher. Das ideologische Schlagwort lautet<br />

Ramraj (Herrschaft Rams)“ (Ceming 2004). Auch im<br />

täglichen Leben finden sich Beispiele für die Neuinterpretation<br />

alter Werte: Um dem Bedeutungsverlust des im<br />

brahmanischen Hinduismus strikt empfohlenen<br />

Vegetarismus entgegenzutreten, wird persönliches<br />

Verhalten mit sozialen Phänomenen verknüpft: „Yes,<br />

there are numerous Hindus who eat meat […]. The<br />

suffering that such deeds bring are visible all over the<br />

world. Immorality, cruelty, lack of ethical behavior etc are<br />

the results of it. In these times, incest, teen pregnancy,<br />

abortions, premarital sex, lack of respect for parents,<br />

Gurus and Saints is rampant“ (URL 1). Hier wird ein<br />

kulturelles Konstruktionselement der Identität in einen<br />

völlig neuen gesamtgesellschaftlichen Bedeutungszusammenhang<br />

gestellt. Der Trend zu einer Dogmatisierung<br />

und Angleichung an fundamentalistische<br />

Positionen zieht sich wie ein roter Faden durch den neohinduistischen<br />

Cyberspace.<br />

„All You Need to Know About the<br />

World's Oldest Faith“<br />

Reichhaltiges Material zur religiösen und kulturellen<br />

Identitätsfindung bietet die Website Himalayan Academy.<br />

Unter den neun Glaubenswahrheiten des Hinduismus<br />

wird auch die Gewaltfreiheit (ahimsa) genannt:<br />

„Hindus believe that all life is sacred […] and therefore<br />

practice ahimsa, noninjury, in thought, word and deed“<br />

(URL 2). Ahimsa, die wesentlich zum friedlichen und<br />

toleranten Erscheinungsbild des Hinduismus online<br />

beitragen soll, stößt jedoch bei Hindu Unity auf klare<br />

Grenzen, wenn es gilt, die heilige Ordnung (dharma) zu<br />

verteidigen: „When Dharma is under attack by rogues of<br />

uncivilized barbarians, then the concept of Ahimsa<br />

becomes useless.“ Dem ideologischen Kampf soll keine<br />

Glaubenswahrheit im Wege stehen. „Ahimsa only works<br />

when dealing with civilized cultures. Unfortunately we<br />

don't live in civilized times” (URL 3).<br />

Militante Abgrenzung<br />

Identitätsstiftend wirkt besonders der Kampf gegen<br />

alles „Fremde“. Mit dem Argument, dass ihre heiligen<br />

Zentren außerhalb Indiens liegen, wird bevorzugt<br />

Region – Indien<br />

61


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

MuslimInnen und ChristInnen die Identifikation mit<br />

dem „heiligen Mutterland“ abgesprochen. <strong>Die</strong> behauptete<br />

Bedrohung der hinduistischen Mehrheit durch<br />

privilegierte Minderheiten dient als ständige<br />

Rechtfertigung der Mobilisierung zum kulturellen<br />

Abwehrkampf: „Hinduism is on the attack from three<br />

main groups and each is as dangerous as the other.<br />

Firstly, the Christians have an upper hand on us with the<br />

economies under their control, secondly the petro-dollars<br />

in the hands of the Muslims and thirdly, from within us,<br />

the Hindus who […] believe that Hinduism can survive<br />

the onslaught in modern times“ (URL 4). Der Ton wird<br />

noch militaristischer, etwa im Motto: „Hinduize politics<br />

and militarize Hindus!“ oder im Aufruf: „CHOOSE<br />

DEATH BEFORE DISHONOR! IF YOU ARE A HINDU,<br />

THERE IS NOTHING MORE IMPORTANT IN THIS<br />

WORLD THAN YOUR MOTHER LAND - BHARAT!<br />

FIGHT IF YOU MUST! DIE IF YOU MUST! NO HINDU<br />

CAN ASK FOR A BETTER DEATH THAN DEFENDING<br />

THEIR MAATRU BHOOMI (MOTHER LAND)“ (URL 5).<br />

Virtueller Kampf und reale Gewalt<br />

Der Errichtung einer Hindu-Nation (Hindu Rashtra) hat<br />

sich auch die Website Saffron Tigers verschrieben, „a<br />

Hindu organization of Young, educated, fearless and<br />

robust Hindu students […]. We have pledged to die for<br />

the cause of Hindu-Rashtra and to liberate our mother<br />

from the clutches of dirty Muslims and Indian<br />

politicians.“ (URL 6). <strong>Die</strong> historische Mogul-Herrschaft<br />

und die (von beiden Seiten verübten) Massenmorde bei<br />

der Teilung der britischen Kolonie in Indien und Pakistan<br />

(mit dem späteren Bangladesch) werden mit dem<br />

ungelösten Konflikt um Kaschmir und den Terroranschlägen<br />

radikaler muslimischer Gruppen im heutigen<br />

Indien verknüpft. <strong>Die</strong> Konstruktion der eigenen Identität<br />

durch Ausgrenzung mündet im Aufruf zur Gewalt: „The<br />

[…] degraded terrorists don't deserve a fair trial. They<br />

need to be shot, shot on sight.“ (URL 7). So erweist sich<br />

der Cyberspace als virtuelle Kampfzone einer Ideologie,<br />

die sich mit ihrem religiös-nationalistischen Diskurs und<br />

ihrer gewaltbereiten Politik gegen eigenständige<br />

kulturelle Identitäten und das Existenzrecht ganzer<br />

Bevölkerungsgruppen richtet. �<br />

Christian Mazal studierte Theologie in Wien und arbeitete<br />

jahrelang im EZA-Bereich mit den Schwerpunkten Management,<br />

Öffentlichkeitsarbeit und Reportagefotografie. Zurzeit<br />

betreut er am Afro-Asiatischen Institut in Wien internationale<br />

StipendiatInnen und schreibt am Institut für Kultur- und<br />

Sozialanthropologie seine Dissertation über die Identitätskonstruktionen<br />

der Hindutva im Cyberspace. Fotopublikation:<br />

Nürnberg/Mazal (2003): Quellwärts. Brücken zwischen<br />

Nord und Süd. Verlag Christian Brandstätter, Wien.<br />

62 Region – Indien<br />

Literatur<br />

Bhatt, Chetan and Parita Mukta. Hindutva in the West. mapping the<br />

antonomies of diaspora nationalism. In: Ethnic and Racial Studies<br />

Vol. 23 No. 3. Routledge, London 2000. S. 407–441.<br />

Ceming, Katharina. Hinduismus – Auf dem Weg vom Universalismus<br />

zum Fundamentalismus. polylog. Forum für interkulturelle<br />

Philosophie 5, 2004.<br />

Omvedt, Gail. Untouchables In The World Of IT. Panos Features,<br />

2004.www.panos.org.uk/newsfeatures/featureprinteable.<br />

asp?id=1177 (04.05.2007)<br />

Radhakrishnan, P.. Religion under Globalisation. In: Economic and<br />

Political Weekly, March 27, 2004. http://www.epw.org.in<br />

Robinson, Rowena. Virtual Warfare: The Internet as the New Site for<br />

Global Religious Conflict. In: Asian Journal of Social Science, Vol. 32,<br />

No. 2, 2004. S. 198 – 215.<br />

Internet<br />

URL 1: http://hinduunity.org/basics.html#veg<br />

URL 2: http://www.himalayanacademy.com/basics/nineb/<br />

URL 3: http://hinduunity.org/aboutus.html<br />

URL 4: http://hinduunity.org/aboutus.html<br />

URL 5: http://hinduunity.org/index.html<br />

URL 6: http://www.hinduunity.org/<br />

saffrontigers/About_Us.html<br />

URL 7: http://www.hinduunity.org/<br />

saffrontigers/islamq1.html<br />

http://them.polylog.org/5/ack-de.htm (26.03.2007)<br />

Bharatiya Janata Party BJP www.bjp.org<br />

Bajrang Dal www.hinduunity.org/bajrangdal.html<br />

Hindu Students Council www.hscnet.org<br />

Rashtriya Swayamsevak Sangh RSS www.rss.org<br />

Vishva Hindu Parishad VHP www.vhp.org


<strong>Die</strong> Ikone des jungen Indiens meint, dass gewaltbereite ExtremistInnen<br />

die eigentliche Minderheit sind<br />

Seriously Shah Rukh<br />

von MEHRU JAFFER<br />

Bollywoodlegend speaks on social issues<br />

Apart from being the darling of the<br />

Indian film industry, Shah Rukh Khan<br />

is of great political importance. Today<br />

he is the most inspiring member of the<br />

Indian Muslim community that is the<br />

largest minority in the world at 12<br />

percent of the total Indian population<br />

of more than one billion. This<br />

interview with him took place on the<br />

sets of “Swades” in February 2004,<br />

just before sunrise. It was on the eve<br />

of the general election in India that<br />

was held in four phases between April<br />

20 and May 10 in the same year.<br />

Therefore many questions asked of<br />

Shah Rukh concern politics of the day.<br />

He is a role model for all minorities as<br />

his life is so spectacularly successful.<br />

Shah Rukh is originally from Delhi and came to Mumbai nearly<br />

two decades ago with little except passion to make it in the<br />

world of cinema. No Godfather like figure exists in his life and<br />

the fruit of success that he enjoys today are a result of his own<br />

hard work. Although Shah Rukh is a Muslim he remains a living<br />

example of the majority in India who pride themselves on being Indian<br />

first and then Muslim, Hindu, South Indian, North Indian etc. despite<br />

the confusion caused within the country by fanatics and fundamentalists,<br />

including radical Hindus and Muslims who in their ignorance<br />

and arrogance are unable to celebrate the colourful contrasts that<br />

enrich Indian society. India is perhaps unique where protected by a<br />

secular constitution people of different ethnic and religious groups<br />

continue to freely express themselves in a variety of different<br />

languages, clothes and cuisine. The country remains joyously united in<br />

all its diversity and also in its undying adoration of Shah Rukh Khan,<br />

the Badshah of Bollywood. However the most celebrated matinee idol<br />

and high profile Indian Muslim sees himself merely as a monkey.<br />

What do you mean by saying that you are a mere monkey?<br />

When I was a child I once saw a monkey dance. Ever since I have<br />

wanted to thrill people like the monkey had thrilled me with its<br />

performance. That today I am the most famous monkey in India only<br />

adds to the thrill. But it does not change the fact that I am a monkey. It<br />

is just a job I do. It is not more or less important than what most other<br />

people do for living.<br />

Apart from being India’s most famous monkey you are also a very influential<br />

member of the country’s large but minority Muslim community?<br />

I am a Muslim, but first and foremost I am Indian and I am proud to<br />

be an Indian. Very proud. Besides you can’t take my performance on<br />

stage seriously; always remember that I am only acting. I look at films<br />

as pure entertainment. I cannot take a film too seriously. Even in films<br />

like Lagaan I enjoyed the cricket match but missed the social message,<br />

if any. Perhaps I am too shallow to concentrate on social issues while<br />

making a film.<br />

Do you think Indian Muslims, 12 percent of India’s more than one billion<br />

population face a crisis today?<br />

You mention the word crisis. By mentioning it, by recognising it, by<br />

bringing it to my notice even if the crisis did not exist, you make it<br />

exist. If you spot the crisis don’t you also spot how secular India is, the<br />

goodness that also exists in this country?<br />

Region – Indien<br />

63


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Muslim leaders tell us that secularism in India is on the<br />

decline?<br />

I am a living example that it is not. The most influential<br />

member of the minority community, as you call me is also<br />

a superstar in India today. This would not be possible if<br />

only Muslims had appreciated me. Take it from there<br />

instead of just picking on the crisis part of it.<br />

Is everything all right then with the Muslim community?<br />

Of course there are problems. But problems of poverty and<br />

illiteracy are problems of the country, not just of Muslims.<br />

I hear that Muslims are illtreated and also that Muslims<br />

are terrorists. That is too simplistic. It is true that some<br />

very sad things have happened to Muslims. Gujarat is very<br />

sad. But what makes me most sad is that people died in<br />

Gujarat. When I hear about riots and violence I don’t count<br />

how many Muslims died before I become sad. When sad<br />

things happen in the country I am sad and when good<br />

things happen here, I am happy.<br />

Why do Muslims feel that they are ill-treated and why does the<br />

world look upon Muslims as terrorists?<br />

What is happening in Kashmir and what happened in<br />

Gujarat is way beyond my understanding. I don’t know<br />

why these things happen. But I also try not to take a too<br />

simplistic view of things and reduce it to this is right and<br />

this is wrong. However, without getting into the<br />

complexity of the problem I must say that what saddens<br />

me is violence against anyone.<br />

Whenever people are killed in the country it is shameful not just<br />

when Muslims are killed.<br />

I know that there is a problem – that there is a crisis – but<br />

there is a sunshine side to it too. People from the minority<br />

community are also doing well and dominating life in the<br />

country. This speaks volumes for the state of the<br />

minorities. And I do not look upon reservations that will<br />

benefit the minorities.<br />

What should the minorities do to improve their image?<br />

I think it is possible to do well in this country if religion is<br />

practiced in the private realm. We must live and work in<br />

this country beyond religion. When we look around us we<br />

should keep in mind that we as Indians have a problem<br />

and the problems in this country concern not just the<br />

minorities.<br />

The more we keep harping upon the differences between<br />

Hindus and Muslims the more harm we will do to each<br />

other as Indians. During a riot it is one bloody Indian<br />

fighting another bloody Indian.<br />

64 Region – Indien<br />

What is the role of politics in a communal riot?<br />

Around the world politicians use communalism and<br />

religion to promote their respective agendas. This is<br />

wrong. Then, there are fanatics in every religion not only<br />

in Islam. But to me the fanatics and extremists are the real<br />

minority. It is not Christians, Muslims and Sikhs who are<br />

the minority but communal, violent people. And you<br />

should, I should and we all should point this out till this<br />

small minority of fanatics is seen and recognised by<br />

everyone for what they really are and exposed forever. The<br />

majority of Indians want to live and work in a peaceful<br />

environment and should stand up to the destructive forces<br />

of evil.<br />

Muslim politicians tell us that the minorities face the danger of<br />

being sidelined in India today?<br />

These politicians, I am sure they are very knowledgeable<br />

and better informed than I am. And if they have taken that<br />

stand they must be right and they must have information<br />

that I don’t have access to.<br />

What I would like to say to them is that I don’t like<br />

communalism and sectarianism.<br />

I am no politician. My life is totally apolitical. And I am<br />

sure that when people decide to go into politics their<br />

intentions are noble and they like to protect themselves<br />

and their larger family of voters. Just like I need power to<br />

run my family – to always be in control. But then if I loose<br />

perspective and allow myself to be misled that will lead to<br />

chaos.<br />

What about institutions like the Minority Commission?<br />

I know nothing about them. But if they exist there must be<br />

a reason. If they were set up to protect the rights of the<br />

minorities, then I hope they are doing their job.<br />

Do you vote?<br />

It is complicated for me to do so. My family votes. And<br />

yes, I have voted once in my life.<br />

Why would you take the trouble to vote, if ever you decide to do<br />

so in the future?<br />

That way I hope to help someone to guide the country. I<br />

am a capitalist by nature. I believe in hard work and the<br />

need for a strong head of state who is in control and takes<br />

good care of the community. When I vote, I hope that the<br />

person who gets my vote will make life easier for ordinary<br />

people. I believe in giving power to the politician to take<br />

care of some of my needs in <strong>public</strong> life. And this I can say<br />

from the bottom of my heart that every politician who


contests elections does have the good of the community in<br />

mind, but somewhere along the way politicians get lost<br />

and begin to think more of themselves than of the people.<br />

India has had more than half a century to attend to its problems.<br />

What has the country achieved in all these decades?<br />

Much has been achieved but the problems have also<br />

multiplied. I personally feel that India has made progress.<br />

Over the past two decades I have been made aware how<br />

huge the country is and the enormity of its problems and I<br />

think India has done very well. We are far more selfcontained<br />

than before. Japan was considered such a role<br />

model of progress but I found its lifestyle totally virtual.<br />

When I look around I find some virtuality here as well. But<br />

India is far more real and we have made some real<br />

progress. The problem of moving things at the grassroots<br />

remains. Maybe it will take another 50 years for that to be<br />

achieved. That is all right as I have the patience to go on<br />

working hard and to see that too happen one day.<br />

What bothers you most about the state of India today?<br />

That there are no roadside toilets for women. I am a small<br />

man with a small mind and this small problem bothers me<br />

most about India. I feel very sad when I travel by train and<br />

see women lined up along the railway tracks in the<br />

morning. It hurts me. It makes me feel that my mother and<br />

my sister are sitting there.<br />

With your kind of wealth and influence what are you doing about<br />

a simple problem like this one?<br />

If there is anything I can do about it, I will. This problem<br />

has played on my mind for a long time and as soon as I feel<br />

ready I would like to invest in a project that will line the<br />

country with toilets only for women, inshahallah.<br />

What is it that gives you the most pleasure about being an Indian<br />

today?<br />

That I am liked wherever I go in India today. I feel so<br />

fortunate. Although, when I travel abroad people do give<br />

me a warm reception and sing my praises but there is<br />

nothing to beat the warmth and ease of people and life in<br />

India. The standard of life here is so high. And I don’t say<br />

that because I am a rich person. I have found that even<br />

those who are not wealthy seem to give so easily in this<br />

country. Even those with few possessions are warm and<br />

friendly. I like the way I am able to work in this country. I<br />

often hear that Indians are lazy and slow. That is not true of<br />

the people I work with or all those Indians who have made<br />

a name in the world. I am very proud of Indians like Sabir<br />

Bhatia, the Tatas and the Birlas. Sometimes I get the feeling<br />

that the economy of the world is perhaps run by people of<br />

Indian origin. That is such a great high.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

You said that you are making an effort to rediscover Islam. Why<br />

now?<br />

Now I am a father. I have to read up on various subjects,<br />

including religion. When my children ask me questions<br />

about God, I have to give them an answer. But I am<br />

happiest when my son defines God as Ganesh Allah. I<br />

don’t want that to change. That sounds so right to me.<br />

I tell my son, God, Allah and Bhagwan are all one. My<br />

daughter is still too young to ask questions like these.<br />

What role does religion play in your personal life?<br />

I am God fearing and would not do anything to make God<br />

unhappy. I smoke and apologise to God for the bad habit. I<br />

believe in heaven and hell.<br />

In this life or in the afterlife?<br />

Here, in this life. I don’t think that the other world has<br />

room for concepts like heaven or hell. It is all here. I can feel<br />

it here. Up there, I imagine the world endlessly serene and<br />

peaceful.<br />

What is most important to you in life?<br />

Whatever is most important to everyone else. My family is<br />

important to me, my relationships, my job…like whatever<br />

is important to you. What is important to me affects only<br />

my life but what you do influences society. You can inspire<br />

an entire generation by lifting an eyebrow. Do you see that<br />

difference? Look, I can sit here and give you a whole spin<br />

on how important I am. That would not be true. A pilot<br />

does a far more amazing job; flying an aeroplane is more<br />

important than what I do. My job is only to entertain and<br />

in the bargain, if I am put on a pedestal and called a super<br />

star that is not of my choosing.<br />

Does your unreal life bother you sometimes?<br />

No, not at all. Not when I see the benefits that I reap from<br />

such a life. All my life I wanted to be a rock star and now<br />

that I am one, you can’t expect me to be unhappy about it.<br />

I always wanted to be this and now I can’t use it as an<br />

excuse to be someone else. No, I am very happy being what<br />

I am. And I am very thankful to my audience for helping<br />

me to realise my dream. �<br />

Mehru Jaffer ist Journalistin und Autorin des Buches „The Book<br />

of Muhammad“. Sie lebt und arbeitet in Wien.<br />

Anm. d. Red.: „Seriously Shah Rukh“ von Mehru Jaffer erschien im April<br />

2004 im indischen „Hardnews“ Magazin. Das Interview entstand<br />

während der Dreharbeiten zu dem späteren Bollywood-Blockbuster<br />

„Swades“ (Heimat).<br />

Region – Indien<br />

65


Subbudu, Bharatanatyam und die indische Tanzkritik –<br />

kulturpolitische Betrachtungen.<br />

von ERIKA NEUBER<br />

<strong>Die</strong> Politisierung der Tanzkultur<br />

Vom Tempel auf die Weltbühne<br />

Bharatanatyam als heute äußerst<br />

populärer, klassischer indischer<br />

Tanzstil steht im Brennpunkt der<br />

indischen Tanz- und Musikkritik.<br />

Darüber hinaus sind bis zur<br />

Gegenwart die Meinungen gespalten<br />

bezüglich des gesetzlichen Verbots des<br />

ursprünglichen Tempeltanzes im Jahr<br />

1947, der Diskriminierung seiner<br />

ursprünglichen Ausführenden, der<br />

devadasis (siehe auch Seite 69 – 71),<br />

und seiner Übernahme, Umgestaltung<br />

und Umbenennung zu Bharatanatyam<br />

durch Angehörige der brahmanischen<br />

Elite Südindiens. <strong>Die</strong> hochpolitisierte<br />

Materie umfasst Themen der<br />

nationalen Identität, der sozialen<br />

Klassenzugehörigkeit von<br />

TänzerInnen und den Zugriff von<br />

Machthabern aller Art auf das<br />

Territorium der Künste. Berühmte<br />

Tanzkritiker wie Subbudu<br />

beeinflussen als scharfe Beobachter<br />

mit ihren Statements kulturpolitische<br />

Entscheidungen.<br />

Foto: Christian Mazal<br />

66 Region – Indien<br />

Am 29.März 2007 verstarb der indische Tanz- und Musikkritiker,<br />

Padi V. Subramaniam, der unter dem Namen<br />

Subbudu bereits zu Lebzeiten zur Legende geworden war.<br />

Als Gesprächspartner indischer Staatspräsidenten, Premierminister<br />

und Kongressleader, ausgezeichnet mit hochkarätigen<br />

Awards, geachtet und gleichzeitig gefürchtet von den VertreterInnen<br />

der klassischen, indischen Tanz- und Musikszene, verlieh er derselben<br />

über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg ihr besonderes Gepräge.<br />

Tempeltanz und devadasis<br />

Der ursprüngliche südindische Tempeltanz (sadir, sadirattam oder<br />

dasi attam) war über Jahrhunderte hinweg eine rituelle Notwendigkeit.<br />

Er sollte die Gunst der jeweils verehrten Tempelgottheit erwirken<br />

und damit Gedeihen und Fruchtbarkeit garantieren (Kersenboom-<br />

Story 1987: XIX, 87–164). <strong>Die</strong> speziell ausgebildeten und geweihten<br />

devadasis (sanskr. <strong>Die</strong>nerin der Gottheit), gehörten ebenso wie die<br />

Tanzmeister (nattuvanar) der isai-vellala-Community an. In<br />

vergangenen Epochen stellte der <strong>Die</strong>nstbereich der devadasis mit<br />

seinen vielfältigen Aufgaben die sichtbare Ausformung eines sozioreligiösen<br />

Konzeptes dar, das im Rahmen der Überlebensstrategien<br />

von Gesellschaften zu begreifen ist. <strong>Die</strong> Tänzerinnen hatten mit Hilfe<br />

ihres Tanzes und dessen ausgefeilter Gebärdensprache mit der als<br />

gefährlich erachteten Gottheit um den lebenswichtigen Segen zu<br />

„dealen“ (Marglin 1985: 300ff.). Mitte des 20.Jahrhunderts wurde die<br />

Weihe von devadasis gesetzlich untersagt. Vor allem Fremdeinflüsse<br />

hatten eine teilweise Auflösung des traditionellen hinduistischen<br />

Weltbildes verursacht. <strong>Die</strong> Bedeutung der Tempel war gesunken und<br />

es erschien auch mit einem modernen Sozialgedanken nicht mehr<br />

vereinbar zu sein, dass devadasis mit einer Gottheit vermählt wurden<br />

und gleichzeitig seitens der Tempelbehörden dazu angehalten waren,<br />

mit irdischen Männern Intimbeziehungen einzugehen, um so<br />

symbolisch das Gedeihen der Gesellschaft zu sichern.<br />

„Pioniere“, Geächtete und nationale Identität<br />

Als „Pioniere“ des heutigen Bharatanatyam gelten vor allem der<br />

indische Jurist E. Krishna Iyer und Smt. Rukmini Devi Arundale. Beide<br />

stammten aus brahmanischen Familien und transferierten den Tanz<br />

unter dem Namen Bharatanatyam auf die weltlichen Konzertbühnen.<br />

Sie waren darauf bedacht, ihm gleichzeitig einen neuen,<br />

angemessenen Status zu verleihen. Rukmini Devi hatte den Tanz<br />

gegen den Willen ihrer Familie erlernt, hatte ihn mit Erfolg vor großem<br />

Publikum präsentiert und somit „salonfähig“ gemacht. Der Tanz war


vorerst gerettet, nachdem es so ausgesehen hatte, als<br />

würde er mitsamt dem unrespektabel und illegitim<br />

gewordenen <strong>Die</strong>nstbereich der devadasis in<br />

Vergessenheit geraten. Um jeden Zusammenhang mit<br />

den nunmehr sozial geächteten, ehemaligen<br />

Tempeltänzerinnen und ihrer Community zu tilgen,<br />

erachtete man es als unerlässlich, dem Tanz auch noch<br />

eine uralte Vergangenheit und „sacred origins“<br />

zuzuschreiben, Eigenschaften, die den reellen Gegebenheiten<br />

keinesfalls entsprachen. <strong>Die</strong> damalige Bewegung<br />

rund um die Erneuerung und „Rettung“ des Tanzes<br />

wurde rasch gekoppelt mit Fragen der nationalen<br />

Identität (Bharucha 1995: 41 ff.). Der Tanz als Thema war<br />

landesweit zum Politikum geworden, wobei selbstverständlich<br />

das Jahr 1947 als Zeitpunkt der<br />

Unabhängigkeit, und die Betonung der Suche und<br />

Findung der eigenen kulturellen Wurzeln in Indien<br />

übermächtig hereinspielte. Plötzlich war der vor kurzem<br />

in den hinduistischen Tempeln als kultische Handlung<br />

per Gesetz verbotene Tanz zum nationalen Kulturerbe<br />

erklärt worden, nachdem die brahmanische Elite des<br />

Landes ihn in ihr „Ressort“ übernommen hatte! Zwei<br />

unterschiedliche Auffassungen kennzeichnen die Sicht<br />

der damaligen Ereignisse: die AnhängerInnen der<br />

brahmanischen Gruppe sehen in der Übernahme des<br />

Tanzes eindeutig einen Akt der „Rettung“ von Kulturgut,<br />

Angehörige der ehemaligen devadasi-Community<br />

sprechen demgegenüber aber von „Aneignung“:<br />

„…these Brahmins are stealing our art, our livelihood!“<br />

(Ramnarayan 1984: 28).<br />

„Demokratisierung“ der indischen<br />

Tanzkunst<br />

Der Tanz hatte also Mitte des 20.Jahrhunderts sein Milieu<br />

gewechselt. Er war den Tempel-Autoritäten und der<br />

Devadasi-Community entglitten, und stand ab diesem<br />

Zeitpunkt unter dem Patronat der brahmanischen Elite<br />

Südindiens. <strong>Die</strong> im früheren Tempelgebrauch<br />

ursprünglich erotische Komponente des Tanzes hatte<br />

Rukmini Devi durch spirituelle Inhalte ersetzt. Seine<br />

mythisch-philosophische Aussagekraft, sowie das<br />

beeindruckende Vokabular seiner Ausdrucksformen<br />

bewirkten, daß binnen kurzer Zeit Mädchen und junge<br />

Frauen in Scharen herbeiströmten, um in den neu<br />

entstandenen Tanzschulen am Bharatanatyam-Training<br />

teilzunehmen. Schon bald gehörte dies zum zusätzlichen<br />

Erziehungsprogramm für die Töchter der sozialen Elite.<br />

Eine derartige Entwicklung hatte niemand erwartet; vor<br />

allem nicht, dass weit über Indiens Grenzen hinaus auch<br />

in der westlichen Welt in naher Zukunft ebenfalls Kurse<br />

und Schulen für Bharatanatyam eingerichtet werden<br />

sollten, wie z.B. auch in Wien seit den späten 1970er<br />

Jahren. Jedenfalls wurden nach den 1940er Jahren die<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Konzertbühnen Indiens zum umkämpften Auftrittsterritorium<br />

der engagierten Bharatanatyam-Künstler-<br />

Innen mit nunmehr als „klassisch“ bezeichneter Ausbildung:<br />

Rukmini Devi hatte als „Pionierin“ des<br />

Bharatanatyam neue Unterrichtsmethoden und -kriterien<br />

für den Tanz entwickelt. Im Jahr 1936 gründete sie in<br />

Madras die Tanz-Akademie von Kalakshetra (vgl. dazu<br />

Ramani: 2004: 7 ff.).<br />

All dies rief die Tanzkritik auf den Plan, die lobend,<br />

korrigierend, und schließlich wertend in das keineswegs<br />

mehr sakrale, sondern öffentliche, kulturelle Geschehen<br />

eingriff. <strong>Die</strong> Darbietungen, KünstlerInnen, ihre Anhängerschaft<br />

und Familien, die Tanzmeister (nattuvanar)<br />

und ihre Schulen sowie Kalakshetra gerieten gleichzeitig<br />

immer stärker in den Sog kulturpolitischer Machtinteressen.<br />

Singh bezeichnete den Aufstieg Subbudus als Kritiker<br />

als den besten Beweis für die zunehmende Demokratisierung<br />

der indischen Künste: Das Publikum war<br />

Patron geworden, die KritikerInnen übernahmen die<br />

wichtige Rolle der Vermittlung zwischen den Massen<br />

und den KünstlerInnen. Dabei entging Subbudu der<br />

Gefahr, von KünstlerInnen „gekauft“ zu werden, was<br />

immer wieder versucht wurde: Er war Beamter mit<br />

einem fixen Einkommen und verfasste seine Kritiken aus<br />

privater Begeisterung (Singh 2005: 23, 25, 55).<br />

Im Jahr 1953 wurde schließlich die Sangeet Natak<br />

Akademi in New Delhi gegründet, als Nationalakademie<br />

für Tanz, Drama und Musik.<br />

Lada Guruden Singh meint, dass dies auch der Zeitpunkt<br />

war, an dem es zu einer weiteren Politisierung innerhalb<br />

der darstellenden Künste Indiens kam, da etliche zu<br />

Bühnenstars avancierte Bharatanatyam-KünstlerInnen<br />

begannen, ihren persönlichen Einfluss bei amtierenden<br />

Ministern zu benützen: einerseits um Druck auf<br />

KritikerInnen auszuüben, andererseits um die begehrten<br />

Awards für ihre Leistungen verliehen zu bekommen<br />

(Singh 2005: 105, 134).<br />

Subbudu als „larger-than-life figure“<br />

Als Kritiker erzielte Subbudu zwischen 1960 und 1980<br />

seine größten Erfolge. In den beiden Jahrzehnten danach<br />

blieb er die oft heftig umstrittene, autoritäre Instanz auf<br />

dem Gebiet der indischen Tanzkritik. <strong>Die</strong> Feierlichkeiten<br />

zu seinem 85.Geburtstag im Jahr 2002 in Chennai und in<br />

New Delhi bildeten den Höhepunkt seines Lebens (Singh<br />

2005: 247 ff.). Beinahe 60 Jahre zuvor war der 1917 in<br />

Madras geborene Subbudu nach Delhi gekommen. Er<br />

war selbst begabter Musiker, spielte mehrere<br />

Region – Indien<br />

67


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Instrumente und war auch schauspielerisch tätig gewesen.<br />

Als 1954 der renommierte Schriftsteller und<br />

Musikkritiker Kalki Krishnamurthy starb, wusste<br />

Subbudu das verbleibende Vakuum auszufüllen. Aufsehen<br />

erregte er nicht nur durch seinen heißblütigen,<br />

pfeffrigen Schreibstil, sondern auch durch seine bedingungslos<br />

hohen Ansprüche (Singh 2005: 23, 89, 110, 137).<br />

Subbudu wurde bald zu einer harten, aber unparteilichen<br />

Prüfinstanz für Qualität und schuf durch seine<br />

spannend zu lesenden, kritischen Beiträge ein breites öffentliches<br />

Interesse für Bharatanatyam. Als Kritiker hatte<br />

er sich zu dem entwickelt, was man in Indien als „largerthan-life<br />

figure“ bezeichnet.<br />

Bharatantyam – „The ultimate metaphor“<br />

Was ist das Besondere an Bharatanatyam? Was hatte<br />

Subbudu bewegt, diesem Tanzstil ein Leben lang zu<br />

dienen? <strong>Die</strong> indische Tanzkritikerin Shanta Serbjeet<br />

Singh beschreibt den klassischen indischen Tanz als<br />

Metapher für die Sicht der Realität im hinduistischen<br />

Indien – „the ultimate metaphor“, wie sie sagt – als<br />

Spiegelung des althergebrachten Konzeptes des Hinduismus<br />

von Universum und Wirklichkeit: vor allem Polaritäten,<br />

wie etwa Gut und Böse, Freude und Leid, Leben<br />

und Tod, sowie das Männliche und das Weibliche,<br />

werden hier als zwei Seiten ein und derselben Realität<br />

verstanden. Raum und Zeit – und dies scheint von<br />

zentraler Bedeutung zu sein – werden lediglich als<br />

Konstrukte des menschlichen Geistes gesehen, die sich<br />

immer als relativ, begrenzt und letztlich als illusorisch<br />

erweisen (Singh, Sh.S. 2000: 3 ff). Eine außergewöhnliche<br />

Rolle spielt bis heute die im Tanz dargestellte<br />

Liebesbeziehung von einer Heldin (nayika) und ihrem<br />

Helden (nayaka), die die Sehnsucht der menschlichen<br />

Seele nach Vereinigung mit dem Transzendenten<br />

darstellen soll. <strong>Die</strong> in Südindien seit Jahrhunderten<br />

praktizierte Gottesmystik (bhakti) bildet die Grundlage<br />

dieser Thematik (vgl. dazu Gaston 2005: 87 ff.).<br />

Das Ende einer Ära?<br />

Subbudu bezog stets politische Positionen, wenn es um<br />

die Tanzkunst ging: In seinen Kritiken attackierte er<br />

berühmte Tanzmeister, stellte Sekretäre von sabhas für<br />

Unregelmäßigkeiten zur Rede und rügte Kulturorganisationen<br />

für ihr undurchschaubares Management, womit<br />

er die Betroffenen zur öffentlichen Stellungnahme<br />

zwang. Seine scharfen Attacken gegen alle experimentellen<br />

Tendenzen im Bereich des klassischen Tanzes und<br />

gegen Auftretende, welche seinen Ansprüchen nicht<br />

genügten, sorgten während Subbudus gesamter Schaffensperiode<br />

für Irritationen und Existenzängste, ja tätliche<br />

Angriffe und sogar Morddrohungen aus dem Kreis<br />

68 Region – Indien<br />

der Betroffenen (Singh 2005: 19). Trotzdem: Subbudu war<br />

niemandes Gegner. Er fühlte sich aber der Aufgabe verpflichtet,<br />

die Qualität des klassischen Tanzes zu schützen<br />

und kämpfte auch für die Rechte der KünstlerInnen<br />

selbst (vgl. dazu Singh 2005: 119, 138, 214 ff.).<br />

Der Tanzkritiker Subbudu verstarb am 29.März 2007 um<br />

halb acht Uhr abends. Binnen weniger Stunden mailte<br />

es die südindische Bharatanatyam-Community an TanzkollegInnen<br />

in aller Welt: Subbudu is no more, eine Ära<br />

ist zu Ende gegangen, für diesen Mann gibt es keinen<br />

Ersatz. �<br />

Erika Neuber ist Lektorin im Institut für Kultur- und<br />

Sozialanthropologie, und seit 1986 Leiterin der hiesigen<br />

Fachbereichsbibliothek. Schwerpunkte: Kunstforschung:<br />

Orientteppich-Kunst der Türkei, indische Tanzkunst in<br />

Südindien und Wien, sowie moderne bildende Kunst in Papua-<br />

Neuguinea.<br />

Literatur<br />

Bharucha, Rustom. Chandralekha. Woman – Dance<br />

– Resistance. New Delhi, 1995.<br />

Gaston, Anne-Marie. Bharata Natyam. From Temple to<br />

Theatre. New Delhi, 2005.<br />

Kersenboom-Story, Saskia. Nityasumangali. Devadasi<br />

Tradition in South India. Delhi, 1987.<br />

Marglin, Fédérique Appfel. Wives of the God-King. The<br />

Rituals of the Devadasis in Puri. Delhi, Oxford, New<br />

York, 1985.<br />

Ramani, Shakuntala (comp. and ed.). Rukmini Devi<br />

Arundale. Centenary Valedictory Volume. Chennai, 2004<br />

Ramnarayan, Gowri. Rukmini Devi: Dancer and<br />

Performer. A Profile (Part 2). Sruti. South Indian classical<br />

music and dance monthly. July 1984<br />

Singh, Lada Guruden. Beyond Destiny. The Life and Times<br />

of Subbudu. Mumbai, 2005.<br />

Singh, Shanta Serbjeet. Dance. The ultimate Metaphor for<br />

the Indian View of Reality. In: Singh, Sh.S. (ed.): Indian<br />

Dance. The ultimate Metaphor. Hongkong, New Delhi,<br />

2000.


Früher waren die devadasis in ganz Indien verbreitet; heute gibt es sie<br />

vor allem noch im Süden des Landes.<br />

Indische devadasis<br />

einst und jetzt<br />

von EVELINE ROCHA TORREZ<br />

Priesterinnen, Tänzerinnen oder Prostituierte?<br />

Gibt man den Begriff devadasi in eine<br />

Internet-Suchmaschine ein, so stößt<br />

man einerseits auf Berichte von zur<br />

Prostitution gezwungenen<br />

Minderjährigen, andererseits aber<br />

auch auf Websites zur indischen<br />

Tanzkunst und zu hinduistischen<br />

Priesterinnen. Man fragt sich zu<br />

Recht: Was hat all das miteinander<br />

zu tun?<br />

Foto: Christian Mazal<br />

Das Wort devadasi bedeutet soviel wie Gottesdienerin<br />

(Kersenboom-Story 1987: XV) und wird seit Ende des 19.<br />

Jahrhunderts als Sammelbegriff für geweihte Frauen<br />

(Svejda 1991: 67f) verwendet. <strong>Die</strong> Tradition, Frauen einem<br />

bestimmten Tempel zu weihen und sie dazu symbolisch mit der<br />

Tempelgottheit zu verheiraten, dürfte sehr weit zurückgehen. Unter<br />

verschiedenen Bezeichnungen werden derartige Tempelfrauen bereits<br />

ab dem 7. Jahrhundert n. Chr. erwähnt (Svejda-Hirsch 1991: 34,<br />

Shankar 1994: 17); ihre Anzahl und auch ihr Tätigkeitsbereich scheint<br />

unterschiedlich gewesen zu sein. Glaubt man den Inschriften, so ließ<br />

der Chola-Monarch Rajaraja im Jahr 1004 vierhundert devadasis in<br />

den Haupttempel von Tanjore beordern (Shankar 1994: 53) und auch<br />

200 Jahre später sollen hunderte devadasis im Tempel von Somnath in<br />

Gujarat gelebt haben (Svejda-Hirsch 1991: 36). Offenbar gab es eine<br />

starke Verstrickung zwischen dem Tempeldienst und den Tanzvorführungen<br />

in den königlichen Palästen: <strong>Die</strong> devadasis standen in einem<br />

Dreiecksverhältnis zwischen dem Tempel und einem reichen,<br />

adeligen oder gar königlichen Patron, der den Tempel einschließlich<br />

Priesterschaft und devadasis finanziell unterstützte (Svejda-Hirsch<br />

1991: 48). Als Tempeltänzerinnen erhielten sie ein fixes Gehalt und<br />

Ackerland von ihrem Tempel, wurden aber mitunter selbst so<br />

wohlhabend, dass sie dem Tempel Gold, Lampen, Tiere oder ebenfalls<br />

Land schenken konnten (Kersenboom-Story 1987: 27). Außerdem<br />

wurden die devadasis nicht nur (ausschließlich von Männern!) in<br />

Musik und Tanz ausgebildet und durften lesen und schreiben lernen,<br />

sondern waren auch berechtigt, Kinder zu adoptieren, als<br />

Haushaltsvorstand zu agieren und zu erben (Svejda 1991: 48, Shankar<br />

1994: 57); „Privilegien“, die für viele hinduistische Frauen bis zum<br />

heutigen Tag unvorstellbar sind.<br />

Europäische Handelsreisende, Missionare und Mitglieder der<br />

britischen Kolonialmacht konnten mit der vorgefundenen Verbindung<br />

von Sexualität und Religion meist wenig anfangen (Jordan 2003: 160)<br />

und berichteten entsprechend schockiert über die „Tempel-<br />

Prostituierten“. In seinem 1792 veröffentlichten Buch schildert Abbé<br />

Dubois u.a., dass wichtige Tempel jeweils acht bis zwölf devadasis<br />

beschäftigten (Gaston 1996: 46), dass diese den Göttern zwei Mal<br />

täglich mit Tanz und „obszönem“ Gesang huldigten bzw. schöne<br />

Frauen ihren Ehemännern von den priesterlichen Brahmanen für das<br />

Region – Indien<br />

69


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

unsittliche Tempel-Treiben weggenommen wurden<br />

(Shankar 1994: 54f, Gaston 1996: 38f). 1870 berichtet John<br />

Shortt davon, dass die geweihten Mädchen als<br />

Fünfjährige ein hartes Tanztraining begannen und bei<br />

Erreichen der Pubertät entweder von den<br />

Tempelpriestern selbst oder von gut dafür zahlenden<br />

reichen Männern defloriert wurden und fortan allen<br />

gleich- oder höherkastigen Männern zur Verfügung<br />

stehen mussten. Verhältnisse mit Männern aus niedrigeren<br />

Kasten oder Shudras (Unberührbaren) wurden bestraft<br />

und konnten sogar einen Ausschluss aus dem<br />

Tempelwesen zur Folge haben (Shankar 1994: 56f, Gaston<br />

1996: 41). In den meisten Fällen dürften sich vertraglich<br />

geregelte, längerfristige Konkubinate entwickelt haben,<br />

bei denen es der devadasi sehr wohl möglich war, selbst<br />

einen möglichst reichen, mächtigen und gebildeten Liebhaber<br />

auszuwählen bzw. hohe Summen für Tanz-Auftritte<br />

außerhalb des Tempels zu verlangen (Gaston 1996: 40ff).<br />

Religiöser Kontext<br />

Bei der gesamten Thematik darf nicht außer Acht<br />

gelassen werden, was Sexualität und Religiosität im<br />

hinduistischen Kontext bedeuten. Vor allem in Südindien<br />

haben sich drawidische Fruchtbarkeitskulte erhalten<br />

bzw. ab dem 5. Jahrhundert mit dem vedischen<br />

Hinduismus vermischt. Gleichzeitig wurde auch das<br />

tantrische Konzept der göttlichen Vereinigung von<br />

männlicher und weiblicher Energie (shiva-shakti) in die<br />

südindische Glaubenspraxis integriert (Vijaisri: 36ff). Vor<br />

diesem Hintergrund erscheint es durchaus plausibel,<br />

dass den sakralen Prostitutierten wichtige Funktionen<br />

zuteil wurden und sie daher einen hohen Stellenwert<br />

genossen. Devadasis sollten den bösen Blick, schlechte<br />

Ernten, Krankheit und Tod abwehren, das Tempelheiligtum<br />

pflegen und die höheren Mächte sowohl durch<br />

ihre Kunst (Gesang und Tanz) als auch durch ihre<br />

Sexualität gütig stimmen. Als Frau, die durch ihre Ehe<br />

mit der Tempelgottheit nie Witwe werden konnte (und<br />

dadurch niemals von der sati, der Witwenverbrennung<br />

bedroht war), galt /gilt sie als nityasumangali, die Immer-<br />

Glückliche/Glückbringende. Devadasis wurden/werden<br />

oft auf Hochzeiten und zu anderen Festlichkeiten<br />

eingeladen, um den Anwesenden Glück zu bringen. In<br />

diesen Kontext passt das Sprichwort „to see a courtesan<br />

(or prostitute) is auspicious and the destruction of sin“<br />

(Kersenboom-Story 1987: 47ff). Allerdings stellt sich hier<br />

die Frage, ob die solcherart bekundete Wertschätzung<br />

nicht einfach nur ein bequemes Instrument dafür war/ist,<br />

um mächtigen Königen bzw. reichen hochkastigen<br />

Männern eine gesellschaftlich akzeptierte Form der<br />

Promiskuität mit Frauen aus niedrigeren Kasten zu<br />

ermöglichen (Jordan 2003: 151).<br />

70 Region – Indien<br />

Wandel<br />

Auch wenn der Status der devadasis in früheren<br />

Jahrhunderten durchaus kritisch zu betrachten ist, kann<br />

man davon ausgehen, dass sich ihre gesellschaftliche<br />

Position in den letzten 150 Jahren enorm verschlechtert<br />

hat und von den einst vorhandenen Privilegien kaum<br />

mehr etwas übrig geblieben ist. Begonnen hat dieser<br />

Wandel mit der Besetzung Indiens durch die Briten im<br />

Jahr 1857. <strong>Die</strong> Verbreitung der christlich-viktorianischen<br />

Ideologie führte bald zum Heranwachsen einer von<br />

westlichem Gedankengut beeinflussten Mittel- und<br />

Oberschicht, die das Phänomen der devadasis aus<br />

europäischer Sicht zu betrachten begann. Gerne wurde<br />

die Tempelprostitution von den Brahmanen als für die<br />

„moderne“ Frau entwürdigend kritisiert und mit<br />

fiktiven, keuschen und „reinen“ Priesterinnen früherer<br />

Zeiten kontrastiert (Jordan 2003: 151). Es gilt mittlerweile<br />

als gesichert, dass es derartige „hinduistische Nonnen“<br />

niemals gegeben hat und aus der geschichtlichen Distanz<br />

scheint auch der Anspruch der damaligen probritischen<br />

Sozialorganisationen äußerst fragwürdig, mit einem<br />

Verbot des devadasi-Kults den Status der Frau<br />

verbessern zu wollen (Jordan 2003: 156). Vielmehr dürfte<br />

es bei der groß angelegten Anti-Nautch-Kampagne (von<br />

natch = bestimmter devadasi-Tanz) ab 1882 eher darum<br />

gegangen zu sein, ein weibliches Privileg zu beseitigen,<br />

dass dem hinduistischen Patriarchat schon lange ein<br />

Dorn im Auge war. Durch gezielte Propaganda wurde<br />

den devadasis in den folgenden Jahrzehnten die<br />

Lebensgrundlage entzogen (Jordan 2003: 161 f). Dabei<br />

war es der europäisierten hinduistischen Mittelschicht<br />

ein Anliegen, im Ausland nicht mit „barbarischen“<br />

Bräuchen in Verbindung gebracht zu werden. Immer<br />

wieder wurden die britischen Besatzer damit bedrängt,<br />

Anti-devadasi-Gesetze zu erlassen bzw. keine Auftritte<br />

von devadasis im Ausland oder vor hohen<br />

Regierungsmitgliedern zuzulassen. Zeitgleich mit der<br />

öffentlichen Diskreditierung der Tempeltänzerinnen<br />

entstand eine ebenfalls hochkastige revivalist-Bewegung,<br />

die den sadir-Tanz der devadasis zur rettenswerten<br />

klassischen Kunst stilisierte. <strong>Die</strong> Narrative von den<br />

ehemals keuschen „Hindu-Vestalinnen“ wurde dabei<br />

gern aufgegriffen, um den Tanz von seinem<br />

„unwürdigen“ Umfeld zu „reinigen“, für die<br />

brahmanische Oberschicht salonfähig zu machen<br />

(Shankar 1994: 146, Gaston 1996b: 42) und als neue, für<br />

die indische Nation repräsentative Staatskunst zu<br />

etablieren.


Was blieb von den devadasis – Heutige<br />

Situation<br />

Um es mit Svejda-Hirschs treffenden Worten<br />

auszudrücken: „Es sind einzig und allein die devadasis<br />

selbst, die […] zugrundegerichtet wurden. Weder der<br />

Tanz noch die Prostitution als solches wurden letztlich<br />

angeprangert oder verboten“ (Svejda-Hirsch 1991: 53).<br />

Tanz<br />

Unter dem neuen Namen Bharatanatyam wurde der<br />

sadir ab den 1930er Jahren zu der international<br />

anerkannten indischen Tanzkunst (Gaston 1996b: 45).<br />

Paradoxerweise hatten manche der aufstrebenden<br />

revivalist-Künstlerinnen überhaupt keine Bedenken, bei<br />

den geächteten devadasis Unterricht zu nehmen (wie<br />

etwa Rukmini Devi). Als inhaltlich problematisch erwies<br />

sich vor allem die tänzerische Darstellung von Erotik<br />

(shringar) im Rahmen der hingebungsvollen Gottesliebe<br />

(bhakti), die schlecht zum asketischen Bild des „neuen“<br />

klassischen Tanzes passen wollte (Gaston 1996b: 46f).<br />

Ohne den Tanz selbst allzu stark zu verändern, wurde<br />

das Problem letztlich durch eine stärkere Fokussierung<br />

auf abstraktere Inhalte und die zunehmende Sanskritisierung<br />

(Einbeziehen klassischer Sanskrit-Texte, Puja-<br />

Opfer auf der Bühne, Annahme brahmanischer Lebensformen)<br />

gelöst (Shankar 1994: 146). Veränderte Auftrittsbedingungen,<br />

wie große Bühnen und neue Unterrichtsformen<br />

(bezahlter Unterricht an Tanzakademien statt<br />

Unterweisung durch gurus aus devadasi-Familien), taten<br />

das ihre, um den Konnex zu den devadasis und zur<br />

Tempelprostitution vergessen zu machen.<br />

Prostitution<br />

Zwar verschwanden die devadasis mit dem Prevention of<br />

Dedication Act 1947 aus den großen, prestigeträchtigen<br />

Tempeln, am Land zeigte das Gesetz jedoch keinerlei<br />

Wirkung. 1975 wurden in Südindien drei- bis<br />

viertausend Mädchen der Göttin Yellamma geweiht<br />

(Jordan 2003: 151) und 1987 berichteten die<br />

Tageszeitungen des Bundesstaates Karnataka von der<br />

Weihe von tausend Mädchen, die im Beisein der Polizei<br />

erfolgte, als ob keinerlei Verbotsgesetze existierten<br />

(Shankar 1994: 131). Auf die Weihe im Kindesalter folgt<br />

unweigerlich eine Zukunft als Prostituierte, die nach<br />

einer möglichst gut finanziell abgegoltenen<br />

Entjungferung durch lokale Potentaten meist ein Leben<br />

in einem Großstadtbordell bedeutet. Eine Ausbildung<br />

erhalten die heutigen devadasis nicht; die meisten<br />

können, ebenso wie ihre Eltern, weder lesen noch<br />

schreiben. Nach einer Statistik der Indian Health<br />

Organisation waren 1994 15% der 10 Mio. indischen<br />

Prostituierten devadasis (Jordan 2003: 156). Gründe für<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

eine Weihe sind oft familiäre Probleme (Krankheiten,<br />

unerfüllter Kinderwunsch), die mit einem „Opfer“ an die<br />

Dorfgöttin/den Tempelgott gelöst werden sollen, aber<br />

natürlich auch die bittere Armut und Unwissenheit, die<br />

die Eltern oft zur leichten Beute von Kupplerinnen und<br />

Bordellbesitzerinnen werden lässt. Tatsächlich verdienen<br />

die jungen Frauen in den Stadtbordellen meist ein<br />

Vielfaches von dem, was sie jemals als Landarbeiterinnen<br />

verdienen könnten und schüren bei ihren Besuchen im<br />

Dorf Hoffnungen auf ein besseres Leben. Mit ihrem Geld<br />

erhalten sie neben den Kuplerinnen und Bordellbesitzerinnen<br />

jahrelang die eigene Großfamilie, die sich<br />

trotzdem oft nicht um gealterte oder kranke devadasis<br />

kümmert. Um die eigene Altersversorgung zu gewährleisten,<br />

kaufen oder adoptieren viele devadasis Mädchen,<br />

die in den Teufelskreis eingespannt werden (Jordan<br />

2003: 152). Der Preis ist hoch: Ungewollte Schwangerschaften,<br />

Geschlechtskrankheiten und der Tod durch<br />

eine HIV-Infektion sind übliche Schicksale. Nur selten<br />

gelingt der Ausstieg durch Heirat oder eines der überaus<br />

zaghaft installierten staatlichen devadasi-Rehabilitierungsprogramme.<br />

Internationale NGOs versuchen zu<br />

helfen, doch um das Übel an der Wurzel zu packen,<br />

müsste der Staat in den Bereichen Armutsbekämpfung<br />

und Bildung sehr aktiv werden (URL 1–3). �<br />

Eveline Rocha Torrez hat die Studienrichtungen Handelswissenschaft<br />

und Wirtschaftpädagogik absolviert und studiert<br />

derzeit KSA im 2. Abschnitt. www.bolivia.at.tf<br />

Literatur<br />

Gaston, Anne-Marie. Bharata Natyam. From Temple to Theatre. Manohar,<br />

New Delhi, 1996.<br />

Gaston, Anne-Marie. Interpreting the Erotic in Bharata Natyam. In:<br />

Tanzkunst, Ritual und Bühne. Begegnungen zwischen Kulturen. Hrsg.:<br />

Nürnberger, Marianne/Schmiderer, Stephanie. Frankfurt am Main, 1996.<br />

Jordan, Kay K.. From Sacred Servant to Profane Prostitute. A History of the<br />

Changing Legal Status of the Devadasis in India, 1857-1647. Manohar,<br />

New Delhi, 2003.<br />

Kersenboom-Story, Saskia. Nityasumangali. Devadasi tradition in South<br />

India. Motilal Banarsidass, New Delhi, 1987.<br />

Shankar, Jogan. Devadasi Cult. A sociological analisis. Ashish Publishing<br />

House, New Delhi, 1994.<br />

Svejda-Hirsch, Lenka. <strong>Die</strong> indischen devadasis im Wandel der Zeit.<br />

„Ehefrauen“ der Götter; Tempeltänzerinnen und Prostituierte. Peter<br />

Lang, Bern, 1991.<br />

Vijaisri, Priyadarshini. Recasting the Devadasi. Patterns of Sacred<br />

Prostitution in Colonial South India. Kanishka Publishers, New<br />

Delhi, 2004.<br />

Internet<br />

URL 1: http://www.worldvision.org/about_us.nsf/child/eNews_<br />

india_051606, Stand 30.11.07<br />

URL 2: Voykowitsch, Brigitte. http://www.nzz.ch/2005/05/30/fe/<br />

articleCKMEA.html, Stand 30.11.07<br />

URL 3: http://www.kindernothilfe.de/Bandhavi.html, Stand 30.11.07<br />

Region – Indien<br />

71


Ein Reisebericht über die Erfahrungen zweier<br />

Indien-Aufenthalte<br />

von KATHARINA HAMMERLE<br />

Reisen als Kind<br />

Kinder erleben Reisen anders als Erwachsene<br />

„24.7.1993 Heute bin ich sehr erschöpft<br />

von dem vielen Reisen […] Endlich waren<br />

wir in Bombay [Mumbai, Anm. K. H.]<br />

angelangt. Es war spät in der Nacht. Wir<br />

waren alle schon sehr müde. Wir mußten<br />

wieder einchecken, wegen dem nächsten<br />

Flug nach Bombay, Geld wechseln und<br />

noch viel mehr was halt dazu gehört […]“<br />

(Tagebucheintrag)<br />

Foto: Claudia Prinz<br />

72 Reisebericht – Indien<br />

Das Reisen als Kind beschäftigt mich schon lange. Besonders<br />

als ich im Sommer 2005 mit meinem Freund und unserem<br />

damals sieben Monate alten Sohn eine Reise nach Bali<br />

plante. Es stellten sich mehrere Fragen: Was macht das<br />

Reisen mit einem Kind? Inwieweit prägen Reisen den Lebenslauf?<br />

Was passiert durch das Reisen mit einem selbst? Welche Vor- und<br />

Nachteile, welche Konsequenzen entwickeln sich daraus und was ist<br />

dadurch anders im Alltagsleben? Ich begann intensiver als zuvor über<br />

das Reisen nachzudenken. <strong>Die</strong> wichtigste Erfahrung war, dass die<br />

Reisen erst zu Tage kommen, wenn man wieder „zu Hause“ ist. „<strong>Die</strong><br />

Reise ist erst dann wirklich abgeschlossen, wenn der einzelne die<br />

Reise im Alltag für sich und vor anderen installiert, vorgezeigt und<br />

erzählt hat.“ (Fendl/Löffler 1995, 55).<br />

Der Ausgangspunkt der Überlegungen für den vorliegenden Text<br />

waren zunächst die Bilder der Erinnerung. Es war schwer, die Bilder<br />

im Gedächtnis von denen zu trennen, die lediglich Erinnerungen an<br />

gemachte Fotos sind (vgl. Köstlin 1995). Meiner Ansicht nach werden<br />

sowohl im Alltag, als auch auf Reisen Bilder und Erlebnisse<br />

gespeichert, die in Kombination mit Gerüchen, Farben, dem Klima,<br />

mit Geräuschen etc. grundlegende Eindrücke hinterlassen. André<br />

Gingrich verdeutlicht hier: „<strong>Die</strong>s ist nicht bloß der elementare Bereich,<br />

in dem kulturelle Wertvorstellungen und Axiome an Angehörige der<br />

jeweiligen Kultur häufig vermittelt werden. Bei aller Betonung der<br />

Notwendigkeit des Erlernens lokaler Sprachen gilt auch für die<br />

ethnologische Feldforschung: Beispielhafte, oft wortlose Erfahrung ist<br />

eine nichtexklusive, aber unabdingbare Ebene, über die auch von<br />

außen kommende AnthropologInnen ‚Kultur erlernen‘“ (Gingrich<br />

1999: 200).<br />

<strong>Die</strong> wortlose Erfahrung war das, was bei meinen mehrwöchigen<br />

Indienreisen im Alter von zehn und elf Jahren bedeutend war. Das lag<br />

wohl auch daran, dass man sich das Reisen als Kind nicht aussucht.<br />

Man reist mit, ist nicht autark. Ein wesentliches Moment des modernen<br />

Reisens ist dadurch ausgehebelt: Jenes, sich in einem Land frei zu<br />

bewegen. <strong>Die</strong> Erinnerungsbilder an Indien sind somit auch an passive<br />

Erlebnisse gebunden: Ein Bambusgewebe, eine Theke; Barstühle,<br />

große Chapati, eine ockerfarbene und eine grüne Soße in kleinen<br />

weißen Schälchen vor mir unter dem Kinn. Nach zwei Metern<br />

verschwimmt die Erinnerung an diesen Ort.<br />

Natürlich sind die Erinnerungen an spätere Reisen präsenter. Ich<br />

entsinne mich etwa, als Sechzehnjährige wortlos in der australischen


Wüste gesessen und am Rande gehört zu haben, wie gut<br />

die Mitreisenden schon Englisch sprachen. Ich war<br />

überwältigt von der Landschaft und der Art zu Reisen.<br />

Kulturschock und Einsamkeit waren Gefühle, die<br />

aufkamen. „Es gehört zum Grundbestand bürgerlicher<br />

Reiseideologie, daß man das Fremde unverstellt in den<br />

Blick zu nehmen habe und gewissermaßen seine<br />

Herkunftskultur abstreifen müsse, um die Fremde<br />

wirklich authentisch erleben und erfahren zu können“,<br />

schreibt der empirische Kulturwissenschaftler Hans-<br />

Joachim Althaus. „<strong>Die</strong>ses gutgemeinte Reiseprogramm<br />

übersieht, daß es sich um eine Fiktion handelt: Niemand<br />

reist voraussetzungslos. Schon vor der Ankunft<br />

existieren Bilder dessen, was einen erwartet — was man<br />

erwartet“ (Althaus 1996: 105). <strong>Die</strong>se Bilder sind bei<br />

Kindern anders. Sie sind von Erziehung und<br />

Sozialisation geformt. So war in Indien die wortlose<br />

Erfahrung als Kind oft stärker, da ich in Situationen<br />

involviert war, die mir das Land „bescherte“: Allein und<br />

plärrend in einem dunklen Lift stecken zu bleiben und<br />

dann von lachenden Indern mit Brecheisenstangen<br />

wieder befreit zu werden. Es war das Einsammeln von<br />

Kniffen in die Wange. Blumengirlanden wurden von<br />

StraßenverkäuferInnen um mich gehängt, bis ich die<br />

wenige Meter entfernte Mutter erreichte, um Rupien zu<br />

bekommen. Kinder sind anders involviert als<br />

Jugendliche oder Erwachsene. Es waren Erlebnisse,<br />

jedoch nicht im Sinne des heute verbrauchten Begriffes<br />

„Adventure“.<br />

Ashram und „Adventure“<br />

Wir wohnten gemeinsam mit einer befreundeten<br />

Reisegruppe in einem Ashram im Süden Indiens. Ein<br />

Ashram kann mit einem Kloster verglichen werden.<br />

Dadurch kam die Gruppe nicht viel mit Hotel-Komplexen<br />

und anderer touristischer Infrastruktur in Berührung.<br />

Lediglich bei Kurzaufenthalten, die durch die<br />

Flugzeiten oder Notfälle entstanden, verbrachten wir<br />

wenige Stunden oder eine Nacht in einem Hotel. Für die<br />

Fahrten, die wir hie und da z.B. in einen Nationalpark<br />

unternahmen, stand uns immer derselbe Taxifahrer zur<br />

Verfügung — was heute ein Gefühl von Kolonialismus<br />

entstehen lässt: Ich war als europäisches Kind in Indien<br />

und ließ mich herumchauffieren. Wir bewegten uns<br />

kurzzeitig in quasi europäischen Kontexten innerhalb<br />

Indiens. So erinnere ich mich etwa, dass ich Freunde<br />

besuchte, die in einem Hotel untergekommen waren. Als<br />

ich auf die Toilette ging, bewunderte ich das gefaltete<br />

Dreieck am Ende der Klopapierrolle. <strong>Die</strong> Verwunderung<br />

war sehr stark, denn es bestand ein großer Unterschied<br />

zu den Plumpsklos ohne Klopapier, wo es stattdessen<br />

fließendes Wasser gab. <strong>Die</strong>se Toilette unterschied sich<br />

auch von den europäischen Aborten. Ich wurde in Indien<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

erstmals mit den Auswüchsen einer luxuriösen<br />

westlichen Kultur vertraut gemacht. Zwischendurch war<br />

es jedoch auch angenehm in einem „richtigen“ Bett zu<br />

schlafen und Spaghetti zu essen.<br />

Foto: Claudia Prinz<br />

Derlei Kontraste wurden im Ashram aufgehoben. Es war<br />

ein einfaches Gebäude, das wir mit Matratzen und<br />

Gittergestellen von Straßenhändlern bewohnten. Es gab<br />

regelmäßige Essens- und Gebetszeiten, die wir nach<br />

Möglichkeit einhielten. Während der mehrwöchigen<br />

Aufenthalte wurden wir Kinder von meiner Mutter und<br />

anderen GruppenleiterInnen in Einheiten der<br />

„Erziehungsarbeit von Menschlichen Werten“ unterwiesen.<br />

So ergab sich viel Abwechslung und besondere<br />

Reiseumstände stellten sich ein. In der Erziehungsarbeit<br />

wurden wir etwa in die Kindermeditationen eingeführt.<br />

Theaterstücke ließen uns im Spiel die Werte erspüren, die<br />

uns vermittelt werden sollten. Erlebnisse wie Elefantenritte<br />

etc. konnten nachgespielt werden. Hier war auch die<br />

Verbindung zur Umwelt in Indien gegeben. Besonders<br />

stark waren die Empfindungen in den Gesangsrunden,<br />

die regelmäßig vor Sonnenauf- und Sonnenuntergang im<br />

Ashram stattfanden. Hunderte Menschen aus dem Inund<br />

Ausland sangen Mantras und musizierten. Der<br />

Ashram mutierte zu einem großen „Klanghaus“. <strong>Die</strong>s<br />

scheinen verbindende, transkulturelle Erfahrungen zu<br />

sein, die gemeinsam in einem Tun eingebettet sind (vgl.<br />

Wenter 1996).<br />

Weitere Erlebnisse waren, von bettelnden Kindern<br />

umgeben zu sein oder die eigene Schwester fast durch<br />

die Türe des fahrenden Taxis zu verlieren. Affen, die<br />

Mangos aus den Zimmern stahlen, oder ein indisches<br />

Kind, dessen Schlangenbiss durch einen Schnelltransport<br />

mit unserem Buggy nicht tödlich endete, waren<br />

Impressionen anderer Qualität, als ich es von Strandurlauben<br />

kannte. Nicht zuletzt beeinflussten die Düfte<br />

von Blumengirlanden, Räucherstäbchen und exotischen<br />

Reisebericht – Indien<br />

73


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Speisen in Kombination mit Farben von Saris und Waren,<br />

die an Märkten oder Straßenecken verkauft wurden,<br />

meinen Eindruck vom „typisch Indischen“. Dadurch<br />

dass wir in einem Ashram lebten, nahm ich an<br />

Aktivitäten der südindischen Bevölkerung teil — und<br />

nicht an solchen, die für ErlebnisurlauberInnen inszeniert<br />

werden.<br />

Foto: Privatfoto K. Hammerle<br />

Was macht das Reisen mit einem selbst?<br />

Das Reisen verändert den Blick auf den europäischen<br />

Alltag, gibt zu denken und bereichert. Wenn ich in Wien<br />

unterwegs bin, erscheint manches vertraut. <strong>Die</strong><br />

Erlebnisse aus Indien schalten sich oft in die<br />

Wahrnehmung und wirken wie ein Filter, der manches<br />

relativiert und die Distanz zu Menschen anderer<br />

Kulturen aufhebt. „Beim Zusammentreffen mit<br />

Fremdem und Vertrautem scheint sich letztlich oft das<br />

Vertraute durchzusetzen“, schreibt Ulf Hannerz<br />

(Hannerz 2007: 106). Doch die Reisen verändern den<br />

Blick sowohl auf Fremdes als auch auf Vertrautes. <strong>Die</strong><br />

Sicht auf die eigenen „Mitbürger“ ist anders geworden.<br />

Das Reisen und die dabei gemachten Erfahrungen sind<br />

ein Zwischenort, in dem ein Rückzug in Form von<br />

Erinnerungen möglich ist. Im weiteren Lebenslauf<br />

entsteht also durch die Reisen eine Distanz zur<br />

europäischen Kultur.<br />

Aus einem Interview mit Ferdinand Gundolf, dem Leiter<br />

der damaligen Reisegruppe, und den Mitreisenden<br />

Marie Luise Prantner und Magdalena Hammerle gehen<br />

in Bezug auf das Reisen als Kind folgende Punkte hervor:<br />

Laut Prantner wird die Anpassungsfähigkeit des Kindes<br />

gefördert, Vorurteile und Generalisierungen gegenüber<br />

anderen Kulturen passieren nicht so schnell. Magdalena<br />

Hammerle sagte: „Wenn du in Indien warst, bist du für<br />

den Rest deines Lebens geimpft.“ Auf genaueres<br />

Nachfragen erklärte sie sinngemäß: Wenn du als Kind<br />

mit Armut, anderen Hygienepraktiken, einer anderen<br />

74 Reisebericht – Indien<br />

Art menschlicher Bedürfnisse konfrontiert wirst, gehst<br />

du auch anders mit deiner Umgebung um. Nicht zuletzt<br />

steht für sie das Wissen um das Wesen im Menschen im<br />

Vordergrund und dessen Erkundung im Reisen.<br />

Vertrauen ist für sie ein Resultat des Reisens.<br />

Meines ist Beweglichkeit und Flexibilität im Leben.<br />

In diesen Erlebnissen und ihren Konsequenzen sehe ich<br />

auch meine Verbindung zur Kultur- und Sozialanthropologie<br />

und ihren Inhalten, die dazu beitragen, sich<br />

allgemein und vielseitig mit jeglicher Umgebung<br />

auseinander zu setzen. �<br />

Katharina Hammerle studiert seit 2003 am Institut für Kultur-<br />

und Sozialanthropologie. Ein Sohn. Interessensschwerpunkte<br />

im Bereich der Ethnomedizin, Generationen und Gebiete<br />

des osteuropäischen Raumes. Radioprojekt „Ethnowelle“.<br />

Literatur<br />

Althaus, Hans-Joachim. Auslandsleute. Westdeutsche Reiseerzählungen<br />

über Ostdeutschland. Tübingen, TVV-Verlag, 1996.<br />

Fendl, Elisabeth/Löffler, Klara. <strong>Die</strong> Reise im Zeitalter ihrer technischen<br />

Reproduzierbarkeit: zum Beispiel Diaabend. In: Cantauw-Groschek,<br />

Christiane (Hg.): Arbeit - Freizeit - Reisen. <strong>Die</strong> feinen Unterschiede<br />

im Alltag. Münster/New York, Waxmann, 1996, 55-68.<br />

Gingrich, André. Erkundungen. Themen der Ethnologischen<br />

Forschung. Wien, Köln, Weimar, Böhlau, 1999.<br />

Hannerz, Ulf. Das Lokale und das Globale: Kontinuität und Wandel.<br />

In: Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Ethnizität und Migration.<br />

Einführung in Wissenschaft und Arbeitsfelder. Berlin, Reimer, 2007,<br />

95-113.<br />

Köstlin, Konrad. Photographierte Erinnerung? Bemerkungen zur<br />

Erinnerung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. In:<br />

Brunold Biegler, Ursula/Bausinger, Hermann (Hg.): Hören - Sagen -<br />

Lesen - Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen<br />

Kultur. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. u. a., Lang, 1995, 395-410.<br />

Wenter, Gerlinde. ,fahren und er-fahren'. Pädagogische und<br />

Anthropologische Überlegungen zum Reisen. Innsbruck, 1996.<br />

(Univ. Diplomarbeit)<br />

Weiterführende Literatur<br />

Punnamparambil, Asok (Hg.). Im Schatten des Taj Mahal.<br />

Zeitgenössiche Erzählungen und Lyrik aus indischen<br />

Regionalsprachen. Bad Honnef, Horlemann, 2006.


Nyahbinghi<br />

Ein anthropologischer Ausflug in die Welt von<br />

Words, Sounds and Power<br />

von WERNER ZIPS<br />

Eine elementare Erfahrung von Rastafari<br />

Über die Herkunft des Begriffes<br />

Nyahbinghi existiert eine Vielzahl von<br />

Theorien. Rastafari übersetzen den<br />

Terminus mit Tod den schwarzen und<br />

weißen Unterdrückern und beziehen<br />

sich auf den Befreiungskampf von<br />

Haile Selassie I. gegen die<br />

Besatzungsarmee Mussolins in<br />

Äthiopien ab dem Jahr 1935.<br />

Nyahbinghi betrachten sie als<br />

Speerspitze der antikolonialen<br />

Befreiung. Nyahbinghi werden aber<br />

auch die Versammlungen von<br />

Rastafari genannt, die üblicherweise<br />

zwischen drei Tagen und drei Wochen<br />

dauern. Nyahbinghi chants besitzen<br />

einige Ähnlichkeit mit den Hymnen<br />

afrikanisch-christlicher<br />

Glaubensgemeinschaften und gelten<br />

als wichtigste Inspiration, sowohl<br />

musikalisch als auch textlich für Rasta<br />

Reggae.<br />

Foto: Werner Zips<br />

Es darf bezweifelt werden, dass sich selbst der inspirierteste,<br />

gehirnentzündete Ethno-Fantast jemals eine Konstruktion<br />

von Vorstellungen erträumen hätte können, die so<br />

merkwürdig und mächtig ist, wie jene von Rastafari – so etwa<br />

beginnt das Kapitel über die Brotherhood of Rastafari in Reggae<br />

Bloodlines, dem ersten Buchklassiker über die aus Jamaica<br />

stammende Musik und Kultur. <strong>Die</strong> Erinnerung an den Satz schießt mir<br />

durch den Kopf, als ich mich bei meinem ersten Nyahbinghi wieder<br />

finde, am erst fünften Tag meiner ersten Jamaika Reise. Angesichts<br />

dessen, was sich vor meinen Augen und in meiner structure (Körper)<br />

bei diesem Ereignis abspielt, nimmt sich das Zitat geradezu wie eine<br />

maßlose Untertreibung aus. Words können nur unvollkommen<br />

beschreiben, welche Energien (Fire) durch die Sounds and Power bei<br />

einem physischen Nyahbinghi frei gemacht werden. Selbst der<br />

heißeste Sizzla oder Capleton chant wirkt dagegen wie ein Streichholz<br />

neben einem ausbrechenden Vulkan. Auch heute noch, beinahe ein<br />

Vierteljahrhundert danach, fallen mir nur Superlative ein, um mein<br />

damaliges Empfinden zu beschreiben: es war das faszinierendste,<br />

mitreißendste, intensivste, aber auch bedrohlichste Erlebnis von<br />

kultureller Praxis, das ich bisher haben durfte – trust me!<br />

Zu einem Binghi kann man nicht einfach hingehen, wie zu einem<br />

Reggae Konzert. Dazu bedarf es einer ausdrücklichen und formellen<br />

Einladung des Nyahbinghi Hauses oder wenigstens des jeweiligen<br />

veranstaltenden Elders und seiner Idren. Ich hatte nur die vage Info<br />

eines Korallenschnitzers in Montego Bay.<br />

Doch Jah schickte mir einen kleinen Dread mit mächtigen locks unter<br />

einer abgetragenen Tam als conductor meines Minibuses. Many are<br />

called, but chosen are few – ich musste ihn einfach fragen, ob er<br />

irgendetwas von einem Binghi wusste. Schließlich war ich hier, um<br />

eine Forschung über Rasta zu machen. Einen 500 Meter Sprint später,<br />

auf den Fersen des kleinen Dread hinter einem abfahrenden Taxi<br />

hinterher, finde ich mich mit vier Dreadlocks Rastafari eingepfercht in<br />

einem alten Cortina. Mit den Worten: „De I ah trod to the Binghi? Tek<br />

dis yah man deh!“ hatte mich der conductor einfach ins Taxi gesetzt.<br />

Aus der Perspektive der Vier im Cortina schien Jah schlicht jemanden<br />

zur Begleichung der Taxi Rechnung geschickt zu haben.<br />

<strong>Die</strong> legendenumwobenen Bergketten des Inselinneren haben schon<br />

den Maroons in ihrem Kampf gegen die Sklavenhalter Unterschlupf<br />

geboten. Eine kleine rot/gold/grüne Flagge am Wegrand ist das erste<br />

Zeichen für Eingeweihte, dass wir auf dem richtigen Weg zum<br />

Wiener Institut – Feldforschung<br />

75


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Nyahbinghi ground sind. „Willst du da wirklich hin?“,<br />

fragt mich einer der Vier im Taxi. „You are going to a<br />

battlefield!“ Nicht gerade ermutigend.<br />

Schließlich bleibt das Taxi mit jaulendem Motor und<br />

rauchender Kupplung im Lehmboden hängen. „Babylon<br />

cyaan move forward again!“, lautet der trockene<br />

Kommentar eines der Mitfahrenden. Ich bezahle wie<br />

prophezeit die Rechnung und bekomme zum Dank zwei<br />

große Taschen in die Hand gedrückt. Der dumpfe Klang<br />

von Trommeln weist uns den Weg zum Nyahbinghi.<br />

Steven Spielberg hätte sich keine bessere Kulisse für<br />

einen Rasta-Film aussuchen können: Regenwald ringsum,<br />

aufsteigender Dampf von der dichten tropischen<br />

Vegetation im Dämmerlicht der untergehenden Sonne,<br />

Klangfetzen von Nyahbinghi-Kriegsliedern. Plötzlich<br />

steht er vor uns, wie aus dem Boden ge-wachsen.<br />

Barfüßig, dreadlocks bis über die Hüfte, nur mit einer<br />

roten Short bekleidet, eine Kalebasse auf dem Kopf:<br />

„Hotter Hot!“ schreit er zur Begrüßung. „Redder Red!“<br />

erwidern meine Begleiter offensichtlich adäquat im Vorbeigehen.<br />

Gemeint ist der apokalyptische Endkampf,<br />

dem nach dem Untergang Satans und der Mächte des<br />

Bösen im kosmischen Feuer des Armageddon die<br />

Vollendung des Gottesreiches folgt.<br />

Dazu sollen mir die passenden Bilder sogleich nachgeliefert<br />

werden. Wir erreichen den Ort der Groun(d)ation.<br />

Mein Blick fällt auf ein gemaltes Bild neben dem Eingang,<br />

das einen Reiter mit fliegenden dreadlocks hoch zu<br />

(Kampf)Ross darstellt, der eine Lanze durch die Brust<br />

des Papstes bohrt, der wie ein Drache Babylon in seinen<br />

Fängen hält. Darunter die Losung: „Kill the pope!“ Über<br />

dem Eingang ein Schild mit der Aufschrift: „Nyahbinghi<br />

means death to all black and white downpressors.“ „Rastafari!“,<br />

rufen meine Begleiter der königlichen Versammlung<br />

entgegen. „Selassie I! Fire bun!“, kommt es machtvoll<br />

zurück. Rund zweihundert Dreadlocks Rastafari,<br />

mehrheitlich Männer und Angehörige des Nyahbinghi<br />

Ordens, sind zur Feier des 92. Geburtstages von Haile<br />

Selassie zusammengekommen. Jetzt sind alle Augen auf<br />

uns gerichtet, genau genommen auf mich. Mit den beiden<br />

Taschen in der Hand wirke ich auf den (wichtigen)<br />

ersten Blick wie ein geladener Gast und nicht wie ein<br />

ungebetener Besuch. Trotzdem schlägt mir unverhohlenes<br />

Misstrauen entgegen. Ein freundliches Willkommen<br />

sieht anders aus. Nie zuvor haben mir Blicke allein meine<br />

Hautfarbe und Herkunft spürbarer vermittelt. Als ob es<br />

die Szenerie nicht ohnehin schon ausreichend in sich<br />

hätte. Eine Gruppe brethren mit dreads wie ich sie nie zuvor<br />

gesehen habe umringt eine Feuerstelle. Zwei Männer<br />

werfen einen ganzen Baumstamm in die meterhohen<br />

Flammen. „Fire!“ kommt es wie aus einem Munde. „Bun<br />

de wicked!" "<strong>Die</strong> Gottlosen mögen verbrennen!“<br />

76<br />

Wiener Institut – Feldforschung<br />

Mittlerweile haben mir meine Taxi brethren ihre Taschen<br />

abgenommen und mich einfach stehen gelassen. Mit<br />

ziemlich weichen Knien begebe ich mich zu einer<br />

Gruppe Elders. Zu einer Begrüßung komme ich gar<br />

nicht. Schon prasselt ein Stakkato an Fragen auf mich ein.<br />

Woher kommst du? Warum kommst du? Was suchst du<br />

hier? Are you a Babylon spy? CIA? Ein Spiel von<br />

Herausforderungen und Druck, das so gar nicht wie ein<br />

Spiel wirkt. Am Anfang weiß ich nicht genau, wie mir<br />

geschieht, aber mit Fortdauer der challenges erwacht mein<br />

Widerstandsgeist und ich beginne, den pressure des<br />

Fragen-Bombardements aus zu halten. So laut und<br />

energisch wie möglich erkläre ich meine Positionen zu<br />

Apartheid in Südafrika, zur Verschleppung aus Afrika,<br />

zur Versklavung im Namen des Kreuzes, zu US<br />

polit(r)ic(k)s und britischem (Neo)Kolonialismus.<br />

Es ist eine Art Feuerprobe. A check, if you can take the<br />

heat. Nur wenn du die Hitze wie Daniel in the Lion's Den<br />

weg steckst – „cast in the fire, never get burn“ – darfst du<br />

bleiben. Grounding heißt dieser Prozess, den jeder<br />

Mensch durchlaufen muss, der an einem Binghi teilnehmen<br />

will. Eine Form von „Erdung“ im Rasta Bewusstsein.<br />

Wer dieses Verfahren einmal erfolgreich bestanden<br />

hat, fürchtet sich vor keiner Prüfung mehr. Wer hingegen<br />

bei der kollektiven Konfrontation mit „Words, Sounds,<br />

and Power“ durchfällt, gilt als „burned out of the<br />

Nyahbinghi“. Das passiert auch Dreads, die mit ihren<br />

deutschen oder italienischen Negril-Liebhaberinnen und<br />

aufgesetztem Rasta chat bei einem Binghi antanzen, als<br />

wäre es eine beach party in Rick's Cafe. So schnell können<br />

sie gar nicht an ihrem Spliff ziehen, dass sie sich schon<br />

mit Schimpf und Schande (Blood and Fire) davongejagt<br />

auf ihrer Leih-Honda samt Sozia wiederfinden, um heim<br />

nach Negril (Babylon fe true) zu düsen.<br />

Rasta ist keine Religion, die einen Aufnahmeritus vorschreibt,<br />

den eine bestimmte Autorität zu vollziehen hat.<br />

Wer Rasta fühlt, denkt und handelt, ist Teil von I and I<br />

– Ich und Ich – Jah Rastafari. Jah manifestiert sich in<br />

jedem Ich, das diese Manifestation sucht und zulässt.<br />

Also kann es keinen Unterschied zwischen dem eigenen<br />

Ich und dem der Anderen geben. Alle übrigen Fürwörter<br />

sind für jene da, die nicht den spirit of Jah in sich tragen.<br />

Sie sind Babylon und haben bei einem Binghi nichts<br />

verloren. <strong>Die</strong> kollektive Aufnahme bei einem Binghi, der<br />

kommunikative Prozess, grounded zu werden, bedeutet<br />

die Anerkennung einer Gemeinsamkeit. Kein Rasta wird<br />

den Tag, den Ort und die Umstände seines/ihres Groundings<br />

vergessen. Nyahbinghi heißt spirituelle Kriegsführung<br />

gegen Babylon, ein Synonym für Ungerechtigkeit.<br />

Bei dieser philosophischen und kulturellen Praxis<br />

würde jeder Fremdkörper die vibrations stören und<br />

schwächen. Vibrations, die den Untergang Babylons,


jener Mächte, die seit alten Zeiten mit Unterdrückung<br />

und Aus-beutung herrschen, beschwören. „To chant<br />

down Babylon“, erst nach einem Binghi weiß man, was<br />

diese Formel wirklich meint.<br />

Endlich scheine ich bestanden zu haben. Einer der Elders<br />

beendet das Rasta Verhör mit einer Art Willkommensgruß:<br />

„Du kommst am richtigen Tag. Heute ist der<br />

23. Juli, der 92. Geburtstag seiner Imperialen Majestät<br />

Haile Selassie I. Er muss dich eingeladen haben. Sonst<br />

wärst du niemals bis hierher gekommen. Vielleicht bist<br />

du einer der 144.000 Auserwählten<br />

für den Berge Zion, die das<br />

Armageddon überleben werden.<br />

Rasta no partial. Hautfarbe und<br />

Herkunft haben damit nichts zu<br />

tun, nur dein Bewusstsein und dein<br />

Herz zählen am Judgement Day,<br />

dem Tag des jüngsten Gerichtes.<br />

Und glaube mir, längst nicht alle,<br />

die du hier mit ihrem dreadlocks<br />

Stolz siehst, werden dann noch<br />

dabei sein.“ „True, true, Bongo“,<br />

bestärkt ihn einer der Elders, und<br />

reicht mir ein Büschel der<br />

berühmten trockenen Pflanzen:<br />

„Das ist King's Bread, die Nahrung<br />

der Könige, it's good for your nerves“,<br />

lacht er. „It give the I the right<br />

Iditation fi chant down Babylon<br />

with I and I. Es macht Deinen<br />

Körper zum Tempel für Rastafari.<br />

Andere errichten prunkvolle<br />

Gebäude mit dem Schweiß und Blut der sufferers und<br />

nennen diese Gotteshäuser. Aber damit lästern sie Jah,<br />

denn Rastafari ist immer auf der Seite der Leidenden und<br />

Unterdrückten.“<br />

Jetzt bin ich nicht mehr am Wort. Alle, die mich vorher<br />

„interviewt“ haben, erteilen mir jetzt Geschichtsunterricht<br />

nach dem Rasta-Lehrplan. Zwanzig, dreißig<br />

brethren beteiligen sich daran, mir stellvertretend für alle<br />

Weißen, eine Lektion zu geben, die mit Columbus, dem<br />

verdammten, aufgeblasenen Lügner beginnt. Nicht, dass ich<br />

die Klage über die unmögliche Entdeckung der längst<br />

besiedelten „neuen“ Welt nicht schon bei Burning Spear<br />

gehört hätte, aber dieses kollektive Lehrstück von<br />

gerechtem Zorn schlägt doch alles mir bisher Bekannte<br />

und sogar Vorstellbare. Angeheizt vom Feuerwerk der<br />

Nyahbinghi Trommeln in der anbrechenden Dunkelheit<br />

und untermalt vom stundenlangen chant „fire, fire, fire<br />

bun!“, schleudern mir immer neue Nyahbinghi warriors<br />

ihre Verbitterung über die Verschleppung aus Afrika, die<br />

anhaltende Gefangenschaft in Babylon, die ungerechte<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

Verteilung des Wohlstands in der Welt, die Fremdbeherrschung<br />

der Massen durch eine kleine Minderheit<br />

und vor allem die doppelten Standards bei der Einhaltung<br />

von Menschenrechten und dem Gerede von der<br />

Demokratie ins Gesicht:<br />

„Europa hat im Auftrag Roms die Kinder Afrikas<br />

gestohlen und sie in Amerika zu Sklaven gemacht. <strong>Die</strong><br />

Reinkarnation des Satans, der Papst in Rom, segnete all<br />

die Piraten und Sklavenschiffe, um an Afrikas Gold<br />

heranzukommen und es in den Vatikan verschleppen zu<br />

können. Und die Queen, die königliche<br />

Hure Babylons, war seine<br />

Sekretärin. Bis heute dauert die<br />

Knechtschaft Afrikas und seiner<br />

versklavten Söhne und Töchter an.<br />

Commonwealth – gemeinsamer<br />

Wohlstand – nennen sie das. Was für<br />

eine Lüge. That's why I and I say:<br />

Nyahbinghi! Death to all black and<br />

white downpressors!“ Ohne<br />

Unterbrechung setzt ein Binghi-Idren<br />

fort, dessen dreadlocks wie eine<br />

Fußmatte zu einem dicken Haarteppich<br />

verfilzt sind, der ihm bis<br />

weit unter das Gesäß reicht: „Ihr<br />

redet immer über Demokratie, die<br />

ihr über die ganze Welt verbreiten<br />

wollt, solange ihr eure Lakaien als<br />

Herrscher einsetzen könnt. Volksherrschaft<br />

soll das sein, wenn du<br />

einmal alle vier, fünf Jahre zwischen<br />

zwei Diktatoren und ihren Parteigängern<br />

wählen kannst? Ich sage dir: Herrschaft über<br />

das Volk ist es. Das nennen wir Dämonkratie, satanische<br />

Herrschaft der Reichen und Mächtigen. Wir Nyahbinghi<br />

predigen die Theokratie, die einzige wahre Herrschaft<br />

des Volkes über sich selbst. Denn Jah ist in allen von uns<br />

gleichermaßen.“<br />

Langsam pendelt sich mein Adrenalin Spiegel auf sein<br />

normales Binghi Niveau ein und ich kann das tun, wozu<br />

ich hier bin: sehen, fühlen, erleben. Im Tabernakel, einer<br />

nach alle Seiten offenen Rundhütte mit einem Altar in<br />

der Mitte, auf dem Bilder von Haile Selassie stehen,<br />

umkreisen tanzende brethren die royal drummers. Ihre<br />

Hymnen preisen His Imperial Majesty und beschwören<br />

den Fall Babylons mit Formeln, die heute jeder Reggae<br />

Fan kennt: „Fire pon Rome! Fire fi di pope!“ Ein hagerer<br />

Elder stampft mit spindeldürren Beinen, die zur Hälfte<br />

aus einer rot gold grünen Robe herausstehen, auf den<br />

Boden, als gelte es, das Böse hier und jetzt zu zertrampeln.<br />

Seinen Stock lässt er im Takt Löcher ins<br />

malträtierte Gras bohren. Bei jedem symbolischen Stich<br />

Wiener Institut – Feldforschung<br />

77


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

ins Herz des Drachens beutelt er seine angegraute<br />

dreadlocks Löwenmähne. Seine bambusdicken, fast weißen<br />

Bart-dreadlocks reichen bis zum rot/schwarz/grünen<br />

Gürtel, der ihn als Marcus Garvey Anhänger ausweist.<br />

Chalices aus Kokosnüssen kreisen unentwegt zwischen<br />

den Tanzenden. Eine Gruppe Empresses and Princesses<br />

bildet die Queen Omega Congregation auf einer Seite des<br />

Tabernakels. Sie geben der Versammlung Würde, ohne<br />

auch nur einen Hauch Abstriche von der Militancy der<br />

brethren zu machen.<br />

Nyahbinghi ist wahrhaftig dreadful – mit der gleichen<br />

Bedeutungsvielfalt, die schon in Dread oder dreadlocks<br />

steckt. Viele Jahre später sollte es Mutabaruka, mittlerweile<br />

einer der (wort)führenden Elders in Rastafari<br />

folgendermaßen auf den Punkt bringen (in seinem Vortrag<br />

„Rasta from Experience“ bei der Karibiktagung im<br />

Jahr 2001 an der Universität Wien):<br />

„Viele Leute haben Angst, sich auf das Nyahbinghi<br />

einzulassen, weil sie realisieren, wenn sie in die Erfahrung<br />

von Nyahbinghi hineingehen, dann lassen sie sich<br />

auf einen Orden ein, einen Afrikanischen Orden, der<br />

zum Ziel hat, alle europäischen Kolonialisten aus Afrika<br />

zu verjagen. [..] All diese (wissenschaftlichen, Anm. d.<br />

Red.) Studien und die ganzen Berichte werden dich<br />

niemals lehren und verstehen lassen können, wer Ich bin.<br />

Du musst Ich selbst erfahren. Das ist der größte Lehrer,<br />

die Erfahrung von Ich ist der größte Lehrer. <strong>Die</strong><br />

Wissenschaftler können nur zu Papier bringen, was sie<br />

glauben, dass Ich bin. […] Im Ich und Ich ist eine Universalität,<br />

die transzendental ist, sobald wir mit der eigenen<br />

Erfahrung beginnen, anstatt darüber zu lesen. […] Du<br />

kannst mich töten, du kannst Muta töten, du kannst Tom<br />

und John töten, aber du kannst nicht Ich töten. Weil das<br />

Ich transzendiert. Ich ist nicht, was du glaubst, was Ich<br />

sein sollte. Ich bin, was Ich ist. Das Ich muss Ich eben so<br />

nehmen, wie Ich bin.“<br />

Nyahbinghi, verstanden als spiritueller Kampf gegen die<br />

Unterdrückung von Menschen durch Menschen, gehört<br />

zum Kern der Rasta Erfahrung. Einer Erfahrung, die nur<br />

im Ich und nicht durch Zuhören und Nachbeten zu<br />

machen ist.<br />

In diesem Sinn lässt die Rastafari Philosophie<br />

Universalität zu. Niemand muss in Jamaica geboren oder<br />

Nachkomme von versklavten AfrikanerInnen sein, um<br />

für sich (im Ich und Ich) die Ungerechtigkeit jeder<br />

illegitimen Herrschaft von Menschen über Menschen<br />

erfahren zu können. Darin liegt der universelle Ansatz<br />

von Rastafari, der es erlaubt jegliche Grenzen der<br />

Hautfarbe, Nation, Sprache, Geschlecht, Alter, Schicht<br />

usw. zu überwinden, obwohl der Ausgangspunkt von<br />

78<br />

Wiener Institut – Feldforschung<br />

Rastafari als soziale Bewegung in Afrika und der<br />

Afrikanischen Diaspora (vor allem Jamaika) liegt. Wenn<br />

das Ich bei einem Binghi mit den oben zitierten Words,<br />

Sounds, and Power konfrontiert wird, gibt es nur zwei<br />

Möglichkeiten: entweder die vibes treffen dich persönlich,<br />

dann wirst du von ihnen (spirituell) verbrannt und<br />

kannst es unmöglich aushalten, bei dem Binghi zu<br />

bleiben, oder das Ich spürt die positive vibration des<br />

Befreiungskampfes, aus dem die Worte kommen.<br />

<strong>Die</strong>se Botschaft habe ich auf dem Weg der Erfahrung von<br />

Ich und Ich schon von vielen Rastafari mit immer neuen<br />

Worten gehört, aber die Power der Worte kann nur die<br />

eigene Erfahrung vermitteln: who feels it, knows it. Dann<br />

erst können sich scheinbare Widersprüche auflösen, die<br />

im ersten Augenblick wie jenes Rätsel klingen mögen,<br />

das mir einer der Elders, Jah T, bei meinem ersten Binghi<br />

mit auf den weiteren Weg in Rastafari gab: „Du willst<br />

wissen, was Nyahbinghi eigentlich ist? Nyahbinghi ist<br />

ein alter Orden, den Seine Königliche Majestät, Haile<br />

Selassie, im Jahr 1936 als Kriegs-Orden gegen Mussolinis<br />

Truppen in Äthiopien verwendet hat. Nyahbinghi steht<br />

seit dem Anbeginn der Zeiten für: Tod den Schwarzen<br />

und Weißen Unterdrückern! Dafür schlagen wir die<br />

Nyahbinghi Trommeln. Denn diese Trommeln können<br />

töten. Damit töten wir die Unterdrücker. Nyahbinghi ist<br />

Krieg, aber die Waffe ist die Liebe. Denn nur die Liebe<br />

kann das Böse besiegen. Hass erzeugt nur immer neuen<br />

Hass. Rastafari! Peace and Love!“ �<br />

Werner Zips, geboren 1958 in Wien, ist außerordentlicher<br />

Professor am Institut für Ethnologie, Kultur- und<br />

Sozialanthropolgie der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte:<br />

Rechtsanthropologie, Historische Anthropologie,<br />

Afrika, Afrikanische Diaspora, Visuelle Anthropologie.<br />

Anm. d Red: <strong>Die</strong>ser Artikel gibt Auszüge aus einem<br />

Artikel von Werner Zips in "Riddim" 04/04 wieder.<br />

Den gesamten Text gibt es unter:<br />

http://www.riddim.de/feature.php?id=176<br />

Literatur<br />

Davis, Stephen und Simon, Peter. Brotherhood of Rastafari. Anchor<br />

Press/Doubleday. Wien,1977.<br />

Barretts, Leonard . The Rastafarians. Boston, 1977.<br />

Zips, Werner. Rastafari. Eine Kulturrevolution in der Afrikanischen<br />

Diaspora. In: Kremser, Manfred (Hg.): Ay BoBo. Afro-karibische<br />

Religionen. Teil 3: Rastafari. Wien, 1990.<br />

Zips, Werner. Rastafari - eine universelle Philosophie im 3.<br />

Jahrtausend. Wien, 2007.<br />

Siehe auch: Dokumentationen von Werner Zips: "Rastafari - Tod den<br />

Schwarzen und Weißen Unterdrückern" und<br />

"Mutabaruka - Rückkehr ins Mutterland"


Interview with Bambi Schieffelin, professor of anthropology<br />

at New York University<br />

von STEFANIE SEITELBERGER und SONJA HOFMAIR<br />

Different languages,<br />

different cultures<br />

Approaching anthropology through linguistics<br />

Professor Bambi Schieffelin is an<br />

expert on linguistic anthropology – a<br />

field of research that is hardly<br />

established in Europe. During her stay<br />

in Vienna this summer 2007 we took<br />

the opportunity to talk to her about<br />

linguistic anthropology and language<br />

socialization. She also gave us<br />

interesting insights into her current<br />

research on missionization and<br />

language change in Papua New<br />

Guinea.<br />

The Interview took place in context of<br />

the International Guest Lecture Series<br />

“Engaging With Linguistic<br />

<strong>Anthropology</strong> Today” of the ÖAW<br />

(Österreichische Akademie der<br />

Wissenschaften).<br />

In Austria linguistic anthropology is not a well-known subject. We only get<br />

to know it in the context of the four field approach. You are one of the leading<br />

experts in linguistic anthropology – so could you summarize how you would<br />

define linguistic anthropology?<br />

Linguistic anthropology is the study of language in context and<br />

focuses on how members of communities all over the world use<br />

language to accomplish many different things in social life. Speech<br />

practices and the ways in which people think about and use them are<br />

rich resources not only for speakers, but also for researchers.<br />

Linguistic anthropologists can’t easily imagine doing anthropology<br />

without looking at the ways in which language constructs realities.<br />

Linguistic anthropologists investigate language and speech practices<br />

with the same systematicity as social and cultural anthropologists<br />

investigate other symbolic systems, such as religion, social<br />

organisation, kinship, etc. Linguistic and cultural practices and<br />

ideologies are viewed as interrelated.<br />

How important is linguistic anthropology in context of the four field<br />

approach?<br />

All four fields are important to understanding how we are human<br />

– we are biological, we are social, we have a past as evidenced in the<br />

archaeological record, but we also use language and talk to create and<br />

sustain our social worlds. We talk about all these things too, we talk<br />

about our biology, we talk about our past, we talk about our social<br />

lives, and we talk about language.<br />

To what extent is it important to you that linguistic anthropology will also be<br />

established in Europe?<br />

Europe is well known for being multilingual and valuing linguistic<br />

diversity. Linguistic anthropology would complement perspectives<br />

from social anthropology for understanding the dynamics of a broad<br />

range of cultural and historical processes taking place across Europe<br />

today. It would also enrich the training of social anthropologists in<br />

Europe whether they are working in urban, rural, traditional or<br />

diaspora communities around the world. The founders of linguistic<br />

Wiener Institut<br />

79


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

anthropology, Franz Boas and Edward Sapir, both came<br />

to the United States from Germany and were multilingual.<br />

It is ironic that linguistic anthropology is part of<br />

anthropology in the United States because the prevailing<br />

ideology is that everyone should speak English, the<br />

„English-only-movement“ which is a limited view of<br />

communication, identity and society.<br />

What are your main interests in linguistic anthropology?<br />

I started studying language socialisation: The ways in<br />

which children are socialised to use language and<br />

socialised through the use of language. Elinor Ochs and I<br />

developed that research program together over many<br />

years and it is now established as an important field<br />

within linguistic anthropology. I am also interested in<br />

language and change: the ways in which both social and<br />

linguistic change are part of every society, whether such<br />

changes and transformations are due to larger types of<br />

changes like missionization and colonialization or<br />

change that takes place across the life cycle of persons.<br />

People are always learning languages and losing<br />

languages, and languages themselves are involved in<br />

how people construct and communicate their identities.<br />

And how did you get to anthropology and particularly to<br />

linguistic anthropology?<br />

In high school I was very interested in languages and was<br />

able to study French and Spanish. My undergraduate<br />

study started with comparative literature but then I<br />

discovered anthropology. By the time I started graduate<br />

school, I knew I wanted to do linguistic anthropology. It<br />

allowed me to combine my interest in language and<br />

culture, focusing on real peoples’ lives.<br />

You already told us what you are interested in the context of<br />

linguistic anthropology – but what was the most important<br />

thing for you?<br />

I think my most important contributions have been based<br />

on my work in Bosavi, Papua New Guinea, initially<br />

looking at the ways in which children acquire the<br />

linguistic and cultural practices of their community. It<br />

was the first ethnographic investigation of a nonwritten<br />

language, one that had a very different structure than<br />

English or other European languages. The research<br />

challenged many expectations that people had not only<br />

about how children learn but also what they learn. My<br />

second project investigating the introduction of literacy<br />

in this society builds on the earlier research.<br />

80 Wiener Institut<br />

You prepared a Bosavi-English dictionary – can you tell us a<br />

little bit about that?<br />

The Bosavi-English-Tok Pisin dictionary that I put<br />

together was a long term project, done collaboratively<br />

with Steven Feld, my research partner, and several local<br />

consultants. When I asked people, „What would you like<br />

me to give back to you?“, they said they wanted a<br />

dictionary. First we were doing it just in the Bosavi<br />

language because the people said this would be helpful.<br />

In the 1990s people said it would be helpful to have an<br />

English part as well, because they were beginning to<br />

imagine a future where their children could go to school.<br />

We added the English to the Bosavi and Tok Pisin, so it<br />

was in three languages. It was our gift to the community<br />

– the Australian National University published it, and we<br />

gave it to the communities as a gift.<br />

How long did it take you to finish it?<br />

I started working on it in the 1970s and we presented it to<br />

the community in 1998. It took a long time but we<br />

learned a lot doing the dictionary. We used it to<br />

document the sources of new words that came into the<br />

language, for example, how do people acquired words<br />

for introduced things such as „lamp“ or „fishhook“,<br />

things, they did have before. We also tracked the new<br />

concepts as well as those that were lost. So the dictionary<br />

also traces Bosavi people’s contact with others’ ideas,<br />

people and things.<br />

About your field research: We saw that you carried out research<br />

in Papua-New Guinea and especially with the Kaluli.<br />

The Kaluli are one of the four groups that call themselves<br />

Bosavi people. There are approximately 2000 Bosavi<br />

people. There are four dialects of the Bosavi language,<br />

Kaluli is one of them. But for the dictionary, because of<br />

the way that people identified themselves, we called it<br />

Bosavi.<br />

And why did you choose the Bosavi?<br />

I went there first in 1967 because I had married an<br />

anthropologist who was doing his fieldwork there and so<br />

I spent the first 14 months of our marriage on that trip<br />

with him. I did a lot of photography during the first trip,<br />

and also worked on learning the language. When I<br />

started my own PhD study, I decided to go back, which I<br />

did, several times. I had already made many efforts in<br />

learning the language – and it was not an easy language


and there were a lot of interesting research questions.<br />

Bosavi people were very welcoming and they were really<br />

wonderful people to interact with. 1998 was my last trip,<br />

when I went there to bring the dictionary.<br />

Could you tell us something about your new book project „New<br />

Words, New Worlds“?<br />

I have another book that was published by Oxford<br />

University Press in September, so I want to say a little bit<br />

about that one first: It is called „Consequences of contact:<br />

Language ideologies and sociocultural transformations<br />

in Pacific societies“. It’s an edited collection that deals<br />

with the impact of colonization and missionization on<br />

language and culture. I am very excited about it because<br />

it is the first volume to explore different outcomes of<br />

contact.<br />

My new book project examines the ways in which<br />

missionization has reorganised and transformed the<br />

ways in which the Bosavi people think about language,<br />

think about themselves, think about the place where they<br />

live. It also addresses the role of translation in social and<br />

linguistic change. It’s about the ways in which Bosavi<br />

people tried to understand Christianity from its<br />

introduction in the early 1970s through the 1990s.<br />

How did the missionaries change things and how did you<br />

perceive the whole community?<br />

There where many traditional practices that people<br />

simply stopped, for example performing major<br />

ceremonies that took place around marriage.<br />

Missionaries also changed living arrangements. People<br />

lived in communal long houses, and the missionaries<br />

thought this was primitive and encouraged people to live<br />

in single family houses. They wanted people to stay in<br />

the village and go to church several times a week. They<br />

discouraged hunting in the bush, and long stays at<br />

garden houses. The missionaries wanted to domesticate<br />

the Bosavi people according to their own ideas of<br />

domestication. They thought the Bosavi people lived in<br />

the Stone Age and they wanted to bring them into a<br />

western, Christian world.<br />

Do you know how they feel today about the missionaries?<br />

The missionaries left in 1990. They had introduced an<br />

elementary school, medical clinic, and a store, in addition<br />

to Bible study. But the missionaries didn’t teach people<br />

how to do anything for themselves, so when they left<br />

people were frustrated. They had a glimpse of change,<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

but they could not run the school or clinic themselves.<br />

You have been visiting Vienna in 2001 – how did you<br />

experience Vienna and the institute?<br />

I think I was one of the first scholars to give talks in<br />

linguistic anthropology. Most people were not familiar<br />

with it – but I think most people now know more about<br />

this part of anthropology. Professor Gingrich is very<br />

supportive of linguistic anthropology. I think there is<br />

more interest, which is good.<br />

We are now at the seminar of Professor Gingrich about<br />

linguistic anthropology. What do you think about the<br />

presentations?<br />

Well, I am very impressed with the seriousness of the<br />

students. They did the work and engaged with the ideas.<br />

It is a really exiting and good form of cross-disciplinary<br />

contact. It is also intercultural, as well as crosslinguistic. I<br />

have learned a great deal. For me learning is always an<br />

exchange: If I don’t have students I can learn from,<br />

teaching is boring. That’s why many of us do this.<br />

Leaning from students helps to keep you excited, it’s 50<br />

percent of the game. People in the seminar really did a<br />

great job, took it very seriously, and worked very hard. I<br />

hope this is seminar will be repeated again.<br />

Thank you very much for your time and the interview.<br />

Thank you and good luck with your own research. �<br />

Wiener Institut<br />

81


82<br />

Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit visuellen Codes, Zeichensystemen und<br />

unterschiedlichen Sinngebungen – ein kontroversieller Beitrag<br />

von CHRISTIAN F. FEEST<br />

Mit der Sonderausstellung Benin:<br />

Könige und Rituale. Höfische Kunst aus<br />

Nigeria hat das wegen einer<br />

überfälligen Generalsanierung seit<br />

März 2004 geschlossene Museum für<br />

Völkerkunde Wien am Heldenplatz<br />

wieder ein nach außen hin sichtbares<br />

Lebenszeichen von sich gegeben. <strong>Die</strong><br />

von Dr. Barbara Plankensteiner<br />

kuratierte Ausstellung kann ohne<br />

Übertreibung als die größte Schau zur<br />

Kunst, Kultur und Geschichte Benins<br />

bezeichnet werden, die jemals aus den<br />

in aller Welt verstreuten Bronzen und<br />

Elfenbeinarbeiten zusammengetragen<br />

wurde.<br />

Foto: Christian Feest<br />

Reichsapfel, Königtum Benin,<br />

Nigeria, 16./17. Jh.<br />

Museum für Völkerkunde Wien<br />

(Slg. W.D. Webster)<br />

Wiener Institut – Völkerkunde Museum<br />

Museum für<br />

Völkerkunde Neu<br />

Benin am Beginn, Fortsetzung folgt<br />

<strong>Die</strong> Diaspora dieser Gegenstände, die zugleich den Weltruhm<br />

Benins begründete, erfolgte 1897, als im Rahmen einer<br />

militärischen Strafexpedition der Briten, mit der die Tötung<br />

einer britischen Delegation gesühnt werden sollte, der<br />

Königspalast von Benin geplündert und die Kriegsbeute als<br />

Reparation nach England gebracht wurde. Andere Teile des<br />

Palastinventars, das teils dynastischen und rituellen Zwecken gedient<br />

hatte, teils bereits als „historisches Archiv“ abgelegt worden war,<br />

gelangten über Händler an der Küste Nigerias auf den europäischen<br />

Kunstmarkt. So tragisch diese Episode der Kolonialgeschichte aus<br />

heutiger Sicht ist, steht sie doch zugleich am Beginn höchster<br />

Wertschätzung für afrikanische Kunst im Westen und dient als<br />

Illustration für die wechselnden und widersprüchlichen Sinnzuschreibungen,<br />

die „leblosen“ Objekten eine wechselvolle Lebensgeschichte<br />

bescheren. Auch wenn die metallenen Platten, Köpfe und<br />

Figuren von, in einer langen Tradition ihres Metiers stehenden<br />

Meistern geschaffen worden waren, war in Benin ihr ästhetischer<br />

Gehalt nur ein untrennbarer Teil kultureller Praktiken zur<br />

Glorifizierung der Herrschaft der Könige. In ihrer Fülle spiegeln die<br />

Werke auch den Reichtum wider, den Benin aus seiner strategischen<br />

Stellung im Handel bezogen hatte – ein Beispiel dafür, wie rasch aus<br />

Gewinnern des Kulturkontakts Verlierer werden konnten.<br />

In Europa spielte bei der „Entdeckung“ der Benin-Kunst der aus<br />

Österreich stammende Direktor des Berliner Museums für Völkerkunde,<br />

Felix von Luschan, eine wichtige Rolle, der für sein Museum eine<br />

bedeutende Sammlung zusammentrug. In Wien gelang es dem<br />

Direktor der anthropologisch-ethnographischen Abteilung des<br />

Naturhistorischen Museums (dem Vorläufer des Museums für<br />

Völkerkunde), Franz Heger, einen Mäzen dazu zu bewegen, ebenfalls<br />

eine große Benin-Sammlung für das Museum zu kaufen. Während in<br />

den ethnologischen Museen die Transformation von Kultgegenständen<br />

in Kunstwerke im Gange war, wurde in der britischen<br />

Kolonie Nigeria das Königtum Benin als Mittel der indirekten<br />

Herrschaft wieder errichtet, dessen Repräsentanten bis heute den<br />

Verlust von 1897 nicht verschmerzt haben. Gegen Ende der<br />

Kolonialzeit begannen nigerianische Museen mit dem Rückkauf von<br />

Benin-Werken (damals noch relativ preisgünstig) – nicht für die


Könige von Benin, sondern als Teil des historischen Erbes<br />

der Kolonie. Mit der Unabhängigkeit Nigerias begannen<br />

die Forderungen des Nationalstaats nach Rückstellung<br />

des „nationalen Erbes“ (unterstützt durch Resolutionen<br />

der UNESCO, teilweise unter Leitung eines nigerianischen<br />

Generalsekretärs). Heute stehen sich die<br />

Forderungen des Königshauses und jene Nigerias, mit<br />

jeweils anderer Zielsetzung bezüglich einer weiteren<br />

Verwendung, gegenüber und stoßen gemeinsam auf die<br />

Ablehnung der westlichen Museen.<br />

Foto: Christian Feest<br />

Gedenkkopf eines Königs, Königtum Benin,<br />

Nigeria, 19. Jh.<br />

Museum für Völkerkunde Wien (Slg. W.D.<br />

Webster)<br />

Bei aller Sympathie für beide Forderungen muss man<br />

jedoch die von der Geschichte geschaffenen Tatsachen<br />

anerkennen, die trotz aller damit verbundenen Schmerzen<br />

letztlich nicht umkehrbar sind. Ebenso wenig wie die<br />

Erfindung der Atombombe, lässt sich die Eroberung<br />

Amerikas rückgängig machen, und wenn die Kriegsbeute<br />

von 1897 zurück nach Afrika ginge, müssten wohl<br />

auch die Schweden die im Dreißigjährigen Krieg aus der<br />

Prager Burg verschleppten Kunstschätze reumütig<br />

zurückgeben.<br />

<strong>Die</strong> Anerkennung historischer Fakten bedeutet aber noch<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

nicht, dass man nicht nach Wegen suchen sollte, um mit<br />

den bis in die Gegenwart wirkenden Folgen angemessen<br />

umzugehen. In dieser Hinsicht stellt die Wiener<br />

Ausstellung auch ein wichtiges Signal dar, da an ihrer<br />

Vorbereitung alle an dem historischen Geschehen<br />

Beteiligten mitgewirkt haben: das British Museum als<br />

Institution der ehemaligen Kolonialherren, der Nationalstaat<br />

Nigeria, und die königliche Familie von Benin<br />

haben Leihgaben beigesteuert; Vertreter Benins und<br />

Nigerias wirkten bei einem Symposium im Anschluss an<br />

die Eröffnung mit und setzten damit einen wichtigen<br />

Schritt der Vertrauensbildung, die für die Anerkennung<br />

der gemeinsamen Verantwortung für die Werke Benins<br />

notwendig ist. So kann möglicherweise ein Prozess in<br />

Gang gesetzt werden, an dessen Ende gemeinsam<br />

entwickelte Alternativen zu dem entweder/oder von<br />

Rückstellung und ihrer Verweigerung stehen könnten.<br />

Immerhin nahmen die Vertreter Benins lobend zur<br />

Kenntnis, dass die Schätze aus ihrem Königspalast vor<br />

allem auch in ihrer ursprünglichen Bedeutung als<br />

Ritualgegenstände und nicht nur als Kunstwerke gezeigt<br />

wurden. Denn ungeachtet der Empfindungen der jeweiligen<br />

Betrachter, ist es auch eine historische Tatsache,<br />

dass diese Dinge nicht nur entweder Ritualgegenstände,<br />

nationales Erbe oder Werke der Weltkunst sind, sondern<br />

all dies zur gleichen Zeit. Globale Koexistenz funktioniert<br />

nur auf dem wechselseitigen Respekt vor den<br />

unterschiedlichen Sinngebungen, die man Dingen und<br />

Handlungen zuschreibt.<br />

Und damit sind wir schon beim Thema „Fortsetzung<br />

folgt“. Der baulichen Sanierung des Corps de Logis der<br />

Neuen Burg folgt nun die inhaltliche Sanierung des<br />

Museums für Völkerkunde. <strong>Die</strong> Benin-Ausstellung war<br />

nur ein Vorschuss auf ein Programm kleinerer und<br />

größerer Sonderausstellungen und schließlich auf die<br />

Neugestaltung der Schausammlung, an der seit der<br />

Schließung des Museums gearbeitet wird und die ab<br />

2008 verwirklicht werden soll. Seit Gründung des<br />

Museums im Jahr 1928 hat sich die Welt rasant verändert.<br />

Mobilität und Kommunikation hat die Welt deutlich<br />

kleiner werden lassen, auf den Inseln der Südsee oder<br />

Karibik, von denen man früher in Anfällen von<br />

Zivilisationsflucht nur träumen konnte, fliegt man heute<br />

auf Urlaub. <strong>Die</strong> großen Migrationsströme der letzten<br />

Jahrzehnte haben die Grenzen zwischen „uns“ und „den<br />

Anderen“ mitten in die eigene Gesellschaft verlegt.<br />

Niemals war es wichtige, die Gründe für die kulturelle<br />

Vielfalt der Menschheit und ihre Bedeutung für das<br />

Überleben der Welt zu verstehen. Museen als Sammlungen<br />

von Dokumenten dieser kulturellen Vielfalt sind<br />

Orte der Bewahrung notwendigerweise der Vergangenheit<br />

verpflichtet, sie richten sich aber an ein Publikum<br />

der Gegenwart, für das die Vergangenheit (auch die<br />

Wiener Institut – Völkerkunde Museum<br />

83


<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

eigene) oft unverständlicher und „fremder“ ist als die<br />

Lebensentwürfe anderer Kulturen. Zugleich müssen sie<br />

dem Betrachter die Geschichtlichkeit des Dargestellten<br />

deutlich machen, Kultur als anhaltenden Prozess und<br />

nicht als statisches Produkt zeigen. Sie müssen den Blick<br />

für die Tatsache öffnen, dass menschliche Gesellschaften<br />

auf Dauer niemals Inselcharakter hatten, sondern stets<br />

im Austausch mit ihren Nachbarn standen.<br />

Neben dem weiterhin wichtigen Ziel der Erklärung des<br />

Lokalen muss in ethnologischen Museen unserer Zeit<br />

verstärkt der Kulturvergleich treten, die Auslotung der<br />

Bandbreite der kulturellen Artikulation des Menschen<br />

– die Vielfalt in der Einheit – deren Untersuchung einen<br />

wichtigen Traditionsstrang unserer Wissenschaft<br />

darstellt. Ethnologische Museen sollten sich aber auch<br />

der Möglichkeiten und Beschränkungen bewusst sein,<br />

die aus der Materialität ihrer Bestände, ihrer Entfremdung<br />

aus sinnstiftenden Lebenszusammenhängen, und<br />

(siehe Benin) ihrer Veränderung durch Einbettung in<br />

unsere eigene Kultur entstehen und – anstatt sie zu<br />

kaschieren – selbst zum Thema der Betrachtung zu machen.<br />

Aus historischen Gründen haben die ethnologischen<br />

Museen ein wenig den Anschluss an die<br />

Entwicklungen des eigenen Fachs verloren. Aber sie<br />

haben auch die Chance, ihre allzu selten als Quelle der<br />

Erkenntnis genutzten Bestände für<br />

die Weiterentwicklung einer etwas allzu mentalistisch<br />

und präsentistisch gewordenen akademischen Disziplin<br />

einzubringen. „Museum neu“ bedeutet also auch einen<br />

größeren Stellenwert für die Forschung, ohne die es<br />

niemals spannende Ausstellungen geben wird.<br />

Demnächst in diesem Museum … �<br />

Christian Feest ist Direktor des Museums für Völkerkunde<br />

Wien und unterrichtet Kultur- und Sozialanthropologie an<br />

der Universität Wien.<br />

84<br />

Wiener Institut – Völkerkunde Museum<br />

Foto: Christian Feest<br />

Reliefplatte: Portugiese mit fünf Manillas<br />

Königtum Benin, Nigeria, 16./17. Jh.<br />

Museum für Völkerkunde Wien (Slg. A.<br />

Maschmann)


Studentisches Engagement –<br />

IG und STV: Was ist das?<br />

Bei den Hochschülerschaftswahlen 2007 (22. - 24. Mai)<br />

wurde die neue Studienvertretung Kultur- und<br />

Sozialanthropologie gewählt. Seit Anfang Juli arbeitet<br />

die STV also in neuer Besetzung: Eine Gelegenheit sie<br />

gemeinsam mit der Institutsgruppe vorzustellen.<br />

<strong>Die</strong> Studienvertretung (STV)<br />

<strong>Die</strong> STV der Kultur- und Sozialanthropologie ist die<br />

Interessenvertretung der Studierenden. Als solche<br />

beeinflusst sie die Institutspolitik u.a. durch die<br />

Teilnahme von Vertreter/innen in Gremien wie den<br />

Arbeitsgruppen für Curricula oder der Studienkonferenz<br />

(Stukon). <strong>Die</strong> Studienvertreter/innen sind<br />

gleichzeitig auch Mitglieder der Institutsgruppe (IG). In<br />

diesem Rahmen organisieren sie die Inskriptionsberatung,<br />

die Erstsemestrigentutorien und die während<br />

der Semester stattfindenden Journaldienste (Studienberatungen).<br />

Darüber hinaus leistet die STV finanzielle<br />

Unterstützung bei verschiedenen Projekten (wie etwa<br />

das Radioprojekt „Ethnowelle“ oder die Zeitschrift „<strong>Die</strong><br />

<strong>Maske</strong>“) und organisiert Seminare, Veranstaltungen und<br />

Hörerinnen- und Hörerversammlungen.<br />

<strong>Die</strong> neue Studienvertretung KSA sind Verena<br />

Rechberger (Vorsitzende), Sandra Martinz (1.Stellvertreterin),<br />

Christiane Dajeng (2.Stellvertreterin),<br />

Valerie Linner, Florian Hahn<br />

<strong>Die</strong> Institutsgruppe (IG)<br />

<strong>Die</strong> Institutsgruppe der Kultur-und Sozialanthropologie und die darin aktive und neu<br />

gewählte Studienvertretung stellen sich vor<br />

Wie vielen der Basisgruppen (bagru) und Institutsgruppen<br />

(IG) ist es der Institutsgruppe Kultur- und<br />

Sozialanthropologie wichtig, unabhängig zu sein und<br />

eigene Standpunkte zu formulieren. In der IG-KSA<br />

werden Begriffe wie „unabhängig“, „links“, „undogmatisch?“,<br />

„emanzipatorisch“, „basisdemokratisch„<br />

immer wieder explizit diskutiert oder sind zumindest oft<br />

implizit der Ausgangspunkt für das tägliche Engagement<br />

am und übers Institut hinaus. Durch ihre<br />

wöchentlichen Plena unterstützt die IG die Studienvertretung,<br />

einerseits bei der Entscheidungsfindung im<br />

Rahmen der studentischen Vertretung am Institut und<br />

andererseits bei der Durchführung von diversen<br />

Projekten. Neben studiumsergänzenden Aktivitäten<br />

bietet die IG auch einen guten Rahmen für<br />

bildungspolitische, aber auch außeruniversitäre Belange.<br />

<strong>Die</strong> IG verändert sich ständig, abhängig davon, wer<br />

gerade aktiv in, um und an ihr mitarbeitet. Mach dir also<br />

am besten selbst ein Bild von der IG und deiner STV und<br />

komm zu einem der wöchentlichen IG-Plena (jeden<br />

Donnerstag um 20:00 Uhr im STV-Kammerl, Zimmer C<br />

419, NIG 4. Stock). �<br />

Aus aktuellem Anlass:<br />

Linksammlung<br />

STV-Homepage:<br />

http://www.univie.ac.at/stv-ksa/<br />

Ethnomitschriften:<br />

http://www.ethnomitschriften.at/<br />

Studierendenforum:<br />

http://www.univie.ac.at/stv-ksa/forum/<br />

Kontakt: stv.ksa@univie.ac.at<br />

von der IG-KSA<br />

Wir möchten einen „Studienleitfaden<br />

für das neue Bachelorstudium“<br />

entwerfen. Dafür würden wir uns<br />

besonders über die Mitarbeit von<br />

Erstsemestrigen freuen, da u. a. eure<br />

Fragen Ausgangspunkt für diesen<br />

Leitfaden sein sollen. Wer Erfahrungen<br />

im studienrechlichen und/oder redaktionellen<br />

Bereich sammeln möchte,<br />

melde sich bitte unter:<br />

stv.ksa@univie.ac.at.<br />

Wiener Institut<br />

85


Renate Fiala – Ein Porträt<br />

Wer in Wien KulturundSozialanthropologie<br />

studiert, kommt sehr<br />

schnell mit Renate Fiala in<br />

Kontakt. Sie betreut u.a.<br />

das von ihr selbst programmierteVictoria-Anmeldesystem<br />

und ist somit auch<br />

die erste Anlaufstelle für<br />

Kummer und Frust derer,<br />

die keinen Platz in der<br />

gewünschten LV erhalten<br />

haben. Renate Fiala steht<br />

aber auch denjenigen<br />

StudentInnen mit Rat und Tat zur Seite, die sich bei<br />

Anträgen und Bestätigungen verschiedenster Art an sie<br />

wenden. Was allerdings die wenigsten vermuten, ist,<br />

dass sich hinter der ganzen Energie und Lebensfreude<br />

eine Mathematikerin, Programmiererin und Ethnologin<br />

verbirgt …<br />

Fragt sich nur: Wie kommt eine Mathematikerin ans<br />

Institut für KSA? „Schuld sind die Sami!“ Zumindest im<br />

Fall von Renate Fiala, die sich nach frustrierenden<br />

Erfahrungen als Mathematik-Lehrerin an einer Maturaschule<br />

für den einzigen Erasmus-Studienplatz im<br />

Diplomstudium Mathematik beworben und diesen auch<br />

bekommen hat. So kam es, dass sie ein Jahr im<br />

schwedischen Luleå verbrachte, das nur 80 km südlich<br />

des Polarkreises liegt. Wie vielen AustauschstudentInnen<br />

ist ihr das Zurückkommen sehr schwer<br />

gefallen, doch Renate Fiala wollte ihr Mathematik-<br />

Studium beenden, was ihr in Schweden nicht möglich<br />

gewesen wäre.<br />

Angeregt durch ihre Erfahrungen mit den Sami wollte<br />

sie sich nun auch in Wien intensiver mit deren Kultur<br />

und Lebensweise beschäftigen und beschloss deshalb<br />

kurzerhand, zusätzlich zur Mathematik, die Fächerkombination<br />

Skandinavistik und Ethnologie zu belegen.<br />

Nach acht Semestern KSA hätte eigentlich nur mehr die<br />

Diplomarbeit für den Abschluss gefehlt, doch es kam<br />

wieder einmal anders als geplant: Nachdem sie ihr<br />

Organisationstalent bei der EASA-Konferenz unter<br />

Beweis gestellt hatte, folgten gleich weitere universitäre<br />

Projekte, in die sie vor allem auch ihre langjährige<br />

Erfahrung mit Datenbanken einbringen konnte. Seit<br />

2004 ist Renate Fiala nun Angestellte an der KSA – ein<br />

86<br />

Von der Mathematik zur KSA<br />

SPL-Support am Institut<br />

von EVELINE ROCHA-TORREZ<br />

Wiener Institut<br />

Job, der ihr sichtlich viel Freude bereitet. Deshalb hat sie<br />

es mit der Diplomarbeit auch nicht so eilig. <strong>Die</strong> könnte<br />

sie zwar gut über den Bereich der Organisationsentwicklung<br />

schreiben, den sie ja am Institut selbst aktiv<br />

mitgestaltet, aber „wenn, dann muss die Diplomarbeit<br />

schon zu den Sami sein!“. Das Programmieren der ersten<br />

Ausgabe von Victoria hat über ein Jahr in Anspruch<br />

genommen und die Umstellung auf das Bakkalaureat<br />

bringt natürlich seit Monaten jede Menge Arbeit, die<br />

noch lange nicht zu Ende ist. <strong>Die</strong> Lehrenden müssen<br />

auch organisatorisch versorgt werden; ein Bereich, den<br />

sich Renate Fiala mit dem Sekretariat und einer<br />

Studienassistentin teilt.<br />

Fragt man Renate Fiala danach, was ihr den Kontakt mit<br />

den Studierenden am meisten vergällt, dann kommt die<br />

Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Dass sie nicht<br />

lesen können!“ Naja, lesen können sie zwar, aber sie<br />

tun´s wohl sehr oft nicht. Da hilft es auch nicht, wenn<br />

man die Dinge auf die Homepage stellt, auf Infoblätter<br />

schreibt … Was Frau Fiala auch stört, sind StudentInnen,<br />

die nur so lange auf Biegen und Brechen ein Seminar<br />

besuchen wollen, solange sie glauben, dass es eine<br />

Pflicht-LV sei. Leute, die nicht einmal einen Blick ins<br />

Vorlesungsverzeichnis riskieren, bevor sie fragen<br />

kommen, sind auch eine Herausforderung der eigenen<br />

Geduld. <strong>Die</strong>se hat Renate Fiala zwar im Übermaß, aber<br />

wenn sich Leute absolut nur die Rosinen rauspicken<br />

wollen und so tun, als würde die Welt zusammenbrechen,<br />

wenn sie nicht ihre Lieblings-LV bekommen,<br />

dann kann auch sie einmal grantig werden. Dafür freut<br />

sich Renate Fiala aber auch sehr, wenn sie helfen kann<br />

und StudentInnen voller Begeisterung sind, weil sie<br />

doch noch einen der gewünschten Plätze bekommen<br />

haben. Auch Kleinigkeiten, die zeigen, dass die<br />

StudentInnen mitdenken, wenn sie nicht das halbe<br />

Institut mit ihren Anfragen beschäftigen, sondern nur<br />

diejenigen, welche die Angelegenheit wirklich betrifft,<br />

freuen sie.<br />

Bleibt nur zu hoffen, dass Renate Fiala noch lange am<br />

Wiener KSA-Institut bleibt. Denn: Lust hätte sie schon,<br />

wieder zu den Sami zu gehen. Allerdings: „Wenn ich das<br />

mach, dann bleib ich dort. So ein hin und her wär nichts<br />

für mich …“ �


Von der Schublade<br />

ins Internet<br />

Der Verein textfeld (vormals mnemopol) setzt sich für<br />

mehr Online-Publikationen an österreichischen<br />

Universitäten ein und beginnt bei den ForscherInnen<br />

von morgen: bei den Studierenden.<br />

Es war im Frühjahr 2001, als vier Studierende der<br />

Universität Wien eine Idee hatten: Uni-Arbeiten sind zu<br />

schade, um nach deren Abgabe in diversen Schubladen<br />

zu verschwinden; Immerhin werden jedes Semester<br />

unzählige Arbeitsstunden ins Recherchieren und<br />

Schreiben investiert. Vielmehr sollte das relativ neue<br />

Medium Internet dazu benutzt werden, um diese Texte<br />

einfach und kostengünstig zu veröffentlichen, ohne die<br />

Hindernisse des Print-Publikationssystems.<br />

Aufbau<br />

textfeld ermöglicht es jungen ForscherInnen von der Seminararbeit bis zur Dissertation ihre<br />

Arbeiten publik zu machen.<br />

Im Herbst 2001 ging schließlich die Webpräsenz<br />

mnemopol.net online, die Vorgängerin von textfeld.ac.at.<br />

Dem nicht-kommerziellen Grundgedanken entsprechend,<br />

sollten Publikation und Download für die BenutzerInnen<br />

kostenlos sein. Methode der Wahl war eine<br />

Online-Datenbank mit kopiergeschützten PDF-Dateien.<br />

Dank der Kooperationen mit der Bundes-ÖH,<br />

science.orf.at und derStandard.at/wissenschaft erfuhren nun<br />

immer mehr Studierende von dem Projekt und steuerten<br />

ihre Seminar- und Diplomarbeiten bei.<br />

So erfreulich diese Entwicklungen waren, so wenig<br />

passierte auf der materiellen Seite. Ein weiterer Ausbau<br />

war aber ohne finanzielle Unterstützung nicht zu<br />

machen. Auch das Zeitbudget der ehrenamtlichen<br />

MitarbeiterInnen war begrenzt, schließlich musste das<br />

Studium vorangetrieben und finanziert werden. So<br />

fristete die Website noch einige Jahre ihr Dasein auf<br />

Sparflamme. Umso überraschender kam es dann, als im<br />

November 2006 die Fördergelder für den Relaunch vom<br />

damaligen Ministerium für Bildung, Wissenschaft und<br />

Kultur (BMBWK) genehmigt wurden. Jetzt waren die<br />

finanziellen Mittel da, um die Website technisch auf den<br />

neuesten Stand zu bringen und sie auch bekannter zu<br />

machen. Das damals dreiköpfige Team erstellte das<br />

Konzept während für die Ausführung ein<br />

Datenbankprofi und eine Grafikerin unter Vertrag<br />

genommen wurden. Nach Monaten der Entwicklungs-<br />

arbeit (neben Studium oder eigentlichem Broterwerb)<br />

konnte die neue Website im Sommer 2007 der<br />

Öffentlichkeit präsentiert werden. Sie bekam auch einen<br />

neuen handlicheren Namen verpasst: textfeld.<br />

Das Prinzip des kostenlosen PDF-Archivs wurde<br />

weitergeführt, aber im Gegensatz zu mnemopol.net sind<br />

auf textfeld.ac.at nun alle Fachrichtungen und alle<br />

Universitäten Österreichs in der Datenbank vertreten.<br />

Verbessert wurden zudem die Möglichkeiten zur<br />

Selbstpräsentation, Vernetzung mit den UserInnen und<br />

Verlinkung mit anderen Texten auf der Plattform. Seit<br />

September erscheinen wieder neue Rezensionen von<br />

Bakkalaureats- und Diplomarbeiten in einem eigenen<br />

Channel auf derStandard.at. Auch die UserInnen sind<br />

hierbei involviert und sind eingeladen (für ein Honorar<br />

von 40 Euro) Rezensionen zu verfassen. So ist das<br />

öffentliche Augenmerk für die Arbeiten auf textfeld.ac.at<br />

weiterhin gesichert.<br />

Zukunft<br />

von THOMAS MÜLLER<br />

Das langfristige Ziel ist die stärkere Etablierung von<br />

Online-Publikationen im universitären Betrieb. Der<br />

angelsächsische Raum lebt bereits vor, wie eine Welt<br />

ohne überteuerte Journals und langsame Verlagsabläufe<br />

aussehen kann. In Österreich kommt erst langsam<br />

Bewegung in die alten Publikationsstrukturen.<br />

textfeld konzentriert sich dabei vorerst auf junge<br />

ForscherInnen. Geplant ist die Zusammenarbeit mit<br />

SeminarleiterInnen und Studierenden, um gemeinsam<br />

inhaltliche Schwerpunkte auf der Seite zu setzen (so<br />

genannte „Themencluster“). Ein erster Versuch wird mit<br />

dem Thema „Netzwerke“ und dem Fach Publizistikund<br />

Kommunikationswissenschaft Ende 2007 gestartet.<br />

Aber auch gegenüber einer Zusammenarbeit mit der<br />

Kultur- und Sozialanthropologie ist der Verein<br />

aufgeschlossen, denn an interessanten Texten dürfte es<br />

hier nicht mangeln. �<br />

Thomas Müller ist Absolvent der Publizistik- und<br />

Kommunikationswissenschaft (Universität Wien) und seit<br />

2001 Mitarbeiter beim Verein textfeld.<br />

http://www.textfeld.ac.at<br />

Wiener Institut<br />

87


Das Studium der Volkskunde<br />

Was ist Europäische Ethnologie? Eine Kulturwissenschaft<br />

des Alltags, die Kultur in ihrem<br />

weitesten Sinne auffasst; als das was Menschen in und<br />

mit ihren Alltagen tun. Somit können Mixer ebenso<br />

Untersuchungsgegenstand sein wie das Reisen in<br />

Mitfahrgelegenheiten, Einweihungsfeten oder der<br />

Schnellimbiss. In diesem Fachverständnis einer Kulturund<br />

Sozialwissenschaft des Alltags, entwickelte sich die<br />

Europäische Ethnologie aus der Volkskunde, die sich<br />

„vormodernen Kulturen“ verpflichtet sah und im 19.<br />

Jahrhundert erstarkte.<br />

Das Wiener Institut wurde nach der Berufung Konrad<br />

Köstlins am 1. Januar 2000 von Institut für Volkskunde in<br />

Institut für Europäische Ethnologie umbenannt. Doch die<br />

Studienrichtung heißt nach wie vor Volkskunde. Bislang<br />

gliedert sie sich in zwei Studienabschnitte. Der erste<br />

dient dem Grundstudium, während der zweite<br />

Abschnitt mit einer Diplomarbeit abgeschlossen wird.<br />

Ab dem Wintersemester 2008/2009 ist auch hier eine<br />

Umstellung auf den Bakkelaureats- und Masterstudienplan<br />

geplant.<br />

Nach Informationen von Konrad Köstlin kommt das<br />

Institut derzeit auf etwa 500 Studierende, einschließlich<br />

der rund 100 DiplomandInnen und DissertantInnen.<br />

Regelmäßig sieht man davon ungefähr 120 Studierende.<br />

Dadurch ist das Institut vergleichsweise klein und die<br />

StudentInnen werden sehr gut betreut. Es findet eine<br />

rege Zusammenarbeit zwischen dem Institut und den<br />

StudienrichtungsvertreterInnen statt, was sich nicht nur<br />

bei den Institutsfesten zeigt. <strong>Die</strong>se Zusammenarbeit und<br />

Förderungen der StudentInnen wird z. B. beim Kauf von<br />

Diktiergeräten für die Feldforschung deutlich oder<br />

dadurch, dass das Institut für die Ideen der<br />

Studierenden offen ist. So wird derzeit beispielsweise<br />

eine studentische Veranstaltungsreihe mit Filmabenden<br />

und Lesungen entwickelt.<br />

Der Zusammenhang zwischen Forschung und Lehre<br />

wird durch die regelmäßig stattfindenden Studienprojekte<br />

gestärkt. Unter der Leitung einer oder eines<br />

Lehrenden wird ein mehrere Semester dauerndes<br />

Forschungsprojekt durchgeführt. Um zwei Beispiele zu<br />

88<br />

Das Institut der Europäischen Ethnologie in Wien<br />

bietet eines der kreativsten Fächer<br />

von MALTE BORSDORF<br />

Vernetzung – Deutschsprachige Institute<br />

nennen: Das von Elisabeth Timm geleitete<br />

Studienprojekt „Das Herz“ mündete in der Veröffentlichung<br />

eines wissenschaftlichen Kalenders, während<br />

das Projekt „Leben und Überleben im Konzentrationslager<br />

Dachau“ von Michaela Haibl derzeit mit der<br />

Ausstellung „Zeit. Raum. Beziehung.“ in der Gedenkstätte<br />

Dachau und einer Publikation abgeschlossen wird.<br />

Auch andere Lehrveranstaltungen sind sehr praxisnah.<br />

So etwa das von Klara Löffler geleitete Seminar „<strong>Die</strong><br />

Tücke des Objekts“ das sich zum Ziel setzt, einen<br />

Aufsatz zur Methodik der Objektanalyse zu schreiben<br />

und zu veröffentlichen.<br />

Vom 7. bis 10. Juni 2007 wurde das jährlich stattfindende<br />

Studierendentreffen der Deutschen Gesellschaft für<br />

Volkskunde in Wien ausgerichtet. Rund 160 TeilnehmerInnen<br />

aus Deutschland, der Schweiz und<br />

Österreich debattierten am Institut und im Österreichischen<br />

Museum für Volkskunde über die Zukunft des<br />

Fachs und feierten ein ausgelassenes Fest im<br />

Gartenbaukino. Ergebnis des Studierendentreffens war<br />

u. a. die Vernetzung der StudentInnen auf einer Wiki-<br />

Internetseite. Außerdem wird momentan eine Publikation<br />

erstellt, die die weiteren Ergebnissen des<br />

Studierendentreffens vorstellt.<br />

Kurzum: ein abwechslungsreiches Studium in einem<br />

schönen Altbau zwischen Burggarten und Albertina. �<br />

Urs Malte Borsdorf studierte Europäische Ethnologie in<br />

Innsbruck. Derzeit Magisterstudium am Institut für<br />

Europäische Ethnologie in Wien. Veröffentlichungen in<br />

Anthologien, Literatur- und Fachzeitschriften (bricolage,<br />

Schreibkraft, Podium u. a.).<br />

Internet<br />

Institut für Europäische Ethnologie: http://euroethnologie.univie.ac.at<br />

Studierenden-Wiki: http://www.ku-wi.net<br />

Österreichisches Museum für Volkskunde:<br />

http://www.volkskundemuseum.at<br />

Deutsche Gesellschaft für Volkskunde: http://www.d-g-v.org/


Ethnologik – München<br />

„Fremdes macht Sinn! – In unserem unermüdlichen<br />

Versuch fremde Lebensentwürfe zu verstehen, stoßen<br />

wir Ethnologen bisweilen an ernst zu nehmende Grenzen.<br />

Das im Feld Beobachtete kann schließlich nur mit<br />

den eigenen Kategorien erfasst, geordnet und beschrieben<br />

werden. Aber diese Erkenntnis ist nicht das Ende der<br />

Ethnologie. Im Gegenteil! – Sie gehört zu ihren großartigsten<br />

Leistungen!“ (Ethnologik 2007a: 3).<br />

Und gerade deshalb macht es Sinn, sich mit fremden<br />

Perspektiven auseinanderzusetzen. Nicht um zu werten,<br />

nicht um zu entwickeln, sondern um das eigene Denken<br />

zu bereichern und das volle Potential des "Menschseins"<br />

in einer gemeinsam bewohnten Welt sichtbar zu machen.<br />

Wir wollen ethnologische Themen daher nicht nur<br />

innerhalb unseres eigenen Faches diskutieren, sondern<br />

möglichst auch einer breiteren Öffentlichkeit nahe<br />

bringen.<br />

Mit diesem Vorsatz machte sich unsere Redaktion im<br />

Herbst 2005 an eine Neuauflage der schon lange existierenden<br />

Institutszeitschrift. Das Leitthema der ersten Ausgabe<br />

im Frühjahr 2006 „going <strong>public</strong>“ war somit schnell<br />

gefunden. Es folgten die Themen „flower power“ (Ethnologie<br />

ein Orchideenfach?), „Macht“ und „Integration“.<br />

Auf insgesamt sechzig Seiten bemühen wir uns seither<br />

um eine bunte Mischung aus theoretischen und journalistischen<br />

Artikeln, Feldforschungsberichten, Bildern,<br />

Interviews, Satire und vielem mehr. Dabei ist uns die<br />

„Lesbarkeit“ der Zeitung wichtig - keine trockene<br />

Textwüste, sondern abwechslungsreiche Unterhaltung!<br />

Anthropologische Zeitschrift von engagierten StudentInnen<br />

von der ETHNOLOGIK-REDAKTION<br />

So hoffen wir einen kleinen Einblick in die Vielfalt<br />

ethnologischer Themen zu ermöglichen. Darüber hinaus<br />

legen wir Wert auf interdisziplinäres Arbeiten, denn der<br />

sprichwörtliche „Blick über den eigenen Tellerrand“ ist<br />

bei uns Programm.<br />

Mit der Rubrik „Normal in München“, die etwa ein<br />

Drittel der Zeitschrift umfasst, greifen wir konkrete<br />

Themen im Münchener Alltag heraus und recherchieren<br />

diese vor Ort mittels Feldforschung und Interviews. „Es<br />

ist der Versuch, einen kleinen Einblick in die<br />

Lebenswelten einzelner Münchener Mitmenschen zu<br />

erlangen“ (Ethnologik 2006a: 38). So recherchierten wir<br />

beispielsweise für die Herbstausgabe 2006 als<br />

teilnehmende Beobachter in einem integrierten<br />

Wohnheim für geistig Behinderte und Studenten und in<br />

unserer aktuellen Ausgabe widmen wir uns der Frage<br />

nach der Integration muslimischer Mitbürger in<br />

München.<br />

<strong>Die</strong> Ethnologik erscheint halbjährig mit einer Auflage<br />

von derzeit neunhundert Stück und ist auch im Internet<br />

unter www.ethnologik.de und im NIG Facultas verfügbar.<br />

Bestellbar ist die Zeitschrift über folgende Adresse:<br />

Redaktion Ethnologik, Institut für Ethnologie und<br />

Afrikanistik der Universität München, Oettingenstraße<br />

67, 80538 München. Artikel können gerne per e-mail an<br />

ethnologik@gmx eingeschickt werden. �<br />

Mit besten Grüßen nach Wien,<br />

die Ethnologik-Redaktion<br />

Vernetzung – Zeitschriftenporträts<br />

89


Anthropologische Zeitschrift von engagierten StudentInnen<br />

von der CARGO-REDAKTION<br />

<strong>Die</strong> Cargo – Halle<br />

Gibt es eine Plattform, auf der Theorien, Perspektiven,<br />

Denkansätze und Debatten der Ethnologie<br />

unabhängig und frei diskutiert werden können? Ja: die<br />

Cargo – Zeitschrift für Ethnologie! Erstmals erschien die<br />

Zeitschrift im Jahre 1980. Seither sind durch wechselnde<br />

Redaktionen in unterschiedlichen Universitätsstädten 26<br />

Ausgaben entstanden. 2003 schlief das Projekt ein, doch<br />

im April 2006 wurde durch einen Appell aus Göttingen,<br />

das studentische Zeitschriftenprojekt nicht aufzugeben,<br />

die Cargo offiziell aus ihrem Schlummerzustand geholt.<br />

So kam es, dass sich schließlich eine kleine Gruppe von<br />

Hallenser StudentInnen der Cargo angenommen hat und<br />

im Frühjahr 2007 mit Hilfe aus Göttingen die 27.<br />

Ausgabe herausgab.<br />

Vor der anstehenden Neuauflage galt es einige Fragen zu<br />

klären. So stand zu Beginn nicht fest, ob die Cargo<br />

weiterhin Cargo heißen würde. Sollte man wirklich<br />

einen Namen wählen, der an einen Tropenhelm tragenden<br />

Ethnologen denken lässt? Ja, auf jeden Fall, denn<br />

was ist interessanter, als eine stereotype Vorstellung mit<br />

offenen und breit gefächerten Inhalten zu füllen?<br />

Ohne lang zu überlegen, übernahmen die „neuen<br />

Cargoten“ die Prämissen der Vergangenheit. So liest<br />

man in der Ausgabe 22: „ohne Hierarchien, offen für alle<br />

(bei uns dürfen sogar Profis schreiben), ohne Zensur,<br />

aber mit Anspruch“. Des Weiteren wurde eine Sache nie<br />

angezweifelt: <strong>Die</strong> Cargo ist und bleibt in erster Linie eine<br />

Zeitschrift von StudentInnen für StudentInnen. So setzt<br />

sich die Redaktion derzeit aus angehenden EthnologenInnen<br />

der Universitäten Halle, Leipzig und Göttingen<br />

zusammen. Wenn es nach den HerausgeberInnen<br />

ginge, könnte es eine Ausbreitung von Hamburg bis<br />

nach München geben. Ein Netzwerk zu schaffen ist eine<br />

der Intentionen der Cargo-RedakteurInnen.<br />

Gegenwärtig arbeiten neun EthnologiestudentInnen<br />

daran, dass es im kommenden Frühjahr 2008 die<br />

Ausgabe 28. geben wird. In Gedanken ist man auch<br />

schon bei Nummer 29., 30. und Folgenden. (Da hat das<br />

LangzeitstudentInnendasein doch gleich einen Anreiz<br />

mehr…) Ziel ist es, jedes Jahr eine bis zwei Cargos mit<br />

einer Auflagenstärke von 500 Stück und wechselnden<br />

Themenschwerpunkten zu drucken. <strong>Die</strong>se sind dann für<br />

drei Euro auf dem Völkerkundemarkt (bei euren<br />

Fachschaften oder im Internet) natürlich auch für Nicht-<br />

EthnologInnen zu erwerben. <strong>Die</strong> Inhalte der Cargo<br />

beziehen sich auf vielfältige Fragestellungen rund um<br />

90 Vernetzung – Zeitschriftenporträts<br />

die Ethnologie, aber auch artverwandter<br />

Fachrichtungen. Aktualität wird groß geschrieben, sei es<br />

die derzeitige MigrantInnendebatte in Deutschland, die<br />

Umstellung des Studiums auf BA/MA-Abschlüsse, oder<br />

die Perspektiven der Ethnologie als gesellschaftlich<br />

relevantes Fach.<br />

Falls jetzt noch Fragen auf eurer Seele brennen, schaut<br />

auf der Homepage unter www.cargo-zeitschrift.de vorbei.<br />

Dort erfahrt ihr unter anderem auch, wie und wo die<br />

Cargo käuflich zu erwerben ist und an wen ihr euch<br />

wenden müsst, um ins Cargo-Boot einzusteigen.<br />

Vergesst eines nicht: <strong>Die</strong> Cargo will Platz zum<br />

Ausprobieren bieten, sowie die Möglichkeit, sich neben<br />

der Uni im journalistischen beziehungsweise wissenschaftsjournalistischen<br />

Schreiben und in redaktioneller<br />

Arbeit zu versuchen. Jeder kann sich angesprochen<br />

fühlen, mitzumachen und los zu schreiben. Also: Nur<br />

Mut und ran an die Füllfederhalter oder Notebooks! �


CLTR – Zürich<br />

Irgendwann, irgendwo, irgendwie, geisterte der Gedanke,<br />

ethnologischen Themen auch mal ausserhalb der<br />

Hörsäle in unterschiedlichen Formen Präsenz zu<br />

verschaffen, durch die Köpfe einiger Züricher Ethnostudis.<br />

Das Frühjahrssemester 07 näherte sich schon<br />

langsam dem Ende, als an einem warmen Sommerabend<br />

bei kühlem Bier ganz offiziell die AG Medien gegründet<br />

wurde. Ah ja, AG von wegen Arbeitsgruppe, nix mit<br />

Aktien … um auch gleich die ersten Missverständnisse<br />

aus dem Weg zu räumen. Von Radioprogrammen war da<br />

die Rede, und von Homepages, Blogs, Zeitschriften,<br />

Fotoausstellungen, Podcasts und Filmfestivals. An Ideen,<br />

was so eine AG Medien alles auf die Beine stellen könnte,<br />

mangelte es jedenfalls nicht.<br />

Nach einem langen und ziemlich tiefen Sommerschlaf<br />

wurde der harte Kern der AG denn auch sofort wieder<br />

aktiv und langsam aber sicher wurde auch klar, dass als<br />

erster Schritt eine Zeitschrift ins Leben gerufen werden<br />

sollte. Als nächstes galt es natürlich einen passenden<br />

Namen für unser Heft zu finden. Nach einem längeren<br />

Aushandlungsprozess stand fest: CLTR heisst die erste<br />

Zürcher Ethno-Zeitschrift.<br />

CLTR ist eine Anspielung an die Begriffe culture/cultura<br />

aus dem Wortschatz verschiedenster Sprachen und an<br />

das täglich benutzte „Ctrl“ der Computertastatur: CLTR<br />

steht für den Umgang mit ethnologisch relevanten<br />

Themen in einem neuen Jahrtausend, für eine kritische<br />

Betrachtung aktueller Themen in der Welt: Weit weg von<br />

Zürich, gleich um die Ecke oder in sozialen Hyperspaces,<br />

wie dem Internet.<br />

Unterdessen hat der Kaffee an den Redaktionssitzungen<br />

das frühsommerabendliche Bier ersetzt, es wurden<br />

Druckkosten verglichen und Autor (-en und -innen) gesucht<br />

und gefunden. <strong>Die</strong>se widmen sich in der erste<br />

Ausgabe dem, was Wikipedia als den „archimedischen<br />

Anker“ unseres Faches beschreibt: dem Fremden. Einem<br />

Begriff, der der Ethnologie seit längerem suspekt zu sein<br />

scheint, aber nichts an Aktualität eingebüßt hat.<br />

Interviews, Reportagen, Analysen, Buchrezensionen<br />

aber auch künstlerische Beiträge werden aus den<br />

unterschiedlichsten Perspektiven heraus Blicke auf den<br />

„archimedischen Anker“ werfen.<br />

Mehr soll jetzt aber noch nicht verraten werden; ab Mitte<br />

Februar des kommenden Jahres wird CLTR schliesslich<br />

an der Uni Zürich käuflich erwerbbar sein und in<br />

Anthropologische Zeitschrift von engagierten StudentInnen<br />

Zukunft ein Mal pro Semester erscheinen. Weitere Infos<br />

findet ihr auch im virtuellen Zuhause unseres<br />

Fachvereins: www.fvez.ch oder direkt per Mail an:<br />

agmedien@gmail.com.<br />

Ganz im Sinne der Globalisierung streben wir auch eine<br />

Vernetzung mit anderen Zeitschriften im Deutschsprachigen<br />

Raum an. Wer also Lust verspürt die Computertastatur<br />

auch mal außerhalb von Seminararbeiten zu<br />

quälen, soll sich doch bei uns melden!<br />

Wie der Name AG Medien vermuten lässt, haben wir<br />

natürlich unsere übrigen Ideen nicht verworfen; Ziel ist<br />

es, ethnologische Themen nicht nur via Printmedien zu<br />

verbreiten, sondern auf das gesamte Spektrum medialer<br />

Ausdrucksmöglichkeiten zurückzugreifen. Fotoausstellungen,<br />

Filmfestivals, Podcasts und ähnliches stehen<br />

somit weiterhin zur Diskussion und sollen Studierenden<br />

eine Möglichkeit bieten, sich in Medienaktivitäten zu<br />

üben. Also, was auch immer ihr macht, kontaktiert uns!<br />

Nicht nur Schreiberlinge, auch FotografInnen, FilmemacherInnen,<br />

ComiczeichnerInnen und KünstlerInnen aller<br />

Art sind willkommen! �<br />

www.fvez.ch<br />

agmedien@gmail.com<br />

von der AG MEDIEN<br />

Vernetzung – Zeitschriftenporträts<br />

91


92 Vernetzung<br />

Ein kurzer Abriss zum Projekt <strong>Maske</strong><br />

von der MASKE-REDAKTION<br />

<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> –<br />

The story continues…<br />

Es läuft! Und zwar gut!<br />

Mit der Zeit kristallisierte sich vor allem eines heraus:<br />

<strong>Die</strong> MASKE herauszugeben – das ist ein Fulltimejob. <strong>Die</strong><br />

Doppelbelastung durch Studium und redaktionelle Arbeit<br />

ist nur dann zu schaffen, wenn es engagierte MitarbeiterInnen<br />

gibt, die die Zeitschrift als ihr eigenes Projekt<br />

anerkennen. Im vergangenen Semester gab es eine starke<br />

Teamumstrukturierung – die Köpfe hinter der MASKE<br />

verändern sich also, aber die MASKE bleibt. Wir haben<br />

Verstärkung im Kernteam (Wilhelm Binder, Birgit Pestal,<br />

Ursula Probst), beim Layout (Mathias Wittau), beim<br />

Lektorat (Malte Borsdorf, Martina Leovac, Lisa Ringhofer)<br />

und bei Fragen der professionellen Buchhaltung<br />

und des Web-Auftrittes erhalten. Aus dem Kernteam der<br />

ersten Ausgabe ist nur die Gründerin der Zeitschrift,<br />

Norma Deseke, erhalten geblieben, die das Projekt heute<br />

engagiert am Leben erhält und den Überblick bewahrt.<br />

Anthropologische Themen sind durch die Arbeit an der<br />

MASKE für uns praktisch, anschaulich und überaus<br />

brisant geworden. Wir stellen interessante Kontakte her,<br />

diskutieren Beiträge, Konzeptionen, anthropologische<br />

Theorien und Erklärungsmodelle und – wir geraten unter<br />

verschiedenste Arten von Druck, der mit redaktioneller<br />

Arbeit ganz natürlich einhergeht. Unweigerlich<br />

kommen wir dabei auch mal in Verlegenheit, begehen<br />

den einen oder anderen Fauxpas und lernen dazu. <strong>Die</strong><br />

Auswahl an Fehlern scheint groß genug zu sein, wir<br />

versuchen also jeden nur einmal zu machen. Zudem<br />

scheint es notwendig, formale Prozedere zu entwickeln,<br />

die einheitlich sind, sowie Transparenz für die Autor-<br />

Innen zu schaffen. Beim Lektorieren geben wir uns<br />

größte Mühe auch versteckte Ethnozentrismen aufzudecken.<br />

Und da auch StudentInnen für uns schreiben,<br />

geraten wir unter anderem in die brenzlige Situation,<br />

unsere eigenen KollegInnen zu kritisieren. <strong>Die</strong> <strong>Maske</strong><br />

wird zunehmend ein diskursives Projekt.<br />

Für das nächste Semester streben wir auch etwas an, das<br />

wir derzeit das „MASKE- Individualpraktikum“ nennen.<br />

Wir stellen uns vor, dass es künftig möglich sein wird,<br />

bei uns mitzuarbeiten und dafür auch ein Praktikumszeugnis<br />

ausgestellt zu bekommen. <strong>Die</strong>se Möglichkeit<br />

wollen wir evtl. auch StudentInnen anderer Fakultäten<br />

ermöglichen – wobei der Nutzen für das Projekt im Vordergrund<br />

steht. Wir brauchen z.B. rechtliche Beratung,<br />

jemanden der unsere PR und Werbung übernimmt und<br />

Aushilfe bei Verkauf und Anzeigen. Unser Lektorat kann<br />

noch Verstärkung gebrauchen. Auch Illustrationen sind<br />

immer gefragt. Wenn wir dafür Zeit hätten, würden wir<br />

auch gerne einen Weblog betreuen, der zu aktuellen<br />

Geschehnissen am Institut, bzw. in der Anthropologie<br />

allgemein, Stellung nimmt. Anthropologie kann für<br />

StudentInnen durch Mitarbeit bei der MASKE praktisch<br />

und realitätsnah werden, das ist zumindest unsere<br />

Erfahrung. Unterstützen kann man uns natürlich auch<br />

ganz einfach, indem man die MASKE im Freundeskreis<br />

weiterreicht und ins Gespräch bringt. Wir sind ein No-<br />

Budget Projekt – dementsprechend freuen wir uns auch<br />

über stille TeilnehmerInnen, die uns, bzw. den<br />

Kulturverein Pangea mit Spenden unterstützen wollen.<br />

<strong>Die</strong> Nachfrage für die erste Ausgabe ist immer noch<br />

vorhanden – wir planen daher einen Nachdruck<br />

– abhängig von den Geldmitteln die uns nach dem<br />

Verkauf von Ausgabe Nr.2 zur Verfügung stehen<br />

werden. Wenn alles gut geht, ist auch die dritte Ausgabe<br />

der MASKE finanziert – an dieser Stelle wollen wir uns<br />

beim Institut und insbesondere bei Thomas Fillitz für die<br />

moralische als auch finanzielle Unterstützung bedanken.<br />

Für 2008 planen wir eine klarer strukturierte Arbeitsverteilung,<br />

eine konkretere Konzeption sowie auch den<br />

Relaunch unserer Webseite. Gute Ideen sowie MitarbeiterInnen,<br />

die diese auch verwirklichen wollen, sind<br />

gefragt und mehr Vernetzung wird angestrebt. Unser<br />

Anspruch auf Qualität ist hoch und wir nehmen uns vor,<br />

ein Medium für originelle Beiträge zu sein, die<br />

wissenschaftlich und dennoch flott zu lesen sind. Wir<br />

hoffen, das ist uns auch mit dieser Ausgabe gelungen! �<br />

<strong>Die</strong> MASKE-Redaktion<br />

www.diemaske.at<br />

Kulturverein Pangea<br />

Gussenbauerg.1/10, 1070 Wien<br />

Spenden-Knt..Nr.: 03010 923 890<br />

BLZ 14000 BAWAG

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