Anthropology goes public! - Die Maske
Anthropology goes public! - Die Maske
Anthropology goes public! - Die Maske
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INHALT<br />
Salon…...................................Seite 3 - 18<br />
Ulf Hannerz im Gespräch - Norma Deseke & Birgit Pestal<br />
Wiener Lebensstile und Globalisierung - H. Mühlwisch<br />
Islam und Cola - Bernhard Fuchs<br />
Religion imZeitalter der Globalisierung-M.Six-Hohenbalken<br />
Biografien unter globalisierten Verhältnissen - Gerhard Jost<br />
Kolumne…...........................Seite 22 - 24<br />
Wir und die Anderen - Niko Reinberg<br />
Fachgebiete……..................Seite 25 - 39<br />
Anthropologie der Medien - Philipp Budka<br />
Mythen und Medien - Elke Mader<br />
Online-Journalismus/Filmkonsum - B. Fuchs & B. Pestal<br />
World of Warcraft - Birgit Pestal<br />
Ivo Strecker im Gespräch - Ixy Noever & Julia Pontiller<br />
Regionalgebiete…...............Seite 41 - 74<br />
Fremde Länder, Fremde Sitten - G. Fartacek & M. K. Lang<br />
Der Mazdakismus im Iran - Thomas Schmidinger<br />
<strong>Die</strong> alltägliche Gewalt - Ines Garnitschnig<br />
CASOP II - Gudrun Kroner<br />
Menschen im Gaza - Gudrun Kroner<br />
Nach dem Khalifat - Saya Ahmad<br />
Frauenpartizipation in der Türkei - Soma Ahmad<br />
LEEZA- Österreich - Mary Kreutzer<br />
Der Helfer braucht das Opfer - Monika Maria Kalscisc<br />
Hindunationalismus im Cyberspace - Christian Mazal<br />
Seriously Shah Rukh - Mehru Jaffer<br />
<strong>Die</strong> Politisierung der Tanzkultur - Erika Neuber<br />
Indische devadasis einst und jetzt - Eveline Rocha Torrez<br />
Reisen als Kind - Katherina Hammerle<br />
Wiener Institut…................Seite 75 - 87<br />
Nyahbinghi - Werner Zips<br />
Interview Bambi Schieffelin - St. Seitelberger & S. Hofmair<br />
Museum für Völkerkunde neu - Christian Feest<br />
Studentisches Engagement - IG und Stv<br />
Ein Poträt - Renate Fiala - Eveline Rocha Torrez<br />
Von der Schublade ins Internet - Thomas Müller<br />
Vernetzung….......................Seite 88 - 92<br />
Das Studium der Volkskunde - Malte Borsdorf<br />
Profile dreier KSA Zeitschriften - München<br />
„Ethnologik“; Halle „Cargo“; Zürich CLTR<br />
Das Projekt „<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong>“ - <strong>Die</strong> Redaktion<br />
Bücher&Filme...Seite 19/19/20/20/21/40<br />
Normieren, standardisieren, vereinheitlichen - Malte Borsdorf<br />
Grundkonzepte der KSAin der Globalisierungsdebatte-F. Kreff<br />
Einsame Weltmacht - Markus Chvojka<br />
Hinterm Zaun und davor - Malte Borsdorf<br />
The Cooperation - Lydia Garnitschnig<br />
Faszination Bollywood - Lisa Ringhofer<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
herausgegeben von<br />
WILHELM BINDER, NORMA DESEKE, BIRGIT PESTAL, URSULA PROBST<br />
<strong>Anthropology</strong><br />
<strong>goes</strong> <strong>public</strong>!<br />
<strong>Die</strong> zweite Ausgabe der MASKE – Zeitschrift für Kultur und<br />
Sozialanthropologie behandelt im Salon Aspekte der Globalisierung,<br />
das Fachgebiet Medienanthropologie und in der Rubrik Region<br />
widmen wir uns dem Nahen Osten und Indien.<br />
<strong>Die</strong> Anthropologie befindet sich im Wandel, sie ist das Fach der<br />
Globalisierung schlechthin. <strong>Die</strong> Verbindungen zwischen dem lokalen<br />
Lebensraum und den globalen Wirkungszusammenhängen und die<br />
hier entstehenden Kreuzungspunkte fordern die spezifischen Zugänge,<br />
die das Fach bereitstellt. Es liefert Perspektiven und Möglichkeiten,<br />
sich mit den kulturellen Dimensionen aller Lebensbereiche zu<br />
beschäftigen. Globalisierung ist streng genommen nichts Neues,<br />
dennoch erleben wir sie mit einer beispiellosen Beschleunigung und<br />
Intensität, die die Kultur- und Sozialanthropologie vor neue<br />
Herausforderungen stellt.<br />
Globalisierung bedeutet eine neue Zugänglichkeit zur kulturellen<br />
Vielfalt. Neue Medien wie das Internet ermöglichen eine Form der<br />
Vernetzung und Interaktion zwischen Menschen und über Grenzen<br />
hinweg, wie es bisher nicht möglich war. Gerade hier kommt auch den<br />
Massenmedien ihre zentrale Vermittlerposition zwischen Bevölkerung<br />
und Politik zu. Medien konstruieren Realitäten und klammern andere<br />
aus, sie selektieren Informationen und schaffen Deutungshoheiten<br />
über Konzepte.<br />
In diesem Zusammenhang erscheint es bedeutend, Wissen über<br />
Wertekonstruktionen und über die Vielfalt der menschlichen Organisationsformen<br />
zu vermitteln, um Konflikte zu vermeiden, Verständnis<br />
zu erzeugen oder Kritik anbringen zu können. <strong>Die</strong> Anthropologie<br />
liefert dieses Wissen, die Zeit der lediglich fachinternen Diskussionen<br />
ist vorbei – <strong>Anthropology</strong> <strong>goes</strong> <strong>public</strong>. <strong>Die</strong>ser Trend ist z.B. durch die<br />
neuen studentischen Zeitschriften in München, Halle, Zürich und<br />
Wien bemerkbar: <strong>Die</strong> Ethnologik in München nahm ihre<br />
Redaktionsarbeit wieder auf, die <strong>Maske</strong> in Wien wurde gegründet,<br />
StudentInnen in Halle reanimierten die Cargo und jetzt passiert auch<br />
etwas in Zürich, die Projektgruppe AG Medien arbeitet an der ersten<br />
Ausgabe der CLTR. Außerhalb des studentischen Rahmens zeigen sich<br />
ähnliche Tendenzen: So wird Arjun Appadurais The Fear of Small Numbers<br />
auf Deutsch im Suhrkamp Verlag erscheinen, ebenso erscheint im<br />
Herbst 2008 das Handbuch für Globalisierung - anthropologische und<br />
sozialwissenschaftliche Kenntnisse für die Praxis (Suhrkamp) in einer<br />
hohen Auflage. Zweifellos ist es eine spannende Zeit für lebendige,<br />
interdisziplinäre anthropologische Forschung. Eine neue Generation<br />
von AnthropologInnen arbeitet. Wir freuen uns, dabei zu sein! �<br />
Viel Spaß beim Schmökern!<br />
Norma Deseke<br />
Editorial<br />
1
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
hellwach – bei Gewalt gegen Frauen<br />
Das Projekt hellwach greift das Thema<br />
„Gewalt an Frauen“ auf und trägt es mit<br />
Hilfe der kunstpolitischen Interventionen in<br />
den öffentlichen und privaten Raum.<br />
<strong>Die</strong> Mittel, die wie verwenden sind:<br />
großflächige Botschaften und die Zusammenarbeit<br />
mit Gewaltschutz-, Integrationsund<br />
politischen Eintichtungen, der Wirtschaft<br />
und Kunstprojekten. Ziel ist es, das<br />
Thema mit künstlerischen Mitteln breit in<br />
den gesellschaftlichen Diskurs zu bringen<br />
und damit wichtige Präventions- und<br />
Aufklärungsarbeit zu leisten.<br />
<strong>Die</strong> Texte sind zweisprachig: in<br />
deutsch/türkisch und deutsch/serbokroatisch.<br />
Nehmen Sie die Kekse „mit<br />
Inhalt“ und verteilen Sie sie weiter. Ganz im<br />
Sinne des chinesischen Widerstander, als<br />
im 13./14. Jahrhundert die Chinesen mit<br />
Hilfe von Botschaften in Glückskeksen von<br />
den möglichen Besatzern befreien konnten.<br />
Carla Knapp & Angela Zwettler<br />
office@hellwach.info<br />
Spendenkonto: Verein hellwach<br />
PSK 00 510-021-088, BLZ 60000<br />
2 Anzeigen<br />
Von den einzigartigen<br />
Naturschönheiten in COSTA RICA<br />
über das Land der Revolutionen<br />
NIKARAGUA bis zur Welt der Mayas<br />
in GUATEMALA spannt sich der Bogen<br />
dieser Reise.<br />
Heidi & Pascal Violo erleben<br />
gemeinsam mit ihrer 2-jährigen Tochter<br />
Amelie-Fè eine Welt der kulturellen<br />
Vielfalt, die von den Begenungen mit<br />
den Menschen geprägt wird. Sie lernen<br />
das Volk der GUARI GUARI auf einer<br />
Insel in PANAMA kennen, treffen nach<br />
tagelangen Einbaumfahrten durch den<br />
Dschungel die MISKITO Indianer in<br />
HONDURAS und feiern ausgelassene<br />
Feste mit den GARIFUNAS an der<br />
Karibikküste.<br />
So ist die junge Familie immer<br />
„unterwegs um zu erleben, dass jede<br />
Schöpfung eine Kunst ist.“
Questioning<br />
A conversation about organization of diversity, challenges for anthropology<br />
and some central terms<br />
the Cosmopolitan<br />
von NORMA DESEKE und BIRGIT PESTAL<br />
Ulf Hannerz about the internally quite diverse<br />
Ulf Hannerz is a Swedish professor<br />
and one of the leading anthropologists<br />
worldwide. He sees culture as<br />
something being constantly in motion<br />
– this is fitting very well with the<br />
dynamic image of a world shaped by<br />
the ongoing excitement for<br />
globalization and interconnectedness.<br />
From this point of view, culture and<br />
meaning may become durable in the<br />
sense of „cultural invention“. Today’s<br />
Cultural <strong>Anthropology</strong> has moved on<br />
from what is used to be in its<br />
beginnings. As a voice for a new<br />
generation of anthropologists, Ulf<br />
Hannerz has focused on concepts like<br />
creolization, cultural flows, cosmopolitans<br />
or organization of diversity and therefore<br />
also provided useful tools for thinking<br />
about the increasingly popular term of<br />
„culture“. His work provides an<br />
account of culture in an ever more<br />
globalizing world.<br />
We met him in autumn 2007 in Vienna<br />
at the IFK (Internationales<br />
Forschungszentrum<br />
Kulturwissenschaften). The following<br />
interview aims to provide a summary<br />
of some of our main discussion points.<br />
How did your interest for KSA start?<br />
Like many people I came to anthropology without intending to stay in<br />
it forever. I had this interest in Africa. This was in the 1960s and Africa<br />
was becoming independent, one state after another. That was exciting<br />
but I really intended to go into zoology and decided just to take one<br />
course in what was called „ethnography“. I found that interesting – so<br />
I remained there. Ethnography was then a very small subject in<br />
Sweden, so I did what there was to do for an undergraduate, but since<br />
I was becoming more serious about it, I went on to an American<br />
university for a year. That broadened my new knowledge on what<br />
anthropology was really about. What I had studied in Stockholm was<br />
very old-fashioned. Then a little later I was invited to come and do<br />
research with a socio-linguistic project in Washington DC. The project<br />
was studying Black American dialect, and I provided ethnographic<br />
background information.<br />
Can you tell us more about your interest in West African culture?<br />
I did eventually go to West Africa, in the 1970s and 1980s, and did field<br />
work in a Nigerian town. That actually took me to my interest in globalization,<br />
and creolization, but that is another story. In the American<br />
context, there was this question to what extent Black Americans<br />
actually have anything West African in their culture, which has survived<br />
the slave trade and slavery and the incorporation into American<br />
life. That has been a controversial issue: are Black people just like any<br />
other Americans or do they really have a separate culture? I still feel<br />
that most Black Americans have never really become fully integrated<br />
and assimilated into American society. So there has been a degree of<br />
autonomy to maintain and develop some culture of their own. I think<br />
recently there has probably more readiness to acknowledge a certain<br />
distinctiveness in the black tradition.<br />
What do you mean by this distinctiveness?<br />
My most obvious example would be in Black American music which<br />
has always maintained a certain autonomy. Black culture is also about<br />
storytelling, the emphasis on speaking. That’s something that has been<br />
cultivated for generations. It is about telling a story well or winning in<br />
an argument: the mastery of words. But also I think of one figure<br />
which exists in West African culture and which I think somehow<br />
Salon – Globalisierung<br />
3
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
survived not only in Black America but also in the<br />
Caribbean. This is a trickster figure, who seems<br />
politically and physically weak but who is smart and can<br />
win conflicts by outwitting the opponents and doing this<br />
by being rather unpredictable and perhaps not always a<br />
fully respectable being. And I think you find this in some<br />
black political figures also, at least at the local level.<br />
So what do you think about the presidential candidate Barack<br />
Obama in this context?<br />
I don’t really think Obama belongs to this, because<br />
actually he does not come out of the African American<br />
tradition. His mother is a White American, his father was<br />
from Kenya, but during his early life Obama seems to<br />
have had little to do with Black America. His mother<br />
remarried someone from Indonesia, and Barack spent<br />
some years growing up there. Only when he became an<br />
adult he did turn into a community organizer in Black<br />
American neighbourhoods. I think he is a very<br />
interesting phenomenon for various reasons, but I think<br />
he’s a phenomenon on his own, really a cosmopolitan<br />
figure rather than a Black American figure.<br />
Is an anthropologist automatically a cosmopolitan?<br />
No (laughs). I think there is a certain potential in<br />
anthropology and it may draw people who have a<br />
cosmopolitan intention. Of course, one can do what’s<br />
called anthropology at home, you don’t necessarily go<br />
abroad. But even among colleagues who do go abroad in<br />
a conventional anthropological way to do fieldwork in<br />
one foreign country, you find that this may be the only<br />
place elsewhere in the world they become interested in.<br />
So they become locals of two places, but it does not<br />
necessarily mean that they are interested in lots of things<br />
in the entire wider world. Maybe a small step towards<br />
cosmopolitanism, but not quite.<br />
You live in Vienna now, doing a project called „The<br />
Geocultural Imagination: Scenarios and Story Lines“. What is<br />
it about?<br />
It’s something which I’ve been thinking about close to<br />
fifteen years. We have had in recent years a number of<br />
what I call world scenarios beginning with an American<br />
political scientist named Fukuyama, asking whether we<br />
have now reached The End of History, as liberal<br />
democracy seemed to have triumphed once and for all.<br />
Then there was Samuel Huntington with his ‚Clash of<br />
Civilizations theory‘. He said that now that the Cold War<br />
is over, it’s also the end of the battle between ideologies.<br />
So according to Huntington, there is the conflict of<br />
civilizations instead. I think many of these scenarios were<br />
the product of the end of the Cold War. Much of this<br />
genre of writing is about how politics relates to the<br />
geography of culture in the world. My particular interest<br />
4 Salon – Globalisierung<br />
in this genre is how do their statements and assumptions<br />
about culture match with what anthropologists<br />
nowadays think about culture – frequently not very well,<br />
really. Some of it is a very rhetorical use of culture to<br />
suggest that things are very strong, very widespread,<br />
very old and thick. When anthropologists, not least<br />
including myself, think of culture much more in<br />
processual terms and something that’s changeable and<br />
internally quite diverse it doesn’t fit well with the<br />
assumptions of Huntington and such people.<br />
Can you please try to sum up your concept of culture?<br />
In my book Cultural Complexity I pushed the idea of<br />
socially organized meaning, and I still tend to stick to it.<br />
My main point of departure would be that compared to<br />
other animals, human beings depend very much on<br />
continuous learning in all phases of life. We need to draw<br />
from ideas, skills, and all kinds of knowledge that are<br />
available in our social environment. It’s the old natureculture-divide<br />
again, which is always tricky. I mean you<br />
have a renewal of this debate because after all human<br />
biology certainly makes progress, and so we have to be<br />
prepared to think again about the details of that divide.<br />
Have you also used the term „software“ in this context?<br />
I’ve done it, but there are complications with this<br />
metaphor. On the whole it is useful to think of biology as<br />
„hardware“ and culture as „software“. But still – it’s very<br />
important to know when to leave aside this metaphor.<br />
There is sometimes this unfortunate tendency to think<br />
that culture is so determining that once you have learned<br />
something you can’t get away from it. That you’re<br />
becoming a kind of robot under whatever culture gets to<br />
you first. And then it would become much like what is<br />
biologically and genetically determined. With culture<br />
you can learn certain things but you can also learn other<br />
things and you may reject what you learned before.<br />
Culture is negotiable and changeable over time. We need<br />
to understand socialisation and resocialisation, the way<br />
that culture is continuously under negotiation. In the<br />
1960s, Anthony Wallace wrote about the „Organization<br />
of Diversity“, a marvellous formulation. The complex<br />
society involves people knowing and doing different<br />
things, and still fitting into some sort of organization.<br />
Let’s switch to the topic of individuality and the construction<br />
of identity…<br />
Sometimes when we talk about identities we have in<br />
mind collective identities, and sometimes personal,<br />
individual identities. Much talk about identity politics<br />
would involve collective identities in some sort: how do<br />
you belong to categories or group shared identities, to an<br />
ethnic group, or generation, or gender? But also you have<br />
a personal identity which may be entirely unique. With
this kind of organization of diversity, it is very likely that<br />
a larger proportion of things end up being quite<br />
individualized, at least in the collection of things put<br />
together.<br />
With globalization you have a certain rhetoric saying that<br />
people are becoming very similar all over the world. But<br />
at the same time, when people have so much more<br />
culture to pick from (literature, food, music), there is also<br />
a greater opportunity to put together an absolutely<br />
unique setup of knowledge and preferences, and in the<br />
end also identities. At one level I think that globalization<br />
can also contribute to individuation. Again, I think of<br />
Barack Obama as an example.<br />
How far is cultural homogenization happening?<br />
Homogenization has been very much tied to the market.<br />
The standard examples have become clichés like<br />
McDonalds, Starbucks, Ikea and Coca Cola<br />
– cultural commodities which are everywhere.<br />
They try to identify tastes that can be<br />
sold everywhere. But then the market will<br />
also be segmented. Consumers aren’t in fact<br />
going to be alike – they all have been<br />
socialized into different directions. So you can<br />
also find market niches which allow a lot of<br />
diversity. Undeniably homogenization has a<br />
certain impact, and the market is important.<br />
Then sometimes it is said that nation-states<br />
try to preserve their heritages, so they are<br />
forces against homogenization at the world<br />
level. But one should not forget that state machineries are<br />
likewise pushing similar things in many places – the idea<br />
of citizenship, for example, or universal primary<br />
education. States have these culture producing<br />
machineries which also lead in the direction of<br />
homogenization. I think since World War II the whole<br />
United Nations machinery provides an apparatus for<br />
spreading certain values, the Human Rights Declaration,<br />
for example. On the other hand, local, regional, and<br />
national traditions are still very strong and not entirely<br />
reachable for the market and for the state machineries.<br />
Theorizing the strength of everyday life in maintaining<br />
cultural diversity is very important.<br />
Are there existing universal values?<br />
A very good question. Probably, but then they may also<br />
contradict each other. Since values are in practice so<br />
much linked to context, I am afraid trying to state them<br />
generally, out of particular contexts, leads to a rather<br />
unrealistic understanding of human life. For example, I<br />
would think that „survival“ is probably a very basic<br />
human value. But then we have the exception of suicide<br />
bombers. How can anybody become one? We are getting<br />
a sizeable literature on this now. But still, basically I<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
would suppose that survival is pretty much a universal<br />
value.<br />
In context of the suicide bomber – Is rage a universal topic?<br />
Rage is a universal human sentiment that at times any<br />
human being can probably feel.<br />
<strong>Anthropology</strong> had this research genre of looking at<br />
feelings and sentiments. And trying to determine to what<br />
extent they are also culturally shaped. I haven’t followed<br />
that discussion so closely. I would think that it’s partly a<br />
matter of talking about emotions in different ways.<br />
Cultures have their vocabularies for such talk. I would<br />
believe human beings have certain sets of emotions<br />
which are biologically given but culturally handled.<br />
Should anthropologists take up more topics of emotions?<br />
Anthropologists are inclined to explore the cultural<br />
dimensions of just about anything. And<br />
emotions would tend to be one of these<br />
things. People may believe that emotions are<br />
beyond culture, a kind of rough biology<br />
– well, I think there is an interaction between<br />
nature and culture. Gender may come in<br />
here. There may be differences between the<br />
genders and also diversity within them. I<br />
think that’s very important to realize.<br />
Although I would suspect some biological<br />
base to this – however always intermingled<br />
with culture. The tendency to say that<br />
women do this and men do that – this is<br />
much too simple, because of the internal variations.<br />
In how far should scholars value the debates over controversial<br />
practices?<br />
One major value should be always being critical in the<br />
sense of also trying to see the weak points in one’s own<br />
position. And see if it really holds up. And that may be a<br />
rather difficult value to take into politics. If you decide to<br />
push one thing you are inclined to go for the strong sides<br />
and strong arguments for pushing that one thing. The<br />
balance between scholarship and politics is likely to be<br />
pretty tricky much of the time. It depends on what you<br />
mean by „politics“.<br />
Should anthropologists give advice to politicians? What about<br />
topics like female genital mutilation?<br />
My main principle in a lot of cases is: let the people<br />
decide. Let individuals themselves decide. In practice it<br />
still gets rather complicated. When it comes to practice<br />
like FGM or honour killings they tend to occur in situations<br />
where women have been the ones with less power<br />
and men have had more power – or where older people<br />
have more power than younger people. I think one<br />
problem with speaking about things like this in cultural<br />
Salon – Globalisierung<br />
5
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
terms is that culture is understood to involve some sort of<br />
consensus. You may say, well, FGM is part of their<br />
culture – which suggests that they have agreed on this. I<br />
have my doubts. Because I frequently think that culture<br />
is involved in a power equation, where whatever has<br />
been established as a cultural practice may be based on<br />
that power equation. If you change the power equation,<br />
are you really going to find all the people – men, women,<br />
young, old – still wanting to stick to these customs?<br />
Is there a (political) overregulation in many things?<br />
I would think on the whole yes. Sometimes cultural<br />
diversity may do better without multiculturalism. In a<br />
sense multiculturalism tends to involve political and<br />
administrative decisions. That’s the way the term<br />
multiculturalism has become established. It becomes a<br />
tool of the organizations and the state for taking<br />
collective decisions or administrative decisions rather<br />
then leaving decisions to the individuals. And I think<br />
once you made multiculturalism a kind of administrative<br />
and political concept you end up with something that's<br />
more large scale and more static than I think culture<br />
really should be. It’s in the logic of the state or the<br />
municipality to need very stable, well-bounded<br />
categories of people. People should have the right to say<br />
„on this point I don’t really belong to this group“. The<br />
logic of state or collective multiculturalism to me seems<br />
to go against spontaneous natural cultural process,<br />
where people do learn and relearn and change their<br />
minds. I think people should be entitled to do that.<br />
How would you define the role of the media within<br />
anthropological work?<br />
I always have been sort of fairly intensive media<br />
consumer in terms of reading newspapers and<br />
magazines as well as listening to the radio and watching<br />
television. For me personally media play a major part in<br />
my life. Individuation in context of globalization of<br />
course has a lot to do with the media. We can now<br />
consume media from such a great variety of sources and<br />
that may be quite important to who we are.<br />
When I started doing fieldwork as an anthropologist in<br />
Washington in the black neighbourhood in the 1960s, I<br />
found myself sitting there, watching television and it<br />
worried me because in the classic anthropological texts I<br />
had read you don’t find any media. So what am I doing<br />
here watching television – just wasting my time? But<br />
then I realized that the media were an integral part in<br />
everyday life. Not only television but also the black radio<br />
stations, which were central institutions to Black<br />
community life. So I felt since then that if ethnography<br />
does not take media into account it may have a lack in<br />
credibility. It took quite a long time for sociology and<br />
anthropology to really incorporate media into both<br />
6 Salon – Globalisierung<br />
method and theory, which is one reason why cultural<br />
studies developed as a field itself.<br />
What do think about the phenomenon of blogging?<br />
I don’t have a blog, and I haven’t really gotten around<br />
looking at blogs very regularly, partly as a matter of<br />
habit, partly as a matter of time. I do think they are<br />
interesting phenomena, but there may be getting to be<br />
too many of them. Does it become a kind of narcissism to<br />
have one’s own blog without anybody paying much<br />
attention, as a new form of self expression? But then, as I<br />
understand, some blogs are getting a lot of viewers. So in<br />
the American politics in the election year it seems like<br />
they can really make some difference in mobilizing<br />
opinion and in being dangerous for candidates who can<br />
also get destroyed by negative blogging.<br />
How do you see anthropology today?<br />
<strong>Anthropology</strong> has a lot of diversity inside itself, and I like<br />
that. I think it’s also important that people outside the<br />
university, in politics or wherever, have a reasonable<br />
understanding of what anthropologists do. And I think<br />
that’s a problem because there’s a conception that<br />
anthropologists are mostly antiquarians and study<br />
backwards, study the past, study what’s disappearing.<br />
I’m interested in these world scenarios we talked about<br />
before because they are future oriented, ways of trying to<br />
tell people what the world may be becoming. One should<br />
see them not as predictions, but as arguments about<br />
possibilities and risks. And I think anthropology can<br />
contribute here, because its methods, not least<br />
ethnography, should be good for identifying what are<br />
emergent tendencies in the present.<br />
What kind of new initiatives would you hope the next<br />
generation of anthropologists would launch?<br />
I hope they will continue to do a lot of different things,<br />
but also I hope they will perhaps be a bit more effective<br />
in bringing it to the ear and eye of a wider <strong>public</strong> than<br />
anthropologists have been doing. I think it’s dangerous to<br />
write in a style which is only for other researchers. We<br />
probably need to experiment with styles of writing and<br />
other communications. „<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong>“ fits precisely into<br />
that, but also in writing books we should try to put<br />
anthropological ideas across in more different ways.<br />
There is now much more anthropological film making<br />
than there used to be. That is also good, but I tend to be<br />
a writing person, so I think that other kinds of writings<br />
are as important. With the globalization in the sense of<br />
global interconnectedness, cultural and otherwise, that<br />
should open up possibilities. Ordinary people may<br />
become more concerned with the rest of the world. That<br />
should provide openings for anthropologists to make<br />
their work interesting for a broader audience. �
Wiener Lebensstile<br />
Eine kulturanthropologische Untersuchung zum<br />
Konsumverhalten beim Essen<br />
und Globalisierung<br />
Fast Food oder Wiener Küche…?<br />
Neue, meist aus den USA kommende<br />
Esstrends, wie z.B. Fast Casual, werden<br />
häufig als Produkte einer<br />
fortschreitenden Globalisierung<br />
gesehen. Fast Casual ist eine<br />
Verbindung zwischen Fast Food und<br />
Casual Dining. Beim Konsum von Fast<br />
Casual bleiben die äußeren Formen<br />
eines traditionellen Mittagessens<br />
aufrecht, aber im Unterschied zu<br />
herkömmlichem Fast Food werden<br />
frische und möglichst regionale<br />
Zutaten verwendet (vgl. Rützler 2005:<br />
50). In den USA hat der Konsum von<br />
Fast Food seit den achtziger Jahren<br />
längst alle kulturellen Grenzen<br />
gesprengt, sowie nahezu alle sozialen<br />
Schichten erfasst. Es stellt sich die<br />
Frage, ob sich der Verzehr von Fast<br />
Food in den letzten Jahrzehnten auch<br />
bei uns in solcher Weise etablieren<br />
konnte bzw. ob sich durch Prozesse<br />
der Globalisierung Veränderungen in<br />
unseren Lebensstilen erkennen lassen.<br />
von HELENE MÜHLWISCH<br />
<strong>Die</strong> von George Ritzer beschriebene Theorie der McDonaldisierung<br />
(Ritzer 2006) umfasst ein systematisches Vorgehen<br />
global agierender Unternehmen, deren Prinzipien zunehmend<br />
in verschiedensten Gesellschaftsbereichen Anwendung<br />
finden. Das Phänomen der McDonaldisierung sieht Ritzer als<br />
eine Erweiterung von Max Webers Theorie der formalen Rationalität<br />
an. Max Weber versteht darunter eine durch strenge Regeln und<br />
Vorschriften, sowie größere gesellschaftliche Strukturen geprägte<br />
menschliche Suche nach dem optimalen Mittel zum Erreichen eines<br />
Zwecks. Dabei geht er von einer rein quantitativen und zahlenmäßig<br />
erfassbaren Form des Wirtschaftens aus. <strong>Die</strong> menschlichen Komponenten<br />
werden hier nicht erfasst, weil Menschlichkeit im System der<br />
formalen Rationalität keinen Platz zu haben scheint. Als Musterbeispiel<br />
der formalen Rationalität beschreibt Weber die Bürokratie,<br />
deren wichtigste Vorteile vier grundlegende Prinzipien sind, die für<br />
Ritzer auch im System der McDonaldisierung zum Tragen kommen.<br />
Prinzipien der McDonaldisierung<br />
<strong>Die</strong> vier Grundpfeiler der McDonaldisierung lauten Effizienz,<br />
Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle. Effizienz ist eine<br />
Situation, in der eine Organisation die Vorteile und Gewinne<br />
maximiert, während die Anstrengungen und Ausgaben gleichzeitig<br />
verringert werden. So ist in mcdonaldisierten Systemen das Bemühen<br />
groß, Waren und <strong>Die</strong>nstleistungen zu vereinfachen und die<br />
KundInnen für unbezahlte Arbeiten selbst einzusetzen. Für Fast Food-<br />
Unternehmen ist es effizient, wenn die KundInnen an der Selbstbedienungstheke<br />
Schlange stehen. Wenn sie den eigenen Service<br />
übernehmen, anstatt komfortabel an einem Tisch sitzend einem<br />
Restaurantkellner ihre Essenswünsche mitzuteilen und bedient zu<br />
werden. Beim zweiten Prinzip der Berechenbarkeit liegt die Betonung<br />
auf der Quantität, für die zahlenmäßige Standards festgelegt werden.<br />
Es gilt hier jedoch auch eine wichtige Kehrseite zu beachten; nämlich<br />
die Tatsache, dass in einer Gesellschaft, die vor allem die Quantität<br />
betont, viele Waren und <strong>Die</strong>nstleistungen zunehmend an Qualität<br />
verlieren können. <strong>Die</strong> dritte Dimension der McDonaldisierung ist die<br />
Vorhersagbarkeit. KonsumentInnen von McDonald's wünschen keine<br />
Überraschungen, wenn sie einen BigMac bestellen. Sie wollen sicher<br />
Salon – Globalisierung<br />
7
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
sein können, dass dieser genauso schmeckt wie jener,<br />
den sie gestern gekauft haben und der, den sie morgen<br />
kaufen wollen. Erreicht wird die Vorhersagbarkeit vor<br />
allem durch die Schaffung gleicher Arbeits- und<br />
Besucherumgebungen, die Erstellung von gleichförmigen<br />
„Drehbüchern“ für die Kommunikation der<br />
MitarbeiterInnen mit den KundInnen, sowie die Erzeugung<br />
von einheitlichen Produkten. McDonald's Schlüssel<br />
zum Erfolg lautet: rationale Standardisierung und<br />
Uniformität! <strong>Die</strong> vierte Dimension der McDonaldisierung<br />
ist die Kontrolle, die überwiegend durch den<br />
Einsatz von nicht-menschlicher Technologie durchgeführt<br />
wird. <strong>Die</strong> Zubereitungsangaben für die diversen<br />
Fast Food-Produkte sind oft schon in den Maschinen<br />
integriert. In einer McDonald's-Küche summt und blinkt<br />
es überall, damit die Angestellten ganz genau wissen,<br />
was zu tun ist. An der Theke leuchten Tasten auf der<br />
Computerkasse auf und schlagen weitere Menübestandteile<br />
vor, wenn eine Bestellung aufgenommen wird. <strong>Die</strong><br />
höchste Stufe der Kontrolle ist dann erreicht, wenn<br />
Angestellte völlig durch nicht-menschliche Technologie<br />
ersetzt werden. In den Labors von McDonald's werden<br />
jedenfalls schon Experimente durchgeführt, in denen die<br />
Zubereitung der Pommes frites von einem Roboter<br />
erfolgt (vgl. Wagner 1995: 67).<br />
Globale Folgerungen der McDonaldisierung<br />
<strong>Die</strong> Theorie der McDonaldisierung ist in vieler Hinsicht<br />
global angelegt. Zunächst haben viele der Methoden, die<br />
von McDonald's und anderen Unternehmen der Fast<br />
Food-Industrie entwickelt wurden, weltweite Verbreitung<br />
gefunden. Beispielsweise, dass man KundInnen<br />
innerhalb des Konsumationsprozesses durch Praktiken<br />
der Selbstbedienung selbst arbeiten oder deren Konsum<br />
im eigenen Auto abwickeln lässt (Mc Drive). So können<br />
Unternehmen auf rationelle Weise Zeit und Kosten<br />
sparen. Neu strukturiert wurden Ritzer zufolge auch<br />
wesentliche Gesellschaftsbereiche, wie beispielsweise<br />
der Esskonsum. Hier würden weniger Mahlzeiten zu<br />
Hause eingenommen werden und häufiger Besuche in<br />
Fast Food-Restaurants stattfinden (vgl. Ritzer 2006: 239).<br />
Letztere von George Ritzer getroffene Feststellung habe<br />
ich unter anderem einer empirischen Überprüfung<br />
unterzogen. <strong>Die</strong> vier Prinzipien der McDonaldisierung<br />
verstehen sich als Aspekte vielfältiger Globalisierungsprozesse<br />
und sind als Indikatoren für spezifische<br />
Merkmale unterschiedlicher Essgewohnheiten in verschiedenen<br />
Wiener Restaurants und Fast Food Gastronomiebetrieben<br />
der Beobachtung zugänglich. Einige der<br />
vorher von mir festgelegten Beobachtungskriterien lauten<br />
beispielsweise: (Selbst)Bedienung der KundInnen,<br />
Tischabräumen bzw. Tablettbeseitigung durch Ange-<br />
8<br />
Salon – Globalisierung<br />
stellte und/oder KundInnen, Dauer des Speisen-services,<br />
Speisenwahl, Verhalten des Personals im Umgang mit<br />
KundInnen und vieles mehr. Ergänzend zu den<br />
durchgeführten Beobachtungen habe ich in qualitativen<br />
Interviews Erhebungen über gegenwärtige und frühere<br />
Ess-, Koch- und Einkaufsgewohnheiten, sowie Restaurantbesuche<br />
durchgeführt. <strong>Die</strong> relevantesten Ergebnisse<br />
sowohl aus den Beobachtungen als auch aus den Befragungen<br />
möchte ich nachfolgend vorstellen.<br />
Zubereitung, Essen und Esskonsum im<br />
Zeitalter der Globalisierung<br />
Unser Alltag wird nicht mehr wie früher durch die<br />
traditionell morgens, mittags und abends eingenommenen<br />
Mahlzeiten strukturiert. Angesichts einer sich im<br />
Wandel befindlichen Arbeitswelt haben sich unsere<br />
Essgewohnheiten rapide verändert. Durch neue weltumspannende<br />
Informationstechnologien sind wir vor allem<br />
in beruflicher Hinsicht an differenzierte Zeitordnungen<br />
gebunden, während gleichzeitig in sämtlichen Bereichen<br />
ein Höchstmaß an Leistungsfähigkeit, an Präsenz und an<br />
Einsatzbereitschaft gefordert wird. Für Berufstätige<br />
bedeutet das, die Organisation des Haushalts diesen<br />
neuen Strukturen des modernen Lebens anpassen zu<br />
müssen. Das betrifft vor allem die Zubereitung und<br />
Gestaltung der täglichen Mahlzeiten. So ist es nicht weiter<br />
verwunderlich, wenn ein unregelmäßiger und unaufwendiger<br />
Kochstil durch die zunehmende Verwendung<br />
von Convenience-Produkten gepflegt wird. Wir leben in<br />
einer „verbrauchsfertigen“ Welt, in der mit wenig<br />
Aufwand und in möglichst kurzer Zeit ein wohlschmeckendes<br />
Essen auf dem Tisch stehen soll. Ein<br />
weiterer Grund für einen bevorzugten Konsum von<br />
Convenience-Produkten betrifft die Zunahme der<br />
Einpersonenhaushalte. Je kleiner die Haushalte sind,<br />
desto seltener wird gekocht und umso einsamer wird<br />
eine Mahlzeit eingenommen. Derzeit wohnt in Österreichs<br />
Haushalten knapp jede/r Siebte allein, das<br />
entspricht 34,1 Prozent aller Haushalte (vgl. Klapfer et al.<br />
2004: 17). Für Georg Simmel ist das soziale Moment des<br />
gemeinsamen Essens das entscheidende Kennzeichen<br />
einer Mahlzeit (vgl. Simmel 1957: 243). Ohne die soziale<br />
Bindekraft der gemeinsamen Mahlzeiten wird das Essen<br />
zur wenig beachteten Nahrungsaufnahme. Im Vordergrund<br />
des Genusses stehen andere Tätigkeiten, wie<br />
Lesen oder Fernsehen. Dank der Erfindung der Mikrowelle<br />
muss ein stummes „Nebeneinanderessen“ vor<br />
dem Fernsehapparat nicht einmal mehr gemeinsam<br />
stattfinden. Mikrowellengerechte Fertiggerichte sind in<br />
wenigen Minuten aufgewärmt und ermöglichen es<br />
jedem Familienmitglied, seine individuellen Essenszeiten<br />
zu wählen. Das ist der Nährboden, auf dem der
Konsum von Fast Food-Produkten wachsen und stetig<br />
ansteigen kann. <strong>Die</strong> Erhebungsdaten im Rahmen meiner<br />
Diplomarbeitsrecherchen dokumentieren es, dass es vor<br />
allem die junge Generation unter 30 ist, die anstelle der<br />
früheren traditionellen Mahlzeiten bevorzugt mehrere<br />
kleine Imbisse über den Tag verteilt zu sich nimmt. Es<br />
scheint, als sickere langsam, aber unaufhörlich ein neuer<br />
Zeitgeist in unseren Esskonsum, getragen von den<br />
vielfältigen Prozessen der Globalisierung. Doch wie<br />
können diese Strömungen uns bzw. unsere „gewohnten“<br />
Lebensstile derart beeinflussen?<br />
In unserer modernen Gesellschaft geht es in hohem Maße<br />
auch darum, eine möglichst angesehene Lebensführung<br />
zu erreichen. Wir gestehen uns den inneren „Motor“<br />
meist nicht ein, der uns unentwegt zu einem sozialen<br />
und beruflichen Wettbewerb mit unseren Mitmenschen<br />
anzutreiben scheint. Es werden Berufe mit einem hohen<br />
sozialen Prestige und einem entsprechenden Einkommen<br />
angestrebt. Doch ein Großteil unserer beruflichen<br />
Verpflichtungen ist nicht mehr nur an einem einzigen<br />
Ort, an einer Arbeitsstätte lokalisiert. Auch täglich gleich<br />
bleibende, starre Arbeitsrhythmen sind längst flexibler<br />
Gleitzeit gewichen. Flexibilität heißt eines „der“ Schlagworte<br />
in unserer heutigen globalisierten Welt. Es gibt<br />
praktisch keine „reine“ Freizeit mehr, in der wir aufgrund<br />
modernster Kommunikationsmittel und Technologien<br />
– wie Internet, Mobiltelefone oder „mobile“ Büros<br />
– nicht für berufliche Verpflichtungen in Anspruch<br />
genommen werden können.<br />
In meiner empirischen Untersuchung konnte unter<br />
anderem eines zweifelsfrei gezeigt werden: der „wahre<br />
Regent“ unserer Ära ist die Zeit! Der Konsum von Fast<br />
Food und Fast Casual erfreut sich steigender Beliebtheit.<br />
Dennoch müssen Aussagen, wie jene von George Ritzer,<br />
wonach Globalisierungsprozesse weltweit den Esskonsum<br />
insofern verändert haben, als Mahlzeiten immer<br />
seltener zu Hause und immer häufiger in Fast Food-Restaurants<br />
eingenommen werden, zurückgewiesen werden.<br />
Es hat sich in den Befragungen meiner Untersuchung<br />
gezeigt, dass vor allem die junge Generation<br />
unter 30 den Geschmack von Fast Food schätzt;<br />
gleichzeitig jedoch liegt die Betonung einstimmig auf der<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Einnahme von mindestens einer warmen Mahlzeit pro<br />
Tag, die selbst gekocht wird. Hier berichten auch die<br />
interviewten Personen unter 30 von täglichen Kochzeiten<br />
bis zu einer Dreiviertelstunde. Wird außer Haus<br />
gegessen, dann lieber in Gastronomiebetrieben mit Wiener<br />
Küche, wo frisch gekochte Hausmannskost von<br />
einem aufmerksamen Bedienungspersonal serviert wird<br />
und das Sättigungsgefühl viel länger anhält als durch<br />
den Konsum von Fast Food. Helmut Österreicher, einer<br />
der bedeutendsten Köche Österreichs, weiß, dass Gäste<br />
eine abwechslungsreiche Küche zu schätzen wissen.<br />
Dass neue Gerichte für sie ein interessantes Aha-Erlebnis<br />
bedeuten, sie aber dennoch immer wieder auf ihr<br />
gewohntes Essen zurückkommen werden: auf die<br />
klassische Wiener Küche, mit der sie aufgewachsen sind.<br />
<strong>Die</strong> Wiener Küche ist eine Marke, die nicht von<br />
Werbefachleuten (wie beispielsweise diverse Fast Food-<br />
Produkte) gemacht worden ist, sondern von den<br />
Menschen, die sie verzehren. Für Helmut Österreicher<br />
liegt es somit auf der Hand, dass der Fast Food-Konsum<br />
die Wiener Küche nicht verdrängen kann. Seine<br />
Sichtweise wird auch durch die Ergebnisse meiner<br />
Untersuchung untermauert. Unser Esskonsum unterliegt<br />
den mannigfaltigen Veränderungen durch die Einflüsse<br />
der Globalisierung. Letztlich aber werden wir uns im<br />
Konsumverhalten beim Essen immer wieder auf unsere<br />
traditionellen Wurzeln besinnen und Altes mit Neuem<br />
kombinieren. �<br />
Helene Mühlwisch ist Studierende der Psychologie, sowie<br />
der Kultur- und Sozialanthropologie. Sie schließt ihr KSA-<br />
Studium im sechsten Semester mit der Diplomarbeit "Wiener<br />
Lebensstile und Globalisierung" ab. Ihre Interessensschwerpunkte<br />
sind Globalisierung und Interkulturalität.<br />
Literatur<br />
Klapfer K./Eichwalder R. Familien- und Haushaltsstatistik, Wien, 2004.<br />
Ritzer, George. <strong>Die</strong> McDonaldisierung der Gesellschaft, Konstanz, 2006.<br />
Rützler, Hanni. Was essen wir morgen? 13 Food Trends der Zukunft.<br />
Wien, 2005.<br />
Simmel, Georg. Soziologie der Mahlzeit. In: K.F. Koehler: Brücke und Tür.<br />
Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und<br />
Gesellschaft. Stuttgart, 1957, S. 243-250.<br />
Wagner, Christoph. Fast schon Food. <strong>Die</strong> Geschichte des schnellen Essens.<br />
Frankfurt, 1995.<br />
Interview, geführt am 11. Oktober 2007:<br />
Helmut Österreicher, Vier-Hauben-Koch, Österreicher im MAK, 1010<br />
Wien, Stubenring 5<br />
Salon – Globalisierung<br />
9
10<br />
<strong>Die</strong> „Coca-Colonialisierung“ führt zu Prozessen mimetischer Aneignung und zu einer<br />
Pluralisierung des Waren-Angebots durch nationale und lokale Varianten<br />
von BERNHARD FUCHS<br />
Coca Cola ist durch nichts zu ersetzen,<br />
außer durch ein Cola. So lautet eine<br />
These des indischen<br />
Kulturphilosophen Ashis Nandy<br />
(1994). Wo es einmal eingeführt<br />
wurde, muss das Bedürfnis nach Cola<br />
in irgendeiner Form gestillt werden.<br />
Doch die Befriedigung des Cola-<br />
Bedarfs wird nicht nur durch<br />
ökonomische Gründe sondern<br />
vorrangig durch ideologische<br />
erschwert. Hier erlangen Imitate eine<br />
Schlüsselstellung. <strong>Die</strong><br />
„Coca-Colonialisierung“, welche<br />
stets Bemühung um lokale Integration,<br />
eine Glokalisierung des globalen<br />
Unternehmens, enthält, wird daher<br />
ebenso begleitet von Prozessen<br />
mimetischer Aneignung. Kopien<br />
dienen paradoxerweise auch der<br />
Abwehr des Fremden.<br />
Salon – Globalisierung<br />
Cola und Islam<br />
Eine symbolische Begegnung<br />
Der Kulturtransfer von Cola-Getränken nimmt in der Globalisierungsforschung<br />
eine bedeutende Position ein. <strong>Die</strong><br />
Cola-Anthropologie erweist sich als ein erfrischendes und<br />
heuristisch wertvolles Unterfangen und besitzt durchaus<br />
gesellschaftliche Relevanz (vgl. Miller 1997; Gill 2004). Nicht alle<br />
Werke, die Coca Cola im Titel führen, setzen sich tatsächlich damit<br />
auseinander. Oft wird der Name benützt, um von seiner Ausstrahlung<br />
zu profitieren; in Werken wie „Islam und Coca Cola. Begegnung der<br />
Kulturen nach dem Irak-Krieg“ (Fikentscher 2003) wird Cola gar nicht<br />
thematisiert. <strong>Die</strong> semiotische Aufladung dieser Marke ist in der Tat so<br />
gewaltig, dass der populäre Mythos Coca Cola sich längst der<br />
Kontrolle des Firmenmanagements entzieht.<br />
Der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber (2002)<br />
beschwört kulturpessimistisch den Untergang der Demokratie in<br />
Folge der Konfrontation zwischen Coca Cola und Jihad. Seine unpräzise<br />
Verwendung des Begriffs Jihad irritiert ebenso wie das Bild,<br />
welches er von der Kulturanthropologie zeichnet: Er beklagt den<br />
„Rückgang des Teeverbrauchs, den Kulturanthropologen als ein unheilvolles<br />
Vorzeichen des Zerfalls der einheimischen Kultur ansehen“<br />
(Barber 2002: 78). <strong>Die</strong> Substitution von „traditionellen“ Getränken<br />
durch Cola wird zum Indikator des Kulturwandels. Der Coca-Cola-<br />
Culture würden sich nur religiöse Fundamentalismen und radikaler<br />
Nationalismus (zusammengefasst unter dem Schlagwort Jihad) entgegenstellen.<br />
<strong>Die</strong> Marke wird oft zur Synekdoche für amerikanischen<br />
Kulturimperialismus und kulturelle Homogenisierung, das Getränk<br />
zur Essenz des Amerikanismus (Pendergrast 1991).<br />
Das Schlagwort Coca-Colonialization etablierte einen festen Platz in<br />
populären sowie wissenschaftlichen Globalisierungsdiskursen. Doch:<br />
„<strong>Die</strong> ethnologische Konsumforschung in der Dritten Welt wird<br />
wesentlich durch die Intention geprägt, die Homogenisierungsthese<br />
(McDonaldisierung oder Coca-Colonization) zu widerlegen“ (Spittler<br />
2002: 17). Auch ganz unabhängig von der Absicht sind die Diversität<br />
und die Fülle an kulturellen Neubildungen offensichtlich.<br />
Es ist bemerkenswert, dass Coca Cola stets Anstoß für die Kreation<br />
unzähliger Imitate gibt. <strong>Die</strong>se erlangen häufig Bedeutung als Symbole<br />
des Nationalismus und Antiamerikanismus (vgl. Nandy 2000; Tweder<br />
1999). Auch in Österreich gab es ein nationalistisches Austro-Cola<br />
(Bandhauer-Schöffmann 1994). Das originale Coca Cola pocht<br />
weltweit auf seine Authentizität („It's the Real Thing.“) und ist<br />
bestrebt, die Marke im lokalen Kontext zu verankern. Doch ist das
Unternehmen erst Ende der 1990er Jahre von globalen<br />
Werbekampagnen abgerückt. Heute bemüht man sich,<br />
Amerikanität herunterzuspielen.<br />
Nationalistische Abwehrreaktionen und<br />
Anti-Amerikanismus<br />
Coca-Colonialisierung wurde in Frankreich bereits Ende<br />
der 1940er Jahre als ein Kampfbegriff in antiamerikanischen<br />
Kreisen geprägt (Kuisel 1991). <strong>Die</strong> Expansion<br />
von Coca Cola erfolgte im Zweiten Weltkrieg und in der<br />
Nachkriegszeit, als das Getränk primär US-amerikanischen<br />
Soldaten zur Verfügung stand, und daher nicht<br />
von ungefähr zu einem nationalen Symbol US-Amerikas<br />
wurde (Pendergrast 1993). Auch in Österreich bildete<br />
sich eine ähnliche Allianz aus Kommunisten und lokalen<br />
Unternehmern, welche gegen das „braune Amerikawasser“<br />
mobil machte (Bandhauer-Schöffmann 1994). Es<br />
wurden irrationale Ängste geschürt, Coca Cola würde zu<br />
Sucht und Wahnsinn führen oder die Eingeweide zerfressen.<br />
Letztlich taten derlei Gerüchte der Faszination, die<br />
Coca Cola und alles Amerikanische in dieser Zeit auf<br />
Europäer ausübten, keinen Abbruch. Als Cokelore,<br />
populäre Erzählungen, wurde Widerstand ebenso zum<br />
Bestandteil des Marken-Mythos, und wird als kulturelles<br />
Erbe (Heritage) in die offizielle Präsentation des Unternehmens<br />
integriert.<br />
In der Zeit des Kalten Krieges wurde Coca Cola zum<br />
Symbol des Westens. Mit der „neuen Weltordnung“<br />
setzte sich erneut die alte Dichotomie Orient-Okzident<br />
durch. In Folge des Irak-Konfliktes wird Coca Cola neuerlich<br />
als ein Symbol des aggressiven Amerikanismus<br />
identifiziert und zu dessen Boykott aufgerufen. <strong>Die</strong> kritische<br />
Position der Cola-Getränke ist nichts Neues im<br />
Nahost-Konflikt. Das Worldwide Web trug wesentlich<br />
zur Beschleunigung der Ausbreitung der Cola-Mythen<br />
bei, sowie zu deren Beharrung. Zur Abschreckung wird<br />
gern behauptet, Coca Cola sei haram, weil es Alkohol,<br />
Schweinefett oder gar -blut enthalte.<br />
„Cola-Islamismus“<br />
Ein in semiotischer Hinsicht faszinierendes Beispiel ist<br />
die These, das Logo von Coca Cola enthalte eine versteckte<br />
antiislamische Botschaft: Man müsse den bekannten<br />
Schriftzug nur spiegelverkehrt betrachten, um ihn als<br />
arabische Schriftzeichen zu lesen. So könne der blaphemische<br />
Aufruf „Nein zu Mekka, nein zu Mohammed!“<br />
entlarvt werden. Coca Cola wird nicht nur als der<br />
Inbegriff der USA sondern als die heimtückische Inversion<br />
des Islam hingestellt. <strong>Die</strong>ser Vorwurf wurde zwar<br />
von islamischen Gelehrten als irrational zurückgewiesen<br />
(schließlich wurde das Design 1886 von einem Ameri-<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
kaner in Atlanta entwickelt), doch damit ist dem<br />
Vorurteil keineswegs beizukommen: Im Internet zirkuliert<br />
der Hinweis weiter und wird nach wie vor als<br />
einleuchtende Erkenntnis entdeckt.<br />
Das Neue an der Anti-Cola-Welle des Jahres 2003 aber<br />
bestand darin, dass nun nicht bloß ein Konsum-Boykott<br />
gefordert wurde, sondern gleichzeitig „islamische“<br />
Alternativprodukte auf den Markt gebracht wurden.<br />
<strong>Die</strong>s entspricht der in modernen Konsumgesellschaften<br />
verbreiteten Ideologie des kritischen Konsumenten,<br />
welcher durch seine Kaufentscheidung politische<br />
Zeichen setzt; was sich umgekehrt in der postmodernironischen<br />
Integration revolutionärer Ikonographie in<br />
das Warenangebot ausdrückt: „Aufgeklärter Konsum“<br />
ersetzt Boykott und Revolution. Identität definiert sich<br />
primär über Konsum. Genau dieser Logik entsprechen<br />
muslimische Unternehmer, welche islamische Cola-<br />
Sorten auf den Markt brachten. Der Slogan von Mecca<br />
Cola forderte auf: „Trinke nicht sinnlos, trinke bewusst!“<br />
Mecca Cola, Qibla Cola, Arab Cola, Muslim Up und Salam<br />
Cola drängten auf den Markt, so dass die Medien schon<br />
von einem Cola Jihad kündeten.<br />
Es muss betont werden, dass die realen Cola-Sorten<br />
jedoch Ausdruck von Modernisierung und einer<br />
„islamischen Renaissance“, nicht aber von „Fundamentalismus“<br />
sind (vgl. Ammann 2004). „Islamismus“ stellt<br />
sich in der modernen Welt zunehmend als eine<br />
ökonomische Alternative, als ein kulturspezifisches<br />
Konsumangebot dar. Darüber hinaus versprechen<br />
islamische Colas auch soziales Engagement, indem 10%<br />
des Verkaufspreises für palästinensische Kinder und<br />
weitere 10% für lokale muslimische Sozialinitiativen<br />
verwendet werden. Damit folgen die Unternehmer<br />
einem Ideal der islamischen Ökonomie, institutionalisiert<br />
in der Armensteuer Zakat. Allerdings führt<br />
Glokalisierung, das „Assimilationsstreben“ von Coca<br />
Cola gleichfalls zu dessen „Islamisierung“ im regionalen<br />
Kontext. In Pakistan leistet das Unternehmen eine<br />
Abgabe für Arme (was auch dem westlichen Wohlfahrtskapitalismus<br />
entspricht) und finanziert ausgewählten<br />
Mitarbeitern die Hajj. Kulturelle Konvergenz betrifft<br />
daher Prozesse der „Islamisierung“ ebenso wie Zeichen<br />
der „Verwestlichung“.<br />
Cola-Kulturtransfer, Mimesis und Alterität<br />
<strong>Die</strong> neuen islamischen Alternativen waren vorrangig<br />
Produkte der Diaspora, Mecca Cola wurde von einem in<br />
Tunesien geborenen französischen Unternehmer gegründet.<br />
Das britisch-asiatische Produkt heißt nach der<br />
Gebetsrichtung der Muslime Qibla Cola, die Gründerin<br />
wurde in England geboren, mit pakistanischem Hintergrund.<br />
Salon – Globalisierung<br />
11
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Aus kulturanthropologischer Perspektive fällt der<br />
räumliche Diskurs auf: die Namen einiger islamischer<br />
Colas knüpfen an die Orientierung der Umma an, indem<br />
sie auf das heilige Zentrum der islamischen Welt<br />
hinweisen.<br />
Der israelische Soziologe Uri Ram (2007) bietet eine<br />
treffende Interpretation des Phänomens „islamischer“<br />
Colas: Er betont die analytische Unterscheidung zwischen<br />
struktureller und symbolischer Ebene. Während<br />
auf struktureller Ebene eine Homogenisierung festzustellen<br />
ist, findet gleichzeitig eine symbolische Heterogenisierung<br />
statt. Dazu sei aber ergänzend angemerkt,<br />
dass auch materielle Homogenisierung („dunkelbraune<br />
Erfrischungsgetränke“) eine symbolische Dimension<br />
besitzt. Imitation symbolisiert also Widerstand und auch<br />
Ebenbürtigkeit. Differenzierung impliziert eine symbolische<br />
Inszenierung von Gleichheit.<br />
In Prozessen des Cola-Kulturtransfers wiederholt sich<br />
das vom amerikanischen Kulturanthropologen Michael<br />
Taussig im kolonialen Kulturkontakt analysierte Prinzip<br />
von Mimesis und Alterität, wo Nachbildungen und<br />
Imitate zu einem wesentlichen Element der Verarbeitung<br />
von Fremdheit werden. Taussig greift dabei auf das<br />
Konzept der „sympathetischen Magie“ zurück: Nachahmung<br />
wird zu einem Mittel der Macht, Kopien werden<br />
instrumentalisiert, um auf den Fremden Einfluss zu<br />
gewinnen. Es würde zu weit führen, einen magischen<br />
Hintergrund für das globale Auftreten antiamerikanischer<br />
Cola-Kopien zu behaupten. Doch in einem<br />
übertragenen Sinn erfasst dieser Vergleich präzise das<br />
Wesen moderner Ökonomie.<br />
Der Cola-Kulturtransfer verstrickt die Welt in ein<br />
semiotisches Netz, ein komplexes System aus Mythen<br />
und Gegenmythen, die einander wechselseitig ausbeuten,<br />
aber trotz aller Heterogenität durch ihre interne<br />
Abhängigkeit eine Einheit bilden, denn Mecca Cola,<br />
Qibla Cola, oder Pepsi Cola wären undenkbar ohne Coca<br />
Cola. Vielmehr ziehen sie Kraft aus ihrem großen<br />
Kontrahenten. �<br />
Bernhard Fuchs, geboren 1966, ist Assistenzprofessor am<br />
Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien.<br />
Forschungsschwerpunkte: Stereotypen, Kulturtransfer,<br />
Migration, Medien.<br />
12<br />
Salon – Globalisierung<br />
Literatur<br />
Amman, Ludwig. Cola und Koran. Das Wagnis einer islamischen<br />
Renaissance. Freiburg im Breisgau 2004<br />
Bandhauer-Schöffmann, Irene. Coca-Cola im Kracherlland. In: Roman<br />
Sandgruber (Hg.): Genuss & Kunst. Innsbruck 1994, 92-101.<br />
Barber, Benjamin. Coca Cola und Heiliger Krieg: Jihad versus<br />
McWorld. Der grundlegende Konflikt unserer Zeit. Bern et al.,<br />
2002. [engl. Original 1996]<br />
Fikentscher, Rüdiger (Hg.). Islam und Coca Cola. Begegnung der<br />
Kulturen nach dem Irak-Krieg. Halle an der Saale 2003<br />
Kuisel, Richard F.. Coca-Cola and the Cold War: The French Face<br />
Americanization, 1948-1953. In: French Historical Studies, Vol. 17,<br />
No. 1 (Spring 1991), 96-116.<br />
Nandy, Ashis. The Philosophy of Coca Cola. 1994<br />
http://vlal.bol.ucla.edu/multiversity/Nandy/Nandy_coke.htm<br />
Nandy, Ashis. Gandhi after Gandhi after Gandhi. In: The Little<br />
Magazine. 2000 http://www.littlemag.com/2000/nandy.htm<br />
Miller, Daniel. Coca Cola: a black sweet drink from Trinidad. In:<br />
Material Cultures, Vol. 1, 4, November1997, 169-188.<br />
Pendergrast, Mark. For God, Country and Coca Cola: The<br />
unauthorized history of the great American soft drink and the<br />
company that makes it. New York. 1993<br />
Ram, Uri. Liquid identities: Mecca Cola versus Coca-Cola. In:<br />
European Journal of Cultural Studies, 10, 2007, 465-484.<br />
Spittler, Gerd. Globale Waren - Lokale Aneignungen. In: Brigitta<br />
Hauser-Schäublin und Ulrich Braukämper (Hg.): Ethnologie der<br />
Globalisierung. Perspektiven kultureller Verflechtungen. Berlin<br />
2002, 15-30.<br />
Taussig, Michael. Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige<br />
Geschichte der Sinne. Aus dem Amerikanischen von Regine<br />
Mundel und Christoph Schirmer. Hamburg 1997.<br />
Tweder, Fabian et al.. Vita-Cola & Timms Saurer. Getränkesaison in<br />
der DDR. Berlin 1999
<strong>Die</strong> Bedeutung von Religion für Identitätskonstruktionen von<br />
MigrantInnen aus der Türkei<br />
von MARIA SIX-HOHENBALKEN<br />
Religion im Zeitalter<br />
der Globalisierung<br />
Vernetzung von Glauben in der Diaspora<br />
In den letzten fünf Jahren wurde<br />
vermehrt festgestellt, dass Religion<br />
wesentlich für die<br />
Identitätskonstruktion von<br />
MigrantInnen ist. Religionsspezifische<br />
Fragen wurden im Migrationsdiskurs<br />
lange vernachlässigt. Religion ist ein<br />
Bindeglied für heterogene<br />
Zuwandererkommunitäten, sie wirkt<br />
über ethnische Grenzziehungen hinaus<br />
und kann eine Konkurrenzkategorie<br />
zu den politisch ausgerichteten<br />
Institutionen von MigrantInnen<br />
darstellen. Religion kann die<br />
Aufnahme in die als auch den<br />
Ausschluss von der Aufnahmegesellschaft<br />
bewirken, sie dient der<br />
Etablierung von Gemeinschaften und<br />
ist gleichzeitig ein Bindeglied zur<br />
Herkunftsgesellschaft. In Phasen der<br />
Unsicherheit ist Religion ein<br />
„Rettungsanker“ und bietet<br />
moralische, soziale und finanzielle<br />
Unterstützung.<br />
Einige kulturanthropologische Studien haben die Bedeutung<br />
von Religion im Migrationskontext bzw. in transnationalen<br />
Gemeinschaften untersucht (Baumann 1996, Peggy Levitt<br />
2001, Van der Veer 1995, 2001, Vertovec 2001). <strong>Die</strong>ser Beitrag<br />
basiert auf Befragungen von MigrantInnen aus der Türkei, die im<br />
Zuge von zwei Forschungen in Wien (1997-99 BMBWK, restudy 2006<br />
Hochschuljubiläumsfonds) durchgeführt wurden und soll einen<br />
kleinen Einblick geben.<br />
In den letzten zwei Jahrzehnten konnten Religionsgemeinschaften<br />
durch verbesserte Verkehrs- und Informationstechnologien vermehrt<br />
globale Netzwerke aufbauen. Religiöse Akteure, oft ausgebildet in<br />
mehreren Staaten, zirkulieren zwischen den transnationalen<br />
Kommuntitäten um sie zu betreuen. Moderne Kommunikationstechnologien<br />
spielen eine zunehmend wichtige Rolle, etwa websites für<br />
diverse <strong>Die</strong>nstleistungen oder chat rooms für religiöse Diskussionen.<br />
<strong>Die</strong>se globalen Bewegungen haben Rückwirkungen auf die Religion<br />
selbst, da beim Aufbau von Kommunitäten auf die rechtlichen<br />
Rahmenbedingungen in den Aufnahmeländern Bezug genommen<br />
und religiöse Praxen den nationalen Gegebenheiten angepasst werden<br />
müssen. Islamische Religionsgemeinschaften in Europa weisen eine<br />
Vielzahl von unterschiedlichen Orientierungen auf. Allein aufgrund<br />
der Diversitäten in den Herkunftsländern und den unterschiedlichen<br />
Bedingungen in den Aufnahmeländern haben MuslimInnen mehrere<br />
Optionen zur Religionsausübung (vgl Vertovec. 2001: 34ff.): Neben<br />
der Möglichkeit sekulär zu leben, können sie sozio-kulturellen<br />
Traditionen nachgehen ohne den religiösen Aspekt besonders zu<br />
betonen. Es können Kooperationen mit unterschiedlichen muslimischen<br />
Gruppen angestrebt werden, die die Rolle der Religion oder<br />
eine ethnisch-religiöse Orientierung hervorheben. Man kann religiöse<br />
Orientierungen allein durch moralisches Verhalten zum Ausdruck<br />
bringen oder eine ideologisch-politische Einstellung gegenüber dem<br />
offiziellen Islam in der Heimat, durch eine Verteidigungs- oder<br />
Oppositionshaltung einnehmen. Gläubige können versuchen intakte<br />
Strukturen zu (re)kreiren, homogenisierende Einstellungen vertreten,<br />
ökumenische Strukturen schaffen, spezifische religiöse Formen<br />
universalisieren oder eine kosmopolitische Einstellung vertreten, so<br />
Vertovec. Im europäischen Vergleich hat Österreich eine Sonder-<br />
Salon – Globalisierung<br />
13
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
stellung, da der Islam hier seit 1912 den Status einer<br />
Religionsgemeinschaft inne hat und 1979 als „Rechtsperson“<br />
vollständig anerkannt wurde. Etwa ein Drittel<br />
der ca. 350.000 MuslimInnen in Österreich stammen aus<br />
der Türkei. <strong>Die</strong> über 150 Moscheenvereine sowie zahlreiche<br />
Initiativen und Dachverbände spiegeln unterschiedliche<br />
Orientierungen und Herkunftsländer wider.<br />
Alleine bei der kleinen Anzahl von InformantInnen<br />
(zwölf Familien aus der Türkei, befragt 1997 und 2006)<br />
zeigen sich differenzierte religiöse Orientierungen und<br />
Transformationen.<br />
Bei Familie A war ein Wandel zu einem normativen Islam<br />
feststellbar. Vor einem Jahrzehnt war die Familie noch<br />
sehr türkeiorientier – aufgrund existenzieller Probleme<br />
kamen jährliche Familienurlaube in der Türkei nicht in<br />
Frage; auch hatte man keinen Besitz im Herkunftsland.<br />
Saudi-Arabien und die Teilnahme am Hajj steht nun im<br />
Zentrum der Reiseplanung der Eltern. <strong>Die</strong> Gespräche in<br />
dieser Familie konzentrierten sich häufig auf islamfeindliche<br />
Aussagen in der Öffentlichkeit. Beklagt wurden<br />
Stereotypisierungen und ein sozialer Ausschluss, der<br />
alle Familienmitglieder sehr belastete.<br />
Auch bei Familie B war ein Wandel in der Orientierung an<br />
der Türkei feststellbar. Es wurde nicht mehr in die<br />
Herkunftsregionen in Zentralanatolien investiert, sondern<br />
man orientierte sich an den Kinderwünschen und<br />
kaufte ein Sommerhaus am Meer. Trotz bestehender Türkeiorientiertheit<br />
sind die Familienmitglieder an Reisen<br />
nach Mekka interessiert, Frau B nahm im letzten Jahr<br />
zusammen mit Familie A am Hajj teil und plante im<br />
folgenden Jahr mit ihren sekulär eingestellten Kindern<br />
wieder daran teilzunehmen. Religion ist für die Familienmitglieder<br />
zunehmend ein kulturelles Identifikationsmerkmal,<br />
basierend auf den Vorschriften eines normativen<br />
Islams.<br />
Bei kurdischen Familien ist im letzten Jahrzehnt eine<br />
Neuorientierung feststellbar. Lange waren ethnopolitische<br />
Faktoren und politische Organisationen<br />
wichtig für ihre Identitätskonstruktionen, Religion<br />
spielte keine besondere Rolle. In den letzten Jahren<br />
gewann die religiöse Orientierung an Bedeutung für<br />
multiple Identitätskonstruktionen (von kurdischen<br />
SunnitInnen und AlevitInnen). <strong>Die</strong>se Entwicklung gipfelte<br />
in der Eröffnung einer kurdisch-sunnitischen Gebetsstätte<br />
– nach Vertovec also eine ethno-politische religiöse<br />
Orientierung. Bei einigen GesprächspartnerInnen wurde<br />
deutlich, welche Rolle den rechtlichen Rahmenbedingungen<br />
zukommt, um Religion zu praktizieren und sich<br />
im Residenzland „zu Hause“ fühlen zu können.<br />
<strong>Die</strong> gläubige Muslimin Frau C. kam als Schülerin aus<br />
dem Westen der Türkei nach Wien und konnte aufgrund<br />
14<br />
Salon – Globalisierung<br />
der Sprachproblematik nicht den von ihr gewünschten<br />
Schulerfolg erzielen, weshalb sie sich ausgeschlossen<br />
fühlte. Erst als sie die Möglichkeit hatte, als Kopftuchträgerin<br />
zu studieren – was in der Türkei nicht möglich<br />
gewesen wäre – und Kontakte zu vorurteilsfreien ÖsterreicherInnen<br />
aufzubauen, fühlte sie sich „ganz angekommen“<br />
und „zu Hause“. Sie wertet diese Möglichkeit als<br />
einen Beitrag zur Freiheit der muslimischen Frau.<br />
Frau H. gab an, aus einer sehr gläubigen Familie zu<br />
stammen, in der sich alle weiblichen Verwandten<br />
„bedecken“. Sie wurde nie von ihren Eltern dazu gezwungen,<br />
aber entfernte weibliche Verwandte übten<br />
soziale Kontrolle aus und forderten die Einhaltung von<br />
Kleidungsvorschriften. Frau H.s säkulare Einstellung<br />
wird von ihren Eltern akzeptiert und damit „entschuldigt“,<br />
dass sie ohne Eltern in die Türkei zurückgeschickt<br />
wurde um die Volksschule zu besuchen. Ihr „abweichendes“<br />
Verhalten wurde damit erklärt, dass sie unter<br />
der familiären Trennung in ihrer Kindheit gelitten hatte<br />
und man von ihr die Einhaltung der familiären Normen<br />
nicht mit Nachdruck einfordern könne. Für Frau H. war<br />
es von besonderer Bedeutung, dass ihr Freundeskreis<br />
multi-ethnisch und multi-religiös ist, ebenso für Frau K.<br />
Für Frau K ist es nicht die religiöse Praxis, sondern das<br />
Wissen um die religiösen Vorschriften und ihre „kulturelle“<br />
Vermittlerfunktion, die ihr Selbstverständnis ausmachen.<br />
Bei Integrationsprojekten in einem Gemeindebau<br />
kommt Frau K. eine besondere Rolle zu, da sie die<br />
Speisegebote und Kleidervorschriften kennt und diese<br />
Nicht-MuslimInnen vermitteln kann. Für sie hat Religion<br />
eher die Bedeutung einer sozio-kulturellen Orientierung:<br />
Als sie Probleme mit ihrem pubertierenden Sohn hatte,<br />
da er sich nicht respektvoll gegenüber älteren Personen<br />
und seinen Eltern verhielt, erklärte sie, dass sie es verabsäumt<br />
hätte ihn in den islamischen Religionsunterricht<br />
zu schicken, um dieses richtige Verhalten zu lernen.<br />
Weitere InterviewpartnerInnen vertraten säkuläre<br />
Einstellungen, bzw. meinten, dass der Glaube etwas<br />
Individuelles, wie auch eine Privatangelegenheit sei und<br />
Religion in einem demokratischen Land nicht überbewertet<br />
werden dürfe. Aufgrund der unterschiedlichen<br />
muslimischen Institutionen in Österreich sind transnationale<br />
religiöse Beziehungen für diese InformantInnen<br />
weniger von Bedeutung und waren eher auf<br />
den privaten Bereich beschränkt.<br />
Für demographisch kleinere Religionsgemeinschaften<br />
haben transnationale Verflechtungen hingegen eine<br />
besondere Relevanz. <strong>Die</strong> Herausbildung eines europaweiten<br />
Netzwerkes von türkischen und kurdischen<br />
AlevitInnen hat nicht allein zu einer Veränderung des
Selbstverständnisses in der Migration/Diaspora beigetragen,<br />
sondern einen transnationalen Raum entstehen<br />
lassen, der auf die alevitische Bewegung in der Heimat<br />
rückwirkt. So auch in Wien, wo es alevitische<br />
Vereinigungen gibt und ein cemhane (religiöse Stätte)<br />
geplant ist.<br />
Das Alevitentum – türkisch- wie kurdischsprachig<br />
– wird als die anatolische Variante des Schiismus<br />
gesehen, in den Elemente der islamischen Mystik und die<br />
Philosophie des Neuplatonismus eingeflossen sind. Das<br />
Alevitentum ist in sich sehr heterogen und wurde vor<br />
allem mündlich tradiert. Aufgrund der jahrhundertlangen<br />
Verfolgungen im Herkunftsland war es lange eine<br />
Geheimreligion – die Mitgliedschaft erfolgte über die<br />
patrilineare Abstammung. Jede/r Gläubige hat einen dede<br />
oder hoca (religiöser Würdenträger), den man mindestens<br />
einmal jährlich trifft. Es gibt in Mitteleuropa<br />
mittlerweile ein Netz von dedes, die ihre Gemeinden<br />
betreuen und zwischen den einzelnen Städten zirkulieren,<br />
jedoch stellen die in der Migration gegründeten<br />
Vereine eine gewisse Konkurrenz für die Autorität der<br />
religiösen Würdenträger dar (vgl. Sökefeld 2002).<br />
Seit Mitte der 1970er Jahre sind von christlichen<br />
Gruppierungen – infolge des Konflikts zwischen türkischem<br />
Militär und der kurdischen Widerstandsbewegungen<br />
– enorme Auswanderungs- und Fluchtwellen<br />
zu verzeichnen. Lebten Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
etwa 700.000 AssyrerInnen im Tur Abdin (SO-Türkei),<br />
sind es heute nur noch 1600 Personen. <strong>Die</strong> Bezeichnung<br />
Assyrer ist ein politischer Terminus, der Mitte des 19.<br />
Jahrhunderts durch die Entfaltung des Nationalgedankens<br />
unter den aramäisch sprechenden ChristInnen (d.h.<br />
syrisch-orthodoxen und chaldäischen ChristInnen)<br />
entstand. Aufgrund der Unmöglichkeit einer Remigration<br />
ist Religion und Glaube ein wesentlicher Bestandteil<br />
der Identitäten. Unterschiedliche Strategien in den<br />
Identitätskonstruktionen – religiös oder ethno-politisch<br />
orientiert – spiegeln sich auch in den Organisationen und<br />
Institutionen wider.<br />
In Österreich leben fast 7000 AssyrerInnen. Bereits von<br />
den ersten Flüchtlingen wurde eine syrisch-orthodoxe<br />
Kirche gegründet, eine weitere folgte in den 1990er<br />
Jahren. Eine andere Kirche wird hauptsächlich von<br />
Flüchtlinge aus dem Iran und Syrien besucht (syrischorthodoxe,<br />
chaldäische, armenische oder protestantische<br />
ChristInnen) deren Schicksal noch ungewiss ist. Hier<br />
werden religiöse Spaltungen, die lange Zeit in den<br />
Herkunftsländern eine Rolle spielten, überwunden. In<br />
kleinen ethnischen oder religiösen Gemeinschaften ist<br />
die Suche nach geeigneten HeiratspartnerInnen schwierig,<br />
wenn Wert auf eine intra-religiöse Eheschließung<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
gelegt wird. In den letzten Jahren sind Internetforen<br />
entstanden, über die HeiratspartnerInnen in den europäischen<br />
oder US-amerikanischen Diasporen gesucht<br />
werden. Zu diesem Trend meinte ein Informant, dass<br />
AssyrerInnen in Wien aus verschiedenen Ländern Westasiens<br />
stammen. <strong>Die</strong> erste Generation war multilingual,<br />
da es eine eigene Kultsprache und mehrere Verkehrssprachen<br />
gab. Durch die Migration ist diese Multilingualität<br />
nicht mehr gegeben, im Mittelpunkt steht vor<br />
allem die Sprache des Aufnahmelandes. <strong>Die</strong> verbindende<br />
Sprache im Internet ist Englisch, aber gerade in den<br />
unterschiedlichen Sprachkenntnissen liegt ein wesentliches<br />
Hindernis für die Schließung von transnationalen<br />
Ehen. �<br />
Dr. Maria Six-Hohenbalken ist wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
an der Forschungsstelle Sozialanthropologie, Zentrum<br />
Asienwissenschaften und Sozialanthropologie der ÖAW.<br />
Univ.-Lektorin am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie.<br />
Literatur<br />
Baumann, Gerd. Contesting culture: discourses of identity in multiethnic,<br />
London Cambridge University Press, 1996.<br />
Levitt, Peggy. Between God, Ethnicity, and Country: An Approach to<br />
the Study of Transnational Religion. In: WPTC - 01 - 13, 2001.<br />
Sökefeld, Martin. Alevi Dedes in the German Diaspora. The<br />
Transformation of a Religious Institution. In: Zeitschrift für<br />
Ethnologie 2002, 127. S. 163 - 186.<br />
Van der Veer, Peter. Nation and Migration. The Politics of Space in<br />
the South Asian Diaspora. Philadelphia: Univ. of Penn. Press, 1995.<br />
Van der Veer, Peter. Transnational Religion. In: WPTC - 01 - 18, 2001.<br />
Vertovec, Steven. Three meanings of ‚diaspora‘, exemplified among<br />
South Asian religions. Diaspora 7/2/1999<br />
online:<br />
http://www.transcomm.ox.ac.uk/working%20papers/diaspora.pdf,<br />
1.7.2005.<br />
Vertovec, Steven. Religion and Diaspora. In:WPTC- 01 - 01, 2001.<br />
WPTC: http://www.transcomm.ox.ac.uk/working_papers.htm<br />
Salon – Globalisierung<br />
15
16<br />
Flexible und mobiler werdende Lebensumstände schaffen ein neues<br />
Konzept von Identität<br />
von GERHARD JOST<br />
Flexibilisierung<br />
von Identitäten?<br />
Biografien unter globalisierten Verhältnissen<br />
Mit Globalisierung wird oft die<br />
Zunahme ungleicher Macht- und<br />
Verteilungsverhältnisse innerhalb und<br />
zwischen Ländern angesprochen:<br />
durch die Macht internationaler<br />
Unternehmenskonzerne und infolge<br />
neoliberaler Tendenzen werden sie nur<br />
unzulänglich reguliert. Globalisierung<br />
bedeutet jedoch genauso, dass ein<br />
größeres Potential an Mobilität besteht,<br />
das Biografien „strukturiert“. Mit<br />
solchen Tendenzen taucht die Frage<br />
auf, ob sich diese gesellschaftlichen<br />
Veränderungen in Prozessen der<br />
Identitätsbildung manifestieren.<br />
Salon – Globalisierung<br />
In industrialisierten Ländern zeigen Lebensgeschichten ein<br />
widersprüchliches Bild. Einerseits wurden Biografien durch<br />
differenzierte Arbeitsteilung, höhere Lebenserwartung und<br />
Vorsorgesysteme langfristiger planbar. Biografische Arbeit und<br />
Lebensplanung wurden zur Ressource, um sich innerhalb von<br />
Unwägbarkeiten sowie ausdifferenzierten sozialen und kulturellen<br />
Welten zu orientieren. Andererseits nehmen nun Risiken der Planund<br />
Berechenbarkeit des Lebenslaufs in diesen Ländern zu. Bereits für<br />
Angehörige der Mittelschicht entsteht ein beschleunigter Wandel, sei<br />
es durch neue Formen der Arbeitsorganisation, plurale Erwartungen<br />
oder durch flexible Arbeitszeiten und -orte. Solche Veränderungen<br />
könnten potentiell neue biografische Ordnungen nach sich ziehen.<br />
Identität als Notwendigkeit der „Moderne“<br />
Programmatisch lässt sich zunächst behaupten, dass „moderne“<br />
Gesellschaften stabile, unverrückbare Identitäten benötigen, die über<br />
verschiedene Lebensphasen und Lebensbereiche hinweg konsistent<br />
und kohärent sind. Sie sind bedeutend, weil sie als Planungsinstanz<br />
fungieren sowie die Gestaltung von Interaktionen in multiplen<br />
Lebenszusammenhängen anleiten. Ein integriertes "Ich", verstanden<br />
als Syntheseleistungen aus verschiedenen Erwartungshorizonten, ist<br />
handlungsfähig; ein dezentriertes hingegen birgt Symptome wie<br />
Identitätsdiffusion, Depersonalisation oder psychotische Subjektstrukturen<br />
in sich, aus denen soziale und gesundheitliche Probleme<br />
resultieren können. Zu verweisen ist auf die negativen psychischen<br />
Folgen fragmentierter Biografien, die auch in Form eines narzisstischindividualistischen<br />
Rückzugs auftreten können.<br />
Trotz der weitläufigen Verwendung des Begriffes ist Identität – ausgehend<br />
von Erikson (1966) – als Einheit zu verstehen. Erfahrungen<br />
werden durch einen selbstbezüglichen, reflexiv-synthetischen Prozess<br />
integriert. Gelungene Identitätsbildung bedeutet dann, dass sich die<br />
Struktur des Selbstausdrucks bzw. der Erfahrungen über zeitliche und<br />
räumliche Bereiche hinweg nicht grundlegend verändert. Kindheit<br />
und Jugend gelten als essentielle (Aus-) Bildungsphasen, in welcher<br />
der Kern der Identität festgelegt wird. Danach sollte sich eine relativ<br />
stabile Persönlichkeitsstruktur eingestellt haben, die auf Änderungen<br />
nur peripher anspricht. Teils werden jedoch auch die transformativen,
dynamischen Komponenten im Identitätskonzept stärker<br />
hervorgehoben (vgl. Keupp u.a. 1999).<br />
Identität wird in der Regel mit Bezug auf soziale<br />
Gruppen und Institutionen reflektiert. So wird von<br />
kulturellen, ethnischen, religiösen, beruflichen oder<br />
sozialen Identitäten gesprochen, um die Disposition<br />
eines Subjekts als Mitglied einer sozialen Einheit<br />
beschreiben zu können. Identität entsteht jedoch nicht<br />
ausschließlich durch die Übernahme der Perspektive<br />
„signifikanter Anderer“ („Me“), sondern wird mit den<br />
spontanen, kreativen Bedürfnissen („I“) balanciert und<br />
vermittelt somit zwischen Gesellschaft und Subjekt.<br />
Einflüsse durch „Globalisierung“<br />
Unter den Bedingungen der Globalisierung, stellt sich<br />
jedoch die Frage, inwieweit die Ausbildung einer<br />
konsistenten und kohärenten Identität heutzutage<br />
überhaupt noch möglich ist.<br />
Ein Merkmal der Globalisierung ist die zunehmende<br />
geografische und soziale Mobilität. Kommunikationsprozesse<br />
erfolgen heute über weite Zeit-Raum-Spannen,<br />
sodass sie nicht mehr vorrangig in regionalen Partikularitäten<br />
stattfinden. Dazu tragen international handelnde<br />
Unternehmen genauso bei wie neue Kommunikations-<br />
und Informationstechnologien. Mit dem tendenziellen<br />
Aufweichen der Normierungen lokaler bzw.<br />
nationaler Kollektive, entstehen nicht nur neue Handlungsfelder<br />
und Entwicklungsoptionen. Auch soziale<br />
Kosten sind mit dieser Entwicklung verbunden, die ein<br />
Gleichgewicht des familiären Umfelds und des Berufs<br />
erschweren.<br />
Statistiken über Binnen- und Zuwanderungen, über<br />
Arbeit (diskontinuierliche Berufsverläufe und Arbeitslosigkeit),<br />
sozialen Auf- und Abstieg (intergenerationelle<br />
Mobilität), Partnerschaft (Eheschließungen und Scheidungen)<br />
oder Parteienbindungen zeigen eine Zunahme<br />
von Mobilitätsprozessen (vgl. Preglau 1998: 363f.). <strong>Die</strong><br />
Internationalisierung von Betrieben sowie die<br />
Entstehung supranationaler Verbände und Non-Profit-<br />
Organisationen tragen zu verstärkter Mobilität bei. <strong>Die</strong>se<br />
wird wiederum dadurch gefördert, dass der lebenslange<br />
Verbleib in einem Beruf oder Betrieb weniger wahrscheinlich<br />
ist als in früheren Zeiten. Für Diskontinuitäten<br />
sorgen aber auch Entwicklungen innerhalb von Organisationen:<br />
Der Grad starrer und zentralisierter Führung<br />
hat zugunsten flacher Hierarchien und antiautoritäre<br />
Verhaltensmuster abgenommen. Dadurch werden Tätigkeitsfelder<br />
von Mitarbeitern wandelbarer. Auch neue<br />
atypische Formen von Arbeitsverhältnissen abseits der<br />
Normalarbeit, seien es Werkverträge durch outsourcing,<br />
neue Formen abhängiger (Schein-) Selbstständigkeit oder<br />
Telearbeit, genauso wie die Einführung neuer Arbeitszeitformen,<br />
bewirken neue soziale Ordnungen. Aber die<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Herauslösung aus herkömmlichen Arrangements unter<br />
neuen globalisierten Bedingungen ist mit Folgewirkungen<br />
verbunden. So verschärft sich bereits bei<br />
temporären Migrationen die Frage der Integration von<br />
Familie und Beruf, die Gestaltung intergenerationeller<br />
Beziehungen und generell die Bewältigung von<br />
Unsicherheiten eines neuen Umfeldes.<br />
Globalisierung und die Entwicklung<br />
von Biografien<br />
Eine These geht nun dahin, dass damit zunehmend nicht<br />
nur die Möglichkeit, sondern ein Zwang zur eigenständigen<br />
biografischen Arbeit entsteht (Beck u.a. 2003:<br />
10f.). Identität ist zwar weiterhin institutionell gebunden,<br />
doch stärker selbst zu organisieren. Noch weiter geht die<br />
These, wenn der „flexible Mensch“ als Resultat des<br />
neuen, globalen Kapitalismus konstatiert wird (vgl.<br />
Sennett 1998). Flexible Arbeitsmärkte und Organisationen,<br />
so die Ausführungen, bewirken einen Drift von<br />
Personen. Damit ist ein "Dahintreiben" gemeint, das als<br />
Gegensatz zur Kontrolle über die eigene Biografie<br />
angesprochen wird und im Kontext des Lebens mit<br />
Unsicherheit steht. Der Einzelne hält sich Optionen offen<br />
und integriert sich nur zeitlich begrenzt in sein soziales<br />
Feld. Es etabliert sich eine Kultur der Kurzfristigkeit, in<br />
der die Gegenwart bedeutender scheint, als Vergangenes<br />
sowie Zukünftiges. <strong>Die</strong> permanente Präsenz von Wandel<br />
und die damit verbundenen Ungewissheiten manifestieren<br />
sich in einer Kultur der Äußerlichkeit. Es besteht<br />
wenig Zeit, um Kontinuität und Vertrauen aufzubauen.<br />
Bindungen zu einem Betrieb werden etwa durch<br />
temporäre, professionelle Loyalitäten und durch eine<br />
flexible Leistungsbereitschaft abgelöst, wodurch das<br />
Individuum viel stärker mit anonymen Systemen<br />
konfrontiert ist. Es entsteht eine neue Form der<br />
Abstumpfung, die nun nicht mehr nur durch Routinetätigkeiten<br />
z.B. des Arbeiters in der Fabrik und<br />
technische Rationalität, sondern vor allem durch<br />
Mobilität und Flexibilität gekennzeichnet ist. Früher<br />
waren die Handlungsoptionen insbesondere durch das<br />
Normalarbeitsverhältnis und durch institutionelle<br />
Vorgaben beschränkt. Geringere Wahlmöglichkeiten<br />
bedeutete auch eine Begrenzung in sozialen, beruflichen<br />
und kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten. Unter<br />
Bedingungen der Entgrenzung regionaler und sozialer<br />
Einheiten wachsen zwar die Handlungsmöglichkeiten,<br />
jedoch nicht selbstverständlich auch die Autonomie.<br />
Folge dieser Entwicklungen ist, dass sich einzelne<br />
Fragmente nicht mehr zu einer linearen Lebensgeschichte<br />
bündeln lassen und sozialen Vorgängen die<br />
Innerlichkeit fehlt.<br />
Allerdings können Identitäten, selbst unter einer<br />
deregulierten Dynamik beschleunigten Wandels, nicht<br />
Salon – Globalisierung<br />
17
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
nur Momentaufnahmen sein und beliebig transformiert<br />
werden. Fortgeschrittene Flexibilität und Komplexität<br />
bedeutet im Prinzip noch nicht, dass die Konstruktion<br />
biografischer Sinnzusammenhänge nicht mehr notwendig<br />
wäre. Individuen benötigen aus gesellschaftlichen<br />
und individuellen Gründen eine Biografie, die ihrem<br />
Leben einen Sinn verleiht und an der sich Interaktionspartner<br />
orientieren können. Unumstritten ist<br />
daher, dass selbst unter globalisierten Bedingungen (der<br />
Postmoderne) ein biografisches Orientierungsmuster<br />
benötigt wird, d.h. Erfahrungen in irgendeiner Form<br />
geordnet sind. <strong>Die</strong> dabei entstehenden biografischen<br />
Strukturen sind veränderbar und werden anlässlich<br />
bedeutender Lebensereignisse überarbeitet. Soziologische<br />
Biografieforschung, die weder zu (starren) Identitätsvorstellungen<br />
noch zu postmodernen Konzepten wie<br />
jenem des „flexiblen Selbst“ tendiert, verweist stattdessen<br />
auf die Bedeutung von erzählten Biografien, die<br />
auch als narrative Identitäten (vgl. Lucius-Hoehne/<br />
Deppermann 2002) verstanden werden können. Mit<br />
ihnen kann der lebensgeschichtliche Prozess des<br />
Werdens fokussiert werden (vgl. Rosenthal 1999: 22).<br />
Gleichzeitig nimmt ein Konzept biografischer Strukturierung<br />
Abstand von der Normativität des Identitätskonzepts,<br />
welches auf einen Soll-Zustand des<br />
Individuums verweist (vgl. Fischer-Rosenthal 2000:<br />
227f.).<br />
Biografische Studien zu einzelnen Aspekten der<br />
Globalisierung beschäftigen sich dann weniger mit der<br />
Frage, inwieweit Biografien aufgrund von Fragmentierungen<br />
kohärent oder flexibel sind, sondern gehen<br />
beispielsweise auf die Bedeutung von Ethnizität und<br />
regionalen Handlungs- und Wissensstrukturen für die<br />
Gestaltung von lebensgeschichtlichen und sozialintegrativen<br />
Prozessen ein (vgl. Apitzsch 1999). Dabei<br />
werden auch Transformationsprozesse von Traditionalität<br />
in der globalen Peripherie untersucht (vgl. u.a.:<br />
Bosse 1999). Biografien von MigrantInnen stellen<br />
ohnehin ein wichtiges Thema der Biografieforschung<br />
dar, beginnend mit der klassischen Studie über polnische<br />
Bauern in Amerika (Thomas/Znaniencki 1958). In diesem<br />
Kontext sind auch die durch Globalisierungstendenzen<br />
getragenen Transmigrationen von Interesse, die durch<br />
professions- oder karrierebedingte Wechsel zwischen<br />
Heimatland und fremden Ländern entstehen. Analysiert<br />
werden unter anderem Biografien und Muster der<br />
Lebensführung von MitarbeiterInnen humanitärer<br />
NPO's, EntwicklungshelferInnen, WissenschaftlerInnen,<br />
oder Finanzbeschäftigen (vgl. Kreutzer/Roth 2006). �<br />
18<br />
Salon – Globalisierung<br />
Gerhard Jost ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut<br />
für Soziologie und empirische Sozialforschung an der WU.<br />
Forschungs- & Lehrschwerpunkte: Biografienforschung,<br />
Methoden der qualitativen Sozialfoschung, Migrationssoziologie,<br />
familiensoziologische Fragestellungen sowie Arbeit<br />
& Beruf.<br />
Literatur<br />
Apitzsch, Ursula (Hg.). Migration und Traditionsbildung. Opladen,<br />
1999.<br />
Beck, Ulrich /Vossenkuhl, Wilhelm/Rautert, Timm: Eigenes Leben.<br />
Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben. München,<br />
1995.<br />
Bosse, Hans. Zur Interdependenz individueller und kollektiver<br />
Sinnbildungsprozesse. Religiöse Erfahrungen jugendlicher<br />
Bildungsmigranten aus Papua Neuguinea. In: Apitzsch, Ursula<br />
(Hg.): a.a.O. 1999. S. 244-272.<br />
Erikson, Erik H. Identität und Lebenszyklus. Frankfurt am Main,<br />
1966.<br />
Fischer-Rosenthal, Wolfram. Melancholie der Identität und<br />
dezentrierte biografische Selbstbeschreibung. Anmerkungen zu<br />
einem langen Abschied aus der selbstverschuldeten Zentriertheit<br />
des Subjekts. In: Hoerning, E. M. (Hg.): Biografische Sozialisation.<br />
Stuttgart, 2000. S. 227-255.<br />
Keupp, Heiner/Ahbe, Thomas/Gmür, Wolfgang/Höfer, Renate/<br />
Mitzscherlich, Beate/Kraus, Wolfgang/Straus, Florian. Identitätskonstruktionen.<br />
Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne.<br />
Reinbek bei Hamburg, 1999.<br />
Kreutzer, Florian/Roth, Silke (Hg.). Transnationale Karrieren.<br />
Biografien, Lebensführung und Mobilität, 2006.<br />
Lucius-Höhne, Gabriele/Deppermann, Arnulf. Rekonstruktion<br />
narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer<br />
Interviews. Opladen, 2002.<br />
Preglau, Max. Postmodernisierung des Selbst? Versuch einer<br />
theoretischen und empirischen Annäherung. In: Preglau, M./Richter<br />
R. (Hg.): Postmodernes Österreich? Konturen des Wandels in<br />
Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur. Wien, 1998. S. 353-371.<br />
Rosenthal, Gabriele. Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt<br />
und Struktur biografischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt/New<br />
York, 1995.<br />
Sennett, Richard. Der flexible Mensch. Berlin, 1998.<br />
Thomas, William I./Znaniencki, Florian. The Polish Peasant in Europe<br />
and America. New York, 1958.
Kultur – praktisch?<br />
Sonja Windmüller, Saskia Frank (Hg.): Normieren,<br />
Standardisieren, Vereinheitlichen. Marburg, Hessische<br />
Blätter für Volks- und Kulturforschung, Jonas Verlag,<br />
2005, 194 Seiten, s/w-Abb.<br />
<strong>Die</strong> Hessischen Blätter legen zum Phänomen der Normierung<br />
einen Konzeptband vor. „Hat sich das ursprünglich<br />
technisch-ökonomische Phänomen doch längst in<br />
nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche ausgeweitet<br />
– Normierung ist zu einem zentralen Kulturprinzip<br />
avanciert“, schreiben die Herausgeberinnen in der<br />
Einleitung.<br />
<strong>Die</strong>sem Kulturprinzip spüren die Aufsätze des Bandes<br />
nach. Elke Gaugele untersucht in ihrem Text zum Avatar<br />
Körpervermessungen. Der Avatar ist eine virtuelle Puppe<br />
mit genauen Körpermaßen. „Über einen Avatar kann<br />
sowohl im Internet als auch in Modegeschäften Kleidung<br />
anprobiert und konsumiert werden.“ Gaugele kommt zu<br />
dem Schluss, dass sich darüber Körperbilder und -konstruktionen<br />
verbreiten, da in Großbritannien der Norm-<br />
Körper errechnet und statistisch erfasst wird.<br />
Anthropologie – theoretisch?<br />
Fernand Kreff. Grundkonzepte der Sozial- und<br />
Kulturanthropologie in der Globalisierungsdebatte.<br />
Berlin. <strong>Die</strong>trich Reimer Verlag 2003 233 S., 29,90 €<br />
<strong>Die</strong> Studie untersucht die Bedeutung der Debatte um<br />
Globalisierung für die Kultur- und Sozialanthropologie.<br />
Sie verfolgt dabei zwei Ebenen: <strong>Die</strong> fachinterne Auseinandersetzung<br />
mit den Bedingungen der Globalisierung<br />
hat zum einen die Entwicklung neuer Konzepte oder<br />
Modelle zur Interpretation und Erforschung der gegenwärtigen<br />
Situation herausgefordert. Neben den Konzeptionen<br />
von Kultur und Gesellschaft wurde insbesondere<br />
die Verortung soziokultureller Prozesse innerhalb eines<br />
globalen sozio-ökonomischen und politischen Rahmens<br />
zu einer der wichtigsten Problemstellungen für die<br />
Forschung. Damit wurden aber zugleich auch bis dahin<br />
von einem breiten Konsens getragene Grundkonzepte<br />
des Fachs überhaupt fragwürdig. Und nicht zuletzt sah<br />
sich die Anthropologie gezwungen, gegenüber anderen<br />
Fächern wie etwa den cultural studies, den postcolonial<br />
studies oder der Kultursoziologie Position zu beziehen.<br />
Ziel ist es, den LeserInnen einen Leitfaden entlang der<br />
Diskussionen und Neuansätze von Theorie und methodischem<br />
Zugang in die Hand zu geben: die neuen<br />
Forschungsobjekte und -felder werden dargestellt;<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Siegfried Becker untersucht das „Gestalten von Tieren<br />
nach den Bedürfnissen der Menschen“ anhand der<br />
Tierzucht. Hier werden weltweite Standards erstellt, wie<br />
Tiere auszusehen haben. Für Legehennen gibt es etwa<br />
nur wenige Basiszuchtbetriebe, „eine Globalisierung des<br />
Marktes, die zu einer extremen Verengung der genetischen<br />
Potentiale geführt hat.“<br />
Ähnlichen Globalisierungstendenzen spürt Manuel<br />
Trummer mit seinem Aufsatz zur "McKropolis-<br />
Revolution" nach. Es wird dabei untersucht, wie eine<br />
Nobilitierung schnellen Essens bei McDonalds oder<br />
Burger King angestrebt wird. Das liegt daran, dass es zu<br />
einer „nahezu kultischen Verehrung einzelner Lebensmittel,<br />
vor allem des Döners gekommen“ ist. Denn „die<br />
Perzeption der Kulturpraxis Standardisierung seitens<br />
des Konsumenten ist im Bereich der Ernährung überwiegend<br />
ins Negative gekippt.“<br />
Entstanden ist somit ein sehr fundierter Konzeptband,<br />
der das Phänomen Globalisierung anhand konkreter<br />
Beispiele untersucht. �<br />
rezensiert von Malte Borsdorf<br />
Probleme und Grenzen der neuen Konzepte ausgelotet.<br />
<strong>Die</strong> Auswahl der im Buch behandelten TheoretikerInnen<br />
aus Sozial- und Kulturanthropologie orientiert sich<br />
hauptsächlich daran, inwieweit diese ein ausgearbeitetes<br />
Modell zur Analyse soziokultureller Neupositionierungen<br />
im globalen Rahmen liefern. Dabei wurde die Darstellung<br />
eines möglichst breiten Spektrums an theoretischen<br />
Denktraditionen angestrebt.<br />
<strong>Die</strong> Präsentation der Ansätze erfolgt nicht nur im Kontext<br />
des Gesamtwerks der einzelnen AutorInnen, sondern<br />
berücksichtigt darüber hinaus den jeweiligen<br />
Diskurszusammenhang. Besonderes Gewicht liegt daher<br />
auf der theoriegeschichtlichen Verortung und gegenseitigen<br />
Anknüpfung bzw. Abgrenzung der besprochenen<br />
Modelle. In den zwischengestellten Kommentaren werden<br />
die einzelnen Modellbildungen zudem im Kontext<br />
anderer Fächer – etwa der Philosophie – beleuchtet.<br />
Das Buch bietet somit einen Einstieg in die anhaltenden<br />
Diskussionen um Globalisierung und führt über die<br />
kritische Reflexion der Disziplin selbst ins Zentrum der<br />
aktuellen sozial- und kulturanthropologischen Wissensproduktion.<br />
�<br />
präsentiert von Fernand Kreff<br />
Buchrezension/-präsentation<br />
19
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Einsame Weltmacht<br />
Raimund Löw. Einsame Weltmacht. <strong>Die</strong> USA im<br />
Abseits. Ecowin Verlag 2007 288 S., 23.60 EUR.<br />
ISBN 103902404477.<br />
Der Historiker und Journalist Raimund Löw arbeitete ab<br />
1988 als ORF-Korrespondent in Washington und<br />
Moskau, war danach Ressortchef Ausland-EU in der<br />
ZiB2, und bis August 2007 Leiter des ORF-Büros in Washington.<br />
Zu seinen Interview-Partnern zählten unter<br />
anderem Bill Clinton, George W. Bush, Arnold Schwarzenegger,<br />
Michail Gorbatschow, Tony Blair und Gerhard<br />
Schröder. Er wurde 2007 für seine Reportagen und<br />
Publikationen zu zeitgeschichtlichen Fragen und<br />
Themen der internationalen Politik zum Außenpolitischen<br />
Journalisten des Jahres gewählt.<br />
Das Buch Einsame Weltmacht beschäftigt sich hauptsächlich<br />
mit den USA nach den Anschlägen vom 11.<br />
September 2001. <strong>Die</strong> betrachteten Themen beschränken<br />
sich allerdings nicht auf den Terrorismus, sondern reichen<br />
von Zensur und dem USA Patriot Act, den Kriegen<br />
in Afghanistan und dem Irak (inkl. Massenvernichtungswaffen,<br />
den erfundenen Heldengeschichten<br />
und Ungereimtheiten bei der Vergabe von gut bezahlten<br />
Aufträgen), über Guantánamo zu den Folterskandalen<br />
und deren Hintergründen.<br />
Hinterm Zaun und davor<br />
Gmeinsam8ten, Heiligendamm 2007. Dokumentation.<br />
Sibylle Kappes. Deutschland. 2008.<br />
Schon im Vorfeld löste der G8-Gipfel Kontroversen im<br />
Kulturbetrieb aus. Der Abriss des unter Schutz stehenden<br />
Gebäudekomplexes „Perlenkette“ mit der Begründung,<br />
dass die PolitikerInnen dadurch eine bessere Aussicht<br />
auf die Ostsee haben würden, sorgte für Entrüstung.<br />
In Berlin entsteht derzeit ein Film mit dem<br />
Arbeitstitel Gmeinsam8ten, Heiligendamm 2007, der<br />
2008 an ausgewählten Orten zu sehen sein wird. <strong>Die</strong><br />
Regisseurin Sibylle Kappes sucht dafür einen künstlerischen<br />
Zugang. Gemeinsam mit VideoaktivistenInnen<br />
und professionellen Medienschaffenden dokumentiert<br />
sie die Geschichte der globalisierungskritischen Bewegung<br />
von Seattle bis Heiligendamm. Dargestellt wird die<br />
Entscheidung, aktiv zu werden oder nicht. Dazu<br />
sammelt der Film Informationen, die die offizielle Seite<br />
und die Alternativen immer weiter auseinander treiben.<br />
Denn im Diskurs über Globalisierung, so Kappes, wird<br />
nicht versucht Probleme anzusprechen um sie zu lösen,<br />
sondern nur, wie die Probleme der so genannten<br />
20<br />
Buch-/Filmrezension<br />
Ein Kapitel des Buches ist dem Bundesstaat Kalifornien<br />
gewidmet, mit Schwerpunkt auf Arnold Schwarzenegger<br />
als Gouverneur. Weitere Themen, von denen Löw<br />
berichtet, sind etwa die wandelnde Einstellung zum<br />
Umweltschutz, die Schere zwischen Arm und Reich, die<br />
Thematik der illegalen Einwanderer, das Gesundheitssystem<br />
und die Todesstrafe. Auch das Thema<br />
Religion kommt unter der Überschrift „Krieg um Gott“<br />
nicht zu kurz.<br />
<strong>Die</strong> Mischung von objektiver, unaufgeregter Erzählweise<br />
und persönlichen Erfahrungsberichten macht das Buch<br />
besonders lesenswert. So finden sich nach jedem Kapitel<br />
Quellenangaben und auch die Auswahl der Interview-<br />
Partner ist keineswegs einseitig. <strong>Die</strong> Schilderungen vom<br />
Dinner der White House Correspondents Association mit<br />
Präsident Bush und den Pressekonferenzen im White<br />
House briefing room lockern das Buch auf, und geben<br />
dem Leser das Gefühl dabei zu sein. Auch die Berichte<br />
über die Aufenthalte des Autors in Guantánamo und im<br />
Pentagon sind atmosphärisch geschrieben und sehr<br />
spannend zu lesen. Raimund Löw kann zurecht als<br />
„Augenzeuge der Weltpolitik“ bezeichnet werden.<br />
rezensiert von Markus Chvojka<br />
„Dritten Welt“ und der Umweltverschmutzung<br />
weggesperrt werden können. Symbolisch dafür steht der<br />
Aufbau des Zauns um Heiligendamm, den die Bilder des<br />
Kameramanns Peter Przyblinski dokumentieren. Ein<br />
Zaun, der den Ort zu einer Festung werden lässt.<br />
<strong>Die</strong> dialogischen Textpassagen des Films gliedern sich<br />
inhaltlich in drei Abschnitte: Zum einen die philosophisch-ethische<br />
Grundlage, die von einer Auswahl altgriechischer<br />
Textzitate zur Demokratie- und Staatstheorie<br />
ausgeht. Daraufhin geht der Film anhand des<br />
Beispiels einer Freihandelszone über zur Lebensrealität<br />
in kapitalistischen Systemen. Daraus ergibt sich als Drittes<br />
die Beschreibung des durch den Kapitalismus ausgelösten<br />
Akts zivilen Ungehorsams, der früheren Blockaden<br />
und der aus dieser Handlung folgenden Erfahrung<br />
von Inhaftierung und gewaltsamen Übergriffen, wie etwa<br />
in Genua 1998.<br />
Der Film wird im Sommersemester 2008 unter anderem<br />
am Institut für Europäische Ethnologie und im Schikane<br />
der-Kino gezeigt werden.<br />
rezensiert von Urs Malte Borsdorf
Multinationale Konzerne auf<br />
Psychiaters Couch<br />
The Cooperation. Dokumentation. Jennifer Abbott und<br />
Mark Achbar. Kanada. 2004. 145 Minuten.<br />
www.thecorporation.com<br />
<strong>Die</strong> kanadische Dokumentation The Corporation, die auf<br />
dem Sachbuch Das Ende der Konzerne. <strong>Die</strong> selbstzerstörerische<br />
Kraft der Unternehmen von Joel Bakan<br />
beruht, beschäftigt sich mit den Schattenseiten des<br />
Kapitalismus. Besonders hervorzuheben ist, dass neben<br />
AktivistInnen und GlobalisierungskritikerInnen wie<br />
Michael Moore oder Naomi Klein auch Personen der<br />
Geschäftsführung von z.B. Goodyear Tire und Pfizer unter<br />
den 43 Interviewten zu finden sind. Allen SprecherInnen<br />
wurde die Möglichkeit gegeben das Gesagte erneut<br />
aufzunehmen, falls sie mit dem Ergebnis unzufrieden<br />
seien, wodurch sich die Dokumentation stark von denen<br />
Moores, die polemische Tendenzen aufweisen, abhebt.<br />
Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass The<br />
Corporation gratis verfügbar ist und ursprünglich als<br />
dreiteilige Fernsehdoku ausgestrahlt wurde, also nicht<br />
aus kommerziellen Gründen vertrieben wird.<br />
Seit dem Ende des Bürgerkriegs in den USA 1865 gilt eine<br />
Kapitalgesellschaft als juristische Person. <strong>Die</strong> Dokumentation<br />
wirft die Frage auf, welche Wesenszüge diese<br />
„Person“ hat. Durch Fallbeispiele wird aufgezeigt, dass<br />
vieles, z.B. wiederholtes Lügen, die rücksichtslose<br />
Missachtung der Sicherheit anderer oder die Verletzung<br />
gesetzlicher Vorschriften, auf eine antisoziale Persönlichkeitsstörung<br />
hinweist (der veraltete Begriff für diese<br />
Beschreibung lautet „Psychopath“). Da eine Aktiengesellschaft<br />
verpflichtet ist, die finanziellen Interessen<br />
ihrer Aktionäre über alles zu stellen, scheint sie kein<br />
Moralempfinden zu haben. <strong>Die</strong> gesetzliche (relativ<br />
geringe) Geld-Strafe für irreführende Werbung oder<br />
Umweltschäden zu bezahlen ist (und das ist selbstverständlich)<br />
im Budget der großen Konzerne<br />
eingeplant. Oft wird abgewogen, ob es billiger ist sich an<br />
ein Gesetz zu halten oder es zu brechen. <strong>Die</strong> Reporter<br />
Jane Akre und Steve Wilson, die sich ausführlich mit<br />
Posilac, einem Mittel der Firma Monsanto zur Steigerung<br />
der Milchproduktion, beschäftigten, wurden beispielsweise<br />
gefeuert, weil sie sich weigerten die von FOX<br />
vorgeschriebenen Änderungen in ihrem Beitrag zu<br />
akzeptieren. Ein besonders plakatives Beispiel für das<br />
reine Profitdenken der Konzerne gibt Lucy Hughes, eine<br />
Mitarbeiterin der Mediaagentur Initiative Media. Ihrer<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Meinung nach müssen Kinder schon früh auf<br />
konsumorientiertes Verhalten konditioniert werden,<br />
damit ihnen die unterschiedlichen Firmen später schon<br />
vertraut sind. „You can manipulate consumers into<br />
wanting, and therefore buying, your products. It's a<br />
game.“ <strong>Die</strong> Frage, ob die Manipulation von Kindern<br />
moralisch vertretbar ist, stellt sich für Hughes gar nicht.<br />
Profitgierige Unternehmen beeinflussen neben den<br />
Medien, unserer Gesundheit und unserer Umwelt, aber<br />
auch die Politik. So verweist The Corporation z.B. darauf,<br />
dass Großkonzerne einen wesentlichen Beitrag zum<br />
Aufstieg des Faschismus in Europa leisteten. Noam<br />
Chomsky sagt allerdings: „When you look at a corporation,<br />
just like when you look at a slave owner, you want<br />
to distinguish between the institution and the individual.“<br />
Besonders deutlich verkörpert das Sir Mark<br />
Moody-Stuart, der ehemalige Vorsitzende von Royal<br />
Dutch Shell. Als DemonstrantInnen ein Banner mit der<br />
Aufschrift „Murderer“ auf sein Haus hängen wollen,<br />
beginnt er eine mehrstündige Diskussion mit ihnen, um<br />
zu beweisen, dass auch er sich Gedanken über die<br />
Umwelt und Menschenrechte macht. Wie das damit<br />
vereinbar ist, dass in vielen Ländern, in denen Öl<br />
gefördert wird, Royal Dutch Shell an Umweltverschmutzung<br />
und Unruhen mitschuldig ist und wer<br />
letztlich die Verantwortung trägt bleibt in der Dokumentation<br />
unbeantwortet. Auch wenn der Einzelne machtlos<br />
gegenüber diesem monströsen System wirkt, soll den<br />
Menschen aber auch Hoffnung gegeben werden, dass<br />
Veränderungen möglich sind. Oscar Olivera, der sich<br />
maßgeblich an Demonstrationen gegen die erzwungene<br />
Privatisierung der Wasserversorgung beteiligte, sagt<br />
diesbezüglich gegen Ende der Dokumentation „Unterschätze<br />
nie die Macht des Volkes! Vereint ist es<br />
unbesiegbar!“<br />
Fazit: Eine brisante und mit mehreren Publikumspreisen<br />
(sowie auch dem Sundance-Filmpreis) ausgezeichnete<br />
Dokumentation, die auch 3 Jahre nach ihrem Erscheinen<br />
keineswegs an Aktualität verloren hat. Ein globalisierungskritisches<br />
Fundstück, das interessante Fragen<br />
aufwirft.<br />
rezensiert von Lydia Garnitschnig<br />
Filmrezension<br />
21
Betrachtungen über Selbst- und Fremdzuschreibungen<br />
im österreichischen Fußballsport<br />
von NIKO REINBERG<br />
Wir und die Anderen<br />
Mentalitätskonstrukte im Männerfußball<br />
Mit seinen regional verschiedenen<br />
Spielweisen und den ebenso<br />
unterschiedlichen sportlichen Erfolgen<br />
einzelner Nationen bietet der<br />
Fußballsport ideale Vorrausetzungen<br />
für die Zuschreibung von Fremdem<br />
und Eigenem. In diesem Sinne ist der<br />
Fußballsport an der Entstehung<br />
bestimmter Bilder nationaler sowie<br />
regionaler kollektiver Identitäten<br />
beteiligt. Geht man allerdings nach<br />
den Spielregeln, so ist das<br />
Fußballspielen auf der ganzen Welt<br />
gleich. Trotzdem existieren<br />
verschiedene Stile und es treffen<br />
Menschen unterschiedlichster<br />
Herkunft, Sprache, sozialer Schicht<br />
und Hautfarbe in einem Team<br />
zusammen. Dabei werden Ansichten<br />
über die Menschen, mit denen oder<br />
gegen die gespielt wird, verfestigt,<br />
neu geformt oder revidiert. <strong>Die</strong><br />
vorliegende Kolumne beschäftigt sich<br />
mit eben diesen Ansichten und den<br />
damit verbundenen Erfahrungen von<br />
Männern, die, so wie der Autor selbst,<br />
in kleinen Vereinen Fußball spielen.<br />
„<strong>Die</strong> ausländischen Kinder turnen, uns’re<br />
österreichischen Kinder sitzen mit´m<br />
Fresspackl auf der Bank.“ (Zitat eines<br />
österreichischen Hobbyfußballers).<br />
22 Kolumne<br />
Im Zusammenhang mit dem argentinischen Fußball beschreibt<br />
der Sozialanthropologe Eduardo Archetti zwei große<br />
idealtypische Richtungen des Sportes. Zum einen den englischen<br />
Stil, der auf Attributen wie kollektive Disziplin, Mut und<br />
Willenskraft aufbaut, zum anderen einen criollo-Stil, der das<br />
Künstlerische und Improvisierende in den Vordergrund stellt. Der<br />
Autor beschreibt den argentinischen Fußball als eine Mischung dieser<br />
zwei Richtungen. <strong>Die</strong> Vermischung entstand laut Archetti durch die<br />
Hybridität der argentinischen Gesellschaft, die aus MigrantInnen aus<br />
Nord- und Südeuropa, indigener Bevölkerung und den Nachfahren<br />
ehemaliger SklavInnenen aus Schwarzafrika besteht. <strong>Die</strong> zwei von<br />
Archetti beschriebenen Richtungen sind, so meine ich, selbst auf<br />
lokaler Ebene die Grundlage vieler Fremd- und Eigenbilder im Fußball.<br />
Auf diese Bilder wird immer wieder Bezug genommen. In Analogie<br />
zu Archetti unterscheiden viele österreichische Hobbyfußballer<br />
zwei verschiedene Stile als entweder südländisch oder englisch.<br />
<strong>Die</strong> Gefahr der Verallgemeinerung und Stereotypisierung im Rahmen<br />
solcher dichotomen Zuschreibungen ist mir bewusst und ich weise an<br />
dieser Stelle darauf hin, dass Begriffe wie südländisch, jugoslawisch,<br />
türkisch, brasilianisch, österreichisch und englisch vor allem im<br />
Zusammenhang mit Mentalitätskonstrukten zumeist stark reduzierte<br />
Verallgemeinerungen und Rassismen darstellen. Trotzdem komme ich<br />
nicht umhin, mit diesen Begriffen zu arbeiten, denn sie sind ein<br />
essentieller Bestandteil der Diskurse um das Fußballspiel. Österreichisches<br />
wird im Fußball tendenziell als minderwertig angesehen.<br />
Grund dafür sind wohl die schwachen Leistungen österreichischer<br />
Vereine, mangelnde Begeisterung der Fans bzw. mangelnde Fans und<br />
die traurigen Darbietungen der Nationalmannschaft. Südländischer<br />
Fußball wird meist mit Ex-Jugoslawien, der Türkei, Afrika oder<br />
Brasilien in Zusammenhang gebracht.<br />
Im Rahmen eines Forschungsprojektes interviewte ich mehrere Spieler<br />
und Funktionäre des FC-Purkersdorf. <strong>Die</strong>se beschrieben den südländischen<br />
Spielertyp durchwegs als „temperamentvoller, technisch<br />
besser, heißsporniger“ aber auch als „ballgierig, schwer verspielt und<br />
eigensinnig“. Auffallend ist hier, dass positive Zuschreibungen als<br />
Komparativ und negative Zuschreibungen als für sich stehende Eigenschaftswörter<br />
genannt wurden. Ein Fußballer, der Türken und Spieler<br />
aus dem ehemaligen Jugoslawien als eigensinnig beschrieb, meinte,<br />
„die lassen sich nix dreinreden, das fehlt uns manchmal“, was die<br />
ambivalenten Interpretationsmöglichkeiten dieser Zuschreibungen<br />
illustriert.
„Der Goran muss einen, wenn nicht zwei überspielen, das ist<br />
einfach, sag ich mal, in den Jugoslawen drinnen, die sind alle<br />
ballverliebt.“ (Zitat eines österreichischen Hobbyfußballers).<br />
Spieler aus südlichen Ländern wurden von der Mentalität<br />
her als verspielt und eigensinnig beschrieben.<br />
Ausschlaggebend für die Entstehung dieser Mentalitätskonstrukte<br />
sind laut meinen Informanten persönliche<br />
Erlebnisse aus dem Urlaub, der Jugend in Wien oder<br />
Erfahrungen aus der unmittelbaren fußballerischen<br />
Lebenswelt. Tendenziell wurde der südländische Fußballertyp<br />
dem österreichischen übergeordnet. Englischer<br />
Fußball stand für England sowie Deutschland und wurde<br />
als geradliniger, hart aber auch technisch gut beschrieben.<br />
In Bezug auf Fremdheit wurde der englische Stil generell<br />
vom österreichischen Fußball getrennt, aber doch als<br />
verwandt betrachtet. In fast jedem Interview wurde ein<br />
Zusammenhang zwischen (nationaler) Mentalität und<br />
dem jeweiligen Stil geortet. Tatsächlich, so meine<br />
Beobachtungen (ich arbeitete mehrere Jahre in Wiener<br />
Parks als Jugendbetreuer bzw. Ferienanimateur, leitete<br />
öfters Fußballturniere von Wiener Jugendeinrichtungen<br />
und spielte eine Saison lang in einer mexikanischen<br />
Fußballliga), bewegen sich und spielen mexikanische,<br />
türkische oder aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende<br />
Jugendliche und Erwachsene tendenziell anders als viele<br />
meiner „österreichischen“ Fußballerkollegen.<br />
<strong>Die</strong> Erklärung für dieses Faktum liegt aber weniger in<br />
diffusen Mentalitätskonstrukten als in der Benützung verschiedenartiger<br />
Fußballplätze beim Erlernen des Fußballspiels.<br />
Während viele Jugendliche mit Migrationshintergrund<br />
auf Betonplätzen, Hinterhöfen, Sandplätzen<br />
und Sportkäfigen das Fußballer-Handwerk erlernen,<br />
spielt eine große Anzahl von Jugendlichen, die sich selbst<br />
als Österreicher sehen, auf weitläufigen Rasenplätzen.<br />
Am Beton oder harten Boden muss technisch feiner<br />
gespielt werden. Fouls und harte Attacken führen<br />
einfach leichter zu Verletzungen. Ein Fußballrasen hingegen<br />
erlaubt eine härtere Spielweise. Viele als technisch<br />
und kreativ geltende Spieler Österreichs, die eher mit<br />
dem südländischen Stil verbunden werden – wie zum<br />
Beispiel Herbert Prohaska – trainierten lange Zeit auf<br />
kleinen Betonsportplätzen. <strong>Die</strong> ersten aus wohlhabenden<br />
englischen Migranten geformten Fußballteams in<br />
Argentinien spielten, wie auch kaum anders zu erwarten,<br />
zumeist auf weitläufigen Rasenplätzen.<br />
In der Sportberichterstattung und in Alltagsgesprächen<br />
über Fußball wird immer wieder nach kulturellen<br />
Differenzen geurteilt. Oft werden diese Differenzen<br />
geradezu gesucht. Hierbei wäre es meines Erachtens aber<br />
wichtig, Kultur – im Sinne Arjun Appadurais – nicht als<br />
statische Substanz zu sehen, sondern als Phänomen, das<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
sich über die Wahrnehmung von Unterschieden in den<br />
sozialen Kontakten der Menschen manifestiert.<br />
Appadurai schreibt: „Culture is not useful regarded as a<br />
substance but is better regarded as a dimension of a<br />
phenomena, a phenomena that attends to situated and<br />
embodied difference (Appadurai 2000: 12-13). <strong>Die</strong> von<br />
vielen Fußballern und Fernsehkommentatoren wahrgenommene<br />
kulturelle Differenz ist nicht die Ursache einer<br />
unüberbrückbaren Differenz zweier unabänderlicher<br />
Kulturen, sondern vielmehr ein Merkmal verschiedener<br />
sozialer Hintergründe und Lebenswelten, die miteinander<br />
in meist hierarchischer Verbindung stehen (vgl.<br />
Tsing 2005, Appadurai 2000).<br />
„<strong>Die</strong> kulturellen Differenzen zwischen einer (konstruierten)<br />
einheimischen Bevölkerung und einer fremden Bevölkerung<br />
werden dabei als unüberwindbar dargestellt“ (Fanizadeh 2000).<br />
Auch im Fußball gibt es Unterschiede, sie zu negieren<br />
wäre genauso falsch wie sie über zu bewerten. Leider ist<br />
dies ist jedoch oft der Fall. Wallerstein und Balibar (1998)<br />
beschreiben diese Überbewertung als „Wesen des modernen<br />
Rassismus“. <strong>Die</strong>ser moderne Rassismus ist nicht<br />
mehr von überkommenen Biologismen, sondern von<br />
einer kulturell definierten Form der Diskriminierung<br />
getragen.<br />
Auch soziale Faktoren werden von vielen Fußballern für<br />
verschiedene Mentalitäten im Fußball verantwortlich<br />
gemacht. So wurde die andere Art zu spielen mit Armut<br />
in Verbindung gebracht. Ein Vereinsfunktionär des FC-<br />
Purkersdorf meinte, dass das „eigene“ österreichische<br />
Kolumne<br />
23
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Wunderteam, das 1934 den 4. Platz bei der Weltmeisterschaft<br />
erreichte, brasilianischen Fußball spielte.<br />
<strong>Die</strong> Menschen klammerten sich der Armut wegen an den<br />
Sport und erhoben diesen zur Passion. Der Wiener<br />
Fußball der Dreißiger Jahre soll tatsächlich ein technisch<br />
versierter, verspielter Fußball gewesen sein. Hier lässt<br />
sich der Bezug zu den Sportstätten herstellen: die<br />
meisten Fußballer des Wunderteams erlernten ihre Kunst<br />
unter ähnlichen Bedingungen wie viele junge<br />
brasilianische FußballerInnen der Gegenwart. Armut<br />
wird auch von einer Reihe aktiver Fußballer als<br />
wesentlicher Faktor für eine bestimmte Fußballer-<br />
Mentalität identifiziert. Das Mentalitätskonstrukt verliert<br />
somit an Starrheit da es von sozialen und wandelbaren<br />
Gegebenheiten abhängig gemacht wird.<br />
Generell muss hier angefügt werden, dass sich<br />
spielerische Eigenheiten im globalisierten Profisport in<br />
Richtung universale, Team und Körper betonte,<br />
gleichzeitig aber auch technisch perfekte Spielweise<br />
auflösen.<br />
„Wir spielen Fußball, die leben Fußball.“ (Zitat eines<br />
Hobbyfußballers).<br />
Interessanterweise haben meine Interviews und<br />
Gespräche mit Fußballern ergeben, dass die meisten<br />
– von der Art Fußball zu spielen ausgehenden – Fremdbilder<br />
positiv belastet sind. Viele „Andere“ haben also<br />
aus unterschiedlichsten Gründen eine andere Einstellung<br />
als „wir Österreicher“ zum Sport. Sie spielen deshalb<br />
besser. Keiner meiner Interviewpartner verband die<br />
Präsenz von „türkisch-stämmigen“ und aus dem<br />
ehemaligen Jugoslawien stammenden Jugendlichen als<br />
direktes Hindernis für – als solche bezeichnete<br />
– „österreichische Jugendliche“, das Fußballspiel zu<br />
erlernen und zu betreiben. Vielmehr wurde den<br />
Österreichern eine weniger ambitionierte Einstellung<br />
zum Sport zugeschrieben. Das eigene ist – so der Tenor<br />
unter Hobbyfußballern – sowohl der südländischen als<br />
auch der englischen Art zu spielen unterlegen. <strong>Die</strong><br />
Einstellung zum Sport sei sowohl in England als auch im<br />
Süden eine intensivere. In England „gibt es mehr<br />
Fußballplätze und daher auch mehr Tradition“,<br />
Engländer, Brasilianer und auch Afrikaner würden den<br />
„Fußball leben“ während er in Österreich, so das obige<br />
Zitat – „lediglich gespielt würde“.<br />
Im Fußballsport werden vorherrschende gesellschaftliche<br />
Strukturen und Bilder gespiegelt und produziert –<br />
Fußball widerspricht diesen Bildern aber auch. Fußball<br />
markiert Grenzen zwischen einem „Wir“ und „den<br />
Anderen“. Österreicher sehen sich hier tendenziell als<br />
„trendmäßig hinten nach bzw. unmotiviert“. Migranten<br />
24 Kolumne<br />
werden, genauso wie den Österreichern, bestimmte<br />
Eigenschaften zugeordnet. So werden über die Art<br />
Fußball zu spielen, eine Reihe positiver als auch<br />
negativer Stereotypen produziert. In Österreich oft<br />
negativ gegen sich selbst. Ich persönlich freue mich<br />
trotzdem schon sehr auf die erste Europameisterschaft<br />
mit österreichischer Beteiligung, auch wenn „Wir“ es<br />
echt nicht verdient haben… �<br />
Niko Reinberg, wohnt in Graz, ist Kultur und<br />
Sozialanthropologe, Erzähler, Autor, Rapid Wien Fan und<br />
Amateurfußballer. Vor kurzem erschien sein Buch “Jenseits<br />
von Sonnenpyramiden und Revolutionstourismus” in dem<br />
auch über Fußball in einer indigenen Comunidad berichtet<br />
wird.<br />
Literatur<br />
Appadurai, Arjun. Modernity at Large. Minneapolis, 2000.<br />
Archetti, Eduardo. Masculinities – Football, Polo and the Tango in<br />
Argentina. Oxford, 1999.<br />
Balibar, Étienne/Wallerstein, Immanuel. Rasse, Klasse, Nation.<br />
Ambivalente Identitäten. Hamburg, 1998.<br />
Tsing Lowenhaupt, Anna. Friction- Ethnography of Global<br />
Connection. Princeton, 2005.<br />
Fanizadeh, Franz. Kulturalismus und die Globalisierung im Fußball.<br />
In: Kurswechsel 1/2000.
Ein Überblick zu Geschichte, Konzepten, Methoden und Feldern<br />
der Medienanthropologie<br />
von PHILIPP BUDKA<br />
Anthropologie der Medien<br />
Ein aktuelles Forschungsgebiet<br />
<strong>Die</strong> Anthropologie der Medien kann<br />
zu jenen Forschungszweigen der<br />
Kultur- und Sozialanthropologie<br />
(KSA) gezählt werden, die im 21.<br />
Jahrhundert massiv an Bedeutung<br />
und Relevanz gewonnen haben.<br />
Indikator für diesen Aufschwung ist<br />
die steigende Zahl an fachrelevanten<br />
Publikation, Veranstaltungen,<br />
Organisationen, Netzwerken sowie<br />
Studiengängen und -schwerpunkten.<br />
Motivation für die KSA, sich nun<br />
endlich auch an den interdisziplinär<br />
geführten medientheoretischen<br />
Debatten zu beteiligen, scheint die<br />
Ignoranz anderer Disziplinen<br />
gegenüber nicht-westlichen<br />
Medientechnologien und -nutzungen<br />
zu sein (vgl. Ginsburg et al.: 2002). <strong>Die</strong><br />
in der KSA übliche Einbeziehung<br />
einer kulturvergleichenden<br />
Dimension erscheint jedoch sinnvoll,<br />
um etwa Fragen nach der Produktion<br />
von individueller und kollektiver<br />
Identität, der Konstruktion von<br />
Gemeinschaften oder der<br />
Verschiebung von Machtverhältnissen<br />
im Kontext von Medien befriedigend<br />
beantworten zu können. So treten<br />
Kultur- und SozialanthropologInnen<br />
auch verbreiteten Tendenzen<br />
entgegen, Medien getrennt vom<br />
soziokulturellen Leben der Menschen<br />
zu behandeln (vgl. Askew: 2002).<br />
Abgesehen von einigen Ausnahmen, wie die<br />
ethnographische Untersuchung von Hortense<br />
Powdermaker zur Filmindustrie in Hollywood in den<br />
1940er Jahren oder den zeitgleichen Filmdokumentanalysen<br />
von Margaret Mead und Gregory Bateson, wurden<br />
Medien erst ab Ende der 1980er Jahre systematisch von einigen<br />
Kultur- und SozialanthropologInnen untersucht (Ginsburg et al. 2002).<br />
Da dies zumeist im Rahmen eines nicht medienspezifischen<br />
Feldforschungkontextes geschah, schrieb Spitulnik noch 1993 „there is<br />
yet no ‚anthropology of mass media‘“ (Spitulnik 1993: 293).<br />
<strong>Die</strong> Gründe für das Desinteresse vieler Kultur- und SozialanthropologInnen<br />
besonders an den Massenmedien lassen sich bis in<br />
die 1940er Jahre zurückverfolgen. Während des Zweiten Weltkrieges<br />
wurden, etwa von den in die USA emigrierten Vertretern der Frankfurter<br />
Schule Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, elektronischen<br />
Massenmedien vor allem gefährliche Eigenschaften, wie die<br />
„Totalisierung“ der Gesellschaft und die „Massifizierung“ des Individuums<br />
zugeschrieben (vgl. Dracklé 1999). <strong>Die</strong>se Annahme führte<br />
letztlich zu einem Kulturpessimismus, der sich erst durch den<br />
Wechsel des analytischen Fokus von der bloßen Wirkung von Medien<br />
auf deren Rezeption abschwächte. Eine entscheidende Rolle bei<br />
diesem Paradigmenwechsel spielten die Cultural Studies, die sich in<br />
den frühen 1970er Jahren in Großbritannien zu etablieren begannen.<br />
Theoretiker wie Marx, Gramsci und Althusser, die sich mit Macht,<br />
dominanten Ideologien und Strukturen befassten, beeinflussten<br />
Vertreter der Cultural Studies wie Stuart Hall und David Morley und<br />
trugen wesentlich dazu bei, dass die Menschen nicht mehr<br />
ausschließlich als passive MedienkonsumentInnen gesehen wurden,<br />
sondern vielmehr als aktive RezipientInnen, die die Medien und deren<br />
Botschaften mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen und so auch<br />
in der Lage sind „Widerstand gegen dominante Ideologien“ zu leisten<br />
(Askew 2002, Dracklé 1999: 266). <strong>Die</strong>se optimistischere Darstellung<br />
vom sich frei entscheidenden Medienrezipienten wurde später, vor<br />
allem nach Einbeziehung von empirischem Forschungsmaterial,<br />
kritisiert, da sie den tatsächlichen Machtverhältnissen zwischen<br />
MedienproduzentInnen und -konsumentInnen zu wenig Bedeutung<br />
beimessen würde (vgl. Rojek 2003).<br />
Der Einfluss der „modernen“ Cultural Studies auf die KSA resultierte<br />
in einer verstärkten Beachtung von „Populärkulturen“ und deren<br />
Inhalten, wie eben Massenmedien, als Forschungsfelder (vgl. Dracklé<br />
1999). <strong>Die</strong> Gründe für das steigende Interesse der KSA an Medien<br />
können also mit einem Wechsel sowohl des theoretischen als auch des<br />
geographischen Fokus innerhalb der Disziplin erklärt werden. <strong>Die</strong><br />
Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
25
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
theoretischen und methodischen Umwälzungen in den<br />
1980er und 1990er Jahren – Stichwort „Postmodernismus“<br />
– sowie die Verlagerung von ethnographischen<br />
Forschungsfeldern von abgelegenen Dorfgemeinschaften<br />
in den „Entwicklungsländern“ in die urbanen Räume der<br />
Industriestaaten, die wesentlich stärker von<br />
Massenmedien durchdrungen sind, trugen maßgeblich<br />
zur Etablierung einer Medienanthropologie bei (vgl.<br />
Ginsburg et al. 2002).<br />
Konzepte und Methoden<br />
<strong>Die</strong> Medienanthropologie ist einerseits eng mit anderen<br />
wissenschaftlichen Disziplinen verwoben und übernimmt<br />
von diesen theoretische Konzepte. Andererseits<br />
trägt die KSA selbst zum Verständnis von Medienproduktion<br />
und -nutzung bei (vgl. Rothenbuhler/Coman<br />
2005).<br />
Prominente theoretische Konzepte, die in der Medienanthropologie<br />
Verwendung finden jedoch nicht der KSA<br />
entstammen, sind etwa Benedict Andersons’ Konzept der<br />
„vorgestellten Gemeinschaft“, das das Potential von<br />
Massenmedien zur Bildung von imaginierten Vergesellschaftungen<br />
– z.B. Nationalstaaten – aufzeigt, sowie<br />
Jürgen Habermas’ theoretischer Abriss zur<br />
„Öffentlichkeit“ oder die Aktor-Netzwerk-Theorie,<br />
entwickelt unter anderem von Bruno Latour und John<br />
Law, die besonders geeignet scheint, Prozesse in technologisierten<br />
„Netzwerkgesellschaften“ zu verstehen.<br />
Altgediente Konzepte der Kultur- und Sozialanthropologie<br />
werden wiederum nicht ausschließlich von<br />
AnthropologInnen verwendet, auch MedienwissenschaftlerInnen<br />
greifen in ihren Versuchen Medienphänomene<br />
theoretisch und analytisch zu erfassen<br />
immer häufiger auf diese zurück. Zu nennen wären hier<br />
etwa die diversen Theorien zu Ritual und Ritualisierung<br />
(z.B. Couldry 2003), Theorien zu Tausch und Handel,<br />
theoretische Konzepte der materiellen Kultur (z.B.<br />
Miller/Slater 2000), zentrale Konzepte zur kulturellen,<br />
geschlechtlichen und ethnischen Identität bzw. Identitätskonstruktion<br />
sowie Konzepte zu „Gemeinschaft“<br />
oder alternativen Vergesellschaftungsformen (z.B. Postill<br />
2006).<br />
Ein prominentes Beispiel für die Verschmelzung von<br />
medienanthropologisch-relevanten Theorien liefert<br />
Appadurai (1996). Er verwendet sowohl Andersons<br />
„vorgestellte Gemeinschaften“ um in seinen theoretischen<br />
Konzepten die Bedeutung von Imaginationen für<br />
die Bildung von transnationalen Medienlandschaften<br />
heraus zu arbeiten, als auch Habermas’ Verständnis von<br />
Öffentlichkeit, um eine „hypothetische Arena“ (<strong>public</strong><br />
26 Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
culture) zu umreißen, die sich von Unterscheidungen in<br />
„erste“, „zweite“ und „dritte“ Welt distanziert und eine<br />
„kulturelle Hierarchisierung“ ablehnt (Kreff 2003: 130).<br />
In dieser <strong>public</strong> culture spielen Massenmedien wiederum<br />
eine bedeutende Rolle.<br />
Wesentlichste Methode, um nun die unterschiedlichen<br />
Medienphänomene zu erfassen, ist für die Medienanthropologie<br />
die ethnographische Feldforschung. <strong>Die</strong><br />
Methode passt sich dabei sowohl dem Feld als auch den<br />
soziokulturellen Handlungsräumen der Menschen an<br />
und kann sich also nicht allein auf Inhalte und deren<br />
Rezeption beschränken. Sie muss auch die physischen<br />
und sensorischen Dimensionen von Medientechnologien<br />
mit einbeziehen, da über diese soziale Beziehungen<br />
hergestellt werden können.<br />
Felder<br />
In der Analyse von neuen Informations- und<br />
Kommunikationstechnologien (IKT) wird im sozial- und<br />
kulturanthropologischen Kontext gerne von Cyberanthropologie,<br />
Anthropologie des Cyberspace oder<br />
Anthropologie der Cyberkultur gesprochen. Bei dem Begriff<br />
Cyberspace handelt es sich um eine Wortschöpfung des<br />
Science Fiction Autors William Gibson, der diesen in<br />
seinem Buch Neuromancer 1984 prägte. Der Präfix<br />
„cyber“ wurde Ende der 1940er Jahre erstmals vom<br />
Mathematiker Norbert Wiener in dem Begriff cybernetics<br />
verwendet, um Mensch-Maschine oder Mensch-<br />
Computer Interaktion zu beschreiben. Cybernetics leitet<br />
sich dabei vom griechischen Wort für Steuermann<br />
– kybernetes – ab.<br />
Einer der ersten Kultur- und Sozialanthropologen, der<br />
sich grundlegend mit den neuen IKT befasste, war<br />
Escobar (1994) mit seinem Artikel Welcome to Cyberia.<br />
Dort entwickelt er das Konzept der „Cyberkultur“, das<br />
die strukturellen Veränderungen, die IKT sowie<br />
Biotechnologien in den „modernen“ Gesellschaften<br />
hervorrufen, analysieren und so zu verstehen helfen soll:<br />
„As a new domain of anthropological practice, the study<br />
of cyberculture is particularly concerned with the<br />
cultural construction and reconstruction on which the<br />
new technologies are based and which they in turn help<br />
to shape” (Escobar 1994: 211). Für die Kultur- und<br />
Sozialanthropologie eröffnen sich nach Escobar (1994)<br />
hier drei potentielle Forschungsprojekte:<br />
1) <strong>Die</strong> soziale Produktion von „virtuellen“ Technologien,<br />
die zu einer post-körperlichen Stufe in der menschlichen<br />
Entwicklung führen könnte.<br />
2) Eine Cyborg Anthropologie könnte sich mittels ethnographischer<br />
Forschung den zusehends verschwimmenden<br />
Grenzen zwischen Mensch und Maschine widmen.
3) Und im Rahmen einer Anthropologie der Cyberkultur<br />
könnten kulturelle Diagnosen zu den Transformationen<br />
und Veränderungen erstellt werden, die durch die<br />
Entwicklung neuer Technologien in den Gesellschaften<br />
ausgelöst werden.<br />
<strong>Die</strong>sen Überlegungen Escobars’ folgend haben sich auch<br />
andere Kultur- und SozialanthropologInnen Gedanken<br />
über die ethnographischen Forschungsfelder gemacht,<br />
die im Zuge der raschen Entwicklung neuer IKT<br />
entstehen. Etwa Hakken (1999), der in seiner Arbeit<br />
weitere Felder identifiziert und diskutiert oder Miller<br />
und Slater (2000), die die erste holistisch konzipierte<br />
ethnographische Untersuchung über das Internet und<br />
seine Anwendungen in Trinidad durchführten. Sie<br />
kommen gegen Ende ihrer Ethnographie zu dem Schluss,<br />
dass das Internet in Trinidad weniger als Technologie zu<br />
verstehen ist, sondern vielmehr als materielle Kultur, da<br />
die diversen Internettechnologien in unterschiedlichen<br />
Formen alltäglicher Praktiken eingebettet wurden. Oder<br />
anders formuliert: In einem Prozess der Konsumption<br />
wurde das Internet für die NutzerInnen von einer<br />
unpersönlichen Ware zu einer Sache mit (persönlicher)<br />
Bedeutung, versehen mit einem bestimmten Platz in<br />
deren Leben.<br />
Aktivitäten<br />
Immer mehr kultur- und sozialanthropologische<br />
Fachkonferenzen bieten Workshops oder Tagungsschwerpunkte,<br />
die sich dem Thema Medien widmen. So<br />
veranstaltete etwa die Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde<br />
bei ihren Tagungen 2005 und 2007 in Halle gleich<br />
mehrere medienanthropologisch relevante Workshops.<br />
Auch bei der 2006 in Bristol abgehaltenen Konferenz der<br />
European Association of Social Anthropologists (EASA)<br />
wurden Arbeitsgruppen zu Medien aus kultur- und<br />
sozialanthropologischen Perspektiven angeboten (vgl.<br />
Postill/Bräuchler 2008).<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Mitglieder der EASA haben sich zu einem Netzwerk<br />
zusammengeschlossen, das vor allem den Austausch von<br />
Informationen sowie die Koordination von Lehr- und<br />
Forschungsprojekten im Bereich der kultur- und<br />
sozialanthropologischen Bearbeitung von Medien<br />
fördern will (vgl. URL 1).<br />
<strong>Die</strong> Anthropologie der Medien ist also ein lebendiger<br />
und ständig wachsender Forschungszweig der Kulturund<br />
Sozialanthropologie, der sowohl theoretisch als auch<br />
methodisch bestens gerüstet ist, auch zukünftig zum<br />
Verstehen der soziokulturellen Bedeutungen und<br />
Kontexte von Medientechnologien aktiv und kritisch<br />
beizutragen. �<br />
Anm. des Autors: <strong>Die</strong>ser Artikel baut auf einem Vortrag,<br />
den ich im März 2006 bei den „Tagen der Kultur- und<br />
Sozialanthropologie“ in Wien gehalten habe, auf.<br />
Philipp Budka, Mag. Doktorand, Lektor und<br />
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kultur- und<br />
Sozialanthropologie sowie an der Fakultät für Sozialwissenschaften.<br />
Forschungsschwerpunkte: Medienanthropologie,<br />
Ethnographie, Indigene Organisationen und Netzwerke,<br />
Wissensvermittlung und -produktion, eLearning, Globalisierung<br />
und Fußballfankulturen. www.philbu.net.<br />
Literatur<br />
Appadurai, Arjun. Modernity at Large. Cultural Dimensions of<br />
Globalization. Minneapolis, 1996.<br />
Askew, Kelly. Introduction. In: Askew, Kelly, Wilk, Richard (Hg.): The<br />
<strong>Anthropology</strong> of Media. A Reader, Malden, MA, 2002. S. 1-13.<br />
Couldry, Nick. Media rituals. A critical approach. London, 2003.<br />
Dracklé, Dorle. Medienethnologie: Eine Option auf die Zukunft. In: Kokot,<br />
Waltraud, Dracklé, Dorle (Hg.): Wozu Ethnologie? Berlin, 1999.<br />
Escobar, Arturo. „Welcome to Cyberia. Notes on the <strong>Anthropology</strong> of<br />
Cyberculture“. In Current <strong>Anthropology</strong>, 35/3, 1994. S. 211-231.<br />
Ginsburg, Fay/Abu-Lughod, Lila/Larkin, Brian. Introduction. In: <strong>Die</strong>s. (Hg.):<br />
Media Worlds. <strong>Anthropology</strong> on New Terrain. Berkeley, 2002. S. 1-36.<br />
Hakken, David. Cyborgs@Cyberspace. An Ethnographer Looks to the Future.<br />
London, 1999.<br />
Kreff, Fernand. Grundkonzepte der Sozial- und Kulturanthropologie in<br />
der Globalisierungsdebatte. Berlin, 2003.<br />
Miller, Daniel/Slater, Don. The Internet. An Ethnographic Approach.<br />
Oxford, 2000.<br />
Postill, John. Media and Nation Building: How the Iban Became<br />
Malaysian. Oxford, 2006.<br />
Postill, John/Bräuchler, Birgit (Hg.). Theorising Media and Practice. Oxford,<br />
2008.<br />
Rojek, Chris. Stuart Hall. Cambridge, 2003.<br />
Rothenbuler, Eric/Coman, Mihai (Hg.). Media <strong>Anthropology</strong>. Thousand<br />
Oaks, CA, 2005.<br />
Spitulnik, Debra. „<strong>Anthropology</strong> and Mass Media“. In Annual Review of<br />
<strong>Anthropology</strong> 22, 1993. S. 293-315.<br />
URL 1: www.media-anthropology.net, 12.12.2007.<br />
Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
27
28<br />
Indische Populärkultur im<br />
globalen Kontext<br />
von ELKE MADER<br />
In einem deutschsprachigen Internet-<br />
Forum, in dem sich Fans des indischen<br />
Filmstars Shah Rukh Khan<br />
unterhalten, drängt die<br />
Administratorin auf das Einhalten von<br />
Regeln der Höflichkeit sowie generell<br />
auf gutes Benehmen. <strong>Die</strong><br />
TeilnehmerInnen antworten, dass sie<br />
sich natürlich an die Regeln halten<br />
werden – nichts Abfälliges über andere<br />
SchauspielerInnen, nichts Bösartiges<br />
zu den oder über die Mitglieder des<br />
Forums, keine unangebrachten<br />
Bemerkungen über die Ehefrau des<br />
Stars. „Ich bin eh so lieb“, schreibt eine<br />
Teilnehmerin „aber eben ein bisschen<br />
Bollywood-verrückt.“ Eine andere<br />
Person antwortet: „Ach ja, wir sind<br />
doch alle ein bisschen bolly….“<br />
Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
Mythen und Medien<br />
„Wir sind alle ein bisschen bolly…“<br />
Bolly-Sein ist zurzeit ein weltweites kulturelles Phänomen, das<br />
verschiedene Dimensionen von narrativer und visueller<br />
Kultur, von diskursiven und performativen Praktiken umfasst<br />
und sich in mehreren Medien manifestiert. Im Umfeld des<br />
indischen populären Kinos, seiner Filme und Stars entfaltet sich ein<br />
komplexes Szenario von signifying practises (Hall 1997). Dazu gehört<br />
die hindi-mania in Peru oder auch Fan-Kunst im Internet – wie etwa die<br />
ca. 1000 Video-Clips zu Shah Rukh Khan bei MyVideo.de, die von Fans<br />
aus dem deutschsprachigen Raum gestaltet wurden: Hier werden aus<br />
Bildern, Filmausschnitten, Musik und Text neue Beiträge zu einer<br />
„kosmopolitischen Populärkultur“ im Sinne von Henry Jenkins (2006)<br />
gebastelt, betrachtet und kommentiert. Eine ähnliche kulturelle Praxis<br />
beschäftigt sich mit der Gestaltung von Erzählungen und Gedichten<br />
– so genannte fan fiction: <strong>Die</strong> Bastelei erstreckt sich hier unter anderem<br />
auf die Produktion, Zirkulation und Diskussion von Texten, die sich<br />
auf Inhalte von Filmen sowie auf Stars beziehen – „… how stories<br />
travel,“ schreibt Salman Rushdie, „what mouths they end up in!“.<br />
Intertextualität, Konvergenz und mythscapes<br />
<strong>Die</strong>se Form der bricolage á la Lévi-Strauss ist einer von mehreren<br />
Berührungspunkten von Mythen und Medien in diesem<br />
Zusammenhang. Solche Verbindungen wurden in den vergangenen<br />
Jahren im Rahmen der Medienanthropologie häufig angesprochen:<br />
Eric Rothenbuhler und Mihai Coman argumentieren, dass Methoden<br />
und Konzepte aus anderen Forschungsfeldern der Kultur- und<br />
Sozialanthropologie wichtige Werkzeuge für die Analyse von<br />
medialen Prozessen darstellen. Theoretische Modelle aus der<br />
anthropologischen Auseinandersetzung mit Mythen, Ritualen und<br />
Religionen sind dabei besonders relevant und können an die neuen<br />
Forschungsgegenstände angepasst werden. <strong>Die</strong> Schnittstelle zwischen<br />
Mythen und Medien wird dabei aus mehreren Perspektiven<br />
untersucht, im Mittelpunkt vieler Studien stehen „… narrative<br />
patterns and figures considered to represent modern ‚mythologies‘ in<br />
movies, TV programs, advertising, music, sports, and other<br />
entertainments“ (Coman und Rothenbuhler 2005: 6).<br />
Einige Fragestellungen in diesem Zusammenhang beschäftigen sich<br />
mit dem Naheverhältnis von Mythen und Filmen. Sie erkunden die<br />
mythischen Topoi im Kino und setzten sich mit dem Film als<br />
Repräsentationsform traditioneller und neuer mythischer Erzählstoffe<br />
auseinander. Eine Reihe von Arbeiten untersucht darüber hinaus,<br />
inwieweit Mythen eine Matrix oder Metaerzählung darstellen, welche<br />
sowohl die narrative Struktur von Filmen als auch die Charak-
terisierung der Handlungsträger prägt. Andere Studien<br />
wiederum betrachten populäres Kino generell als<br />
Mythen der Gegenwart und analysieren Filme oft mittels<br />
erweiterter Methoden der anthropologischen Mythenforschung<br />
(vgl. z.B. Drummond 1996 für Hollywood-<br />
Blockbuster). <strong>Die</strong> oben skizzierten kulturellen Praktiken<br />
des „Bolly-Seins“ sprengen jedoch den Rahmen einer<br />
Filmanalyse in Hinblick auf mythische Kodes (vgl.<br />
Mader 2007). Aus der Perspektive der Medienforschung<br />
handelt es sich dabei zum einen um Phänomene einer<br />
„globalen Kultur der Medien-Konvergenz“ (vgl. Jenkins<br />
2006), zum anderen um „performative Intertextualität“<br />
(vgl. Petterson 2006). Der Begriff der globalen<br />
Konvergenz von alten und neuen Medien bezieht sich in<br />
diesem Zusammenhang auf neue Formen der Partizipation<br />
von KonsumentInnen an medialen Prozessen.<br />
Petterson (2006) stellt aufbauend auf Bhaktin (1981) das<br />
Dekontextualisieren und Rekontextualisieren – das<br />
Ausbauen und neu Zusammenfügen von Inhaltselementen<br />
medialer Herkunft – in den Mittelpunkt<br />
seiner Analysen. Er betont vor allem den Zusammenhang<br />
von Medientexten, der Kommunikation im Alltag<br />
und sozialen Praktiken.<br />
Foto: Elke Mader<br />
Shah Rukh Khan, Shreyas Talpade und Fans bei der<br />
Premiere von Om Shanti Om in London<br />
Eine Annäherung an diese Phänomene kann auch durch<br />
Ansätze der Anthropologie der Mythen erfolgen und<br />
diese auf die Untersuchung von neuen medialen Welten<br />
anwenden. Von Bronislav Malinowski bis Joanna<br />
Overing beschäftigt sich die sozialanthropologische<br />
Mythenforschung im 20. Jahrhundert mit verschiedenen<br />
Facetten der Verbindungen von Mythen (Texten) und<br />
sozialen sowie rituellen und/oder religiösen Kontexten.<br />
Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen die „mythmakers“,<br />
die Geschichten vermitteln aber auch gestalten,<br />
und ihre aktive Rolle bei der Interpretation, Zirkulation<br />
und Veränderung von Mythen. Inhalte, Figuren sowie<br />
das Wertsystem der Geschichten sind eng mit Alltagspraktiken<br />
verwoben und stellen – so Joanna Overing<br />
– mythische Landschaften (mythscapes) dar, in denen die<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
mythische Welt und die Alltagswelt miteinander<br />
verschmelzen, sie sind „landscapes of myth as situated<br />
practises in the world.“ (Overing 2004: 71) In Hinblick<br />
auf die flexible Konfiguration von Bedeutungen und<br />
Praktiken rund um Bollywood kann man von einer globalen<br />
und transkulturellen mythischen Landschaft<br />
sprechen, die Überschneidungen mit dem Konzept der<br />
medialen Landschaften (mediascapes) von Arjun<br />
Appadurai aufweist (vgl. Mader 2007). <strong>Die</strong>ser Raum geht<br />
außerhalb des indischen Subkontinents teilweise Hand<br />
in Hand mit dem ethnoscape der südasiatischen Diaspora,<br />
reicht aber auch weit darüber hinaus. So leben etwa in<br />
Peru oder Deutschland/Schweiz/Österreich nur wenige<br />
MigrantInnen aus dem indischen Raum, dennoch gibt es<br />
eine begrenzte, aber sehr ausgeprägte Bolly-Kultur.<br />
Ethnographische Fragmente aus „Bolly-Land“<br />
„Bollyscape“ oder „Bolly-Land“ ist auch als ein Raum zu<br />
verstehen, den es ethnographisch zu erforschen gilt. Er<br />
ist vielfach lokalisiert und immer auch deterritorial. Man<br />
begegnet dort einem Geflecht aus Geschichten und<br />
Bildern, aus mythischen Figuren und ihren Verkörperungen,<br />
den Stars, sowie Personen aus diversen<br />
kulturellen und sozialen Kontexten, die sich in diesem<br />
Raum bewegen – ihn durchwandern, betrachten und<br />
mitgestalten und dabei Beziehungen zu anderen<br />
Personen aufbauen. Manche sind neu im „Bolly-Land“<br />
und auf der Suche nach der Basis seiner Topografie, den<br />
Filmen. „Kann mir jemand sagen, wo ich hier indische<br />
Filme bekomme?“ erkundigt sich der 15jährige Pablo aus<br />
Pucallpa im peruanischen Amazonasgebiet per Internet<br />
bei einem Fan-Club in der Hauptstadt Lima, der über<br />
eine eigene Seite für Mitglieder aus der Provinz verfügt.<br />
Dort, beim Club de Fans de Shahrukh Khan, gibt es ein<br />
breites Spektrum von Aktivitäten. Einige kreisen um den<br />
großen Star, der einen Kristallisationspunkt im mythischen<br />
Raum darstellt. „I am just an employee of the Shah<br />
Rukh Khan myth“, sagt er über sich selbst (Chopra 2007:<br />
155), der indische Soziologe Rajinder Kumar Dudrah<br />
(2006) bezeichnet ihn als Bedeutungsvermittler und<br />
„glokale Ware“. Als eine Transfiguration seiner Rollen als<br />
Liebender, die auch mit diversen mythischen Geschichten<br />
verwoben sind, ist er für Viele eine Ikone für Liebe<br />
und Erotik. <strong>Die</strong>ser Aspekt seiner Star-Persona bildet den<br />
Kern für seine Repräsentation im Internet, für die<br />
affektiven Beziehungen der Fans zu ihm und für<br />
Diskurse über ihn. <strong>Die</strong> Gestaltung vieler Internetseiten<br />
weltweit und die Gespräche in einigen Foren stellen eine<br />
besondere Form der medialen Konvergenzen bzw. des<br />
Verschmelzens von Mythen und Alltag dar: Sie reflektieren<br />
sowohl die visuelle Kultur des populären<br />
indischen Films als auch lokale visuelle Repräsentationen,<br />
sie reden eine Sprache der Liebe, die wiederum<br />
Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
29
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
mit Inhalt und Form der filmischen Erzählweisen<br />
verbunden ist. <strong>Die</strong> Fans in Lima führen auch ein reges<br />
Vereinsleben mit diversen Treffen und Ausflügen – z.B.<br />
Reisen zu „Provinz-Mitgliedern“ ins Andenhochland<br />
oder zur Aufführung einer „Danza-Hindu“ Gruppe. Im<br />
Mai 2007 fand eine solche Veranstaltung in der Stadt<br />
Arequipa statt, wo ebenfalls eine rege Bolly-Tanzszene<br />
besteht. Das Vorbild für die Show in einem Kinosaal war<br />
die Welttournee der großen Stars Bollywood Temptations<br />
2004. Vor einer Kulisse bestehend aus einem riesigen<br />
Stoffbild des Taj Mahal präsentierten die jungen<br />
TänzerInnen aus der lokalen urbanen Mittelschicht<br />
Variationen über die Choreographien von Song and<br />
Dance-Nummern aus diversen indischen Filmen, die<br />
entsprechenden Videoaufnahmen kann man weltweit<br />
auf YouTube betrachten (zu Bollywood Fans in Österreich,<br />
online und offline, vgl. Fuchs 2007).<br />
Reisen im „Bolly-Land“ stehen auch in Zusammenhang<br />
mit besonderen Ereignissen, dazu zählen u.a. alle<br />
Veranstaltungen, bei denen Shah Rukh Khan persönlich<br />
anwesend ist. In England gab es im Jahr 2007 mehrere<br />
solcher Rituale der Begegnung, z.B. die Weltpremiere des<br />
Films Chak de India (Indien 2007, Regie Shimit Amin). An<br />
die 2000 Personen konnten an der Freilichtveranstaltung<br />
im Hof des Summerset House in London teilnehmen,<br />
neben vielen Menschen aus England (meist südasiatischer<br />
Herkunft) waren u.a. auch Gäste aus Frankreich,<br />
Deutschland, Österreich und Polen angereist – ein<br />
Fan hat eine 24stündige Busfahrt auf sich genommen um<br />
dabei zu sein. Sie ist Mitglied eines internationalen<br />
Internet-Forums und gekommen um SRK zu sehen, den<br />
sie seit vielen Jahren verehrt, aber auch um ihre<br />
FreundInnen aus dem Forum zu treffen. An die 20<br />
Personen aus diesem Kreis (vor allem aus Deutschland)<br />
haben sich bei der Premiere eingefunden, einige sind<br />
schon seit mehreren Jahren Bollywood und SRK Fans,<br />
andere erst seit kurzem. <strong>Die</strong> Reise wurde gründlich im<br />
Internet vorbereitet, neben der Premiere war auch ein<br />
Besuch in Southall, dem „Little India“ in der Umgebung<br />
von London, geplant. Ein Mitglied hatte das Glück zum<br />
roten Teppich der Presse Konferenz zu gelangen und war<br />
verzaubert von einem Moment der Nähe und einer<br />
Berührung von SRK. Andere mussten sich mit der<br />
zehnminütigen Ansprache des Stars, die immer wieder<br />
von der enthusiastisch schreienden Menge rund um sein<br />
Podium unterbrochen wurde, zufrieden geben. In den<br />
folgenden Tagen war dieses Ereignis ein zentrales Thema<br />
in vielen Internet-Foren, innerhalb weniger Stunden<br />
zirkulierten Bilder und Erlebnisberichte weltweit, und<br />
wurden dankbar von vielen Fans (u.a. in Peru)<br />
aufgenommen und kommentiert.<br />
30 Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
Ähnliches ereignet sich im November 2007 rund um die<br />
Premiere des neuen Films mit Shah Rukh Khan – Om<br />
Shanti Om (Indien 2007, Regie Farah Khan): Eine Gala<br />
Premiere mit dem Star in London ist angekündigt, die<br />
(voraussichtlich) einzige Premiere im deutschsprachigen<br />
Raum findet in Wien statt (allerdings ohne Stars). Und da<br />
ich beide Ereignisse teilnehmend beobachten möchte,<br />
und die Dokumentation der Wiener Premiere auch Teil<br />
eines Praktikums am Institut für Kultur- und<br />
Sozialanthropologie ist, mache ich jetzt schnell Schluss,<br />
denn – ich bin gerade ein bisschen bolly…. �<br />
Elke Mader ist Professorin am KSA-Institut. Arbeits- und<br />
Forschungsschwerpunkte: Mythen, Film, (Neue) Medien,<br />
Gender, transkulturelle Prozesse, Kultur- und<br />
Sozialanthropologie Lateinamerikas.<br />
Literatur<br />
Bakhtin, Mikhail. The Dialogic Imagination: Four Essays.<br />
Herausgegeben und übersetzt von Michael Holquist und Caryl<br />
Emerson. Austin und London, University of Texas Press, 1981.<br />
Chopra, Anupama. King of Bollywood: Shah Rukh Khan and the<br />
Seductive World of Indian Cinema. New York, 2007.<br />
Drummond, Lee. American Dreamtime. A Cultural Analysis of<br />
Popular Movies, and their Implications for a Science of Humanity.<br />
Maryland, 1996.<br />
Dudrah, Rajinder. Bollywood: Sociology <strong>goes</strong> to the Movies. London/<br />
New Delhi/Thousand Oaks, 2006.<br />
Fuchs, Bernhard. Bollywood-Fans meeting online and offline.<br />
Filmkultur im Internet, bei Stammtischen und auf Clubbings. ZfK-<br />
Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2: 69-84. Wien, 2007.<br />
Hall, Stuart. Representation. Cultural Representations and Signifying<br />
Practices. London, 1997.<br />
Jenkins, Henry. Fans, bloggers, and gamers. Exploring participatory<br />
culture. New York, 2006.<br />
Mader, Elke. Anthropologie der Mythen. Wien, 2007.<br />
Overing, Joanna. The Grotesque Landscape of Mythic 'Before Time';<br />
the Folly of Sociality in 'today time': an egalitarian aesthetics of<br />
human existence. In: Ernst Halbmayer and Elke Mader (Hg.): Kultur,<br />
Raum, Landschaft. Zur Bedeutung des Raumes in Zeiten der<br />
Globalität. Wien/Frankfurt, 2004.<br />
Peterson, Mark. Performing Media. Towards an Ethnography of<br />
Intertextuality. In: Eric Rothenbuhler und Mihai Coman (Hg.): Media<br />
<strong>Anthropology</strong>. Thousand Oaks/London/New Delhi, 2005.<br />
Coman, Mihai/Rothenbuhler, Eric.The Promise of Media <strong>Anthropology</strong>.<br />
In: Rothenbuhler, Eric und Mihai Coman (Hg): Media <strong>Anthropology</strong>.<br />
Thousand Oaks/London/New Delhi, 2005.
Blogger tragen zu einer Pluralisierung der Medienwelt bei und sind dabei auch<br />
VermittlerInnen zwischen Kulturindustrie und Medien-RezipientInnen<br />
von BERNHARD FUCHS und BIRGIT PESTAL<br />
Online-Journalismus und<br />
Filmkonsum<br />
Anmerkungen zur Bollywood-Blogosphere<br />
In der Bollywood-Fankultur spielt das<br />
Internet als ein Tandem-Medium zum<br />
Film eine bedeutende Rolle.<br />
Gerade in Europa und den USA<br />
kommt diese besonders zum Tragen,<br />
da hier die mediale Präsenz Bollywood<br />
nicht so ausgeprägt ist, wie am<br />
indischen Subkontinent. Das Internet<br />
gewinnt also an Bedeutung als ein<br />
Ergänzungsmedium für eine<br />
periphere Kulturindustrie. <strong>Die</strong><br />
Ausbreitung der Bollywood-Mediascape<br />
(vgl. Bollyscape, Mader, Seite 29) stützt<br />
sich ganz massiv auf neue Medien, die<br />
besonders für nicht-indisches<br />
Publikum eine essentielle Mittlerrolle<br />
besitzen. In diesem Beitrag<br />
konzentrieren wir uns auf die Weblogs<br />
der Bollywood-Fans, die sich selbst<br />
auch als Bollyblogger bezeichnen.<br />
Foto: Barbara Skoda<br />
Bollyblogger-Meeting in Wien, 2007<br />
Bollywood ist ein Begriff für den indischen Mainstream-Film in<br />
der Sprache Hindi, die Filme werden in der Metropole<br />
Mumbai produziert. Seit den 1970er Jahren wurde in<br />
journalistischen Kreisen die spöttische Bezeichnung Bollywood<br />
für das Bombay-Kino verwendet, die sich aber mittlerweile<br />
international etablierte – ganz ohne pejorativen Unterton. Auch „im<br />
Westen“ wird die indische Kulturindustrie zunehmend als eine<br />
ernstzunehmende Alternative für Hollywood-Produktionen betrachtet,<br />
im deutschsprachigen Raum hat die Fangemeinde eine<br />
anzuerkennende Größe erreicht. RTL2 zeigt seit dem Jahr 2005<br />
kontinuierlich Bollywoodfilme und entsprechende Clubbings finden<br />
vielerorts erfolgreich statt. Indische Popkultur und das „Indiengefühl“<br />
(Horkheimer 2007) halten Einzug in den Alltag vieler<br />
deutschsprachiger Fans. Special Interest-Magazine (z.B. Ishq-Bollywood<br />
& Lifestyle) bedienen bereits diesen Markt.<br />
<strong>Die</strong> Rezeption indischer Filme durch ein nicht-indisches Publikum ist<br />
noch ein relativ junges Forschungsthema. Bollyblogger nehmen in<br />
diesem Forschungsfeld eine Sonderposition ein – sie stehen (als<br />
virtuelle Kulturvermittler) zwischen der Hindi-Filmindustrie und<br />
dem deutschsprachigen Publikum. Sie übersetzen, machen und<br />
verbreiten News, sie kommentieren und kontrollieren sich gegenseitig<br />
und thematisieren Ereignisse im Kontext der indischen Traumfabrik,<br />
die große westliche Medien nicht registrieren. Sie sind somit Pioniere<br />
(oder auch Opinion Leader), die auf eine alternative Popkultur zum<br />
euro-amerikanischen Mainstream aufmerksam machen. Den Respekt<br />
der Fan-Community, der z.B. in Fan-Foren sichtbar wird, erwirbt sich<br />
ein Bollyblogger über seine kontinuierliche, ausführliche, vielleicht<br />
auch witzige und subjektive Beschäftigung mit der Thematik. <strong>Die</strong><br />
lokale Bollywood-Print-Berichterstattung, sofern diese überhaupt<br />
vorhanden ist, wird von Fans im Netz stark kritisiert, die Blogger<br />
hingegen sind hoch angesehen.<br />
Als Bloggen bezeichnet man eine Form des populären Online-<br />
Journalismus, die seit Ende der 1990er Jahre aufgrund benutzerfreundlicher<br />
Gratis-Software zunehmend bekannt wurde. „<strong>Maske</strong>n“,<br />
vorgefertigte Templates für Homepages, ermöglichen es auch Laien<br />
Online-Tagebücher zu verfassen, so genannte Weblogs, kurz Blogs.<br />
Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
31
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Wie bei einem Tagebuch werden hier laufend Einträge<br />
vorgenommen. <strong>Die</strong> VerfasserInnen geben ihrer Seite ein<br />
charakteristisches Layout, um auch graphisch eine<br />
Identität aufzubauen, welche dem gewählten textuellen<br />
Genre entspricht. Zahlreiche Extras (Bilder, Labels,<br />
Statistiken, RSS-Feeds, etc.) lassen sich auf einem Blog<br />
einfach einbauen. Der Bollywood-<br />
Newsblogger Michael z.B. hat ein eher<br />
minimalistisches Layout gewählt<br />
(www.bollywoodblog.de). Der Bollyblog<br />
von „Mariakäfer“ ist hin<br />
gegen sehr persönlich gestaltet<br />
(www.mariakaefer.de). Blogs sind eine<br />
relativ geschützte und sichere Variante<br />
sich selbst darzustellen. Identität wird<br />
also online konstruiert, was den<br />
Blogger vor die Aufgabe stellt (mehr<br />
oder weniger bewusst), wie eine<br />
eigenständige Ein-Personen-Redaktion<br />
zu agieren. Das betrifft z.B. die Selbstzensur,<br />
das Lektorat oder die Themen-<br />
Agenda. Ein großes Plus in der Ökonomie der<br />
Aufmerksamkeit: Blogs tauchen bei Google oft in<br />
privilegierter Position bei den Suchergebnissen auf, da<br />
große Suchmaschinen ihre Ergebnisse danach filtern, wie<br />
oft eine Webseite verlinkt ist. Blogger, z.B. Bollyblogger,<br />
vernetzen sich stark untereinander und bilden Netzwerke,<br />
sie tragen somit zu einer Demokratisierung –<br />
zumindest jedoch zu einer Pluralisierung – der<br />
Medienwelt bei.<br />
Subjektivität, Identität und Intimität<br />
Blogger gelten als bzw. sind tatsächlich oft Insider, die<br />
brisante Inhalte schneller und würziger vermitteln,<br />
übersetzen und kommentieren als Massenmedien.<br />
Umgekehrt werden sie aber kritisiert, irrelevantes,<br />
selbstverliebtes Geschwätz zu veröffentlichen und<br />
Banalitäten auf eine globale Bühne zu stellen. Das<br />
Individuelle und Persönliche steht hier aber auch klar im<br />
Vordergrund, es ist sogar erwünscht konkrete Aspekte<br />
aus einem größeren Kontext herauszugreifen.<br />
Blogs können ein Sprachrohr für private Ansichten<br />
darstellen. Sie lassen die Grenzen von Öffentlichkeit und<br />
Privatsphäre verschwimmen und drängen bisweilen<br />
auch Intimitäten in den Vordergrund, allerdings im<br />
Schutz einer (relativen) Anonymität. Das Phänomen lässt<br />
sich als Bestandteil eines allgemeinen Wandels der<br />
Zivilgesellschaft betrachten, auch im Sinne der von<br />
Richard Sennett beschriebenen „Tyrannei der Intimität“.<br />
LeserInnen, die kontinuierlich einen Blog besuchen,<br />
wissen, was sie dort erwartet. Erfolgreiche Blogger<br />
bleiben ihrem Schreibstil treu. „Ich blogge auf Englisch,<br />
32<br />
Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
Jeder Blogger ist<br />
Niemandem verpflichtet,<br />
auch anderen Bloggern<br />
gegenüber nicht. Der<br />
Blogger ist die gelebte<br />
Freiheit in guten, wie in<br />
schlechten Zeiten. Krisen<br />
sind durchzustehen.<br />
Schweigen ist verboten.<br />
(Ziffer 6 aus dem Blogger-Kodex von<br />
Bollybloggerin Maini)<br />
weil ich die Fremdsprache so übe, aber ich mache auch<br />
Bemerkungen in Hinglish oder Hindi, einfach weil ich<br />
eben cool sein will“, meint etwa die Bollywoodbloggerin<br />
Barbara Skoda. Ihr Blog (http://babasko.blogspot.com),<br />
den sie 2005 angelegt hat, verzeichnet heute mehr als 100<br />
LeserInnen pro Tag. Sie ist sowohl mit der deutschen als<br />
auch mit der internationalen Blogger-<br />
Szene vernetzt. Indische Filmplattformen<br />
kopieren ihre Film-Reviews<br />
und nebenbei bloggt sie auch auf der<br />
indischen Webseite von AOL. Barbaras<br />
Meinung ist gefragt – so wird sie z.B.<br />
persönlich gebeten auf großen Bollywood<br />
bezogenen Online-Plattformen<br />
Kommentare zu hinterlassen. „In<br />
Online-Foren ist man nur eine Stimme<br />
unter vielen. Bloggen ist definitiv eine<br />
Form von Narzissmus, ich find’ das<br />
ehrlich gesagt einfach genial, wenn<br />
Leute bei mir Kommentare hinterlassen<br />
oder meine Themen irgendwo wieder<br />
aufgegriffen werden. Auf der anderen Seite gibt es<br />
durchaus auch kontroverse Themen, wie z.B. die Sanjay<br />
Dutt-Affäre [es geht um einen berühmten Schauspieler,<br />
der 2007 zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, Anm.], bei<br />
denen ich meine Kommentare lieber in einem Forum [in<br />
deutscher Sprache] abgebe, weil ich hier quasi<br />
geschützter bin.“<br />
Galt das Internet früher eher als „abstrakte“ Männerdomäne,<br />
ist mit dem Weblog ein neues Medium aufgetaucht,<br />
das Frauen in hohem Maße auf einer kreativen<br />
Ebene anzusprechen scheint. Beim Bloggen ist insbesondere<br />
der spielerische Zugang und der Unterhaltungsaspekt<br />
für Frauen attraktiv. Tagebuchschreiben ist<br />
historisch sehr stark eine weibliche Aktivität (vgl.<br />
Schönberger 2006). Das Bloggen bringt diese Tätigkeit als<br />
eine Form der Äußerung auf eine öffentliche Bühne.<br />
Auch die Fangemeinschaft von kommerziellen Hindi-<br />
Filmen ist außerhalb Indiens primär weiblich (Pestal<br />
2007: 138).<br />
Bei der Suche nach deutschen Bollywood-Fanblogs<br />
finden sich viele liebevoll und aufwendig gestaltete<br />
sowie permanent aktualisierte Blogs, die auch die<br />
Persönlichkeit der AutorInnen stilvoll reflektieren (Etwa<br />
16 Bollyblogs finden sich im deutschsprachigen Internet,<br />
zehn davon werden von weiblichen Bloggern betreut).<br />
Über ein gemeinsames Interesse entwickeln sich über<br />
Blogs zudem soziale Netzwerke und Freundschaften, die<br />
durch symbolische Handlungen bekräftigt und sichtbar<br />
gemacht werden. Blogger, WebseitenbetreiberInnen und<br />
Fans finden in Foren zueinander und unternehmen<br />
gemeinsame Offline-Aktivitäten.
„Signifying practices“<br />
<strong>Die</strong> Unterscheidung von „virtuell“ und „real“ ist in<br />
intensiven Kommunikationszusammenhängen hinfällig.<br />
Tatsächlich erlaubt die Verbindung mit dem Internet<br />
einer cineastischen Subkultur die Überwindung<br />
räumlicher Barrieren bis hin zur globalen Vernetzung<br />
(vgl. Fuchs 2007).<br />
Es scheint ein Bedarf zu bestehen, diese virtuellen<br />
Beziehungen in Face-to-Face Beziehungen zu transformieren.<br />
In Bezug auf Bollywood lässt sich das verdeutlichen:<br />
Das erste Paneuropäische Internationale<br />
Bollywood Blogger Meeting (PEIBBM) fand im Frühjahr<br />
2007 in Wien statt und führte die deutschsprachige<br />
Blogger-Community erstmals im „realen Leben“ zusammen.<br />
Das Programm bestand aus einem gemeinsamen<br />
Brunch, einem Filmscreening mit Live-Blogging,<br />
und der Verleihung eines online inszenierten Bollywood-<br />
Publikums-Preises, dem ACEBA (Annual Central<br />
European Bollywood Award), für den im Vorfeld rund 1000<br />
Forumsmitglieder online über indische Stars und Filme<br />
abstimmten. <strong>Die</strong>ses Ereignis trug wesentlich zur<br />
Profilierung der Wiener Fan-Community bei. Das<br />
nächste PEIBBM wird bereits in größerem Rahmen konzipiert<br />
und soll im Frühling 2008 in München stattfinden.<br />
Blogger-Treffen dienen der Etablierung einer Gemeinschaft<br />
und auch deren Erhalt. Wichtig ist der sprachliche<br />
Aspekt: Deutschsprachige Bollywood-Blogger bilden<br />
eine eigene Community, die zwar sehr wohl die englischsprachigen<br />
Diskurse verfolgt und auch übersetzt, aber<br />
umgekehrt von außen kaum rezipiert werden kann.<br />
Im Herbst 2007 wurde das Mini-Khan Projekt ins Leben<br />
gerufen. Ziel ist die Intensivierung der Bollyblogger-<br />
Community. Es geht um eine Shah Rukh Khan Puppe,<br />
die von Blogger zu Blogger rund um die Welt geschickt<br />
wird, wobei jede/r sich etwas Kreatives überlegt, was er<br />
oder sie mit der Puppe unternimmt. Das verstärkt die<br />
wechselseitigen Blog-Besuche und Kommentare. <strong>Die</strong><br />
Idee entstand in einer amerikanisch-deutschen<br />
Kooperation; das Projekt reicht also über den deutschen<br />
Sprachraum hinaus.<br />
<strong>Die</strong> „Erlebnisse“ der zirkulierenden Puppe des<br />
Bollywood-Stars werden in einem Tagebuch festgehalten,<br />
und auch online dokumentiert. Es handelt sich<br />
um eine symbolische Praxis, die dazu beiträgt soziale<br />
Netzwerke zu intensivieren. Ganz im Stil des Kula-<br />
Handels der Trobriander bringt die Cyber Community<br />
der Bollywood-Fans ein signifikantes Objekt in Umlauf,<br />
um die Grundlage für künftiges Handeln zu festigen.<br />
Symbolisches Handeln macht aus Individuen, die<br />
einander in einer Cyber-Welt begegnen, signifikante<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Andere. Online Communities lassen sich als „Easy Entry<br />
– Easy Exit“-Gemeinschaften charakterisieren. <strong>Die</strong><br />
Etablierung von „Face to Face“-Beziehungen und<br />
symbolische Interaktionen steigern hier den Grad an<br />
Verbindlichkeit – indem sie Bindungen schaffen.<br />
Blogger schärfen allgemein den Blick auf neue Trends<br />
und kreieren eine alternative Medienlandschaft, die auch<br />
von größeren Medien anerkannt und wahrgenommen<br />
wird. Sie sind gleichzeitig KonsumentInnen und<br />
VermittlerInnen, die Grenzen von Konsumption und<br />
Produktion verschwimmen („Produser“). Blogs werden<br />
auch von „großen“ Printmedien rezipiert und kopiert.<br />
Sie umgehen also einerseits Massenmedien, sind aber<br />
gleichzeitig aufgrund ihrer größeren Freiheit in der Lage<br />
diese zu beeinflussen bzw. auch zu inspirieren. �<br />
Bernhard Fuchs, geboren 1966, ist Assistenzprofessor am<br />
Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien.<br />
Forschungsschwerpunkte: Stereotypen, Kulturtransfer,<br />
Migration, Medien.<br />
Birgit Pestal, geboren 1980, hat KSA und Publizistik<br />
studiert und ist heute als freie Journalistin tätig. Sie ist<br />
derzeit Lehrbeauftragte am Institut für KSA. Schwerpunkt:<br />
Medien, Kulturaustausch, Fankulturen, Bollywood.<br />
Literatur<br />
Fuchs, Bernhard. Bollywood-Fans meeting online and offline.<br />
Filmkultur im Internet, auf Stammtischen und bei Clubbings.<br />
Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Bd.2. 2007<br />
Horkheimer, Max. Trendreport 2007. http://www.zukunftsinstitut.de<br />
Interview Fuchs/Pestal mit Barbara Skoda, Wien, 26.10.1007<br />
Pestal, Birgit. Faszination Bollywood. Zahlen, Fakten und Hintergründe<br />
zum „Trend“ im deutschsprachigen Raum. Marburg, 2007<br />
Schmidt, Jan. Weblogs. Eine kommunikationssoziologische Studie.<br />
Konstanz, 2006<br />
Sennett, Richard. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: die<br />
Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main, 1983<br />
Winter, Rainer. Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als<br />
kultureller und ästhetischer Prozeß. München, 2005<br />
Schönberger, Klaus. Weblogs: Persönliches Tagebuch, Wissensmanagement-Werkzeugund<br />
Publikationsorgan. In: Schlobinski,<br />
Peter (Hg.): Von »hdl« bis »cul8r«.Sprache und Kommunikation in<br />
den neuen Medien. DUDEN Thema Deutsch. Bd. 7.Mannheim et al.<br />
2006, S. 233-248.<br />
Maini (Bollybloggerin): http://maini.wordpress.com<br />
Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
33
34<br />
Kooperative Beziehungen im spielerischen virtuellen Umfeld umgehen traditionelle<br />
Machtbeziehungen und territoriale Zugehörigkeiten - aber sie erschaffen auch neue<br />
von BIRGIT PESTAL<br />
World of Warcraft<br />
Vignetten aus einem virtuellen Wunderland<br />
Massive(ly) Multiplayer Online Role-<br />
Playing Games (MMORPGs), also<br />
Online-Rollenspiele, sind ein<br />
besonderes mediales und soziales<br />
Phänomen unserer Zeit und<br />
verzeichnen einen massiven Zuwachs<br />
an SpielerInnen. World of Warcraft<br />
(kurz: WOW) ist mit rund 9 Millionen<br />
AbonentInnen (Stand vom 24.Juli<br />
2007) das meistgespielte<br />
Onlinerollenspiel der Welt. Ebenso<br />
viele Forschungsfragen eröffnen sich<br />
bei einem Rundgang durch diese<br />
atmosphärische Spielwelt. Ein kurzer<br />
Blick auf den Forschungsstand zeigt,<br />
dass MUDs (Multi User Dungeons),<br />
die Vorgänger der MMPORGs, noch<br />
immer besser untersucht zu sein<br />
scheinen, als diese weitaus<br />
komplexeren Spielwelten des neuen<br />
Jahrtausends. <strong>Die</strong>ser Artikel will ein<br />
sehr spannendes und junges<br />
Forschungsfeld skizzieren – ohne sich<br />
in den faszinierenden Details dieses<br />
phantasievollen Online-Universums<br />
zu verlieren.<br />
Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
Wer WOW verstehen will, muss es selbst spielen. Also<br />
zunächst einmal einen Charakter erschaffen. Ihn<br />
entwickeln, „skillen“ und „hochleveln“. Aufgaben und<br />
Rätsel lösen. Berufe erlernen. Gildenmitglied werden.<br />
Das Auktionshaus verwenden. Einer Schlachtgruppe beitreten.<br />
Rufpunkte sammeln. Wahrhaft epische Rüstungsgegenstände und<br />
Waffen erwerben. Addons (externe Applikationen) installieren. Makros<br />
programmieren. Kommunikationskanäle benutzen. Kontakte pflegen.<br />
Strategien besprechen. Und es geht immer so weiter.<br />
Wenn das Ziel des Spiels sein soll, den gesamten Content (Spiel-Inhalt)<br />
zu ergründen, wird dieses Unterfangen von der Hersteller-Firma<br />
Blizzard erfolgreich sabotiert. Immer neue Gebiete und Spielvarianten<br />
werden zu der bestehenden Welt hinzugefügt. World of Warcraft<br />
wächst und expandiert kontinuierlich. Das letzte Addon erschien am<br />
17. Jänner 2007. Eine buchstäblich neue Welt tat sich punkt<br />
Mitternacht auf. <strong>Die</strong> Begeisterung unter den SpielerInnen war<br />
grenzenlos und die Spielerweiterung in vielen Geschäften schnell<br />
ausverkauft. Mit nahezu 3,5 Millionen verkauften Exemplaren im<br />
ersten Monat, brach das Addon in Nordamerika und Europa sämtliche<br />
Verkaufsrekorde für PC-Spiele. WOW ist zweifellos der Harry Potter<br />
unter den Onlinespielen.<br />
In diesem Spiel lassen sich mühelos Tage, Wochen und sogar Jahre<br />
verbringen. <strong>Die</strong> Atmosphäre der virtuellen dreidimensionalen Welt<br />
will buchstäblich eingeatmet werden. Das Online-Rollenspiel ist auf<br />
hochspezialisierte Kampfaktionen in einem Herr der Ringe-ähnlichen<br />
Umfeld ausgerichtet (Freigegeben ist es ab 12 Jahren). Gemeinsam<br />
überwinden die SpielerInnen hier verschiedene Herausforderungen<br />
oder Gegner (d.h. NPCs, also Non Player Character, das sind<br />
vorprogrammierte Figuren, die nicht von anderen Menschen gespielt<br />
werden). Daneben können die SpielerInnen auch in verschiedenen<br />
Spielmodi gegeneinander antreten, z.B. in „Duellen“, in der „Arena“<br />
oder auf „Schlachtfeldern“. <strong>Die</strong>ses Player vs. Player-spielen (PVP)<br />
schafft für viele WOW-Gamer einen besonderen Anreiz. Ein anderer<br />
Motivationsfaktor, der die SpielerInnen jahrelang an das Spiel bindet,<br />
ist das Spielen in großen Stammgruppen, die in beschränkten<br />
Bereichen der Spielwelt (Instanzen) mächtige „Endbosse“ (z.B.<br />
Drachen) überwinden.
Unkonventionelle soziale Vernetzung<br />
<strong>Die</strong> Mitgliedschaft in einer „Gilde“ oder Stammgruppe,<br />
also einer Vereinigung innerhalb des Spiels, fördert erwiesenermaßen<br />
den Spielkonsum. Laut einer Studie von<br />
Olgierd Cypra gaben insgesamt 9226 Befragte an, Mitglied<br />
einer Gilde zu sein, dies sind 80,6% des Gesamtsamples.<br />
Außerdem zeigt die Studie: <strong>Die</strong> Anzahl der<br />
durch das Spielen gefundenen Freundschaften erhöht<br />
den Spielkonsum. Und: Der Spielkonsum unter den<br />
Gildenmitgliedern fällt vor allem dann hoch aus, wenn<br />
die dortigen Kontakte als qualitativ hochwertig (den<br />
realweltlichen Kontakten mindestens ebenbürtig) angesehen<br />
werden. <strong>Die</strong> Anonymität ermöglicht demokratische<br />
und offene Kommunikation im Chat oder im<br />
„Teamspeak“ (Gruppen-Online-Telefonie). Das kann z.B.<br />
bedeuten: Ein deutscher Mathelehrer spielt inkognito mit<br />
seinen eigenen Schülern. Oder: Ein erwachsener<br />
Familienvater ordnet sich im Gruppenspiel einem<br />
16jährigen unter, in manchen Fällen ohne es überhaupt<br />
zu wissen. „Das wäre vielleicht im echten Leben auch<br />
manchmal nicht so schlecht“, meint dazu ein 36-jähriger<br />
Psychologe und erfahrener WOW-Spieler.<br />
„Make Love not Warcraft“<br />
Kurz gesagt sei es ein „Ultrawahnsinnsspiel“, so meint er<br />
im Teamspeak während des Spielens. Besonders spannend<br />
findet er z.B. die Sachlage, dass viele Frauen männliche<br />
Avatare (Charaktere) erschaffen und umgekehrt.<br />
„Vielleicht will man nur etwas anderes ausprobieren,<br />
vielleicht wird aber auch irgendetwas kompensiert.“<br />
Möglicherweise will eine Frau aber auch nicht unbedingt,<br />
dass sie im Spiel gleich als Frau identifiziert wird.<br />
„Einmal als Frau erkannt, ist man in dem Spiel bereits<br />
Freiwild und wird oft angeflirtet“, meint dazu die langjährige<br />
Spielerin und Stammgruppenleiterin namens<br />
Swiby, die auch schon im wahren Leben mit dem Namen<br />
ihres WOW-Avatars angesprochen wird. Ihr Lebenspartner<br />
und WOW-Spielgefährte Jebbie ergänzt: „Und vielleicht<br />
schaut man als Mann, wenn man schon so viele<br />
Stunden vor dem PC verbringt, ganz einfach lieber einer<br />
weiblichen, wohlgeformten Nachtelfe beim interagieren<br />
zu, als z.B. einem männlichen Avatar.“ Tatsächlich ist der<br />
Anteil weiblicher Nachtelfen bei WOW bemerkenswert<br />
groß. Und jener der männlichen WOW-Spieler ist immer<br />
noch signifikant. <strong>Die</strong> beiden Schweizer spielen seit der<br />
Betaphase (2005) und organisieren heute regelmäßig<br />
große Spielevents mit 25 bis 40 SpielerInnen. Der soziale<br />
Aspekt ist mittlerweile für die beiden die Hauptantriebsfeder<br />
weiterzuspielen.<br />
„In WOW ist es egal, ob jemand groß oder klein oder<br />
dick oder dünn ist, oder Pickel hat. Wir haben ein gemeinsames<br />
Hobby und eine gleiche Wellenlänge und<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
darauf kommt es an. <strong>Die</strong> Menschen lernen sich ingame<br />
[im Spiel, Anm.] kennen. Da gibt es keine Vorurteile.<br />
Menschen, die sich im wahren Leben schwer tun<br />
Freunde zu finden, werden hier respektiert. Bei LAN-<br />
Parties kann man dann beobachten, wie diese Menschen<br />
ganz normal integriert werden“, meint Swiby. In WOW<br />
gibt es hohe moralische Werte, Ritterlichkeit und<br />
Fairplay. Ideale also, die wir nicht immer im wahren<br />
Leben finden. Dazu Jebbie: „WOW ist schon irgendwie<br />
eine Metapher für unsere Welt, wenn man sich z.B. die<br />
Mythologie anschaut. Es gibt ‚Rassen‘, die sich<br />
bekriegen. Das ist eigentlich brutal. Aber es stört mich<br />
sehr, wenn Außenstehende WOW mit Ego-shootern<br />
[Schießspielen, Anm.] in einen Topf werfen und als<br />
gewaltverherrlichend abtun.“<br />
WOW ist tatsächlich vergleichsweise steril. Es gibt keine<br />
kämpferischen Blutgemetzel. In China wird die Grafik<br />
außerdem noch zusätzlich an einen gewissen kulturellen<br />
Ländercode angepasst, da manche Grafiken als morbide<br />
empfunden werden: Hier gibt es z.B. keine Leichen (von<br />
besiegten Gegnern) oder Untote (Skelette) zu sehen, die<br />
Texturen werden aufwendig verändert. Das letzte Addon<br />
kam (u.a.) daher auch mit einem halben Jahr Verspätung<br />
nach China. <strong>Die</strong> Spielserver sind übrigens grundsätzlich<br />
in Sprachgebiete unterteilt, aber es ist technisch möglich<br />
auch auf ausländischen Servern zu spielen. Ein relativ<br />
bekanntes Phänomen sind z.B. ChinesInnen, die auf<br />
ausländischen Servern spielen, die so genannten<br />
Chinafarmer.<br />
Echtes Geld wert<br />
WOW hat China schon lange erobert. Ein besonderes<br />
Phänomen ergibt sich aus der Sachlage, dass es<br />
außerhalb Chinas SpielerInnen gibt, die nicht erst selbst<br />
Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
35
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
einen Charakter auf Level 70 spielen wollen, sondern sich<br />
nur für das Raiden, also das Spielen in großen Highlevel-<br />
Schlachtgruppen interessieren. Für reales Geld wollen sie<br />
einen hochgelevelten Charakter unter anderem via eBay<br />
erwerben. Dasselbe gilt auch für virtuelle Gegenstände<br />
(Items), wie z.B. Waffen. Das Geschäft<br />
wird über eBay abgewickelt – die Items<br />
werden ingame übergeben. In China ist<br />
eine Debatte um das so genannte farmen<br />
(d.h. das Erwerben von virtuellem Gold<br />
oder Gegenständen) entstanden. Eine<br />
unüberschaubare Zahl (geschätzte<br />
100.000, vgl. Geiges 2006) Jugendlicher<br />
verdient so heute bereits echtes Geld.<br />
Eine ganze Berufsparte inkl. Gesetzgebung<br />
ist in China entstanden. Hier<br />
gibt es nicht nur Zensur und Versuche<br />
den Zugang zum Spiel einzuschränken, sondern auch<br />
offenbar eine echte Angst, dass Jugendliche vom Land,<br />
die eigentlich die reale Ernte von den Feldern einbringen<br />
sollten, lieber ihre Zeit in der Online-Welt verbringen,<br />
um für einen ungefähren Monatslohn von 800 Yuan (vgl.<br />
Geiges 2006) virtuell zu farmen. <strong>Die</strong> Abnehmer für die<br />
gefarmten Items sind, so könnte man zumindest leicht<br />
vermuten, vorwiegend in Europa oder den USA zuhause.<br />
Sie haben mehr Interesse am ausgereiften Gruppenspiel<br />
als am „mühsamen“ hochleveln der Spielfiguren.<br />
Organisation, Dynamik und Innovation<br />
Gilden oder Stammgruppen verhalten sich wie lernende<br />
Organisationen. Sie betreiben Aktivität auf Dauer, haben<br />
gemeinsame Ziele, sie interagieren arbeitsteilig, es gibt<br />
Mitgliedschaftsregeln und Kompetenzverteilung, ein<br />
Logo (Gildenwappen), eigene Kommunikationsnetze,<br />
Systeme die Anreize schaffen (z.B. Ehren-Punktesysteme)<br />
und gezielte Problemlösungsprozesse bzw.<br />
Konsensfindung. Eine lernende Organisation ist<br />
idealerweise ein System, welches sich ständig in<br />
Bewegung befindet. Gewisse Ereignisse werden als<br />
Anregung aufgefasst und für Entwicklungsprozesse<br />
genutzt, um die Wissensbasis und Handlungsspielräume<br />
an die neuen Erfordernisse anzupassen. Dem zugrunde<br />
liegt eine offene und von Individualität geprägte<br />
Organisation, die ein innovatives Lösen von Problemen<br />
erlaubt und unterstützt. All das lässt sich in einer WOW-<br />
Stammgruppe erleben. Jede WOW-Gruppe erfindet<br />
dabei eigene Methoden und Wege das Spiel zu meistern.<br />
Bestimmte Gruppen sind besonders erfolgreich, wie z.B.<br />
Nihilum, die so gut wie jeden „Endboss“ als erstes besiegt<br />
haben. In vielen Fan-Foren wird die Frage diskutiert, ob<br />
diese SpielerInnen überhaupt noch ein Privatleben<br />
haben. Bei Jebbie und Swibys sehr erfolgreicher<br />
Stammgruppe Unmatched spielen persönliche Kontakte<br />
36<br />
Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
„Im wahren Leben<br />
bin ich nur ein<br />
einfacher Geologe,<br />
aber HIER bin ich<br />
FALCON,<br />
Verteidiger der<br />
Allianz. Jäger der<br />
Stufe 2.“<br />
(Zitat aus South Park)<br />
allerdings eine wichtige Rolle. <strong>Die</strong> SpielerInnen treffen<br />
sich auch im wahren Leben und unternehmen<br />
gemeinsame Offline-Aktivitäten. Im Spiel selbst wird<br />
auch viel Privates ausgetauscht. Es wird über<br />
Musikvorlieben oder Tages-Politik geplaudert. Der<br />
Feierabend wird gemeinsam zelebriert. Und<br />
auch Geschehnisse aus dem wahren Leben wie<br />
z.B. Hochzeiten oder Todesfälle werden ingame<br />
reproduziert und ausgelebt. <strong>Die</strong> Kulturwissenschaftlerin<br />
und Spieltheoretikerin<br />
Adamowsky meinte dazu, dass persönliche<br />
Beziehungen im Cyberspace möglich sind, sie<br />
funktionieren anders, doch das heißt nicht,<br />
dass sie weniger intensiv sind. Man kann also<br />
durchaus den Wunsch erkennen, ein soziales<br />
Band zu schaffen, das „sich nicht auf<br />
territoriale Zugehörigkeiten, institutionelle<br />
Beziehungen oder Machtbeziehungen gründet, sondern<br />
auf die Vereinigung durch gemeinsame Interessen, auf<br />
einen spielerischen Umgang, die Mitteilung des Wissens,<br />
auf einen kooperativen Lernprozess und auf offene<br />
Prozesse der Zusammenarbeit.“ �<br />
Birgit Pestal, geboren 1980, hat KSA und Publizistik<br />
studiert und ist heute als freie Journalistin tätig. Sie ist<br />
derzeit Lehrbeauftragte am Institut für KSA. Schwerpunkt:<br />
Medien, Kulturaustausch, Fankulturen, Bollywood.<br />
Literatur<br />
Adamowsky, Natascha. Spielfiguren in virtuellen Welten, Frankfurt/<br />
New York, 2000<br />
Cypra, Olgierd. Warum spielen Menschen in virtuellen Welten? Eine<br />
empirische Untersuchung zu Online-Rollenspielen und ihren<br />
Nutzern. http://www.mmorpg-research.de. Diplomarbeit. Mainz<br />
2005<br />
Geiges, Adrian. Goldrausch in Azeroth. In: Stern 19/2006<br />
Götzenbrucker, Gerit. Integrationspotentiale neuer Technologie am<br />
Beispiel von Multi User Dimensions. Eine empirische Analyse<br />
gemeinschaftsbildender Prozesse in kollaborativen Spielewelten.<br />
Dissertation. Wien 2001<br />
Interview mit den WOW-Stammspielern Jebbie und Swiby in Wien<br />
am 19.10.07. Link: http://www.unmatched-guild.com<br />
„Make Love not Warcraft“: Unter diesem Titel kam im Oktober 2006<br />
eine Folge der berühmten Comic-Serie „South Park“ heraus. <strong>Die</strong><br />
Episode karikierte, unterstützt von Blizzard, die Klischees mit denen<br />
WOW-SpielerInnen immer wieder konfrontiert werden. Siehe hier:<br />
http://www.youtube.com/watch?v=xAEMVwb6Y5k
In Filmen und Projekten versucht Ivo Strecker die Lebenswelt der Hamar in Äthiopien<br />
greifbar zu machen<br />
von IXY NOEVER und JULIA PONTILLER<br />
Ivo Strecker im Gespräch<br />
Ein ethnographischer Filmemacher<br />
Ivo Strecker zeichnen besonders die<br />
enge Verwobenheit seiner beiden<br />
Berufe sowie seine tiefe Verbundenheit<br />
mit den Hamar in Südäthiopien<br />
aus, zu denen er und seine Frau Jean<br />
Lydall seit den 1970er Jahren Feldforschungsreisen<br />
unternehmen. Von<br />
1984 bis zu seiner Pensionierung 2005<br />
war Ivo Strecker Professor für Ethnologie<br />
am Institut für Ethnologie und<br />
Afrikastudien der Johannes-<br />
Gutenberg-Universität Mainz. Seine<br />
ethnologischen Arbeiten und Filme<br />
können wie Puzzelstücke betrachtet<br />
werden, in denen er sich bestimmten<br />
Themenschwerpunkten zuwendet.<br />
Puzzelstücke, die sich wie zu einem<br />
Bild der umfassenden Lebensweise<br />
der Hamar zusammenfügen lassen<br />
und die zeigen, wie sehr Ivo Strecker<br />
während der letzten drei Jahrzehnte<br />
mit ihrer Lebenswelt verbunden war<br />
und ist.<br />
Wie sind Sie zu den Hamar gekommen?<br />
Robert Gardner (ein amerikanischer Filmemacher, der sich auf Filme<br />
ethnographischen Inhalts spezialisierte, zu seinen bekanntesten<br />
Werken zählen Dead Birds oder Forest of Bliss) drehte gerade seinen<br />
Film Rivers of Sand und wir wurden von ihm aufgefordert, ihm als<br />
anthropologische BeraterInnen zur Seite zu stehen. Während wir den<br />
Film vorbereiteten, lernten wir die Sprache der Hamar. Wir waren tief<br />
in ihren Alltag eingetaucht und hatten uns vom Drama des dortigen<br />
Lebens leiten lassen. Das Tonbandgerät und die Filmkamera spielten<br />
dabei eine große Rolle. All dies konnten wir unter der Obhut von<br />
Baldambe verwirklichen. Er war unser Gastgeber, Freund, Lehrer und<br />
Mentor. So wuchsen wir über die Jahre immer tiefer in die Kultur der<br />
Hamar hinein.<br />
Wie hat sich Ihre filmische Arbeit entwickelt?<br />
<strong>Die</strong> Themen, die wir in den Filmen behandelten, haben sich durch<br />
Gespräche mit unseren Hamarfreunden entwickelt. Ich beschäftige<br />
mich in meinen Filmen mit den Themen Männerwelt, Initiation,<br />
Symbole, rituelle Schlachtung und Weissagung während sich meine<br />
Frau Jean Lydall mit der Beziehung zwischen den Geschlechtern und<br />
allem, was Kinder- und Frauenwelten anbelangt, auseinandersetzt.<br />
Sie haben den Aufsatz „Filming Dreams“ geschrieben und man hört immer<br />
wieder Kritiken, dass Sie Träume filmen – quasi nur die schönen Seiten im<br />
Leben der Hamar?<br />
<strong>Die</strong> Idee zu diesem Aufsatz war, zu sagen, dass wir alle von positiven<br />
Erfahrungen leben. Auf allerhöchster Ebene ist dies das Prinzip der<br />
Hoffnung. Aber Hoffnungen sind immer zeit-, orts-, gesellschafts- und<br />
kulturspezifisch. Man lebt z.B. auch von der Hoffnung, dass die Sonne<br />
wieder scheinen wird, selbst in langen Zeiten des Hungers lebt man<br />
bei den Hamar von dem Traum, der einmal Wirklichkeit war, dass<br />
man wieder satt wird. Fremde Kulturen werden oft nur als<br />
Hungerkulturen dargestellt – wie das nun auch definitiv mit Äthiopien<br />
der Fall ist; Äthiopien ist ja weltberühmt für seine Hungeropfer.<br />
Wir haben gefilmt, wie die Leute nun nicht hungern. Den Traum, dass<br />
das Leben möglich sein könnte als Glücksleben, den kulturspezifischen<br />
Traum, den man als Ethnograph auch herüberbringen<br />
muss, und dann können auch die Schreckensdinge kommen. Filming<br />
Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
37
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
dreams bedeutet, die Träume anderer sichtbar zu machen<br />
und mit ihnen zusammen zu träumen.<br />
Wie weit fühlen Sie sich in die Kultur der Hamar integriert?<br />
Ich sehe die größte ethnographische Herausforderung<br />
darin, dem Eigenen und dem Fremden gleichen Raum,<br />
gleiche Ausdruckskraft, gleiche Möglichkeiten für<br />
Enthüllung und Geheimnis zu geben, und die<br />
Schnittpunkte zu finden, an denen sich die geistigen<br />
Bahnen kreuzen und zum Klingen kommen. Während<br />
der Feldforschung erfährt man aber oft auch schmerzlich,<br />
dass die eigene geistige und emotionale Bewegung<br />
zwar auf den anderen zuführt, dann jedoch an ihm<br />
vorbeigeht und umgekehrt, der andere sich im Begriff<br />
wähnt, den Ethnographen zu verstehen, nur um<br />
festzustellen, dass Verständnis eine Illusion sein kann.<br />
In ihrem letzten Film „Bury the Spear“ geht es um<br />
Friedensverhandlungen. Sie waren damals sehr enttäuscht,<br />
dass der Film nicht im Fernsehen gezeigt wurde.<br />
Der Film Bury the Spear ist zum Teil als Antwort auf den<br />
Wunsch eines Mannes tief im südlichen Äthiopien<br />
entstanden, der sagte: „Lasst uns hier Frieden machen.“<br />
Eine Gruppe von EthnologInnen meinte: „Da helfen wir<br />
mit, wenn sechs verschiedene Gruppen miteinander<br />
verhandeln wollen.“ Eine Friedensgeschichte wurde<br />
vorbereitet, die wir dann mit ganz einfachen Mitteln<br />
gefilmt haben. Damals gab es in Somalia und im Sudan<br />
Krieg, daher wollten wir der Welt zeigen, dass es auch<br />
einen Willen zum Frieden gibt. Nachdem wir die<br />
Geschichte verfilmt hatten vergingen mehrere Jahre,<br />
dann erreichte uns die Nachricht von dem Alten, der es<br />
geschafft hatte, Frieden zu stiften. Ich sollte kommen. Er<br />
sagte nun: „Der Film soll gesehen werden auf der ganzen<br />
Welt!“, und dann ist das der einzige Film, den das<br />
Fernsehen nicht senden will. Er ist nämlich technisch<br />
nicht so gut, und schon wird er nicht gezeigt, darin liegt<br />
die große Enttäuschung.<br />
Wie ist Ihre Idee zum South Omo Research Center entstanden?<br />
<strong>Die</strong> Idee für ein Museum und Forschungszentrum in<br />
Südäthiopien entstand nur langsam und speiste sich aus<br />
verschiedenen Interessen und Visionen. Als ich an der<br />
Uni Mainz lehrte, lud ich Baldambe ein, mir bei meinen<br />
Seminaren zur Kultur der Hamar zur Seite zu stehen,<br />
und eigentlich nahm die Entstehung des South Omo<br />
Research Centers (SORC) hier ihren Anfang. Im SORC bin<br />
ich der Moderator eines Projekts, das beim Abbau<br />
38<br />
Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
politischer Spannungen in Südäthiopien mitwirken soll.<br />
Zu den für Entwicklungsarbeit wichtigen Wissenschaften<br />
gehört auch die Ethnologie. <strong>Die</strong>s gilt nicht<br />
zuletzt für Äthiopien, ein Land, das gegenwärtig versucht,<br />
sich von einer langen und qualvollen Geschichte<br />
sozialer und kultureller Ungerechtigkeit zu verabschieden.<br />
Besonders seit dem Fall des Mengisturegimes<br />
(1991) und der Einführung einer neuen Verfassung,<br />
die den einzelnen „Zonen“ Äthiopiens zumindest<br />
auf dem Papier eine gewisse Eigenständigkeit<br />
garantiert, versucht sich Äthiopien zu einem modernen,<br />
demokratischen und föderalen Staat zu entwickeln.<br />
Was sind die Ziele dieses Zentrums?<br />
Ziel und Aufgabe ist es, zur Erforschung und<br />
Dokumentation sowie zum Erhalt des kulturellen Erbes<br />
Äthiopiens beizutragen. <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit galt<br />
anfangs vor allem den alten, auf dem Gebrauch der<br />
Schrift aufbauenden „Hochkulturen“ Nord- und<br />
Zentraläthiopiens. Inzwischen kommen auch die<br />
ehemals „marginalen“ oder „Randvölker“ Äthiopiens<br />
hinzu. Hier steht das Zentrum vor der schwierigen<br />
Aufgabe, den ethnischen Minderheiten des Landes zu<br />
helfen, sich aus ihrer historischen Stigmatisierung zu<br />
befreien und eigene Institutionen zur Bewahrung ihres<br />
kulturellen Erbes zu gründen. Das South Omo Research<br />
Center stellt einen ersten Modellversuch in diese<br />
Richtung dar und soll sich neben der Bewahrung<br />
kulturellen Erbes insbesondere auch der angewandten<br />
sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung<br />
widmen, mit dem Ziel, das Bestreben nach good<br />
governance und Demokratisierung in der Region<br />
tatkräftig zu unterstützen.<br />
In Ihren Arbeiten und speziell in Zusammenhang mit den<br />
Hamar beziehen Sie sich immer wieder auf den „woko“. Was<br />
versteht man darunter?<br />
Der woko ist ein Stock, der sich an einem Ende gabelt und<br />
am anderen Ende zu einem Haken formt. Wie bei aller<br />
Symbolik, gibt es zuerst einmal eine praktische Ordnung<br />
der Dinge. Mit der Gabel des Stockes drückt man die<br />
dornigen Zweige des Busches zur Seite. <strong>Die</strong>se praktische<br />
Funktion lässt sich nun analog auch auf andere Bereiche<br />
erweitern. Das heißt, mit der Gabel kann man auch<br />
andere dornige Dinge wie Hunger, Krankheit, Krieg, von<br />
sich abwehren, und mit dem Haken kann man gute<br />
Dinge wie Bienen, Regen, Frieden heranholen. Man kann<br />
sagen, dass jeder Mensch in sich einen woko trägt und<br />
dass ihn erst das Leben lehrt, kunstvoll damit zu<br />
hantieren. Denn: besteht nicht die Kunst des sozialen
Lebens darin, immer die richtige Distanz zum „anderen“<br />
zu gewinnen und zu halten? Kommt uns jemand zu<br />
nahe, dann schieben wir ihn oder sie mit der Gabel<br />
unseres unsichtbaren wokos in die richtige Distanz.<br />
Wollen wir aber, dass uns der andere nicht entflieht,<br />
dann drehen wir den woko um und holen ihn wieder zu<br />
uns zurück. Auf diese Weise ist der woko ein Symbol für<br />
das universale Problem von Nähe und Distanz, das wir<br />
auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens antreffen und<br />
das letztlich auch die ganze Ethnologie motiviert. �<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Julia Pontiller, 1974 in Innsbruck geb., ist diplomierte<br />
Ethnologin und Filmcutterin, sie arbeitet als selbständige<br />
Cutterin und freie Lektorin an den Universitäten in Wien und<br />
Innsbruck zu visueller Anthropologie und Schnitt.<br />
Ixy Noever, 17 .7.1969 in Wien geb., Studium: Ethnologie an<br />
der Uni. Wien, Selbstständige Tätigkeit als Mediatorin und<br />
Beraterin, Lehraufträge an verschiedenen Instituten österr.<br />
Universitäten (Visuelle Anthropologie, Scheidungen im<br />
Kulturvergleich), Filmregisseurin.<br />
Fachgebiet – Medienanthropologie<br />
39
Zahlen, Fakten und Hintergründe zum „Trend“<br />
im deutschsprachigen Raum<br />
Faszination Bollywood<br />
Autorin: Birgit Pestal<br />
Tectum Verlag Marburg 2007<br />
ISBN 978-3-8288-9315-3<br />
Bestellungen: www.tectum-verlag.de<br />
Ziel des Buches ist es, mithilfe quantitativer Daten,<br />
Zahlen und Hintergrundinformationen die Faszination<br />
Bollywoods in Österreich, der Schweiz und Deutschland<br />
zu porträtieren. <strong>Die</strong> Fragestellungen sind umfassend,<br />
reichen vom Erforschen des Bekanntheitsgrades Bollywoods<br />
im deutschsprachigen Raum, hin zur Dokumentation<br />
der Prozesse, die zu einer verstärkten Wahrnehmung<br />
des indischen Filmgenres geführt haben. Um<br />
die Dynamik dieses Themenfeldes besser darzustellen,<br />
gewährt dieses Buch ebenfalls einen Einblick in die<br />
Veränderungen der indischen Unterhaltungsindustrie<br />
im Lichte der immer stärker voranschreitenden Globalisierungswelle<br />
gewähren.<br />
40 Buchrezension<br />
Jede Menge statistisch ausgewertete Daten über die<br />
Zusammensetzung und Präferenzen des deutschsprachigen<br />
Bollywoodpublikums bereichern die Lektüre<br />
in Form von Tabellen und narrativen Beschreibungen,<br />
die im leicht-lockeren Stil nebst einfallsreich gewählten<br />
Überschriften, Zitaten und (vielleicht an mancher Stelle<br />
zu vielen) Quellenangaben das Leserinteresse wecken.<br />
So erfahren wir etwa in der detailreichen Einleitung<br />
nicht nur von der spannenden Geschichte des indischen<br />
Films, sondern auch von de vergleichsweise engen<br />
Beziehungen der Bollywoodindustrie mit der Schweiz,<br />
Deutschland und Österreich. Wussten sie z.B., dass,<br />
obwohl Österreich in Sachen Bollywood von der Autorin<br />
als „Entwicklungsland“ bezeichnet wird, die Tiroler<br />
Berglandschaft anscheinend die perfekte Kulisse für den<br />
Dreh dieser farbenprächtigen, durchaus melodramatischen,<br />
stimmungsvollen Bollywoodfilme bietet?<br />
In den darauf folgenden Kapiteln illustriert die Autorin<br />
mit aufschlussreichem Hintergrundmaterial, dass<br />
Bollywood heute längst keine flüchtige Modeerscheinung<br />
mehr darstellt; so wird fast nebenbei<br />
erwähnt, dass Bollywood weltweit auf eine Milliarde<br />
mehr ZuseherInnen vorweisen kann als Hollywood!<br />
<strong>Die</strong> lesenswerten Schlussbetrachtungen spannen den<br />
resümierenden Bogen und stellen klar die Forschungserkenntnisse<br />
in den Mittelpunkt: Im deutschsprachigen<br />
Raum ist das Potenzial Bollywoods bemerkenswert,<br />
nicht nur hinsichtlich der Reichweiten von Filmausstrahlungen,<br />
sondern auch in Bezug auf Bollywood<br />
als Lifestyle-Phänomen. Auf das westliche Publikum<br />
scheinen das visuelle Arrangement, die Musik, Farbenpracht<br />
und Stimmung eine besonders starke Anziehungskraft<br />
auszuüben. Auch ist ein gewisses Konkurrenzpotenzial<br />
zwischen Bolly- und Hollywood nachvollziehbar.<br />
Es entstehen hybride Formen der indischen<br />
Unterhaltungsindustrie, ganz im Zeichen der ökonomischen<br />
und kulturellen Globalisierungstendenzen<br />
des 21. Jahrhunderts.<br />
Sowohl eine Pflichtlektüre für die bereits bestehende<br />
Bollywood-Fangemeinde, als auch für diejenigen, die<br />
Bollywood fälschlicherweise als unbedeutenden Ableger<br />
Hollywoods betrachtet haben, ist dieses kenntnisreiche<br />
Buch absolut empfehlenswert. �<br />
rezensiert von Lisa Ringhofer
Betrachtungen zur Struktur von Ritualen anhand ethnographischer Beispiele aus dem<br />
Nahen Osten und der Mongolei<br />
von GEBHARD FARTACEK und MARIA-KATHARINA LANG<br />
Fremde Länder, fremde<br />
Sitten?<br />
Rituale und Tabus in Zeiten des Übergangs<br />
„Als meine Freundin Duniya<br />
geheiratet hat, ging ich zu ihr, um zu<br />
gratulieren. Kaum saß ich in ihrem<br />
neuen Wohnzimmer, da läutete es.<br />
Eine weitere Besucherin, betrat die<br />
Türschwelle – blieb kurz stehen – und<br />
während sie auf eine Kristallvase am<br />
Wohnzimmertisch blickte, rief sie voll<br />
Bewunderung: ‚Hee, was hast du<br />
denn da für eine schöne Schale!‘ Und<br />
sie sagte nicht: ‚mashallah‘ [was Gott<br />
will]. Noch im selben Moment<br />
zerbrach die Schale – wie von selbst.“<br />
Für viele EuropäerInnen mag diese<br />
Begebenheit kurios klingen. Im Nahen<br />
Osten hingegen ist sie Teil der<br />
Alltagswelt. Sie ist eine von den<br />
tagtäglich erzählten Geschichten zur<br />
Wirkung des Bösen Blickes. <strong>Die</strong>ser<br />
wird ausgelöst, wenn jemand<br />
Bewunderung ausdrückt und<br />
gleichzeitig vergisst bestimmter<br />
ritualisiert Redewendungen<br />
auszusprechen.<br />
Tabus und Rituale sind Ausdruck von Glaubensgrundsätzen<br />
und dienen zur Verhaltensorientierung. Inhaltlich gesehen<br />
sind sie in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich, dennoch<br />
lassen sich auf struktureller Ebene allgemeine Aussagen<br />
– hinsichtlich Funktion und Aufbau – treffen. In diesem Beitrag stellen<br />
wir drei sozialanthropologische Thesen vor, die wir mit ethnographischen<br />
Beispielen aus nicht-säkularisierten Gesellschaften belegen:<br />
1. Das Ritual als „gesicherter“ Übergang in einen anderen<br />
Lebensabschnitt: Übergangszeiten sind Zeiten der Ungewissheit,<br />
die rituell abgesichert werden (müssen).<br />
In allen Kulturen gibt es umfangreiche Rituale, die jeweils zu Beginn<br />
eines neuen Lebensabschnittes vollzogen werden. In der Mongolei<br />
wird der Übergang vom Kind-sein zum Erwachsen-sein nicht durch<br />
einen Initiationsritus im eigentlichen Sinn markiert, sondern durch<br />
das Ereignis der Hochzeit. <strong>Die</strong>ses traditionelle mongolische<br />
Hochzeitsritual wird heute nur noch unter den nomadisierenden<br />
ViehzüchterInnen in vereinfachter Form praktiziert (vgl. Lang 1998).<br />
Ist der Tag der Hochzeit festgelegt, beginnt für die Braut das<br />
Abschiednehmen von ihrer Familie. <strong>Die</strong> Jurte für das zukünftige<br />
Ehepaar wird neben der Jurte der Eltern des Bräutigams errichtet.<br />
Noch vor der Hochzeit wird der Herd aufgestellt und von der<br />
Bräutigam-Mutter mit Feuer aus ihrem Herd angezündet. <strong>Die</strong><br />
eigentliche Hochzeit findet daraufhin in drei Etappen statt: Zunächst<br />
mit einem Festessen in der Jurte der Brauteltern, an dem auch der<br />
Bräutigam mit seinen engsten Angehörigen teilnimmt. Am nächsten<br />
Morgen wird die Braut von ihrem Bräutigam abgeholt. Hierbei kommt<br />
es häufig zu einem symbolischen Widerstand von Freunden und<br />
Verwandten der Braut, der vom Bräutigam und seinen Begleitern<br />
gebrochen werden muss. Ist dies gelungen reitet das Brautpaar mit der<br />
Gruppe von Verwandten und Gästen, die die Mitgift der Braut<br />
transportieren, zur neuen Jurte, wo die Braut zum ersten Mal Tee<br />
aufstellt, den Platz der Hausfrau ein die Gäste bewirtet. Schließlich<br />
zieht sie sich zurück, um mit Hilfe von Frauen aus ihrer Familie neu<br />
gekleidet und frisiert zu werden. Anschließend begibt sich die Braut<br />
zu der Jurte ihrer Schwiegereltern, wobei sie auf dem Weg dorthin<br />
zwei brennende Feuerstellen passieren muss. Dort angekommen<br />
Region – Naher Osten/Mongolei<br />
41
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
verbeugt sie sich vor dem Herd, den Familiengottheiten,<br />
den Schwiegereltern sowie vor den Ehrengästen und<br />
bringt der Schutzgottheit des Herdfeuers ein Opfer dar.<br />
Dann trinkt das Brautpaar gegorene Stutenmilch, danach<br />
beginnt das Festessen. <strong>Die</strong> Feuerzeremonien sind die<br />
wichtigsten rituellen Handlungen im Lager der Familie<br />
des Bräutigams, da sie den eigentlichen Eintritt der Braut<br />
in den Clan des Mannes markieren. Zum einen wird ein<br />
Fruchtbarkeitsritus vollzogen, zum anderen wird die<br />
Frau vom Einfluss der Geister ihrer Familie gereinigt.<br />
Traditionellerweise ist die jungvermählte Frau im ersten<br />
Ehejahr einigen beträchtlichen Reglementierungen unterworfen.<br />
Ihre Aufnahme in die Familie stellt eine potentielle<br />
Gefahr dar. Neben den Geistern ihrer Herkunfts-<br />
Familie bringt eine Schwiegertochter auch "fremde Sitten"<br />
mit. Verhaltensregeln, wie die Gebote des Nichtanschauens,<br />
Nichtberührens und Nichtbenennens, stellen<br />
dieser Auffassung zufolge Schutzmaßnahmen für die<br />
Familienmitglieder des Mannes dar. <strong>Die</strong> Hochzeit wird<br />
also als Zeit des Übergangs gesehen, die mit potentiellen<br />
Gefahren verbunden ist. Das Ritual schafft Sicherheit,<br />
wo sonst Unsicherheit wäre und gewährleistet auf diese<br />
Weise einen „gesicherten“ Übergang in den nächsten<br />
Lebensabschnitt. Darüber hinaus wird beim Hochzeitsritual<br />
noch ein weiterer Aspekt deutlich: Der Übergang<br />
zwischen nicht-verheiratet-sein zu verheiratet-sein und<br />
der damit verbundene Austausch sozialer Kategorien.<br />
Dazu die nächste These:<br />
2. Das Ritual als Austausch sozialer Kategorien:<br />
Zeitliche Begrenzungen von sozialen Kategorien<br />
werden durch Rituale markiert, wodurch der<br />
Wechsel von einer Kategorie zur anderen vollzogen<br />
werden kann.<br />
Ein Ritual, das von der Westsahara bis Usbekistan und<br />
von der Türkei bis in den Jemen, von AnhängerInnen<br />
unterschiedlicher Religionsgemeinschaften nahezu gleichermaßen<br />
praktiziert wird, ist das Ablegen von Gelübden<br />
(vgl. Fartacek 2003: 177-186). Es ist oft üblich zu<br />
einem lokalen Heiligtum zu pilgern, wenn das soziale<br />
Leben aus den Bahnen gerät. Am Pilgerort tritt man dann<br />
mit dem dort verehrten Heiligen in Kontakt und legt ein<br />
Gelübde ab: Man bittet ihn um Hilfe bei der Problemlösung<br />
und verspricht als Gegenleistung den Vollzug<br />
eines Opfers, welches sobald das Problem behoben ist,<br />
erbracht werden muss. Zur Illustration dieses Vorganges<br />
ein Fallbeispiel aus dem Ladaqiye-Gebirge in Syrien:<br />
Ein älterer Mann litt an extremen Bauchschmerzen und<br />
musste dringend operiert werden, wofür der Familie allerdings<br />
das notwendige Geld fehlte. In seiner Not pilgerte<br />
der Mann zu einem lokalen Heiligtum, das einem<br />
gewissen Scheich Hassan gewidmet war, und legte dort<br />
ein Gelübde ab: „Ich gelobe, ein Schaf zu opfern, wenn<br />
42<br />
Region – Naher Osten/Mongolei<br />
Handabdrücke aus Opferblut an einem Heiligtum in<br />
Nordsyrien<br />
ich nur wieder gesund werde. Das Schlachtopfer soll hier<br />
an diesem [heiligen] Ort vollzogen werden und ist dir,<br />
Scheich Hassan, gewidmet!“ Anschließend übernachtete<br />
der Mann am heiligen Platz, am nächsten Morgen<br />
bemerkte er das Wunder: Über Nacht war er auf übernatürliche<br />
Weise von Scheich Hassan geheilt worden. An<br />
seinem Bauch sah man einen frisch vernähten Schnitt -<br />
die Narbe ist heute noch sichtbar. Der Mann war anfangs<br />
von der Operation noch etwas geschwächt. Als er wieder<br />
in den Status des Gesundseins eintrat, vollzog er das versprochene<br />
Schlachtopfer. Im Zuge dieses Rituals tauchte<br />
er seine rechte Hand in das Blut des Tieres und drückte<br />
sie an die Wand der Pilgerstätte, um so auf symbolische<br />
Weise in Beziehung zum Opfertier und zum sakralen<br />
Platz zu treten. Unter großer öffentlicher Anteilnahme<br />
wurde das Schaf an Ort und Stelle zubereitet und verzehrt.<br />
Nur der Mann, der das Opfer darbrachte, war von<br />
der Mahlzeit ausgeschlossen, da dies sonst als eigennützig<br />
angesehen worden wäre.<br />
<strong>Die</strong>se Begebenheit, die sich erst vor wenigen Jahren ereignet<br />
haben soll, stellt in der Wahrnehmung vieler Menschen<br />
dieser Region keinen Einzelfall dar. Ähnliche Geschichten<br />
werden von den BewohnerInnen des Ladaqiye-<br />
Gebirges gerne erzählt und dienen dazu, die Kraft des sakralen<br />
Platzes bzw. des Heiligen zu unterstreichen. Hier<br />
werden einige grundsätzliche Prinzipien des Gelübdewesens<br />
deutlich: Ein Gelübde wird in der Regel als individueller<br />
Vertrag zwischen demjenigen, der es ablegt<br />
und dem jeweiligen Heiligen aufgefasst. In diesem Vertrag<br />
sollten möglichst alle Einzelheiten geregelt sein,<br />
nachträgliche Änderungen sind nicht möglich. Ein Gelübde<br />
wird in der Regel konditional verstanden: Nur<br />
wenn der Wunsch in Erfüllung geht, muss ein Opfer<br />
dargebracht werden. Hat man ein Gelübde abgelegt,<br />
befindet man sich bis zu dessen Einlösung in der Rolle<br />
des Schuldners. Beim Ablegen des Gelübdes wird der<br />
Nicht-Schuldner zum Schuldner, bei der Einlösung des<br />
Gelübdes erfolgt die Umkehrung. Dem Ritual wird also<br />
grundsätzlich eine Doppelfunktion zuteil: Einerseits
führt es den Austausch der sozialen Kategorien herbei,<br />
andererseits werden die einzelnen sozialen Kategorien<br />
jeweils zeitlich markiert, d.h. es wird Klarheit geschaffen,<br />
bis zu welchem Zeitpunkt man welchen sozialen Status<br />
innehat. Bei dem geheilten Mann, markierte das Ritual<br />
nicht nur den Übergang von Schuldner-sein zum Nicht-<br />
Schuldner-sein, sondern auch den Übergang vom Kranksein<br />
zum Gesund-sein.<br />
3. Das Ritual als Manifestation von Mythen:<br />
Religiöse Rituale stehen in einem direkten<br />
Zusammenhang mit Mythen und umgekehrt<br />
– Mythen sind auf Rituale bezogen.<br />
<strong>Die</strong>ser Aspekt wird beim religiösen Schlachtopfer<br />
deutlich, dessen Durchführung mit einem mythologischen<br />
Ereignis begründet wird, das der Koran ebenso erwähnt<br />
wie die Bibel (Sure 37, 99-113 bzw. Gen. 22,1-19):<br />
Abraham, „Vater aller Religionen“, hatte einst einen prophetischen,<br />
ständig wiederkehrenden Traum: Er sah sich<br />
seinen Sohn Ismael opfern. Für Abraham gab es nur eine<br />
Schlussfolgerung: Es musste Gottes Wille sein, dass er<br />
seinen geliebten Sohn Ismael opfern sollte. Abraham erzählte<br />
den Traum seinem Sohn, dieser fügte sich seinem<br />
Schicksal. Im entscheidenden Augenblick erschien der<br />
Engel Gabriel zusammen mit einem großen Widder:<br />
„Nimm den Widder als Ersatz und opfere ihn Gott!“ Seit<br />
damals ist es üblich, Tiere (insbesondere Widder) stellvertretend<br />
für Menschen zu opfern.<br />
Während in der jüdischen und christlichen Tradition<br />
diese Bibelstelle häufig so interpretiert wird, dass Gott<br />
Abraham auf die Probe stellen wollte, sehen viele<br />
Menschen islamischen Glaubens darin eine mythologische<br />
Begründung für die Durchführung von Schlachtopfern.<br />
Hier dient dieses Beispiel dazu, zu zeigen, dass in<br />
Ritualen auch Glaubensdoktrinen, Mythologien und<br />
damit verbundene Weltbilder zum Ausdruck kommen.<br />
Rituale sind keine Tätigkeiten oder Handlungen, die isoliert<br />
für sich betrachtet eine Bedeutung hätten. Vielmehr<br />
erlangen sie diese erst in Beziehung mit anderen Zeichen<br />
und Symbolen einer Kultur. Sie sind immer eingebettet in<br />
Glaubenssysteme und Wertvorstellungen und erst als<br />
Teil davon ergeben sie einen „Sinn“.<br />
Fazit<br />
Rekapitulieren wir die angesprochenen Dimensionen des<br />
Rituals: 1. Rituale treten in Übergangszeiten auf, 2. sie<br />
bewirken eine Änderung von Status und Rolle der<br />
Betroffenen, und 3. sie sind mit Weltbildern verknüpft.<br />
Übergangszeiten gelten als Zeiten der Gefahr, sie sind<br />
mit Unsicherheiten und Tabus assoziiert. Von strukturalen<br />
Ansätzen ausgehend können sie als Grenzzonen,<br />
als „Schwellenzustände“ zwischen unterschiedlichen<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
sozialen Kategorien interpretiert werden. Epistemologisch<br />
betrachtet besteht Ungewissheit darüber, welche<br />
der jeweils angrenzenden Kategorien Gültigkeit erlangt.<br />
Rituale geben Sicherheit, sie markieren und gewährleisten<br />
die Bewältigung von Übergängen sozialer, zeitlicher<br />
und räumlicher Kategorien.<br />
Auf der Grundlage dieser Überlegungen möchten wir<br />
nun zum eingangs erwähnten Bösen Blick zurückkehren.<br />
Dabei wird deutlich, dass Zeit und Ort des Unglücks<br />
keine Zufälle sind. Das Unglück geschah aufgrund der<br />
Nichtbeachtung eines Rituals – die Besucherin sagte<br />
nicht ‚mashallah‘. Zeitlich und räumlich betrachtet<br />
passierte es in Momenten des Übergangs – und zwar in<br />
mehrerlei Hinsicht: Es findet genau zu der Zeit statt, als<br />
Duniya heiratet, eine Übergangszeit, die im gesamten<br />
orientalischen Raum mit dem Wirken des Bösen Blicks<br />
verbunden wird. Und es findet genau in dem Moment<br />
statt, in dem die Besucherin eintritt und in die soziale<br />
Rolle des Gast-seins schlüpft. Auch räumlich gesehen<br />
passiert das Unglück an einer Grenze, und zwar an der<br />
Türschwelle, die als Grenzzone zwischen dem privaten<br />
und öffentlichen Raum interpretiert werden kann. <strong>Die</strong><br />
„Erklärung“, dass für das Zerbrechen der Vase der „Böse<br />
Blick“ der Besucherin verantwortlich ist, ist wiederum<br />
Ausdruck eines bestimmten Glaubenssystems bzw.<br />
Ausdruck eines orientalischen Weltbildes. �<br />
Anm. der AutorInnen: Bei diesem Beitrag handelt es sich um die<br />
stark gekürzte Fassung eines Artikels, der im Zuge<br />
sozialanthropologischer Projektarbeit an der Österreichischen<br />
Akademie der Wissenschaften (ÖAW) entstanden ist und<br />
bislang nicht publiziert wurde.<br />
Gebhard Fartacek, Mag. Dr. phil., wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter und stellvertretender Direktor an der<br />
Forschungsstelle Sozialanthropologie (ÖAW), Universitätslektor<br />
am Institut für KSA (Wien). Forschungsschwerpunkte:<br />
Kosmologien und religiöse Glaubenssysteme im Nahen Osten<br />
sowie lokale Strategien der Konfliktbewältigung<br />
Maria-Katharina Lang, Mag.a phil., wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Sozialanthropologie<br />
(ÖAW) und am Museum für Völkerkunde Wien.<br />
Forschungsschwerpunkte: Soziokulturelle Transformationsprozesse<br />
im zentralasiatischen Raum und Kunstethnologie.<br />
Literatur<br />
Fartacek, Gebhard. Pilgerstätten in der syrischen Peripherie. Eine<br />
ethnologische Studie zur kognitiven Konstruktion sakraler Plätze und<br />
deren Praxisrelevanz. Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse 700. Band,<br />
Wien: ÖAW-Verlag. 2003.<br />
Lang, Maria-Katharina. Ein Schmuckstück aus der Mongolei/Sammlung<br />
des Museums für Völkerkunde Wien als Ausgangspunkt für die<br />
Untersuchung soziokultureller Zusammenhänge. Diplomarbeit. Wien,<br />
1998.<br />
Region – Naher Osten/Mongolei<br />
43
Zur Zeit der sassanidischen Herrschaft [225 n. Chr. - 651 n. Chr.] entstand durch den<br />
sozialrevolutionären Mazdak eine kritische Bewegung<br />
von THOMAS SCHMIDINGER<br />
Der Mazdakismus im Iran<br />
Widerstand gegen eine Theokratie<br />
Schon vor 1500 Jahren fielen im Iran<br />
religiöse und politische Herrschaft<br />
zusammen. <strong>Die</strong> zarathustrische<br />
Theokratie der Sassaniden war jedoch<br />
genauso umstritten wie die heutige<br />
islamisch-schiitische Theokratie. Um<br />
das Jahr 500 wurde sie von einer<br />
revolutionären sozialen Bewegung,<br />
dem Mazdakismus herausgefordert.<br />
Das Leben Mazdaks und die<br />
Geschichte der MazdakitInnen sind<br />
nur äußerst spärlich dokumentiert.<br />
Wie bei anderen gescheiterten<br />
Oppositionsbewegungen steht die<br />
heutige Geschichtsschreibung auch<br />
hier vor dem Problem, eigentlich nur<br />
über Quellen der siegreichen Gegner<br />
zu verfügen.<br />
44 Region – Iran<br />
Für Mazdak und seine AnhängerInnen ist die Quellenlage<br />
besonders prekär. Das dürfte daran liegen, dass andere<br />
religiös-politische Oppositionsbewegungen wie die christlichen<br />
Kirchen oder der Manichäismus als weit weniger<br />
gefährlich für die Sassanidenherrschaft eingestuft wurden (Klima,<br />
1977: 16). <strong>Die</strong> Syrische Chronik des Josua des Styliten ist die einzige<br />
bekannte zeitgenössische Quelle; alle anderen Texte wurden viel<br />
später verfasst. Trotzdem beschäftigten sich nicht nur frühe arabische<br />
und persische Historiker, wie z.B. al-Tabar, mit dieser Bewegung,<br />
sondern auch späte römische Autoren wie Prokopios von Caesarea<br />
und Agathias.<br />
<strong>Die</strong> Sassaniden und ihre Staatsreligion<br />
Das Sassanidenreich (224 – 651) hatte in seinem überzeichneten Rückgriff<br />
auf „altiranische“ Kulturelemente den Zorastrismus zu einer<br />
Staatskirche erhoben. <strong>Die</strong> rund 1800 Jahre vor Christi vermutlich im<br />
heutigen Khorasan entstandene Religion mit einem starken Dualismus<br />
zwischen Gut und Böse und ihrer Verehrung des „heiligen Feuers“,<br />
wurde damit von einer vielfältigen und regional durchaus<br />
unterschiedlich ausgeprägten Glaubensgemeinschaft zu einem<br />
monopolisierten Staatskult. Dabei wurde dem guten Gott Ahura<br />
Mazda und seinem „bösen“ Gegenspieler Ahriman mit Zervan, dem<br />
Gott der Zeit, noch ein Schöpfergott vorgesetzt, der aus sich heraus<br />
erst Ahura Mazda und Ahriman geboren hatte. Der Zervanismus bzw.<br />
Zervani-sche Zorastrismus war damit zu einer streng monotheistischen<br />
Staats-religion geworden. Ähnlich wie bei seinem großen<br />
Gegenspieler, dem christlich-orthodoxen Oströmischen Reich, befand<br />
sich auch hier die Religion in einem sehr engen Verhältnis zur<br />
Staatsmacht. Allerdings bedeutete im Iran bereits damals die Existenz<br />
einer Staatsreligion nicht automatisch das generelle Verbot aller<br />
anderen Religionen. Neben dem Zorastrismus existierte noch eine<br />
Fülle weiterer kleinerer und größerer Religionsgemeinschaften, die<br />
meist stark unterdrückt wurden. So lobt etwa der zarostrische Priester<br />
Kidir die Verfolgung von Juden (yahud), Buddhisten (saman),<br />
Hinduisten (braman), Nazarenern (nasra), Christen (kristiyan),<br />
Täufern (makdag) und Manichäern (zandik) unter König Vahram II.<br />
(267 – 293) (Wiesehöfer, 1993: 266). Im Gegensatz zur völligen<br />
Verfolgung und Unterdrückung aller Nichtchristen im Oströmischen<br />
Reich, akzeptierte jedoch auch bereits die sassanidische Staatsreligion<br />
vielfach die Existenz anderer religiöser Überzeugungen, solange diese<br />
die Position des Zorastrismus als Staatsreligion nicht in Frage stellten.<br />
Nicht alle Iraner mussten Zorastrier sein, aber alle mussten<br />
akzeptieren, dass der Zorastrismus die Religion war, die Reich und
Gesellschaft dominierten, ein Konzept an das nach 651<br />
das islamische „Toleranzverständnis“ mit dem Status der<br />
Gläubigen der Buchreligionen als Dhimmis durchaus<br />
anknüpfen konnte. In dieser vielfältigen religiösen<br />
Landschaft wuchs jedoch die mazdakitische Bewegung<br />
zwei Jahrhunderte nach den Massakern unter König<br />
Vahram II. zu einer ernsthaften Gefahr für den Adel und<br />
die Geistlichkeit heran.<br />
Mazdak und die Mazdakitische Bewegung<br />
In einer Phase der gesellschaftlichen und politischen<br />
Erstarrung um 500 schrieb nun die mazdakitische<br />
Bewegung Geschichte. Dabei gehen bis heute die<br />
Positionen der Historiker und Iranisten über den<br />
wirklichen Begründer der mazdakitischen Bewegung<br />
auseinander. Der deutsche Orientalist Theodor Nöldeke,<br />
kommentierte 1879 in seiner Übersetzung der<br />
„Universalgeschichte“ al-Tabars: „Als Stifter des<br />
Mazdakismus wird gewöhnlich Mazdak, Sohn des<br />
Bamdadh angesehn, aber [...] Tabari [...] nennt als solchen<br />
den Zaradust, Sohn des Choraran, aus Pasa, während<br />
Mazdak nur sein Apostel beim Pöbel gewesen sei“<br />
(Nöldeke, 1879: 456). Weitgehende Übereinstimmung<br />
gibt es lediglich darin, dass Mazdak im weltlichen Besitz<br />
die Wurzel allen Übels sah und dies zumindest in Teilen<br />
der Bewegung die Idee einer frühkommunistischen<br />
Gütergemeinschaft hervorrief. Dabei ist auch von der<br />
Forderung nach einer „Frauengemeinschaft“ die Rede,<br />
wobei diese – wie bereits erwähnt – nur über Quellen der<br />
Gegner der Be-wegung überliefert ist.<br />
Über die Biographie Mazdaks ist so wenig bekannt, dass<br />
manche IranistInnen seine reale Existenz überhaupt in<br />
Frage stellen und ihn eher als mystische Gründerfigur<br />
sehen. U.U. kam es auch zu einer Vermischung ursprünglich<br />
unterschiedlicher Gruppierungen zu einer<br />
Bewegung, die religiöse und sozialrevolutionäre Momente<br />
in sich vereinte. Unabhängig von der realen<br />
Existenz der Gründerfigur Mazdak ist jedenfalls unumstritten,<br />
dass es eine breite religiöse und politische<br />
Strömung unter dem Sassanidenherrscher Kavad<br />
(488 – 496, 499 –531) gab, die sich auf Mazdak berief.<br />
Umstritten ist jedoch, ob der Mazdakismus eine Häresie<br />
der Zarostrischen Staatsreligion oder des Manichäismus<br />
– einer damals sehr starken, anwachsenden, aber auch<br />
massiv verfolgten Religionsgemeinschaft – darstellte<br />
oder ob es sich dabei um eine von beiden Religionen unabhängige<br />
Neugründung handelte. In der „Enzyclopedia<br />
of Islam“ heißt es dazu: „The movement seems to have<br />
been Zoroastrian rather than Manichaean in origin,<br />
although it acquired gnostic features that gave it an<br />
affinity to Manichaeism.“ (Enzyclopedia of Islam, 1991:<br />
949). Durch die Vernichtung der mazdakitischen Schriften<br />
sind die Inhalte der mazdakitischen Lehre aus-<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
schließlich aus den Werken ihrer GegnerInnen und den<br />
Folgen ihres Aufstandes zu entnehmen. In sozialer Hinsicht<br />
war wohl der Gemeinschaftsbesitz die wichtigste<br />
sozialrevolutionäre Forderung Mazdaks, die auf<br />
theologischem Gebiet mit mystischen Vorstellungen die<br />
teilweise an die Gnostik der Manichäer erinnern, ergänzt<br />
wurden.<br />
„Mazdak lehrte, daß alle Menschen gleich geschaffen<br />
seien und daß es ein Unrecht sei, wenn der Eine mehr<br />
Güter und mehr Weiber habe als der Andre. Daß die Ehe<br />
von ihm principiell aufgehoben sei, behaupten die<br />
arabischen Quellen nicht gradezu, aber schon die<br />
gewaltsame Wegnahme der Weiber, welche einer zu viel<br />
habe, und die Aufhebung der Vermögens- und<br />
Standesunterschie-de führte mit Notwendigkeit dazu:<br />
dauerhafte Güter-gleichheit ist nur denkbar bei<br />
Gütergemeinschaft d. h. bei Aufhebung alles persönlichen<br />
Eigentums; wer dieses zerstören will, der muss die<br />
Erblichkeit und die damit auf's engste verbundene<br />
Familie abschaffen“ (Nöldeke, 1879: 458). Obwohl<br />
Mazdak vermutlich weder die „freie Liebe“ noch eine<br />
frühe Form von Feminismus predigte, hatte die<br />
„Frauengemeinschaft“ – so sie historisch überhaupt real<br />
und keine Erfindung der Gegner des Mazdakismus war<br />
– doch u.U. einen emanzipatorischen Effekt, der zum<br />
besonderen Hass gegen den Maz-dakismus beigetragen<br />
haben könnte. „Wem die patrilineare Abstammung sowie<br />
die Bewahrung des Haushalts in männlicher Linie<br />
Grundvoraussetzungen und -anliegen gesellschaftlichen<br />
Lebens waren, dem konnten die Geltung matrilinearer<br />
Deszendenz als Folge unsicherer Vaterschaft und die<br />
Übertragung familiärer Erziehungsaufgaben an die<br />
Gemeinschaft nur als ungeheuerlich erscheinen“<br />
(Wiesenhöfer, 1993: 279-280).<br />
Vom Mazdakismus sind auf der einen Seite gewisse<br />
hedonistische Bestrebungen überliefert, die auf ein angenehmes<br />
Leben für alle abzielten, allerdings auch sehr<br />
strikte ethische Gebote wie das „Verbot des Blutvergießens<br />
und des Fleischgenusses“ (Nöldeke, 1879: 460). <strong>Die</strong><br />
soziale Basis des Mazdakismus dürfte überwiegend aus<br />
der armen Landbevölkerung, die sich gegen die<br />
Oberschicht des strikten kastenartigen Systems zur Wehr<br />
setzen wollte, bestanden haben. Allerdings wurde der<br />
Mazdakismus auch von Teilen der Herrschenden selbst<br />
zeitweise auch positiv aufgenommen. Schah Kavad I.<br />
zeigte sich von der neuen religiösen Bewegung angetan,<br />
trat ihr dennoch nicht bei. <strong>Die</strong>se freundliche Duldung<br />
des Mazdakismus stellte wohl eine Art taktisches<br />
Bündnis gegen den Adel und die mächtige zorastrische<br />
Priesterschaft dar, deren Einfluß er zurückdrängen<br />
wollte.<br />
Region – Iran<br />
45
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
<strong>Die</strong> so in die Enge getriebenen, setzten Kavad 496 jedoch<br />
ab und ersetzten ihn durch Zamasp, der bereits erste<br />
Verfolgungen gegen die MazdakitInnen einleitete. Ein<br />
Vierteljahrhundert nach Kavads Rückkehr in den<br />
Königspalast hatten sich die MazdakitInnen wieder so<br />
weit erholt, dass sie sich laut Timotheus, Malala und<br />
Theophanes in den Poker um die Nachfolge Kavads einmischten<br />
und den ihnen ergebenen Prinzen Pataswarsah<br />
auf den Thron setzen wollten. Kavad soll zum Schein auf<br />
diesen Vorschlag eingegangen sein und sämtliche<br />
MazdakitInnen mit Frauen und Kindern zur Übergabe<br />
der Macht an Pataswarsah versammelt haben, um sie<br />
dann alle niedermetzeln zu lassen. Nach dem Massaker<br />
wurde die Habe der Getöteten durch den Staat<br />
konfisziert. Überlebende MazdakitInnen sollten ebenso<br />
wie ihre Lehren dem Feuer übergeben werden und ihre<br />
Gebetsstätten wurden laut Malala den Christen zugeteilt.<br />
(vgl. Nöldeke, 1879: 462 – 463). Ob diese Berichte<br />
stimmen, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Sicher<br />
ist lediglich, dass entweder kurz vor oder nach der<br />
Übernahme der Regierungsgewalt durch Xusro I. – dem<br />
Nachfolger Kavads – im Jahr 531 eine massive Verfolgung<br />
von MazdakitInnen im ganzen Land begann, die<br />
beinahe die vollständige Ausrottung der Gemeinschaften<br />
zur Folge hatte.<br />
Nach der Verfolgung<br />
Nach der Niederschlagung des Mazdakismus als soziale<br />
Bewegung trat ihr religiöser Charakter in den Vordergrund.<br />
In Kleingruppen überlebte die Religionsgemeinschaft<br />
vor allem an den Rändern des Sassanidenreiches.<br />
Erst die Eroberung des Sassanidischen Iran<br />
durch Islamische Armeen brachte den MazdakitInnen<br />
wieder etwas mehr Freiraum. Allerdings waren sie zu<br />
diesem Zeitraum bereits so geschwächt, dass sie sich im<br />
8. und 9. Jahrhundert in verschiedenste Kleinstsekten<br />
spalteten. Viele ehemalige MazdakitInnen dürften auch<br />
– so wie andere von den Sassaniden unterdrückte Minderheiten<br />
– eher dem Islam beigetreten sein, den sie<br />
durchaus als Befreiung von der Sassanidenherrschaft<br />
empfanden. So kamen auch mazdakitische Einflüsse in<br />
den iranischen Islam, der auch andere synkretistische<br />
Elemente aus vorislamischen Religionen des Iran<br />
aufgenommen hatte.<br />
Neo-Mazdakitische Gruppen leisteten vor allen einen<br />
Beitrag zur Entwicklung von Kaysaniyya-Schiiten.<br />
Otokar Klima sieht in der Sekte der Khurramiten, die<br />
zum ersten Mal im Jahr 118 H. (736-737 n.Chr.) auftauchte<br />
ebenso einen islamisierten Nachfolger der Mazdakiten<br />
wie im Aufstand des zarathustrischen Magiers<br />
Sunbad. In Zentralasien überlebte der Maz-dakismus bis<br />
ins 12. Jahhundert in den Gegenden von Kish, Nakhshab<br />
und in einigen Dörfern in der Umgebung von Buchara.<br />
46 Region – Iran<br />
Noch in der Ilkhanidischen Periode wurden die<br />
Mazdakiten als eine von vierzehn zarathustrischen<br />
Sekten aufgezählt. Im Rudbar von Qazwin, nordwestlich<br />
von Teharan, soll mazdakitische Sekte namens Maraghiyya<br />
existiert haben, die in sieben Dörfern bis ins 20.<br />
Jahrhundert überlebt haben soll (Enzyclopedia of Islam,<br />
1991: 951-952).<br />
Rezeption im Iran<br />
<strong>Die</strong> spärliche Literatur über die Mazdakiten in Europa<br />
kann nicht darüber hinweg täuschen, dass Mazdak im<br />
Iran selber immer erwähnt und seine Bewegung als<br />
umstürzlerischer Referenzpunkt in der iranischen<br />
Geschichte herangezogen wurde. Nicht nur Geschichtswerke<br />
wie Firdausis Schahname beinhalteten die MazdakitInnenaufstände<br />
seit Jahrhunderten, sondern die<br />
MazdakitInnen wurden auch immer wieder zum<br />
Synonym für dissidente gesellschaftliche Gruppen und<br />
Häretiker. Je nach ideologischer Ausrichtung der<br />
AutorInnen wird Mazdak zum subversiven Element,<br />
zum Staatsfeind, zum Revolutionär, zum Sektenführer …<br />
In der Spätphase der Pahlavi-Dynastie verwiesen Teile<br />
der iranischen Linken auf Mazdak als subversives<br />
Gegenprogramm. Während Shah Reza Pahlavi 1971 sich<br />
selbst und 2500 Jahre iranisches Kaiserreich in Persepolis<br />
feiern ließ, sammelten sich bereits die verarmten und<br />
unterdrückten Massen, um acht Jahre später in einer<br />
erfolgreichen Revolution der Monarchie ein Ende zu<br />
bereiten. Dass diese dabei schließlich an die Macht<br />
gekommenen neuen Herren keine Demokratie<br />
errichteten, sondern mit der „Islamischen Republik“<br />
wiederum ein System, in dem politische und religiöse<br />
Herrschaft zusammenfielen, sollte vor dem Hintergrund<br />
der iranischen Geschichte eine Warnung sein. �<br />
Thomas Schmidinger hat in Wien Politikwissenschaft und<br />
Ethnologie studiert und ist derzeit Lehrbeauftragter am<br />
Institut für Politikwissenschaft, Flüchtlingsbetreuer in<br />
Niederösterreich, Obmann der in Kurdistan tätigen Hilfsorganisation<br />
LEEZA (Liga für Emanzi-patorische Entwicklungszusammenarbeit,<br />
vormals WADI Österreich) und<br />
Vorstandsmitglied des Österreichisch-Irakischen Freundschaftsvereins<br />
IRAQUNA.<br />
http://homepage.univie.ac.at/thomas.schmidinger/<br />
Literatur<br />
Encyclopedia of Islam, New Edition IV MAHK-MID. Leiden, 1991.<br />
Klima, Otakar. Beiträge zur Geschichte des Mazdakismus. Prag, 1977.<br />
Nöldeke, Theodor. Geschichte der Perser und Araber zur Zeit der<br />
Sassaniden. Aus der Arabischen Chronik des Tabari, übersetzt und<br />
mit ausführlichen Erläuterungen und Ergänzungen versehen von<br />
Th. Nöldeke. Leyden, 1879.<br />
Wiesehöfer, Josef. Das antike Persien. Zürich, 1993.
Irakische Frauen als Betroffene von Gewalt:<br />
Staat, Milizen und Familienangehörige als Täter<br />
von INES GARNITSCHNIG<br />
<strong>Die</strong> alltägliche Gewalt<br />
Frauenleben im Irak<br />
Viereinhalb Jahre sind vergangen,<br />
seit das Ba’th-Regime im Irak gestürzt<br />
wurde. <strong>Die</strong> Aufbruchstimmung, die<br />
danach zu spüren war, ist angesichts<br />
des sich ausweitenden Terrors vielfach<br />
wieder Resignation und Angst<br />
gewichen. Über geographische,<br />
soziale, historische, ethnische und<br />
religiöse Unterschiede hinweg haben<br />
Frauen im Irak heute wie damals vor<br />
allem eines gemeinsam: Sie leben<br />
doppelt, dreifach, mehrfach unter<br />
Gewaltverhältnissen. Nicht nur als<br />
Menschen, die dem täglichen Terror<br />
der Milizen ausgesetzt sind, nicht nur<br />
als Angehörige einer bestimmten<br />
sozialen Gruppe oder als Flüchtlinge,<br />
sondern auch als Leidtragende von<br />
gezielter Gewalt gegen Frauen – heute<br />
nicht mehr durch den Staat, sondern<br />
durch Milizen, Terrororganisationen<br />
und Banden und nach wie vor vielfach<br />
durch die eigene Familie.<br />
Mit der Machtergreifung der Ba’th-Partei 1968 erlitt die<br />
irakische Frauenpolitik einen herben Rückschlag. Kurze<br />
Zeit danach wurden viele Frauenverbände verboten und<br />
die ba’thistische General Federation of Iraqi Women<br />
(GFIW) gegründet. Aber erst in den 1980ern, mit dem Einsetzen des<br />
Iran-Irak-Kriegs, wandelte sich die Lage der Frauen drastisch. Bildungsprogramme<br />
nahmen ab, die Repression hingegen zu. Im Golfkrieg<br />
festigte die Ba’th-Partei ab 1990 ihre Machtposition durch Allianzen<br />
mit religiösen Führern und Clanchefs und nahm islamische Symbole<br />
und Denkweisen in ihre Politik auf. Während der gesamten Herrschaft<br />
der Ba’th-Partei waren Frauen als politische AktivistInnen, als<br />
Angehörige von politischen AktivistInnen, als Mitglieder bestimmter<br />
ethnischer Gruppen und als (angebliche) Prostituierte physischer wie<br />
sexualisierter Gewalt durch Angehörige des Regimes ausgesetzt. Das<br />
Ausmaß dieser sexualisierten Gewalt gegen Frauen war enorm. Der<br />
irakische Geheimdienst hatte eigens Männer für die Vergewaltigung<br />
von gefangenen Frauen angestellt. In jedem größeren Gefängnis befand<br />
sich neben den Folterkammern auch ein speziell ausgestatteter<br />
Raum für Vergewaltigungen. Ebensowar es staatliche Politik der Ba’thisten,<br />
sexualisierte Gewalt gegen Frauen als Mittel einzusetzen, um jemandem<br />
„das Auge zu brechen“, Familienangehörige öffentlich zu demütigen.<br />
Ein weiteres Mittel war die Erpressung von Frauen durch<br />
heimliches Filmen, etwa in der Umkleidekabine eines noblen Bagdader<br />
Modegeschäfts.<br />
Gegenüber kurdischen Frauen griff die Ba’th-Partei zu besonderen<br />
Mitteln der Repression. So wurden etwa zahlreiche Kurdinnen,<br />
besonders Überlebende der Anfal-Kampagne, zur Zwangsprostitution<br />
in arabische Nachbarstaaten verkauft. Ein weiteres brutales Kapitel<br />
staatlicher Gewalt gegen Frauen im Irak ist die Verfolgung von Frauen,<br />
denen Prostitution vorgeworfen wurde. Zwischen 1991 und 2002<br />
wurden 1500 solcher Frauen von den Feddayin, Udai Saddam<br />
Husseins Elitetruppe, ermordet. Viele von ihnen wurden öffentlich<br />
enthauptet, die Köpfe wurden an den Häusern der Familien<br />
aufgepfählt. Auch rechtlich waren Frauen unter dem Ba’th-Regime<br />
benachteiligt. <strong>Die</strong> Spitze des Eisbergs bildete ein in den 1980ern<br />
erlassenes Gesetz, das die „Bestrafung“ von Frauen durch männliche<br />
Angehörige bis zum Mord legalisierte. Frauen hatten auch eine<br />
wesentlich schwächere Position vor Gericht als Männer.<br />
Heute ist die direkte Gewaltausübung von Seiten des Staates<br />
weitgehend eingedämmt. In rechtlicher Hinsicht und als Teilnehmende<br />
am öffentlichen Leben sind Frauen aber nach wie vor benachteiligt.<br />
Der Beschluss 137, ein Antrag des Regierungsrats vom Jänner<br />
2004, das Personenstandsrecht durch die islamische Rechtssprechung<br />
der Sharia zu ersetzen, wurde durch das Engagement von zahlreichen<br />
Einzelpersonen und über 80 Organisationen, die an den Demonstrationen<br />
teilnahmen, zu Fall gebracht (Mahmoud, Houzan 2004: 330f).<br />
Region – Irak<br />
47
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Gewalt durch islamistische Milizen,<br />
Terrororganisationen und Banden<br />
Bereits ab Ende der 1990er etablierten sich islamistische<br />
Gruppen in einigen Städten im Süd- und Nordirak. Seit<br />
dem Ende der Ba’th-Herrschaft stieg die Anzahl<br />
islamistischer Gruppen drastisch. Frauen, die sich nicht<br />
entsprechend der islamischen Kleiderordnung anziehen,<br />
werden bedroht, mit Säure überschüttet oder anderweitig<br />
tätlich angegriffen. Unter dem Ba’th-Regime war es<br />
lebensgefährlich, sich politisch zu engagieren. Heute<br />
treten Menschen für ihre Anliegen ein, unzählige<br />
Zeitschriften werden publiziert und Demon-strationen<br />
abgehalten. Aber immer noch sind besonders politisch<br />
aktive Frauen in ständiger Lebensgefahr. Zahlreiche<br />
Frauenrechtsaktivistinnen und Politikerinnen wurden mit<br />
dem Tod bedroht oder ermordet, viele haben inzwischen<br />
das Land verlassen.<br />
Während früher viele Eltern Angst hatten, ihren Töchtern<br />
den Besuch einer Universität zu erlauben, weil Saddam<br />
Husseins Söhne Frauen von der Universität<br />
verschleppten, vergewaltigten und oftmals ermordeten,<br />
ist diese Angst nun jener vor Anschlägen, Überfällen,<br />
Entführungen, Vergewaltigungen und Morden<br />
islamistischer oder mafiaähnlicher Gruppen gewichen.<br />
Ein Beispiel von vielen: Im November 2006 wurden im<br />
Bagdader Leichenschauhaus innerhalb von zehn Tagen<br />
150 Frauenleichen eingeliefert, nach denen niemand<br />
fragte. Viele davon waren geköpft, verstümmelt oder<br />
zeigten Anzeichen extremer Folter (Organization of<br />
Women’s Freedom in Iraq, 2007). Gewalt gegen Frauen<br />
und Mädchen, vor allem Entführungen und Vergewaltigungen,<br />
werden als Mittel eingesetzt, um Familien<br />
unter Druck zu setzen und die Gesellschaft als ganze zu<br />
demoralisieren und zu traumatisieren. Besonders<br />
Angehörige von Mitgliedern internationaler Organisationen,<br />
Menschenrechtsorganisationen sowie Intelektuelle<br />
sind gefährdet. Zudem ist der Frauenhandel weit verbreitet.<br />
Seit 2003 sind 4.000 Frauen und Mädchen verschwunden,<br />
viele davon wurden vermutlich verkauft (ebd.).<br />
Gewalt innerhalb der Verwandtschaft<br />
<strong>Die</strong> weltweit am stärksten verbreitete Form von Gewalt<br />
gegen Frauen ist jene, die im häuslichen Bereich von<br />
Familie und Verwandtschaft ausgeübt wird. <strong>Die</strong>se Formen<br />
von Gewalt werden bisher in weiten Teilen der<br />
Gesellschaft wenig problematisiert. Entsprechend sind<br />
hier die Dunkelziffern wohl meist erheblich höher als die<br />
berichteten Zahlen, ein Anstieg derselben ist vor diesem<br />
Hintergrund oft eher ein Zeichen für gestiegenes<br />
Problembewusstsein bzw. größeres Vertrauen in staatliche<br />
Institutionen. So ergab eine 2003 im Südirak<br />
durchgeführte Umfrage, dass sowohl die Hälfte der<br />
Frauen als auch der Männer es als Recht eines Mannes<br />
48 Region – Irak<br />
erachtete, seine Frau zu schlagen, wenn sie ihm nicht<br />
gehorcht. <strong>Die</strong>se Auffassung wird bis heute von irakischen<br />
Gesetzen gedeckt. Darüber hinaus gilt es als eine<br />
Verletzung der Familienehre, sich öffentlich als Betroffene<br />
von häuslicher Gewalt zu positionieren. Mit häuslicher<br />
Gewalt eng verbunden sind Gewalttaten, die oft als<br />
„traditionsbedingte Gewalt“ bezeichnet werden. Hierzu<br />
zählen so genannte Ehrenmorde und die Verstümmelung<br />
von Frauen. Ehemänner, Brüder, Väter und Söhne<br />
handeln teilweise nach Beschlüssen der Familien oder<br />
auch von Clanältesten, die meinen, eine Frau oder ein<br />
Mädchen habe durch ein (tatsächliches oder ihr<br />
zugeschriebenes) Verhalten die Ehre der Familie verletzt,<br />
die durch das Verbrechen an der Frau wiederhergestellt<br />
werden müsse. <strong>Die</strong> Organisation Kurdish Women Against<br />
Honour Killings (KWAHK) berichtet von hunderten<br />
Frauen, die zwischen 1991 und 1998 aus Gründen der<br />
„Ehre“ – wegen (angeblicher) außerehelicher sexueller<br />
Beziehungen, Verweigerung einer Zwangsheirat oder der<br />
(geplanten) Heirat gegen den Willen der Familie –<br />
ermordet wurden. Laut dem elften Bericht der United<br />
Nations Assistance Mission in Iraq (UNAMI) über die<br />
Menschenrechtssituation im Irak sind Morde aus<br />
Gründen der „Ehre“ derzeit wieder im Steigen begriffen.<br />
Allein die offiziellen Statistiken der kurdischen<br />
Regionalregierung hierzu sprechen von 137 solchen<br />
Morden im Zeitraum April bis Juni 2007 (UNAMI 2007).<br />
Erst 2002 wurde im kurdischen Nordirak die Basis für eine<br />
Verurteilung der Täter geschaffen: Eine Gesetzesnovelle<br />
verhindert, dass „ehrenwerte Motive“ als mildernder<br />
Umstand im Zusammenhang mit Verbrechen aufgrund<br />
der „Ehre“ akzeptiert werden.<br />
Ebenso gestiegen ist in den letzten Jahren die berichtete<br />
Zahl der Vergewaltigungen. <strong>Die</strong> betroffenen Frauen sind<br />
auch nach der Vergewaltigung extrem gefährdet, da sie als<br />
„minderwertig“, als entehrt gelten und viele von ihnen<br />
getötet oder mit ihren Vergewaltigern „versöhnt“ werden.<br />
So wurden laut Berichten des irakischen<br />
Frauenministeriums in den ersten vier Monaten des<br />
Kriegs mehr als 400 Entführungen und Vergewaltigungen<br />
von Frauen gemeldet – mehr als die Hälfte davon wurde<br />
danach von Familienangehörigen ermordet. Zahlreiche<br />
Irakerinnen nehmen sich aufgrund von<br />
Familienstreitigkeiten, Gewalt und Zwangsehen das<br />
Leben. Erst in den letzten Jahren ist zudem durch die<br />
Arbeit von WADI allgemein bekannt geworden, dass in<br />
einigen Gebieten im Nordirak die Praxis der<br />
Genitalverstümmelung (FGM) weit verbreitet ist.<br />
<strong>Die</strong> Situation der Flüchtlinge<br />
Vor allem wegen des sich ausweitenden Terrors, aber auch<br />
wegen der damit zusammenhängenden schwindenden<br />
Lebensgrundlage sind inzwischen über 2,2 Millionen<br />
Menschen aus dem Irak geflüchtet. Etwa 1,2 Millionen
IrakerInnen versuchten sich seit 2003 dem Terror durch<br />
Binnenflucht zu entziehen, die meisten davon mussten<br />
ihre Wohnorte nach dem Bombenanschlag auf die<br />
Moschee in Samarra im Februar 2006 verlassen. Allein die<br />
Hälfte der Flüchtlinge außerhalb des Irak befindet sich<br />
derzeit in Syrien. Dort sowie in Jordanien arbeiten<br />
zahlreiche junge Mädchen aus Mangel an legalen<br />
Beschäftigungsmöglichkeiten für irakische Flüchtlinge als<br />
Sexarbeiterinnen. Viele Familien sehen darin ihre einzige<br />
Chance, das Notwendigste zum Überleben zu sichern.<br />
Unter den extrem schlechten Lebensbedingungen leiden<br />
auch hier die Frauen doppelt: <strong>Die</strong> häusliche Gewalt nimmt<br />
immer größere Ausmaße an.<br />
Kein Ende in Sicht …<br />
Nach dem Sturz des Ba’th-Regimes änderten sich die<br />
Lebenssituationen von Frauen in vielerlei Hinsicht. Ebenso<br />
haben sich die Formen von Gewalt gewandelt. Zahlreiche<br />
Frauen nahmen ihre Chance wahr, selbstbestimmter<br />
zu leben und sich am sozialen und politischen<br />
Geschehen zu beteiligen. Dann nahmen die Anschläge<br />
zu, der Druck auf Frauen wuchs. Sicher fühlt sich<br />
niemand mehr. Nun, viereinhalb Jahre nach dem Sturz<br />
Saddam Husseins, ist die Aufbruchstimmung, die unter<br />
irakischen Frauen zu spüren war, weitgehend verschwunden.<br />
Gegen das extrem hohe und stetig steigende<br />
Ausmaß an Gewalt haben sie kaum Chancen. Solange<br />
Frauen und Mädchen nicht mehr Wert als Personen<br />
zugestanden wird, werden sie immer gefährdet bzw.<br />
Gewalt ausgesetzt sein – sei es durch FGM, islamistischen<br />
Terror, Entführungen durch Milizen, Vergewaltigungen<br />
oder sogenannte „Ehrenmorde“.<br />
Ein Hoffnungsschimmer …?<br />
Das Leben der meisten Frauen im Irak ist derzeit äußerst<br />
schwierig. Aber immerhin gibt es einige wenige Möglichkeiten<br />
für Frauen, Gewaltverhältnissen zu entkommen.<br />
Erst 1998 öffnete in Suleymania das erste Frauenschutzhaus,<br />
weitere Häuser im kurdischen Autonomiegebiet<br />
folgten. Im Jahr 2004 eröffneten schließlich Frauenschutzhäuser<br />
in Bagdad und Kirkuk. Nach wie vor gut<br />
besucht sind auch die Frauenzentren, etwa in den<br />
Regionen Germiyan und Hawraman, die als Kommunikationsund<br />
Ausbildungszentren fungieren. Das Radio Dengî<br />
Nwê, das sich besonders für Frauen und Jugendliche<br />
einsetzt, wurde vor kurzem als beliebteste Radiostation<br />
der Region ausgezeichnet. Frauen leiden im Irak heute<br />
sehr stark unter dem Terror und dessen Folgen. Und sie<br />
leiden ebenso unter sozialen Strukturen, die sie Gewalt<br />
aussetzen und ihnen Selbstbestimmung versagen.<br />
Dennoch haben sie inzwischen mehr Möglichkeiten und<br />
Mittel als unter dem Ba’th-Regime, an politischen<br />
Prozessen teilzuhaben, ihre Meinung zu äußern, sich<br />
gegen Gewalt zu wehren, für die Bestrafung der Täter zu<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
sorgen und ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu<br />
gestalten. Es bleibt zu hoffen und vor allem daran zu<br />
arbeiten, dass diese Möglichkeiten nicht weiter<br />
schwinden, sondern im Gegenteil: wachsen. �<br />
Ines Garnitschnig ist Psychologin, in feministischen und<br />
antirassistischen Zusammenhängen aktiv und Mitglied der<br />
Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit<br />
LEEZA (vormals WADI). Siehe: www.wadinet.at<br />
Literatur<br />
Al-Khayyat, Sana. Ehre und Schande. Frauen im Irak. München:<br />
Kunstmann. 1991.<br />
Houzan, Mahmoud. Partizipation durch Widerstand. Der Beschluß 137 und<br />
die neue Frauenbewegung für Gleichberechtigung und Frieden. In:<br />
Kreutzer/Schmidinger 2004: 330 f<br />
Kreutzer, Mary & Schmidinger, Thomas (Hg.). Irak. Von der Republik der<br />
Angst zur bürgerlichen Demokratie? Freiburg: ça ira. 2004<br />
Makiya, Kanan. Re<strong>public</strong> of Fear. The Politics of Modern Iraq. Berkeley,<br />
Los Angeles: University of California Press. 1989/1998<br />
Internet<br />
Iraq Decades of suffering, Now women deserve better (22.2.2005):<br />
http://web.amnesty.org/library/Index/ENGMDE140012005?open&of=ENG-IRQ<br />
Haukari e.V. – Arbeitsgemeinschaft für internationale Zusammenarbeit:<br />
www.haukari.de<br />
Organization of Women’s Freedom in Iraq: http://www.equalityiniraq.com<br />
Bericht der UNAMI – United Nations Assistance Mission in Iraq – vom 11.<br />
10. 2007: www.uniraq.org<br />
Women’s Commission for Refugee Women and Children:<br />
www.womenscommission.org<br />
Region – Irak<br />
49
CASOP (Capacity Building in Social Sciences for<br />
Palestine) ist ein von der EU gefördertes TEMPUS Projekt<br />
und reiht sich in den großen Rahmen der Joint<br />
European Projects (JEP). Das Ziel von JEP Projekten ist eine<br />
Intensivierung der Kooperationen und der Netzwerke im<br />
Hochschulwesen zwischen EU-Mitgliedsländern und den<br />
verschiedenen Partnerländern. <strong>Die</strong>se Projekte unterstützen<br />
unter anderem die Entwicklung und Überarbeitung von<br />
Lehrplänen, Reformen der Hochschulstrukturen und -<br />
einrichtungen sowie ihrer Verwaltung, die Schaffung<br />
berufsbezogener Ausbildungslehrgänge und den Beitrag<br />
der Hochschulbildung und -ausbildung zur Entwicklung<br />
des Staatsbürgertums und zur Stärkung der Demokratie.<br />
Struktur<br />
Der Antragsteller und „grant holder“ von CASOP ist die<br />
Forschungsstelle Sozialanthropologie der Österreichischen<br />
Akademie der Wissenschaften (ÖAW), die Partnerinstitutionen<br />
sind die Universität Aix-en-Provence bzw.<br />
IREMAM (Institut de Recherche et d'Etudes Méditerranéennes<br />
sur le Monde Arabe) und die Birzeit Universität<br />
in Palästina. Eine Besonderheit dieses Projektes ergibt sich<br />
daraus, dass die offizielle Koordination vom Partnerland<br />
übernommen wurde. Unter Berücksichtigung der oben<br />
genannten Ziele hat CASOP vor die Curriculumsentwicklung<br />
in Palästina aufzubauen und eine Angleichung<br />
an den Bologna Prozess zu erreichen. Das Projekt ist aus<br />
mehreren Bausteinen zusammengesetzt: Zwei Kurse mit<br />
methodischem und methodologischem Inhalt werden an<br />
der Universität Birzeit abgehalten, wobei die Vortragenden<br />
vor allem aus Frankreich und Österreich kommen.<br />
Gleichzeitig entsteht eine Projekt-Homepage auf der man<br />
Literatur, Videoaufnahmen der Seminare und diverse<br />
Vorträge finden kann. Ein Ziel ist die Etablierung eines<br />
e-learning Programms, da die Studierenden oft durch<br />
Straßensperren und Checkpoints daran gehindert<br />
werden, zur Universität zu gelangen. Auf der Website<br />
wird es auch ein Forum geben, in dem sich die Studierenden<br />
untereinander, aber auch Interessierte von außerhalb,<br />
austauschen können. Des weiteren werden fünf<br />
palästinensische Studierende für ein Semester nach Europa<br />
(Frankreich oder Österreich) eingeladen. In dieser Zeit<br />
sollen sie die Möglichkeit haben, Kurse zu belegen, die für<br />
den Abschluss ihres Studiums in Birzeit hilfreich sind.<br />
Zudem wird von Seiten der ÖOG (Österreichische Orient-<br />
Gesellschaft Hammer-Purgstall) versucht, Geld für Stipendien<br />
zu akquirieren, damit mindestens zwei dieser<br />
Studierenden ein Doktoratsstudium in Österreich absolvieren<br />
können. Um den Menschen dieses Sprachraum-<br />
50<br />
Ein EU-Projekt verbindet österreichische Institute mit palästinensischen Universitäten<br />
von GUDRUN KRONER<br />
CASOP – Ein EU-Projekt<br />
Geförderter Erfahrungs- und Wissensaustausch<br />
Region – Palästina<br />
es methodologische Grundlagen der Sozialwissenschaften<br />
zugänglich zu machen, soll zu diesem Thema ein Buch<br />
auf Englisch und Arabisch herausgegeben werden. Besonders<br />
die arabische Version ist wichtig, da es für viele<br />
sozialwissenschaftliche Fachtermini keine adäquaten Übersetzungen<br />
gibt. Hauptaufgabe des Buches ist es also, Termini<br />
für diese Begriffe zu finden oder sogar zu kreieren.<br />
Geschichte und Politik<br />
<strong>Die</strong>sem Projekt ging bereits ein erfolgreich abgeschlossenes<br />
TEMPUS MEDA voran, bei dem ebenfalls die ÖAW<br />
Antragsteller war. Während dieses Projektes gab es bereits<br />
einen Methodenkurs für DiplomandInnen der Birzeit<br />
Universität, sowie zwei Studien über die Situation und das<br />
Angebot an Sozialwissenschaften an den Universitäten in<br />
Gaza und dem Westjordanland. JEP Projekte sind auf drei<br />
Jahre beschränkt, im Fall von CASOP (das eine Laufzeit<br />
von zwei Jahren hat) wird jedoch versucht, langfristige<br />
Ziele zu erreichen. Dazu gehört das Vorhaben ein PhD-<br />
Programm in Sozialwissenschaften in Palästina aufzubauen,<br />
da palästinensische Studierende bisher nur im Ausland<br />
die Möglichkeit hatten, den Doktortitel zu erlangen.<br />
Aufgrund der politischen Situation wird dies jedoch immer<br />
schwieriger, gerade auch für Frauen die zusätzlich durch<br />
bestimmte Gesellschaftsnormen Probleme haben einen<br />
Auslandsaufenthalt durchzusetzen. Nur in wenigen Fällen<br />
ist es jungen Frauen möglich, alleine, d.h. ohne ihre<br />
Familien, im Ausland zu leben, deshalb wäre ein PhD-Programm<br />
in Palästina ein zusätzlicher Beitrag zur Fauenförderung.<br />
Für die Studierenden des Instituts der KSA<br />
bedeutet das Programm die Möglichkeit eines Erfahrungsund<br />
Wissensaustausches mit palästinensischen Kolleg-<br />
Innen im akademischen Rahmen, die unter besonderen<br />
Umständen sozialwissenschaftlich arbeiten. Zusätzlich sollen<br />
aber auch die Beziehungen zwischen den Instituten,<br />
Universitäten und Regionen verstärkt werden. �<br />
Gudrun Kroner ist als CASOP-Koordinatorin (für Österreich)<br />
an der FS Sozanth, ÖAW, teilbeschäftigt.<br />
http://ec.europa.eu/education/programmes/tempus/index_en.html
<strong>Die</strong> Lage in Gaza verschlechtert sich zunehmend, doch die BewohnerInnen und ihre<br />
Probleme werden von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen<br />
Menschen in Gaza<br />
von GUDRUN KRONER<br />
Eingeschränkt durch Okkupation und Gesellschaft<br />
“A lot of families prevent their<br />
daughters in this Intifada to spend<br />
hours at the checkpoints and to come<br />
back to the house at midnight. Some<br />
are even forced to stay at home. And<br />
some of them, because of financial<br />
problems, they prefer their sons go<br />
to study and the girls have to stay<br />
at home.”<br />
<strong>Die</strong> BewohnerInnen Gazas (besonders<br />
die Frauen) werden eingeschränkt:<br />
Sowohl geographisch, politisch als<br />
auch gesellschaftlich. So kam es als<br />
Reaktion auf die Besetzung u.a. zu<br />
einer Islamisierung der Gesellschaft,<br />
wodurch der ohnehin schon geringe<br />
Handlungsspielraum von Frauen<br />
weiter verkleinert wurde.<br />
Foto: Gudrun Kroner<br />
Gaza zählt mit ca. 1,3 Millionen Menschen auf nur 365 km²<br />
zu den am dichtesten besiedelten Gebieten weltweit. Über<br />
eine Million der BewohnerInnen Gazas sind bei der<br />
UNRWA (United Nations Relief and Work Agency for<br />
Palestinian Refugees in the Near East) als Flüchtlinge registriert.<br />
Während des Arabisch-Israelischen Krieges 1948 kamen 200.000<br />
Flüchtlinge aus den umliegenden Ortschaften in das damals 80.000<br />
EinwohnerInnen zählende Gebiet (Sayigh 1979). <strong>Die</strong> Unterbringung<br />
als auch die wirtschaftliche Versorgung für „the poorest, least skilled,<br />
and least priviliged of all groups forced to flee Palestine” stellten<br />
große Probleme dar (Graham-Brown 1984: 227). <strong>Die</strong> Anzahl dieser<br />
stieg durch den Sechstagekrieg 1967 und den Golfkrieg 1990 an, aber<br />
vor allem durch die Vererbbarkeit des Flüchtlingsstatus.<br />
Gaza wurde 1948 zunächst von Ägypten, nach dem Sechstagekrieg<br />
von Israel okkupiert. <strong>Die</strong> erste Intifada, der Aufstand gegen die<br />
israelische Besatzung, brach 1987 im größten Flüchtlingscamp Gazas<br />
aus. Trotz Intifada und langen Perioden der Ausgangssperren<br />
arbeiteten damals viele PalästinenserInnen als (schlecht bezahlte)<br />
TagelöhnerInnen in Israel. Seit dem Beginn der zweiten Intifada<br />
(2000) und der dadurch bedingten immer strikteren Abriegelung<br />
Gazas kommt es zu einem permanenten Anstieg der wirtschaftlichen<br />
Probleme und der daraus resultierenden sozialen Schwierigkeiten.<br />
<strong>Die</strong> Arbeitslosigkeit stieg innerhalb weniger Jahre auf 65%, die<br />
Armutsrate sogar auf über 80% (Worldbank 2002). Aufgrund der<br />
katastrophalen wirtschaftlichen Zustände sind immer mehr<br />
Menschen auf die Nothilfe der UNRWA, aber auch auf die<br />
Versorgung durch die Hamas angewiesen.<br />
Gaza - von der Welt vergessen?<br />
Schon 1997 bemerkte Tuastad, dass Gaza in der Wissenschaft<br />
vernachlässigt wird: Lediglich sieben von 107 Untersuchungen in<br />
Palästina befassten sich damals mit Flüchtlingen in Gaza (Tuastad<br />
1997). Seither hat sich diese Situation aufgrund der schwierigen<br />
Sicherheitslage und durch die Abschottungspolitik Israels (seit<br />
kurzem dürfen nur noch DiplomatInnen, JournalistInnen und<br />
MitarbeiterInnen von namhaften (I)NGOs nach Gaza einreisen) noch<br />
verschärft.<br />
Bei politischen Verhandlungen oder internationalen Diskussionen<br />
über Palästina wird vor allem das Westjordanland angesprochen.<br />
Gaza wurde aufgrund seiner Hamas-Regierung zur „terra non grata“.<br />
Bei der Unterstützung wird Gaza zwar nicht vergessen, aber<br />
Region – Gaza<br />
51
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
abgedrängt: z.B. bekommt die Region nur 19%, das<br />
Westjordanland hingegen 81% des Gesamtbudgets für<br />
NGO-Projekte, obwohl Gaza 35 % der gesamten<br />
palästinensischen Bevölkerung beherbergt und eine<br />
höhere Armutsrate und Arbeitslosigkeit aufweist (Hanafi<br />
/Tabari 2005: 343). Auch in Berichten über das Tagesgeschehen<br />
wird die Region – mit Ausnahme von Berichten<br />
über Bombenanschläge – vernachlässigt.<br />
„Gaza is like a big prison“<br />
Seit Monaten sind die Grenzübergänge immer wieder<br />
geschlossen. Am bekanntesten ist Rafah, der Grenzübergang<br />
zu Ägypten, er bietet für die BewohnerInnen die<br />
einzige Möglichkeit, ins Ausland zu gelangen. <strong>Die</strong> meisten<br />
Menschen, die versuchen über Rafah auszureisen,<br />
suchen medizinische Behandlung in Ägypten. In letzter<br />
Zeit saßen immer wieder tausende Menschen für Wochen,<br />
manchmal sogar für Monate, auf beiden Seiten der<br />
Grenze fest. Immer häufiger werden auch die Importwege<br />
für Waren blockiert. <strong>Die</strong>s hat desaströse Auswirkungen<br />
auf die ohnehin sehr schlechte wirtschaftliche<br />
Lage des kleinen Gebietes, da alle Rohstoffe und viele<br />
Lebensmittel eingeführt werden müssen. <strong>Die</strong>ser Umstand<br />
erschwert die Planung für Geschäftsleute wesentlich.<br />
Alle Menschen, mit denen ich gesprochen habe,<br />
fühlen sich in Gaza wie in einem Gefängnis. Frauen sind<br />
hier doppelt betroffen: Einerseits durch die Okkupation,<br />
andererseits durch die Gesellschaft. In der (arabischen)<br />
Gesellschaft werden Frauen vor allem über Männer<br />
definiert. Verheiratete Frauen sind kaum unter ihrem<br />
eigenen Namen bekannt, sondern als Mutter ihres erstgeborenen<br />
Sohns (z.B. Umm Naseem, Umm Mohamed).<br />
Ein weiteres Beispiel für die Dominanz der Männer ergab<br />
sich aus einem Gespräch mit zwei Schwestern: Während<br />
Umm Naseem meinte, sie kämen aus dem Dorf Masmia<br />
Kbira (dem Ort von dem ihre Eltern flohen, beide Frauen<br />
wurden bereits in Gaza geboren), widersprach Umm<br />
Mohamed: sie stamme aus Bergera, dem Dorf ihres<br />
Mannes.<br />
<strong>Die</strong>se Männerdominanz zeigt sich auch in der Politik der<br />
Hilfsorganisationen. Nur Kinder von Flüchtlingsvätern,<br />
nicht aber jene von Flüchtlingsmüttern haben ein Anrecht<br />
auf den Flüchtlingsstatus (Gilen 1994). Ebenso wird<br />
die palästinensische Staatsbürgerschaft über den Vater<br />
definiert (Abdo 1999). Es gab jedoch auch eine<br />
Veränderung in der Rolle der Frauen, dies wurde<br />
besonders während der ersten Intifada behauptet. Zu<br />
jener Zeit wurde– vor allem wegen der Gründung von<br />
Frauenkomitees – von einer „Modernisierung“ der Gesellschaft<br />
gesprochen. Doch bereits während der Intifada<br />
wurde das Konzept von „Ehre und Schande“ von<br />
israelischer Seite für ihre Zwecke verwendet: Samira Haj<br />
spricht über die alarmierenden Zahlen von „gefallenen“<br />
52 Region – Gaza<br />
Frauen, die zu Kollaborateurinnen wurden. Vorangegangen<br />
war zumeist ein sexueller Angriff von israelischen<br />
Soldaten oder Kollaborateuren, anschließend<br />
wurde den Frauen gedroht, die sexuellen Übergriffe<br />
öffenlich zu machen. So wurden sie zur Zusammenarbeit<br />
mit den Israelis gezwungen, um etwa über politische<br />
Aktivitäten der PalästinenserInnen zu berichten (Haj<br />
1992). Sexuelle Belästigungen<br />
durch Soldaten führten auch<br />
zu einer Senkung des Heiratsalters,<br />
ein gegenläufiger Trend<br />
zu anderen arabischen Ländern.<br />
Umm Hussein verheiratete<br />
ihre beiden Töchter im<br />
Alter von 15 Jahren. Sie<br />
„rechtfertigte“ dies folgendermaßen: „We had to marry<br />
them off because we did not feel security and safety for our<br />
girls, […] because the soldiers sometimes make troubles.“<br />
Foto: Gudrun Kroner<br />
Nach der ersten Intifada kam es zu einer weiteren<br />
Einschränkung im Leben der Frauen. Es wurde von<br />
ihnen erwartet, ihren „ursprünglichen“ Platz in der Gesellschaft<br />
wieder einzunehmen. Trotz dieser neuen/alten<br />
Einschränkungen mussten immer mehr Frauen neben<br />
ihren Haushaltsverpflichtungen arbeiten, damit ihre Familien<br />
überleben konnten. Heute ist das Straßenbild Gazas<br />
von verschleierten Frauen geprägt, da ab der ersten<br />
Intifada Männer Frauen in den Straßen dazu aufforderten,<br />
sich zu verschleiern (Hammami 1990) und<br />
lange Gewänder zu tragen. Es wurde berichtet, dass<br />
Männer Frauen, die sich nicht an die neuen Kleidungsvorschriften<br />
hielten, Säure auf die Beine sprühten.<br />
Während meiner Forschung konnte ich zwar keine Frau<br />
finden, der dies tatsächlich passierte, aber auch wenn<br />
dies – wie öfters behauptet – nur Gerüchte waren, der<br />
Effekt war derselbe: Frauen änderten ihr Verhalten und<br />
ihre Kleidung nicht aufgrund ihrer Überzeugung,<br />
sondern aus Angst.<br />
Dennoch schufen sich viele Frauen einen – zumindest<br />
informellen – Freiraum durch die Abwesenheit der unter<br />
der Woche in Israel arbeitenden Männer. Wochentags<br />
trafen sich Frauen um z.B. Stickereiarbeiten gemeinsam<br />
zu verrichten. Seitdem ihre Männer arbeitslos sind und<br />
oft frustriert zu Hause sitzen, fühlen sich manche Frauen<br />
sehr eingeschränkt, so Umm Ahmed: „Before I had time<br />
to do my work and sit with Umm Naseem and stitch or<br />
also go to Gaza to talk with people from the women<br />
organisations. Now he is always home, asks me where I<br />
go, who I meet. Sometimes he is depressed because there<br />
is nothing to do and he cannot bring us money,<br />
sometimes he is also aggressive. I miss the old time, but<br />
we have to deal with this situation now“. <strong>Die</strong>se Zitat<br />
spricht ein weiteres Problem an: die häusliche Gewalt. In
den letzten Jahren stieg die Anzahl von gewaltsamen<br />
Übergriffen stark, die Direktorin eines „Women's<br />
Empowerment Project“ meint, dass bei einer<br />
Untersuchung 65% der befragten Frauen darunter litten,<br />
die Dunkelziffer jedoch viel höher sei. Einer der Gründe<br />
für den Anstieg sei die ständige Anwesenheit und die<br />
Frustration der Männer. Zusätzlich mehrten sich Fälle<br />
von Blutrache und Ehrenmorden.<br />
<strong>Die</strong> Verringerung der Bewegungsfreiheit im Alltag wird<br />
jedoch nicht nur von der Familie hervorgerufen, sondern<br />
v.a. durch israelische Checkpoints. Obwohl Männer und<br />
Frauen darunter leiden sind Frauen doppelt betroffen,<br />
denn wie Bornstein bemerkt: „For women, the border<br />
was a place not of physical but of moral danger. In this<br />
case, it was the judgement of other Palestinians that kept<br />
women from crossing the border.“ (Bornstein 2001: 80).<br />
Eine ehemalige Studentin bekräftigte diese Aussage:<br />
„Now I cannot continue with the university, before I<br />
came 3 days in one week to Gaza city to attend my<br />
lectures. But now because the checkpoint is closed I<br />
cannot reach the university […]. I cannot afford to rent a<br />
room in Gaza City, also my parents would not allow me<br />
to live there alone without relatives.“<br />
In den letzten Monaten hat sich die Lebenssituation für<br />
die BewohnerInnen Gazas weiter verschlechtert. Israel<br />
hat Gaza offiziell zu einer „enemy/hostile entity“ erklärt,<br />
es kontrolliert die Grenzen, den Luftraum, die Küstengebiete,<br />
Wasserressourcen und liefert 60% des Stroms,<br />
der nun nach Gutdünken der israelischen Regierung abund<br />
angestellt wird. Eine Reaktion auf diese Lebensbedingungen<br />
ist die Zuwendung zur Hamas. Viele Frauen<br />
wurden in deren Hilfseinrichtungen aktiv, um ihre Familie<br />
finanziell zu unterstützen, aber auch junge Frauen,<br />
die keine Arbeit finden konnten, wurden in Kleinprojekten<br />
gefördert. Der Sieg der Hamas bei den Wahlen hat<br />
verschiedene Auswirkungen auf Frauen: Der soziale<br />
Druck auf „angemessenes“ Verhalten und Kleidung<br />
steigt, andererseits wurden viele Frauen in der Hamas-<br />
Bewegung politisch aktiv. Sie agieren nun nicht mehr nur<br />
im Haus oder als Unterstützung für ihre Männer, wie<br />
man das von einer traditionellen, religiösen Bewegung<br />
erwarten könnte, sondern auch im öffentlichen Leben.<br />
<strong>Die</strong> erste gewählte Bürgermeisterin Palästinas kommt<br />
aus den Reihen der Hamas. In den Richtlinien der Hamas<br />
(www.hamasonline.org) wird behauptet, dass Frauen im<br />
Befreiungskampf keine geringere Bedeutung als Männer<br />
haben, und dass sie eine große Rolle durch die Erziehung<br />
der neuen Generationen innehaben. Auch steht hier, dass<br />
es wichtig ist, den Mädchen und Frauen eine Ausbildung<br />
in Schulen und Universitäten zu ermöglichen. Dennoch<br />
wird gleichzeitig ihre Position eingeschränkt, indem<br />
Frauen nur als Mütter und Schwestern von Kämpfern<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
beschrieben werden.<br />
<strong>Die</strong> Situation der BewohnerInnen Gazas verschlechtert<br />
sich zusehends. Eine Besserung der Lage ist zurzeit nicht<br />
in Sicht. �<br />
Gudrun Kroner studierte KSA und schloss 2006 ihre<br />
Dissertation mit dem Thema „Jenseits von Ortsgebundenheit:<br />
Eine komparatistische Analyse von weiblichen Flüchtlingsschicksalen<br />
in der arabisch-islamischen Welt“ ab. Derzeit ist<br />
sie an der FS Sozanth, ÖAW durch ein Drittmittelprojekt<br />
teilbeschäftigt. Sie ist affiliated Researcher am FMRS (Forced<br />
Migration and Refugee Studies) an der American University<br />
in Cairo. In den letzten Jahren führte sie zahlreiche Feldforschungen<br />
in Ägypten (zwei Jahre), Gaza (acht Monate) und<br />
Jordanien (drei Monate) durch. Schwerpunkte: Flüchtlingsforschung,<br />
Naher Osten, NO-Afrika, Feldforschungsmethoden,<br />
Genderstudies.<br />
Literatur<br />
Abdo, Nahla. Gender and Politics Under the Palestinian Authority. In:<br />
Journal of Palestine Studies Vol. 18. No. 2. Berkley, 1999. S. 38-51.<br />
Bornstein, Avram S. Crossing the Green Line between the West Bank<br />
and Israel. Philadelphia, 2002.<br />
Gilen, Signe et al. FAFO Report 177: Finding Ways – Palestinian<br />
Coping Strategies in Changing Environments. Oslo, 1994.<br />
Graham-Brown, Sarah. Impact on the Social Structure of Palestinian<br />
Society. In: Aruri, Naseer (Hg.): Occupation: Israel over Palestine.<br />
London, 1984. S. 223- 254.<br />
Hammami, Rema. Women, the Hijab and the Intifada. In: Middle<br />
Eastern Report No. 164/165. 1990. S.24-28.<br />
Hanafi, Sari/Tabari Linda. The Emergence of a Palestinian Globalized<br />
Elite: Donors, International Organizations and Local NGOs.<br />
Jerusalem, 2005.<br />
Sayigh, Rosemary. Palestinians: From Peasants to Revolutionaries,<br />
London, 1979.<br />
Tuastad, Dag H. The Organisation of Camp Life: The Palestinian<br />
Refugee Camp of Bureij, Gaza. In: Hovdenak, Are; Peterson, Jon et<br />
al.: Constructing Order: Palestinian Adaptations to Refugee Life.<br />
Fafo-Report 236, Oslo, 1997. S. 103-156.<br />
Empfehlungen<br />
Palestinian Centre for Human Rights (PCHR): www.pchrgaza.org<br />
Haaretz daily newspaper Israel: http://www.haaretz.com<br />
Region – Gaza<br />
53
Ein historischer Abriss zur Entwicklung des politischen Islams in der Türkei als<br />
Gegenideologie zum Kemalismus<br />
von SAYA AHMAD<br />
Nach dem Khalifat<br />
Während des türkischen Befreiungskriegs (1919–1922)<br />
spielte der Islam eine wesentliche Rolle als<br />
Mobilisierungsmittel. Nach der Gründung der Türkischen<br />
Republik 1923 änderte sich die Situation jedoch<br />
für viele gläubige Muslime radikal. Mustafa Kemal<br />
kehrte der Religion den Rücken und führte eine<br />
laizistisch-nationalistische Ideologie ein, die durch die<br />
Einparteienherrschaft vertreten wurde und deren Religionspolitik<br />
jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens<br />
tangierte. Zahlreiche Reformen wurden durchgesetzt,<br />
die zum Teil auf eine drastische Art und Weise religiöse<br />
Elemente der Gesellschaft entfernen sollten. Religion<br />
musste sich auf den privaten Raum beschränken, was<br />
einen radikalen Bruch mit den praktizierten Traditionen<br />
des Osmanischen Reiches bedeutete. Das Säkularisierungsprogramm<br />
war jedoch nicht imstande, alle Teile der<br />
Bevölkerung zu integrieren, der politische Islam<br />
kristallisierte sich als Gegenideologie zum Kemalismus<br />
heraus.<br />
<strong>Die</strong> Jahre danach (1946–1980)<br />
1946 wurde das Mehrparteiensystem eingeführt. Das<br />
Jahr wird als großer Erfolg für den politischen Islam in<br />
der türkischen Republik gefeiert, denn die Abschaffung<br />
der Einparteienherrschaft ebnete den Weg für islamische<br />
Kräfte auf die politische Bühne. Tatsache ist, dass die Religion<br />
in der Türkei nie ganz von der Bildfläche verschwand.<br />
Atatürks Ziel, Religion vom Staat zu trennen,<br />
wurde nur teilweise erreicht. Ein großer Teil der Bevölkerung<br />
konnte für diese Denkweise nicht gewonnen werden.<br />
<strong>Die</strong>s zeigte sich in den ersten demokratischen Wahlen<br />
1950. <strong>Die</strong> Republikanische Volkspartei (CHP) Atatürks<br />
wurde von der Demokratischen Partei (DP), die auch<br />
islamische Kräfte unter ihremDach vereinte, geschlagen.<br />
Der Militärputsch 1960 wurde nicht zuletzt mit dem<br />
Argument geführt, den Laizismus zu retten. Erst in den<br />
1970erJahren erlebten islamistische oder nationalreligiöse<br />
Parteien wie die MSP oder die MHP ein Revival. <strong>Die</strong><br />
Dekade war geprägt von politischen Konflikten,<br />
Terroranschläge destabilisierten die Situation im Land.<br />
<strong>Die</strong> Gewaltwelle führte zu einem generellen Misstrauen<br />
der Bevölkerung gegenüber der Politik und schließlich<br />
1980 zum Militärputsch. <strong>Die</strong>smal reagierte das Militär<br />
gegenüber den islamistischen Kräften vergleichsweise<br />
tolerant. Der Islam wurde bewusst eingesetzt, um linke<br />
Kräfte zurückzudrängen. <strong>Die</strong> vorherrschende Ideologie<br />
des dreijährigen Militärregimes zielte auf das Zusam-<br />
54 Region – Türkei<br />
menspiel von Nationalismus und Islam ab und fand<br />
gewisse Resonanz in der Bevölkerung. Der Einfluss von<br />
religiösen Orden und Bruderschaften nahm zu.<br />
Parlamentarischer Islamismus<br />
Als 1983 das Militär einer zivilen Regierung wich, sich<br />
jedoch politischen Einfluss sicherte, gelang es der<br />
ANAP-Partei mit Turgut Özal an der Spitze, die Wahlen<br />
für sich zu entscheiden. Özal gehörte dem Nayshidany-<br />
Orden an. Bis zum Beginn der 1990erJahre waren die<br />
gemäßigten Islamisten damit mächtiger als liberale<br />
Kräfte. Orden und Bruderschaften gründeten in diesen<br />
Jahren Schulen, Zeitungen und führten Unternehmen.<br />
Auch die Liberalisierung des Marktes erleichterte die<br />
Islamisierung der Türkei. Viele soziale Leistungen<br />
konnten vom Staat nicht finanziert werden, diese Lücke<br />
wurde von islamischen Gruppen gefüllt. So entstand in<br />
den 1980erJahren in den Großstädten eine neue<br />
Generation weltlicher, religiöser Intellektueller. Anfang<br />
der 1990erJahre kam die islamistische Refah-Partei unter<br />
Erbakan an die Macht. Ihre Führung konnte sie bis 1998<br />
aufrechterhalten. Schließlich spaltete sich die<br />
Nachfolgepartei der Refah-Partei in zwei Flügel: einen<br />
religiös-liberalen (die AKP unter Erdogan) und einen<br />
islamistischen Flügel (die Saadet Partisi unter Erbakan).<br />
Ausblick<br />
In welche Richtung die Entwicklung der Parteien des<br />
politischen Islam geht, ist in der türkischen<br />
Öffentlichkeit heftig umstritten. Einerseits wird in der<br />
Verfassung das Prinzip des Laizismus aufrechterhalten,<br />
andererseits wird die Religion von der AKP-Regierung<br />
instrumentalisiert, um die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen<br />
in der Türkei zu einen. Obwohl die AKP<br />
ihre Wurzeln in islamistischen Strömungen hat, ist es<br />
schwierig, sie einfach nur als islamistisch abzustempeln.<br />
Bisher verfolgte die Regierung eher einen Europäisierungsdenn<br />
einen Islamisierungskurs. �<br />
Saya Ahmad, geb. in Kirkuk/Irak, lebt seit 15 Jahren in<br />
Österreich. Aufgewachsen in Kärnten, studiert sie seit 2003<br />
Internationale Entwicklung und Arabistik an der Universität<br />
Wien und ist Mitarbeiterin der LEEZA (vormals WADI<br />
Österreich).<br />
Anmerkung der Redaktion: <strong>Die</strong>ser Artikel wurde in<br />
voller Länge in WADI - News Nr. 4, 2007/2 veröffentlicht.
Zeynep Alemdar ist Assistenz-Professorin für die<br />
Abteilung Internationale Beziehungen an der Okan<br />
Universität in Istanbul. Ihr Schwerpunkt liegt auf den<br />
Bereichen Zivilgesellschaft, Global Governance sowie<br />
Frauen und Politik. Das Interview führte Soma Ahmad,<br />
Mitarbeiterin der Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit<br />
LEEZA (vormals WADI<br />
Österreich) im Oktober 2007.<br />
Wie stark ist die feministische Bewegung in der Türkei?<br />
Frauenorganisationen haben in den letzten Jahren an<br />
Stärke gewonnen. Einerseits liegt es an der Liberalisierung<br />
der Politik in den 1990erJahren, die feministischer<br />
Arbeit mehr Freiraum gewährt hat. Andererseits<br />
öffnete sich der Spielraum für die türkischen Frauenorganisationen<br />
nach dem EU-Gipfel in Helsinki, als<br />
die Türkei zu einem Beitrittskandidat deklariert wurde,<br />
da sich die Frauenorganisationen nun leichter mit ihren<br />
(west-)europäischen PartnerInnen vernetzen konnten.<br />
Wie hoch ist die Anzahl der Frauen im Parlament?<br />
Heute sind 46 Frauen im Parlament (bei insgesamt 550<br />
Abgeordneten, Anm.). Nach den Wahlen 2002 gab es nur<br />
21 Repräsentantinnen, nach den Wahlen in diesem Jahr<br />
(2007) hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Es ist zwar<br />
eine große Steigerung, aber die Anzahl der Frauen im<br />
Parlament ist immer noch sehr niedrig.<br />
Wie beeinflusst die AKP die Frauenbewegung in der Türkei?<br />
<strong>Die</strong> AKP (Adalet ve Kalk¦nma Partisi, die Partei für<br />
Gerechtigkeit und Aufschwung ist eine islamischkonservativ<br />
ausgerichtete politische Partei in der Türkei,<br />
Anm. der Red.) und ihre Vorgänger haben erfolgreich<br />
Frauengruppen organisiert. Das Organisieren von<br />
Frauengruppen und die Tatsache, dass sich immer mehr<br />
Frauen am politischen Geschehen beteiligen, ist eine<br />
positive Entwicklung. Aber die viel wichtigere Frage ist,<br />
wie viel diese zu einer Verbesserung der Frauenrechte<br />
beitragen. Ich persönlich habe gehört, dass eine<br />
Parlamentarierin der AKP gefordert hat, dass Frauen nur<br />
auf lokaler und nicht auf nationaler oder internationaler<br />
Ebene politisch aktiv sein sollen. Ihr Verständnis von<br />
Frauenpartizipation ist, dass sich Frauen nur zu<br />
„Frauenthemen“ einbringen sollen, nämlich Familienangelegenheiten,<br />
Kinderbetreuung etc., aber die<br />
„wichtigeren“ Themen sollten die Männer regeln. Wenn<br />
man Frauenrechte aber nur auf jene Bereiche reduziert,<br />
Frauenrechte nur auf „women’s issues“ zu reduzieren,<br />
ist ein Schritt in die falsche Richtung<br />
von SOMA AHMAD<br />
Frauenpartizipation in der Türkei<br />
Interview mit Zeynep Alemdar<br />
mit denen klassischerweise Frauen assoziiert werden,<br />
und sie dabei gleichzeitig von anderen Aspekten des<br />
Policy Makings ausschließt, trägt man nicht wirklich<br />
etwas Positives zur Frauenbewegung bei.<br />
Welche Änderung wollte die AKP zum Familienstandsrecht<br />
durchführen?<br />
Als sich der EU-Beitrittsprozess beschleunigt hatte, setzte<br />
sich die EU für die Frauen in der Türkei ein. <strong>Die</strong> AKP hat<br />
2004, trotz der Proteste der Frauenorganisationen,<br />
vorgeschlagen, Ehebruch zu kriminalisieren. <strong>Die</strong> EU war<br />
hilfreich, da sie die Regierung unter Druck gesetzt hat,<br />
diesen Vorschlag zurückzuziehen. Günter Verheugen,<br />
Erweiterungskommissar der EU, hat den türkischen<br />
Premierminister und den Parteichef der AKP gewarnt,<br />
dass dieses Thema die Kampagne für eine Aufnahme in<br />
die EU unterminiere. Im September 2004 einigte sich das<br />
türkische Parlament auf den Gesetzesentwurf für das<br />
Strafgesetzbuch, der von Frauengruppen – auf Initiative<br />
von Women’s Working Group on the Turkish Penal Code<br />
– ausgearbeitet worden ist.<br />
Was bedeutet kemalistischer Feminismus?<br />
Der Kemalismus war die offizielle Staatsideologie in der<br />
Türkei seit dem Unabhängigkeitskrieg. <strong>Die</strong> kemalistische<br />
Revolution hat jeden Aspekt des osmanischen Systems<br />
abgeschafft, um einen modernen, säkularen türkischen<br />
Staat zu gründen. Einige FeministInnen behaupten<br />
allerdings, dass der Kemalismus nicht alle Aspekte von<br />
Gender umfasst. �<br />
Soma Ahmad ist Mitarbeiterin der Liga für Emanzipatorische<br />
Entwicklungszusammenarbeit LEEZA (vormals WADI<br />
Österreich), geboren in Kirkuk, studiert Politikwissenschaft<br />
und Arabistik an der Universität Wien.<br />
Anm. d. Red.: <strong>Die</strong>ser Artikel wurde bereits in WADI-<br />
News Nr. 4, 2007/2 veröffentlicht.<br />
Region – Türkei<br />
55
LEEZA - Liga für Emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit<br />
(vormals WADI Österreich)<br />
von MARY KREUTZER<br />
Feministische Projekte im<br />
Irak und in der Türkei<br />
Gelebte Solidarität und Demokratisierung<br />
LEEZA (vormals WADI Österreich),<br />
ist eine Hilfsorganisation, die<br />
emanzipatorische und feministische<br />
Projekte im Irak und in der Türkei<br />
unterstützt und durch die<br />
Zusammenarbeit mit demokratischen<br />
ExilantInnen aus dem Nahen Osten<br />
und der Türkei einen Beitrag zur<br />
Demokratisierung, zur Einhaltung<br />
von Menschenrechten und der<br />
Gleichberechtigung der Geschlechter<br />
in der Region leistet.<br />
56 Region – Türkei/Irak<br />
Wir unterstützen v. a. Projekte mit und für Frauen im Irak,<br />
sind aber auch in Europa für die Rechte von AsylwerberInnen<br />
und in der Informationsarbeit über den<br />
Irak, Syrien, den Sudan und andere Staaten der Region<br />
aktiv. Weiters versenden wir kostenlos Newsletter mit aktuellen<br />
Informationen und Analysen zum Thema, welche per Mail bei uns<br />
bestellt werden können. All diese Aktivitäten geschehen in aktiver<br />
Zusammenarbeit mit den demokratischen (oft oppositionellen)<br />
Kräften in diesen Staaten.<br />
In der ostanatolischen Hauptstadt Diyarbakir unterstützen wir seit<br />
Sommer 2007 das Frauenberatungszentrum EPI-DEM, im Nordirak<br />
laufen zur Zeit verschiedene, von uns mitfinanzierten Projekte: Drei<br />
Frauenzentren (in Halabja, Biyara und Kifri), der freie Radiosender<br />
Dengi Nwe, ein frauengeleitetes Mobiles Team, und eine breit<br />
angelegte Anti-FGM-Kampagne.<br />
Frauenzentrum in der Osttürkei<br />
Hauptziel dieses Projektes ist es, Frauen durch psychologische,<br />
medizinische, juridische Hilfe, sowie durch das Angebot eines Alphabetisierungs-<br />
und Türkischsprachkurses bei den Problemen, die durch<br />
Migration und Urbanisierung für sie entstehen, zu unterstützen.<br />
Frauen sollen lernen über ihren Körper selbst zu bestimmen und mit<br />
einfachen Methoden Empfängnisverhütung zu betreiben, dabei soll<br />
geholfen werden die hohe Rate an Selbstmordversuchen unter Frauen<br />
zu senken. <strong>Die</strong>ses Projekt sieht Alphabetisierungs- und Türkischkurse<br />
für kurdischsprachige Frauen vor. Weiters werden in medizinischen<br />
und juridischen Seminaren Themen wie Familienplanung, Frauengesundheit,<br />
Verhütung, Menschenrechte, und insbesondere Frauenrechte,<br />
besprochen. Da Frauen durch die Migration entwurzelt werden<br />
und ihr soziales Netzwerk verloren haben, steht ihnen während der<br />
gesamten Projektzeit eine Psychologin zur Verfügung.
Frauenzentren im Nordirak<br />
Im Irak ist, wie in den meisten Staaten des Nahen Ostens,<br />
die öffentliche Sphäre weitgehend den Männern<br />
vorbehalten, während die Frauen im Privaten oft unter<br />
sich sind. Öffentliche Orte der Begegnung gibt es für<br />
Frauen selten. Bildungsmöglichkeiten sind für Männer<br />
viel leichter zugänglich als für Frauen. Genau hier sollen<br />
die Frauenzentren, die von LEEZA unterstützt werden,<br />
gegensteuern und einen Begegnungsraum schaffen, in<br />
dem sich Frauen und Mädchen treffen und fortbilden<br />
können. Gerade dort, wo der Einfluss reaktionärer<br />
Islamisten stark ist, muss Frauen erst wieder ein Zugang<br />
zu öffentlichem Handeln ermöglicht werden. In Halabja<br />
und in der Region Hawraman, in der die radikalislamistische<br />
Ansar al-Islam bis 2003 ein Terrorregime<br />
errichtet hatte, wurden nach der Vertreibung der<br />
Islamisten drei Frauenzentren eröffnet. In Kifri wurde<br />
2005 ein weiteres Frauenzentrum eröffnet. Dort können<br />
Frauen ihre Erfahrungen austauschen und Freiräume<br />
selbstbestimmt nützen. <strong>Die</strong>se Zentren sind mit Bibliothek<br />
und Computerraum ausgestattet. Es werden verschiedenste<br />
Kurse angeboten, die vom Näh- und<br />
Schminkkurs über Alphabetisierungskurse bis zum<br />
Computerkurs reichen. Frauen und Mädchen bekommen<br />
so nicht nur endlich Zugang zu Bildung, sondern können<br />
auch selbst ihren öffentlichen Raum mitgestalten.<br />
Frauenhäuser<br />
Im Jänner 1999 eröffnete in Suleymaniah das erste<br />
Frauenhaus im Nahen Osten außerhalb Israels. 2002<br />
folgte ein weiteres in Hawler /Erbil. In diesen<br />
Schutzhäusern finden Frauen Zuflucht, die vor Gewalt in<br />
der Familie, „Ehrenmord“ oder Zwangsheirat bedroht<br />
sind. Viele Frauen kommen mit selbst- oder fremdzugefügten<br />
schweren Verletzungen ins Frauenhaus und<br />
benötigen zusätzliche medizinische Betreuung. <strong>Die</strong><br />
Frauen und Mädchen erhalten hier Unterkunft und Verpflegung,<br />
sowie rechtliche und psychosoziale Betreuung.<br />
Den betroffenen Frauen wird also nicht nur Schutz vor<br />
Gewalt geboten, vielmehr werden sie auch intensiv<br />
betreut. Ziel ist es, ihnen wieder ein möglichst selbstbestimmtes<br />
Leben außerhalb des Frauenhauses zu<br />
ermöglichen.<br />
Gewalt gegen Frauen ist keineswegs ein auf den Irak, den<br />
Nahen Osten oder die „islamische Welt“ beschränktes<br />
Phänomen. Allerdings gibt es in den meisten Staaten des<br />
Nahen Ostens bislang wesentlich weniger bis gar keine<br />
Einrichtungen für Frauen, die einer unerträglichen<br />
Situation entfliehen wollen. Unsere Frauenhäuser sollen<br />
einen ersten kleinen Beitrag leisten, auch hier das<br />
Bewusstsein der politisch Verantwortlichen und der<br />
Gesellschaften zu verändern und die Notwendigkeit von<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Einrichtungen für Frauen, die Unterstützung benötigen,<br />
sichtbar zu machen.<br />
Frauengeführte mobile Teams<br />
Seit 2003 betreuen sechs mobile Teams Frauen und<br />
Kinder in den Regionen Mossul, Hawler/Erbil, Kirkuk,<br />
Suleymaniah, Halabja und Germian. <strong>Die</strong> Teams bestehen<br />
aus einer Ärztin und einer Krankenschwester, die Gesundheitsberatung<br />
und ambulante Untersuchungen anbieten,<br />
sowie aus einer Sozialarbeiterin bzw. Psychologin,<br />
die den Frauen in rechtlichen und psychosozialen<br />
Fragen zur Seite steht. <strong>Die</strong> Aufklärung über Frauenrechte<br />
und die Thematisierung von Gewalt in der Familie<br />
tragen dazu bei, die gesellschaftliche Stellung von Frauen<br />
und Kindern zu stärken. Zusätzlich erhalten besonders<br />
bedürftige Familien materielle Unterstützung in Form<br />
von Lebensmitteln, Kleidung und Medizin.<br />
<strong>Die</strong> mobilen Teams setzen sich dabei aus gebildeten<br />
jungen Frauen der jeweiligen Region zusammen. In<br />
multiethnischen Regionen, wie Kirkuk wird darauf<br />
geachtet, dass auch die unterschiedlichen Sprachgruppen<br />
in einem Team gemeinsam vertreten sind, was<br />
das Vertrauen der lokalen Bevölkerung in die mobilen<br />
Teams stärkt.<br />
Viele Frauen in den Dörfern haben durch die Ärztinnen<br />
der mobilen Teams erstmals Zugang zu medizinischer<br />
Versorgung und Beratung. Dabei werden auch Daten<br />
über die allgemeine gesundheitliche und soziale<br />
Situation in den Dörfern aufgenommen, um langfristige<br />
Verbesserungen zu erreichen.<br />
Kampagne gegen Weibliche<br />
Genitalverstümmelung (FGM)<br />
<strong>Die</strong>se frauengeführten mobilen Teams organisieren seit<br />
mehreren Jahren in den verschiedenen Regionen des<br />
Nordirak Frauenversammlungen, diskutieren über<br />
gesundheitliche sowie gesellschaftliche Probleme und<br />
leisten Hilfestellung. Dabei wurden die Mitarbeiterinnen<br />
der Teams immer wieder mit der Existenz von Weiblicher<br />
Genitalverstümmelung (FGM – Female Genital Mutilation)<br />
konfrontiert. Im Oktober und November 2004<br />
wurde eine erste Erhebung in ca. 40 Dörfern der Region<br />
Germian (im südlichen Nordirak) durchgeführt, deren<br />
Ergebnis zeigte, dass etwa 60 Prozent der Frauen und<br />
Mädchen unter 10 Jahren beschnitten worden waren.<br />
Eine umfassendere Studie soll in Zukunft Daten über die<br />
Verbreitung von FGM liefern, die für politisch<br />
MandatsträgerInnen und NGOs zur Verfügung stehen<br />
sollen. Im Sommer 2005 wurde ein Aufklärungsfilm<br />
über die schädlichen Konsequenzen von FGM gedreht,<br />
Region – Türkei/Irak<br />
57
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
der nun von den Teams mittels mobiler Kinovorstellungen<br />
in den Dörfern und Städten der Region gezeigt wird.<br />
Freies Radio für Frauen und Jugendliche<br />
Nach dem Sturz des Ba’th-Regimes entstand im Irak ein<br />
Freiraum für neue Medien, der trotz des anhaltenden<br />
Terrors und der patriarchal geprägten Gesellschaftsstrukturen<br />
genutzt wird. Zum Beispiel von jenen Frauen<br />
und Jugendlichen im nordirakischen Gebiet von Shara<br />
Sur, Halabja und Hawraman, die mit dem Sender<br />
Dengue Nwe (Neue Stimme) ein einzigartiges Projekt<br />
umsetzten: Sie gründeten ein dezidiert parteiunabhängiges<br />
Community-Radio, das nach acht Monaten<br />
Vorbereitungszeit und Probebetrieb im September 2005<br />
live on air ging. Der Sender besteht aus sechs Mitarbeiterinnen<br />
und vier Mitarbeitern. Sie sind allesamt Überlebende<br />
des Giftgasangriffs Saddam Husseins auf<br />
Halabja und teilen das Trauma von Tod und Vertreibung,<br />
Flucht und Exil, Rückkehr und Internierung in so<br />
genannten Collective Towns.<br />
Thematisch umfasst das Radioprogramm gesellschaftsrelevante<br />
Aspekte wie u.a. Umgang mit Behinderungen,<br />
Gewalt an Frauen und Jugendlichen, Gesundheit,<br />
Sexualität und den rechtlichen Status von Frauen. Dadurch<br />
soll das Bewusstsein für Frauenrechte und das<br />
Verständnis für die Jugend gestärkt werden. Frauen wird<br />
ein öffentliches Forum geboten, in dem sie über ihre<br />
Situation und Erfahrungen berichten können. Den<br />
TeilnehmerInnen soll dabei auch die Fähigkeit zu<br />
journalistischer Arbeit vermittelt werden. Weiters will<br />
das Team über Gleichberechtigung von Männern und<br />
Frauen, Hintergrundinformationen zu Ausbildungsmöglichkeiten,<br />
Musik, Mode, sowie internationale<br />
Kultur berichten.<br />
Und die Finanzierung?<br />
Für die Projekte in der Türkei und im Irak erhalten wir<br />
ausschließlich „Ko-Finanzierungen“. Das heißt, dass ein<br />
Teil der Gelder aus Spenden bestehen muss, um Anspruch<br />
auf öffentliche Gelder der OEZA (Österreichische<br />
Entwicklungszusammenarbeit) geltend machen zu<br />
können. Auch die Stadt Wien, der Weltgebetstag der<br />
Frauen, das Land Oberösterreich und amnesty<br />
international unterstützen unsere Projekte.<br />
In Österreich engagieren sich die zehn LEEZA-<br />
MitarbeiterInnen ehrenamtlich. Da es keine Basisfinanzierung<br />
für uns gibt, können wir auch leider kein Büro<br />
unterhalten und müssen von zu Hause aus arbeiten.<br />
Auch der Umstand, dass wir dringend zumindest eine<br />
Bürokraft bräuchten, die uns bei den Abrechnung<br />
58 Region – Türkei/Irak<br />
der – zurzeit doch sehr zahlreichen und aufwendigen<br />
– Projekte unterstützt, macht uns immer wieder zu<br />
schaffen.<br />
Als klassische NGO sehen wir uns nicht. Wir bieten eine<br />
Struktur, in der sich feministische und demokratische<br />
Personen engagieren können: Es können Projekte<br />
konzipiert und besucht, JournalistInnen-Aufenthalte<br />
organisiert und Kontakte mit Gleichgesinnten im Nahen<br />
Osten und in der Türkei gepflegt und genutzt werden.<br />
Das ist unser Beitrag zur Demokratisierung des Nahen<br />
Ostens, gegen die Schürung von Feindbildern und für<br />
gelebte Solidarität auf Augenhöhe. �<br />
Mary Kreutzer ist Mitbegründerin von LEEZA (vormals<br />
WADI Österreich). Sie ist Politikwissenschafterin, Redakteurin<br />
der Zeitschrift der „Liga für Menschenrechte“ und Vorstandsmitglied<br />
der „Gesellschaft für kritische Antisemitismusforschung“<br />
(www.antisemitismusforschung.net). Zuletzt<br />
forschte sie über weibliche Genitalverstümmelung (FGM) in<br />
Spanien für die spanische Ausgabe von „Schmerzenskinder“<br />
(Waris Dirie/Corinna Milborn) und leitete die Recherche für<br />
das Buch „Festung Europa“ (Corinna Milborn). Zur Zeit<br />
schreibt sie ein Buch über Frauenhandel von Afrika nach<br />
Europa.<br />
Literaturtipps<br />
Kontakt<br />
LEEZA (vormals Wadi<br />
Österreich)<br />
Liga für Emanzipatorische<br />
Entwicklungszusammenarbeit<br />
leeza@gmx.org<br />
www.leeza.at<br />
Tel.: 0699-11365509<br />
Postfach 105,<br />
1181 Wien<br />
Spendenkonto<br />
LEEZA<br />
Knt. Nr.: 6.955.355 BLZ: 32.000,<br />
Raiffeisen Landesbank NÖ<br />
Zeitschrift des Vereins LEEZA (wird kostenlos per Post<br />
zugeschickt)<br />
Mary Kreutzer, Thomas Schmidinger (Hg.), Irak. Von der<br />
Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie? ça ira<br />
Verlag, 2004
Der Helfer braucht das Opfer<br />
Wer hilft wem?<br />
Es muss Anfang April gewesen sein. Anfang April vor<br />
vier Jahren. Über der Grenze tobte ein Krieg<br />
von dem ich nichts sah, aber vieles mitbekam. Es war ein<br />
sonnendurchtränkter lauer Abend. Wir saßen in einem<br />
großen Patio eines weiß gestrichenen einstöckigen<br />
Vierkanthauses; eine kleine Gruppe von acht Leuten.<br />
Unsere gemeinsame Sprache war Englisch. Wir lachten<br />
über unseren Akzent. Sie redeten ein Arabisch-Englisch<br />
und ich ein Deutsch-Englisch. Wir unterhielten uns über<br />
unsere Studien, unsere Familien, unsere Leben in Wien<br />
und in Bagdad. Sie waren Flüchtlinge aus dem Irak und<br />
ich war Katastrophenhelferin aus Österreich. Wir<br />
befanden uns im syrisch-irakischen Grenzgebiet. Es war<br />
mein erster Einsatz, der mich lehrte, nichts zu glauben,<br />
was ich nicht selbst gesehen habe. Das Kriegsopfer saß<br />
vor mir und war Mensch. Kein Entmündigter. Kein<br />
hilfloses Objekt. Das Opfer trug eine schöne Lederjacke,<br />
die nicht zu ihm passte, fanden MedienvertreterInnen<br />
und Hilfsorganisationen, denn Flüchtlinge sehen so<br />
nicht aus. Seit damals weiß ich: Nicht jedes Opfer eignet<br />
sich als Opfer. Wir suchen es uns aus.<br />
Je besser sich die Betroffenengeschichten an das<br />
schlechte Gewissen der satten Gesellschaft verkaufen<br />
lassen, desto mehr wird darüber berichtet und<br />
gespendet. Indien hatte nach der Tsunami-Katastrophe<br />
das mediale Nachsehen, denn die umgekommenen<br />
TouristInnen hatten die falsche Nationalität: Es waren<br />
fast ausschließlich Einheimische. Als im Juni 2005 im<br />
westafrikanischen Niger die Hirseernte wegen Dürre<br />
ausfiel, organisierten wir vor Ort Nothilfe mit den<br />
lokalen Caritas-Partnern. Das Geld für die<br />
Lebensmittelversorgung der betroffenen Menschen ging<br />
uns aus. <strong>Die</strong> Öffentlichkeit erreichten wir nicht, denn<br />
Niger war keine News-Katastrophe. Wenn es zum<br />
Sterben kommt auf Europas südlichem Nachbarkontinent,<br />
dann heben wir kurz ein Augenbraue hoch,<br />
um uns enttäuscht wieder abzuwenden, denn: nichts<br />
Neues aus Afrika. Doch dann im Juli ein Aufschrei, der<br />
mediales Gehör fand. In einem Spital in Maradi: dürre<br />
Babys mit aufgeblähten Bäuchen und Ärmchen, die<br />
kleiner sind als die Infusionsnadeln, die in die<br />
ausgezehrten Körper gestochen werden. Bändchen in<br />
drei Farben markieren den Grad der Lebenschancen: rot<br />
Eine journalistische Reflexion über das Verhältnis des Helfers zum Opfer.<br />
von MONIKA MARIA KALCISC<br />
für die fast schon Toten, grün für die man noch<br />
Hoffnung hat und weiß für die Überlebenden. Das hat<br />
Dramatik. TV-Teams rücken heran. Auf der Suche nach<br />
den Opfern plötzlich die Feststellung: Hier fehlen die<br />
Toten. Nicht die stillen Tode in den Dörfern, die das<br />
gestresste Auge des Kriegsreporters nicht erreichen,<br />
nein, es fehlt die sichtbare Masse.<br />
Ich finde es befremdend, wenn ich sehe, wie mit Opfern<br />
von Katastrophen Geschäfte gemacht werden. Ich sollte<br />
mich mittlerweile daran gewöhnt haben – an<br />
berechnende Plus-Minus-Kalkulationen von Medien<br />
genauso wie an das Katastrophenmanagement von<br />
PolitikerInnen, Behörden und NGOs.<br />
Der Wunsch zu helfen ist nicht genug. Das haben mich<br />
Hilfsorganisationen gelehrt, die wie Heuschreckenschwärme<br />
in ein Katastrophengebiet einfallen und nach<br />
kurzer Zeit wieder abziehen. Kein Opfer will einen<br />
Helfer, der es gut meint, aber nicht gut kann. Der hilflose<br />
Helfer braucht aber das Opfer, um seine Erfüllung zu<br />
finden: Ich bin du und du bist ich. Das Opfer wird zum<br />
Mittel, damit der Helfer zu sich findet: Dein Leid ist<br />
mein Leid. Es wird gehandelt, ohne zu hinterfragen. Das<br />
Opfer verliert in der Not seine letzte Würde, weil falsche<br />
Hilfe über ihm ausgeschüttet wird. Ihm wird die<br />
einfachste und gleichzeitig so schwere Frage nicht<br />
gestellt: Was brauchst du? Ich tue nichts für dich,<br />
sondern mit<br />
dir. Ich habe kein Mitleid, sondern Mitgefühl. Hilfreich<br />
sein ohne paternalistisches Gehabe funktioniert. Was<br />
daraus folgt ist der sinnvollste Moment meiner<br />
Hilfsarbeit: Ich mache mich selbst überflüssig. �<br />
Monika Maria Kalcsics ist Radiojournalistin und<br />
Katastrophenhelferin. Sie studierte Politikwissenschaft und<br />
Spanisch in Innsbruck, Madrid und Mexico City. Seit 2000<br />
arbeitet sie als Freie Mitarbeiterin beim ORF, im Radiosender<br />
Österreich 1. Seit 2003 leistet sie Katastrophenhilfe für Caritas<br />
Österreich und Caritas Internationalis.<br />
Anm. d. Red.: <strong>Die</strong>ser Beitrag entstand für die Ö1 Sendung<br />
„Diagonal“ und wurde am 18.11.2006 ausgestrahlt.<br />
Region – Irak<br />
59
Der Cyberspace als virtuelle Kampfzone für extreme Ideologien<br />
von CHRISTIAN MAZAL<br />
Hindu-Nationalismus im<br />
Cyberspace<br />
Virtuelle Identitäten und reale Gewalt<br />
„The most alarming development in<br />
Indian context has been the rise of<br />
rabid Hindutva for the creation of a<br />
Hindu nation“ (Radhakrishnan 2004).<br />
Der Boom der Informations- und<br />
Kommunikationstechnologien in<br />
Indien bietet neue Berufsfelder, in<br />
den Städten wächst eine gebildete<br />
und mobile Mittelschicht heran.<br />
Zugleich verstärkt sich der soziale<br />
Kontrast zur Mehrheit der<br />
Bevölkerung, die auf dem Land<br />
oder auch in den Slums der<br />
Metropolen lebt. Nach wie vor wird<br />
die Gesellschaftsordnung vom<br />
hinduistischen Kastensystem geprägt.<br />
<strong>Die</strong> soziale Spaltung setzt sich im<br />
eingeschränkten Zugang zum Internet<br />
fort. „The result is continued<br />
upper-caste dominance in the<br />
professions, business, culture and the<br />
world of Information Technology“<br />
(Omvedt 2004). Im Cyberspace, also in<br />
virtuell interaktiv und damit<br />
sozialen Räumen, kommt es in letzter<br />
Zeit vermehrt zu kulturellen und<br />
religiösen Identitätskonstruktionen.<br />
So wird einerseits der spirituelle<br />
Hinduismus präsentiert, andererseits<br />
aber auch die Ideologie der Hindutva,<br />
die ich im Folgenden näher erläutern<br />
möchte.<br />
60 Region – Indien<br />
<strong>Die</strong> Einheit aller Hindus in einem Hindu-Staat ist das<br />
politische Ziel des Neo-Hinduismus. <strong>Die</strong>ses soll durch eine<br />
neu interpretierte Gemeinsamkeit der indischen Geschichte,<br />
Nation, Kultur und Religion verwirklicht werden. <strong>Die</strong><br />
Kombination aus Religion und nationalistischer Politik zeichnet sich<br />
durch die Abgrenzung zum Islam, Christentum und politischen<br />
Säkularismus aus. <strong>Die</strong>ser Aufbau von Feindbildern birgt sozialen und<br />
politischen Sprengstoff und führt zu „disastrous consequences for the<br />
secular and pluralist nature of Indian democracy, for the diversity of<br />
Hinduism, and for minority religions“ (Radhakrishnan 2004). Das<br />
Konzept einer politischen Hindu-Identität wurde bereits in den 1920er<br />
Jahren von Vinayak Savarkar entwickelt, der für einen gewaltsamen<br />
Befreiungskampf gegen die britischen Kolonialherren eintrat. Er<br />
prägte für seine hindunationalistische Ideologie die Bezeichnung<br />
Hindutva (Hindutum). Das Blut der eingewanderten Arya, das sich<br />
mit der ansässigen Bevölkerung vermischte, bildet die Grundlage<br />
dieser Identität. „For Savarkar, Hindutva, the essence of the Hindu,<br />
comprised a common nation, a common civilization and a common<br />
‚race‘. This idea of ‚race‘ was defined by the blood that Hindus share<br />
and which has flowed down from the ancient Vedic fathers“<br />
(Bhatt/Mukta 2000). <strong>Die</strong>se Vorstellungen finden sich in den religiösnationalistischen<br />
Ideologien der Gegenwart wieder und erweisen sich<br />
als markantes Beispiel für die Erfindung einer „ursprünglichen<br />
Tradition“ im <strong>Die</strong>nste einer Politik der Ausgrenzung.<br />
Das Netzwerk<br />
Im Jahr 1925 als patriotische Freiwilligenbewegung gegründet, besitzt<br />
der Rashtriya Swayamsevak Sangh RSS bis heute größten Einfluss als<br />
ideologische Dachorganisation des Hindu-Nationalismus. <strong>Die</strong><br />
emotionale Basis für die Konstruktion der Hindu-Identität liegt in der<br />
Personifizierung und Verehrung Indiens als Bharat Mata (Mutter<br />
Indien). Der RSS organisiert paramilitärische Trainingslager für<br />
männliche Hindus, „so that they would be able to fight for Hindutva“<br />
(Bhatt/Mukta 2000). <strong>Die</strong> zweite Achse bildet der Vishva Hindu<br />
Parishad (VHP) mit dem Ziel der Verbreitung des Hindu-<br />
Nationalismus und des Widerstands gegen Verwestlichung,<br />
Kommunismus und „fremde“ Religionen. „<strong>Die</strong> dem Hinduismus<br />
zugrunde liegende ethnische, religiöse und linguistische Vielfalt wird
einer uniformen Einheit von Staat, Religion und Nation<br />
geopfert, die durch die Arisierung und Sanskritisierung<br />
ganz Indiens erreicht werden soll“ (Ceming 2004). <strong>Die</strong><br />
Niederlassungen des VHP in den Ländern der indischen<br />
Diaspora bilden ein ideologisches und finanzielles<br />
Netzwerk zwischen den EmigrantInnen und ihrer alten<br />
Heimat. Als politischer Arm dient dabei die indische<br />
Volkspartei Bharatiya Janata Party (BJP), die für das<br />
traditionelle Kastensystem und gegen die staatliche<br />
Förderung niederer Kasten und Dalits eintritt. Zum<br />
Sangh Parivar, der Familie der Hindutva, zählen neben<br />
vielen lokalen Vorfeldorganisationen auch die Frauenbewegung<br />
Rashtriya Sevika Samiti, der Akhil Bharatiya<br />
Vidyarthi Parishad für StudentInnen, die Gewerkschaft<br />
Bharatiya Mazdoor Sangh, der Bajrang Dal mit seinen<br />
bewaffneten Jugendbanden und die Partei Shiv Sena.<br />
Von Bal Thackeray gegründet, hat sich diese als militante<br />
politische Kraft vor allem in Mumbai etabliert: „<strong>Die</strong><br />
Schlägertrupps der Shiv Sena sind nicht nur bei fast allen<br />
blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und<br />
Muslimen an vorderster Front, sondern sie sind auch<br />
oftmals deren Drahtzieher“. Thackerays Vision von<br />
Indien ist Hindustan, „ein religiös dominierter Staat, in<br />
dem ausschließlich die Gesetze des Hinduismus<br />
Gültigkeit haben“ (Ceming 2004).<br />
Neo-Hinduismus online<br />
Verbreitet wird die Ideologie der Hindutva über ein<br />
internationales Netz neo-hinduistischer Websites. So<br />
bietet etwa das Hindu Students Council ein Forum für<br />
StudentInnen in den USA und wirbt über das Interesse<br />
an Kultur und Yoga, Gesundheits- und Umweltthemen<br />
für das rechte Hindutum. Moralische und finanzielle<br />
Unterstützung bekommt das Netzwerk von der wachsenden<br />
Hindu-Mittelschicht inner- und außerhalb Indiens.<br />
<strong>Die</strong> Angst vor kultureller Entfremdung macht indische<br />
EmigrantInnen empfänglich für die Attraktivität<br />
einer transnationalen Hindugemeinschaft mit ihrem<br />
kulturellen Identifikationsmodell und kultischen<br />
Angeboten. „The dependence on cults […] for very materialistic<br />
ends signals a frantic need to latch onto certainties<br />
in the face of the destabilizing pulls of modernization<br />
and globalization“ (Robinson 2004). <strong>Die</strong> leicht<br />
verdauliche Kombination von Materialismus, indischer<br />
Spiritualität und nationalem Stolz punktet durch ihre<br />
Kompatibilität mit den ökonomischen Interessen der<br />
Mittelklasse und scheint ein Erfolgsrezept zu sein. Eine<br />
für die global community des Internets verfasste Einführung<br />
in den Hinduismus präsentiert die Website Hindu<br />
Unity. Der Glaube an den einen Gott, der sich in der<br />
Welt inkarniert, bildet die Basis des Hindu-Seins. Unter<br />
den Inkarnationen wird Lord Rama zuerst genannt, er<br />
verweist auf das mythologische Königreich Ayodhya im<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Epos Ramayana. Nationalistische Gruppen setzen den<br />
Geburtsort des Götterkönigs Ram mit der heutigen Stadt<br />
Ayodhya im Bundesstaat Uttar Pradesh gleich. Dort<br />
stand die 1528 angeblich auf den Trümmern eines Ram-<br />
Tempels erbaute Babri Masjid, jene Moschee, die am 6.<br />
Dezember 1992 von Hindu-AktivistInnen im Rahmen<br />
einer Welle anti-muslimischer Gewalttaten zerstört<br />
wurde. Den NationalistInnen gilt Ayodhya als „das<br />
geistige Zentrum der Hindu-Nation und Ram ihr Führer<br />
und Herrscher. Das ideologische Schlagwort lautet<br />
Ramraj (Herrschaft Rams)“ (Ceming 2004). Auch im<br />
täglichen Leben finden sich Beispiele für die Neuinterpretation<br />
alter Werte: Um dem Bedeutungsverlust des im<br />
brahmanischen Hinduismus strikt empfohlenen<br />
Vegetarismus entgegenzutreten, wird persönliches<br />
Verhalten mit sozialen Phänomenen verknüpft: „Yes,<br />
there are numerous Hindus who eat meat […]. The<br />
suffering that such deeds bring are visible all over the<br />
world. Immorality, cruelty, lack of ethical behavior etc are<br />
the results of it. In these times, incest, teen pregnancy,<br />
abortions, premarital sex, lack of respect for parents,<br />
Gurus and Saints is rampant“ (URL 1). Hier wird ein<br />
kulturelles Konstruktionselement der Identität in einen<br />
völlig neuen gesamtgesellschaftlichen Bedeutungszusammenhang<br />
gestellt. Der Trend zu einer Dogmatisierung<br />
und Angleichung an fundamentalistische<br />
Positionen zieht sich wie ein roter Faden durch den neohinduistischen<br />
Cyberspace.<br />
„All You Need to Know About the<br />
World's Oldest Faith“<br />
Reichhaltiges Material zur religiösen und kulturellen<br />
Identitätsfindung bietet die Website Himalayan Academy.<br />
Unter den neun Glaubenswahrheiten des Hinduismus<br />
wird auch die Gewaltfreiheit (ahimsa) genannt:<br />
„Hindus believe that all life is sacred […] and therefore<br />
practice ahimsa, noninjury, in thought, word and deed“<br />
(URL 2). Ahimsa, die wesentlich zum friedlichen und<br />
toleranten Erscheinungsbild des Hinduismus online<br />
beitragen soll, stößt jedoch bei Hindu Unity auf klare<br />
Grenzen, wenn es gilt, die heilige Ordnung (dharma) zu<br />
verteidigen: „When Dharma is under attack by rogues of<br />
uncivilized barbarians, then the concept of Ahimsa<br />
becomes useless.“ Dem ideologischen Kampf soll keine<br />
Glaubenswahrheit im Wege stehen. „Ahimsa only works<br />
when dealing with civilized cultures. Unfortunately we<br />
don't live in civilized times” (URL 3).<br />
Militante Abgrenzung<br />
Identitätsstiftend wirkt besonders der Kampf gegen<br />
alles „Fremde“. Mit dem Argument, dass ihre heiligen<br />
Zentren außerhalb Indiens liegen, wird bevorzugt<br />
Region – Indien<br />
61
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
MuslimInnen und ChristInnen die Identifikation mit<br />
dem „heiligen Mutterland“ abgesprochen. <strong>Die</strong> behauptete<br />
Bedrohung der hinduistischen Mehrheit durch<br />
privilegierte Minderheiten dient als ständige<br />
Rechtfertigung der Mobilisierung zum kulturellen<br />
Abwehrkampf: „Hinduism is on the attack from three<br />
main groups and each is as dangerous as the other.<br />
Firstly, the Christians have an upper hand on us with the<br />
economies under their control, secondly the petro-dollars<br />
in the hands of the Muslims and thirdly, from within us,<br />
the Hindus who […] believe that Hinduism can survive<br />
the onslaught in modern times“ (URL 4). Der Ton wird<br />
noch militaristischer, etwa im Motto: „Hinduize politics<br />
and militarize Hindus!“ oder im Aufruf: „CHOOSE<br />
DEATH BEFORE DISHONOR! IF YOU ARE A HINDU,<br />
THERE IS NOTHING MORE IMPORTANT IN THIS<br />
WORLD THAN YOUR MOTHER LAND - BHARAT!<br />
FIGHT IF YOU MUST! DIE IF YOU MUST! NO HINDU<br />
CAN ASK FOR A BETTER DEATH THAN DEFENDING<br />
THEIR MAATRU BHOOMI (MOTHER LAND)“ (URL 5).<br />
Virtueller Kampf und reale Gewalt<br />
Der Errichtung einer Hindu-Nation (Hindu Rashtra) hat<br />
sich auch die Website Saffron Tigers verschrieben, „a<br />
Hindu organization of Young, educated, fearless and<br />
robust Hindu students […]. We have pledged to die for<br />
the cause of Hindu-Rashtra and to liberate our mother<br />
from the clutches of dirty Muslims and Indian<br />
politicians.“ (URL 6). <strong>Die</strong> historische Mogul-Herrschaft<br />
und die (von beiden Seiten verübten) Massenmorde bei<br />
der Teilung der britischen Kolonie in Indien und Pakistan<br />
(mit dem späteren Bangladesch) werden mit dem<br />
ungelösten Konflikt um Kaschmir und den Terroranschlägen<br />
radikaler muslimischer Gruppen im heutigen<br />
Indien verknüpft. <strong>Die</strong> Konstruktion der eigenen Identität<br />
durch Ausgrenzung mündet im Aufruf zur Gewalt: „The<br />
[…] degraded terrorists don't deserve a fair trial. They<br />
need to be shot, shot on sight.“ (URL 7). So erweist sich<br />
der Cyberspace als virtuelle Kampfzone einer Ideologie,<br />
die sich mit ihrem religiös-nationalistischen Diskurs und<br />
ihrer gewaltbereiten Politik gegen eigenständige<br />
kulturelle Identitäten und das Existenzrecht ganzer<br />
Bevölkerungsgruppen richtet. �<br />
Christian Mazal studierte Theologie in Wien und arbeitete<br />
jahrelang im EZA-Bereich mit den Schwerpunkten Management,<br />
Öffentlichkeitsarbeit und Reportagefotografie. Zurzeit<br />
betreut er am Afro-Asiatischen Institut in Wien internationale<br />
StipendiatInnen und schreibt am Institut für Kultur- und<br />
Sozialanthropologie seine Dissertation über die Identitätskonstruktionen<br />
der Hindutva im Cyberspace. Fotopublikation:<br />
Nürnberg/Mazal (2003): Quellwärts. Brücken zwischen<br />
Nord und Süd. Verlag Christian Brandstätter, Wien.<br />
62 Region – Indien<br />
Literatur<br />
Bhatt, Chetan and Parita Mukta. Hindutva in the West. mapping the<br />
antonomies of diaspora nationalism. In: Ethnic and Racial Studies<br />
Vol. 23 No. 3. Routledge, London 2000. S. 407–441.<br />
Ceming, Katharina. Hinduismus – Auf dem Weg vom Universalismus<br />
zum Fundamentalismus. polylog. Forum für interkulturelle<br />
Philosophie 5, 2004.<br />
Omvedt, Gail. Untouchables In The World Of IT. Panos Features,<br />
2004.www.panos.org.uk/newsfeatures/featureprinteable.<br />
asp?id=1177 (04.05.2007)<br />
Radhakrishnan, P.. Religion under Globalisation. In: Economic and<br />
Political Weekly, March 27, 2004. http://www.epw.org.in<br />
Robinson, Rowena. Virtual Warfare: The Internet as the New Site for<br />
Global Religious Conflict. In: Asian Journal of Social Science, Vol. 32,<br />
No. 2, 2004. S. 198 – 215.<br />
Internet<br />
URL 1: http://hinduunity.org/basics.html#veg<br />
URL 2: http://www.himalayanacademy.com/basics/nineb/<br />
URL 3: http://hinduunity.org/aboutus.html<br />
URL 4: http://hinduunity.org/aboutus.html<br />
URL 5: http://hinduunity.org/index.html<br />
URL 6: http://www.hinduunity.org/<br />
saffrontigers/About_Us.html<br />
URL 7: http://www.hinduunity.org/<br />
saffrontigers/islamq1.html<br />
http://them.polylog.org/5/ack-de.htm (26.03.2007)<br />
Bharatiya Janata Party BJP www.bjp.org<br />
Bajrang Dal www.hinduunity.org/bajrangdal.html<br />
Hindu Students Council www.hscnet.org<br />
Rashtriya Swayamsevak Sangh RSS www.rss.org<br />
Vishva Hindu Parishad VHP www.vhp.org
<strong>Die</strong> Ikone des jungen Indiens meint, dass gewaltbereite ExtremistInnen<br />
die eigentliche Minderheit sind<br />
Seriously Shah Rukh<br />
von MEHRU JAFFER<br />
Bollywoodlegend speaks on social issues<br />
Apart from being the darling of the<br />
Indian film industry, Shah Rukh Khan<br />
is of great political importance. Today<br />
he is the most inspiring member of the<br />
Indian Muslim community that is the<br />
largest minority in the world at 12<br />
percent of the total Indian population<br />
of more than one billion. This<br />
interview with him took place on the<br />
sets of “Swades” in February 2004,<br />
just before sunrise. It was on the eve<br />
of the general election in India that<br />
was held in four phases between April<br />
20 and May 10 in the same year.<br />
Therefore many questions asked of<br />
Shah Rukh concern politics of the day.<br />
He is a role model for all minorities as<br />
his life is so spectacularly successful.<br />
Shah Rukh is originally from Delhi and came to Mumbai nearly<br />
two decades ago with little except passion to make it in the<br />
world of cinema. No Godfather like figure exists in his life and<br />
the fruit of success that he enjoys today are a result of his own<br />
hard work. Although Shah Rukh is a Muslim he remains a living<br />
example of the majority in India who pride themselves on being Indian<br />
first and then Muslim, Hindu, South Indian, North Indian etc. despite<br />
the confusion caused within the country by fanatics and fundamentalists,<br />
including radical Hindus and Muslims who in their ignorance<br />
and arrogance are unable to celebrate the colourful contrasts that<br />
enrich Indian society. India is perhaps unique where protected by a<br />
secular constitution people of different ethnic and religious groups<br />
continue to freely express themselves in a variety of different<br />
languages, clothes and cuisine. The country remains joyously united in<br />
all its diversity and also in its undying adoration of Shah Rukh Khan,<br />
the Badshah of Bollywood. However the most celebrated matinee idol<br />
and high profile Indian Muslim sees himself merely as a monkey.<br />
What do you mean by saying that you are a mere monkey?<br />
When I was a child I once saw a monkey dance. Ever since I have<br />
wanted to thrill people like the monkey had thrilled me with its<br />
performance. That today I am the most famous monkey in India only<br />
adds to the thrill. But it does not change the fact that I am a monkey. It<br />
is just a job I do. It is not more or less important than what most other<br />
people do for living.<br />
Apart from being India’s most famous monkey you are also a very influential<br />
member of the country’s large but minority Muslim community?<br />
I am a Muslim, but first and foremost I am Indian and I am proud to<br />
be an Indian. Very proud. Besides you can’t take my performance on<br />
stage seriously; always remember that I am only acting. I look at films<br />
as pure entertainment. I cannot take a film too seriously. Even in films<br />
like Lagaan I enjoyed the cricket match but missed the social message,<br />
if any. Perhaps I am too shallow to concentrate on social issues while<br />
making a film.<br />
Do you think Indian Muslims, 12 percent of India’s more than one billion<br />
population face a crisis today?<br />
You mention the word crisis. By mentioning it, by recognising it, by<br />
bringing it to my notice even if the crisis did not exist, you make it<br />
exist. If you spot the crisis don’t you also spot how secular India is, the<br />
goodness that also exists in this country?<br />
Region – Indien<br />
63
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Muslim leaders tell us that secularism in India is on the<br />
decline?<br />
I am a living example that it is not. The most influential<br />
member of the minority community, as you call me is also<br />
a superstar in India today. This would not be possible if<br />
only Muslims had appreciated me. Take it from there<br />
instead of just picking on the crisis part of it.<br />
Is everything all right then with the Muslim community?<br />
Of course there are problems. But problems of poverty and<br />
illiteracy are problems of the country, not just of Muslims.<br />
I hear that Muslims are illtreated and also that Muslims<br />
are terrorists. That is too simplistic. It is true that some<br />
very sad things have happened to Muslims. Gujarat is very<br />
sad. But what makes me most sad is that people died in<br />
Gujarat. When I hear about riots and violence I don’t count<br />
how many Muslims died before I become sad. When sad<br />
things happen in the country I am sad and when good<br />
things happen here, I am happy.<br />
Why do Muslims feel that they are ill-treated and why does the<br />
world look upon Muslims as terrorists?<br />
What is happening in Kashmir and what happened in<br />
Gujarat is way beyond my understanding. I don’t know<br />
why these things happen. But I also try not to take a too<br />
simplistic view of things and reduce it to this is right and<br />
this is wrong. However, without getting into the<br />
complexity of the problem I must say that what saddens<br />
me is violence against anyone.<br />
Whenever people are killed in the country it is shameful not just<br />
when Muslims are killed.<br />
I know that there is a problem – that there is a crisis – but<br />
there is a sunshine side to it too. People from the minority<br />
community are also doing well and dominating life in the<br />
country. This speaks volumes for the state of the<br />
minorities. And I do not look upon reservations that will<br />
benefit the minorities.<br />
What should the minorities do to improve their image?<br />
I think it is possible to do well in this country if religion is<br />
practiced in the private realm. We must live and work in<br />
this country beyond religion. When we look around us we<br />
should keep in mind that we as Indians have a problem<br />
and the problems in this country concern not just the<br />
minorities.<br />
The more we keep harping upon the differences between<br />
Hindus and Muslims the more harm we will do to each<br />
other as Indians. During a riot it is one bloody Indian<br />
fighting another bloody Indian.<br />
64 Region – Indien<br />
What is the role of politics in a communal riot?<br />
Around the world politicians use communalism and<br />
religion to promote their respective agendas. This is<br />
wrong. Then, there are fanatics in every religion not only<br />
in Islam. But to me the fanatics and extremists are the real<br />
minority. It is not Christians, Muslims and Sikhs who are<br />
the minority but communal, violent people. And you<br />
should, I should and we all should point this out till this<br />
small minority of fanatics is seen and recognised by<br />
everyone for what they really are and exposed forever. The<br />
majority of Indians want to live and work in a peaceful<br />
environment and should stand up to the destructive forces<br />
of evil.<br />
Muslim politicians tell us that the minorities face the danger of<br />
being sidelined in India today?<br />
These politicians, I am sure they are very knowledgeable<br />
and better informed than I am. And if they have taken that<br />
stand they must be right and they must have information<br />
that I don’t have access to.<br />
What I would like to say to them is that I don’t like<br />
communalism and sectarianism.<br />
I am no politician. My life is totally apolitical. And I am<br />
sure that when people decide to go into politics their<br />
intentions are noble and they like to protect themselves<br />
and their larger family of voters. Just like I need power to<br />
run my family – to always be in control. But then if I loose<br />
perspective and allow myself to be misled that will lead to<br />
chaos.<br />
What about institutions like the Minority Commission?<br />
I know nothing about them. But if they exist there must be<br />
a reason. If they were set up to protect the rights of the<br />
minorities, then I hope they are doing their job.<br />
Do you vote?<br />
It is complicated for me to do so. My family votes. And<br />
yes, I have voted once in my life.<br />
Why would you take the trouble to vote, if ever you decide to do<br />
so in the future?<br />
That way I hope to help someone to guide the country. I<br />
am a capitalist by nature. I believe in hard work and the<br />
need for a strong head of state who is in control and takes<br />
good care of the community. When I vote, I hope that the<br />
person who gets my vote will make life easier for ordinary<br />
people. I believe in giving power to the politician to take<br />
care of some of my needs in <strong>public</strong> life. And this I can say<br />
from the bottom of my heart that every politician who
contests elections does have the good of the community in<br />
mind, but somewhere along the way politicians get lost<br />
and begin to think more of themselves than of the people.<br />
India has had more than half a century to attend to its problems.<br />
What has the country achieved in all these decades?<br />
Much has been achieved but the problems have also<br />
multiplied. I personally feel that India has made progress.<br />
Over the past two decades I have been made aware how<br />
huge the country is and the enormity of its problems and I<br />
think India has done very well. We are far more selfcontained<br />
than before. Japan was considered such a role<br />
model of progress but I found its lifestyle totally virtual.<br />
When I look around I find some virtuality here as well. But<br />
India is far more real and we have made some real<br />
progress. The problem of moving things at the grassroots<br />
remains. Maybe it will take another 50 years for that to be<br />
achieved. That is all right as I have the patience to go on<br />
working hard and to see that too happen one day.<br />
What bothers you most about the state of India today?<br />
That there are no roadside toilets for women. I am a small<br />
man with a small mind and this small problem bothers me<br />
most about India. I feel very sad when I travel by train and<br />
see women lined up along the railway tracks in the<br />
morning. It hurts me. It makes me feel that my mother and<br />
my sister are sitting there.<br />
With your kind of wealth and influence what are you doing about<br />
a simple problem like this one?<br />
If there is anything I can do about it, I will. This problem<br />
has played on my mind for a long time and as soon as I feel<br />
ready I would like to invest in a project that will line the<br />
country with toilets only for women, inshahallah.<br />
What is it that gives you the most pleasure about being an Indian<br />
today?<br />
That I am liked wherever I go in India today. I feel so<br />
fortunate. Although, when I travel abroad people do give<br />
me a warm reception and sing my praises but there is<br />
nothing to beat the warmth and ease of people and life in<br />
India. The standard of life here is so high. And I don’t say<br />
that because I am a rich person. I have found that even<br />
those who are not wealthy seem to give so easily in this<br />
country. Even those with few possessions are warm and<br />
friendly. I like the way I am able to work in this country. I<br />
often hear that Indians are lazy and slow. That is not true of<br />
the people I work with or all those Indians who have made<br />
a name in the world. I am very proud of Indians like Sabir<br />
Bhatia, the Tatas and the Birlas. Sometimes I get the feeling<br />
that the economy of the world is perhaps run by people of<br />
Indian origin. That is such a great high.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
You said that you are making an effort to rediscover Islam. Why<br />
now?<br />
Now I am a father. I have to read up on various subjects,<br />
including religion. When my children ask me questions<br />
about God, I have to give them an answer. But I am<br />
happiest when my son defines God as Ganesh Allah. I<br />
don’t want that to change. That sounds so right to me.<br />
I tell my son, God, Allah and Bhagwan are all one. My<br />
daughter is still too young to ask questions like these.<br />
What role does religion play in your personal life?<br />
I am God fearing and would not do anything to make God<br />
unhappy. I smoke and apologise to God for the bad habit. I<br />
believe in heaven and hell.<br />
In this life or in the afterlife?<br />
Here, in this life. I don’t think that the other world has<br />
room for concepts like heaven or hell. It is all here. I can feel<br />
it here. Up there, I imagine the world endlessly serene and<br />
peaceful.<br />
What is most important to you in life?<br />
Whatever is most important to everyone else. My family is<br />
important to me, my relationships, my job…like whatever<br />
is important to you. What is important to me affects only<br />
my life but what you do influences society. You can inspire<br />
an entire generation by lifting an eyebrow. Do you see that<br />
difference? Look, I can sit here and give you a whole spin<br />
on how important I am. That would not be true. A pilot<br />
does a far more amazing job; flying an aeroplane is more<br />
important than what I do. My job is only to entertain and<br />
in the bargain, if I am put on a pedestal and called a super<br />
star that is not of my choosing.<br />
Does your unreal life bother you sometimes?<br />
No, not at all. Not when I see the benefits that I reap from<br />
such a life. All my life I wanted to be a rock star and now<br />
that I am one, you can’t expect me to be unhappy about it.<br />
I always wanted to be this and now I can’t use it as an<br />
excuse to be someone else. No, I am very happy being what<br />
I am. And I am very thankful to my audience for helping<br />
me to realise my dream. �<br />
Mehru Jaffer ist Journalistin und Autorin des Buches „The Book<br />
of Muhammad“. Sie lebt und arbeitet in Wien.<br />
Anm. d. Red.: „Seriously Shah Rukh“ von Mehru Jaffer erschien im April<br />
2004 im indischen „Hardnews“ Magazin. Das Interview entstand<br />
während der Dreharbeiten zu dem späteren Bollywood-Blockbuster<br />
„Swades“ (Heimat).<br />
Region – Indien<br />
65
Subbudu, Bharatanatyam und die indische Tanzkritik –<br />
kulturpolitische Betrachtungen.<br />
von ERIKA NEUBER<br />
<strong>Die</strong> Politisierung der Tanzkultur<br />
Vom Tempel auf die Weltbühne<br />
Bharatanatyam als heute äußerst<br />
populärer, klassischer indischer<br />
Tanzstil steht im Brennpunkt der<br />
indischen Tanz- und Musikkritik.<br />
Darüber hinaus sind bis zur<br />
Gegenwart die Meinungen gespalten<br />
bezüglich des gesetzlichen Verbots des<br />
ursprünglichen Tempeltanzes im Jahr<br />
1947, der Diskriminierung seiner<br />
ursprünglichen Ausführenden, der<br />
devadasis (siehe auch Seite 69 – 71),<br />
und seiner Übernahme, Umgestaltung<br />
und Umbenennung zu Bharatanatyam<br />
durch Angehörige der brahmanischen<br />
Elite Südindiens. <strong>Die</strong> hochpolitisierte<br />
Materie umfasst Themen der<br />
nationalen Identität, der sozialen<br />
Klassenzugehörigkeit von<br />
TänzerInnen und den Zugriff von<br />
Machthabern aller Art auf das<br />
Territorium der Künste. Berühmte<br />
Tanzkritiker wie Subbudu<br />
beeinflussen als scharfe Beobachter<br />
mit ihren Statements kulturpolitische<br />
Entscheidungen.<br />
Foto: Christian Mazal<br />
66 Region – Indien<br />
Am 29.März 2007 verstarb der indische Tanz- und Musikkritiker,<br />
Padi V. Subramaniam, der unter dem Namen<br />
Subbudu bereits zu Lebzeiten zur Legende geworden war.<br />
Als Gesprächspartner indischer Staatspräsidenten, Premierminister<br />
und Kongressleader, ausgezeichnet mit hochkarätigen<br />
Awards, geachtet und gleichzeitig gefürchtet von den VertreterInnen<br />
der klassischen, indischen Tanz- und Musikszene, verlieh er derselben<br />
über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg ihr besonderes Gepräge.<br />
Tempeltanz und devadasis<br />
Der ursprüngliche südindische Tempeltanz (sadir, sadirattam oder<br />
dasi attam) war über Jahrhunderte hinweg eine rituelle Notwendigkeit.<br />
Er sollte die Gunst der jeweils verehrten Tempelgottheit erwirken<br />
und damit Gedeihen und Fruchtbarkeit garantieren (Kersenboom-<br />
Story 1987: XIX, 87–164). <strong>Die</strong> speziell ausgebildeten und geweihten<br />
devadasis (sanskr. <strong>Die</strong>nerin der Gottheit), gehörten ebenso wie die<br />
Tanzmeister (nattuvanar) der isai-vellala-Community an. In<br />
vergangenen Epochen stellte der <strong>Die</strong>nstbereich der devadasis mit<br />
seinen vielfältigen Aufgaben die sichtbare Ausformung eines sozioreligiösen<br />
Konzeptes dar, das im Rahmen der Überlebensstrategien<br />
von Gesellschaften zu begreifen ist. <strong>Die</strong> Tänzerinnen hatten mit Hilfe<br />
ihres Tanzes und dessen ausgefeilter Gebärdensprache mit der als<br />
gefährlich erachteten Gottheit um den lebenswichtigen Segen zu<br />
„dealen“ (Marglin 1985: 300ff.). Mitte des 20.Jahrhunderts wurde die<br />
Weihe von devadasis gesetzlich untersagt. Vor allem Fremdeinflüsse<br />
hatten eine teilweise Auflösung des traditionellen hinduistischen<br />
Weltbildes verursacht. <strong>Die</strong> Bedeutung der Tempel war gesunken und<br />
es erschien auch mit einem modernen Sozialgedanken nicht mehr<br />
vereinbar zu sein, dass devadasis mit einer Gottheit vermählt wurden<br />
und gleichzeitig seitens der Tempelbehörden dazu angehalten waren,<br />
mit irdischen Männern Intimbeziehungen einzugehen, um so<br />
symbolisch das Gedeihen der Gesellschaft zu sichern.<br />
„Pioniere“, Geächtete und nationale Identität<br />
Als „Pioniere“ des heutigen Bharatanatyam gelten vor allem der<br />
indische Jurist E. Krishna Iyer und Smt. Rukmini Devi Arundale. Beide<br />
stammten aus brahmanischen Familien und transferierten den Tanz<br />
unter dem Namen Bharatanatyam auf die weltlichen Konzertbühnen.<br />
Sie waren darauf bedacht, ihm gleichzeitig einen neuen,<br />
angemessenen Status zu verleihen. Rukmini Devi hatte den Tanz<br />
gegen den Willen ihrer Familie erlernt, hatte ihn mit Erfolg vor großem<br />
Publikum präsentiert und somit „salonfähig“ gemacht. Der Tanz war
vorerst gerettet, nachdem es so ausgesehen hatte, als<br />
würde er mitsamt dem unrespektabel und illegitim<br />
gewordenen <strong>Die</strong>nstbereich der devadasis in<br />
Vergessenheit geraten. Um jeden Zusammenhang mit<br />
den nunmehr sozial geächteten, ehemaligen<br />
Tempeltänzerinnen und ihrer Community zu tilgen,<br />
erachtete man es als unerlässlich, dem Tanz auch noch<br />
eine uralte Vergangenheit und „sacred origins“<br />
zuzuschreiben, Eigenschaften, die den reellen Gegebenheiten<br />
keinesfalls entsprachen. <strong>Die</strong> damalige Bewegung<br />
rund um die Erneuerung und „Rettung“ des Tanzes<br />
wurde rasch gekoppelt mit Fragen der nationalen<br />
Identität (Bharucha 1995: 41 ff.). Der Tanz als Thema war<br />
landesweit zum Politikum geworden, wobei selbstverständlich<br />
das Jahr 1947 als Zeitpunkt der<br />
Unabhängigkeit, und die Betonung der Suche und<br />
Findung der eigenen kulturellen Wurzeln in Indien<br />
übermächtig hereinspielte. Plötzlich war der vor kurzem<br />
in den hinduistischen Tempeln als kultische Handlung<br />
per Gesetz verbotene Tanz zum nationalen Kulturerbe<br />
erklärt worden, nachdem die brahmanische Elite des<br />
Landes ihn in ihr „Ressort“ übernommen hatte! Zwei<br />
unterschiedliche Auffassungen kennzeichnen die Sicht<br />
der damaligen Ereignisse: die AnhängerInnen der<br />
brahmanischen Gruppe sehen in der Übernahme des<br />
Tanzes eindeutig einen Akt der „Rettung“ von Kulturgut,<br />
Angehörige der ehemaligen devadasi-Community<br />
sprechen demgegenüber aber von „Aneignung“:<br />
„…these Brahmins are stealing our art, our livelihood!“<br />
(Ramnarayan 1984: 28).<br />
„Demokratisierung“ der indischen<br />
Tanzkunst<br />
Der Tanz hatte also Mitte des 20.Jahrhunderts sein Milieu<br />
gewechselt. Er war den Tempel-Autoritäten und der<br />
Devadasi-Community entglitten, und stand ab diesem<br />
Zeitpunkt unter dem Patronat der brahmanischen Elite<br />
Südindiens. <strong>Die</strong> im früheren Tempelgebrauch<br />
ursprünglich erotische Komponente des Tanzes hatte<br />
Rukmini Devi durch spirituelle Inhalte ersetzt. Seine<br />
mythisch-philosophische Aussagekraft, sowie das<br />
beeindruckende Vokabular seiner Ausdrucksformen<br />
bewirkten, daß binnen kurzer Zeit Mädchen und junge<br />
Frauen in Scharen herbeiströmten, um in den neu<br />
entstandenen Tanzschulen am Bharatanatyam-Training<br />
teilzunehmen. Schon bald gehörte dies zum zusätzlichen<br />
Erziehungsprogramm für die Töchter der sozialen Elite.<br />
Eine derartige Entwicklung hatte niemand erwartet; vor<br />
allem nicht, dass weit über Indiens Grenzen hinaus auch<br />
in der westlichen Welt in naher Zukunft ebenfalls Kurse<br />
und Schulen für Bharatanatyam eingerichtet werden<br />
sollten, wie z.B. auch in Wien seit den späten 1970er<br />
Jahren. Jedenfalls wurden nach den 1940er Jahren die<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Konzertbühnen Indiens zum umkämpften Auftrittsterritorium<br />
der engagierten Bharatanatyam-Künstler-<br />
Innen mit nunmehr als „klassisch“ bezeichneter Ausbildung:<br />
Rukmini Devi hatte als „Pionierin“ des<br />
Bharatanatyam neue Unterrichtsmethoden und -kriterien<br />
für den Tanz entwickelt. Im Jahr 1936 gründete sie in<br />
Madras die Tanz-Akademie von Kalakshetra (vgl. dazu<br />
Ramani: 2004: 7 ff.).<br />
All dies rief die Tanzkritik auf den Plan, die lobend,<br />
korrigierend, und schließlich wertend in das keineswegs<br />
mehr sakrale, sondern öffentliche, kulturelle Geschehen<br />
eingriff. <strong>Die</strong> Darbietungen, KünstlerInnen, ihre Anhängerschaft<br />
und Familien, die Tanzmeister (nattuvanar)<br />
und ihre Schulen sowie Kalakshetra gerieten gleichzeitig<br />
immer stärker in den Sog kulturpolitischer Machtinteressen.<br />
Singh bezeichnete den Aufstieg Subbudus als Kritiker<br />
als den besten Beweis für die zunehmende Demokratisierung<br />
der indischen Künste: Das Publikum war<br />
Patron geworden, die KritikerInnen übernahmen die<br />
wichtige Rolle der Vermittlung zwischen den Massen<br />
und den KünstlerInnen. Dabei entging Subbudu der<br />
Gefahr, von KünstlerInnen „gekauft“ zu werden, was<br />
immer wieder versucht wurde: Er war Beamter mit<br />
einem fixen Einkommen und verfasste seine Kritiken aus<br />
privater Begeisterung (Singh 2005: 23, 25, 55).<br />
Im Jahr 1953 wurde schließlich die Sangeet Natak<br />
Akademi in New Delhi gegründet, als Nationalakademie<br />
für Tanz, Drama und Musik.<br />
Lada Guruden Singh meint, dass dies auch der Zeitpunkt<br />
war, an dem es zu einer weiteren Politisierung innerhalb<br />
der darstellenden Künste Indiens kam, da etliche zu<br />
Bühnenstars avancierte Bharatanatyam-KünstlerInnen<br />
begannen, ihren persönlichen Einfluss bei amtierenden<br />
Ministern zu benützen: einerseits um Druck auf<br />
KritikerInnen auszuüben, andererseits um die begehrten<br />
Awards für ihre Leistungen verliehen zu bekommen<br />
(Singh 2005: 105, 134).<br />
Subbudu als „larger-than-life figure“<br />
Als Kritiker erzielte Subbudu zwischen 1960 und 1980<br />
seine größten Erfolge. In den beiden Jahrzehnten danach<br />
blieb er die oft heftig umstrittene, autoritäre Instanz auf<br />
dem Gebiet der indischen Tanzkritik. <strong>Die</strong> Feierlichkeiten<br />
zu seinem 85.Geburtstag im Jahr 2002 in Chennai und in<br />
New Delhi bildeten den Höhepunkt seines Lebens (Singh<br />
2005: 247 ff.). Beinahe 60 Jahre zuvor war der 1917 in<br />
Madras geborene Subbudu nach Delhi gekommen. Er<br />
war selbst begabter Musiker, spielte mehrere<br />
Region – Indien<br />
67
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Instrumente und war auch schauspielerisch tätig gewesen.<br />
Als 1954 der renommierte Schriftsteller und<br />
Musikkritiker Kalki Krishnamurthy starb, wusste<br />
Subbudu das verbleibende Vakuum auszufüllen. Aufsehen<br />
erregte er nicht nur durch seinen heißblütigen,<br />
pfeffrigen Schreibstil, sondern auch durch seine bedingungslos<br />
hohen Ansprüche (Singh 2005: 23, 89, 110, 137).<br />
Subbudu wurde bald zu einer harten, aber unparteilichen<br />
Prüfinstanz für Qualität und schuf durch seine<br />
spannend zu lesenden, kritischen Beiträge ein breites öffentliches<br />
Interesse für Bharatanatyam. Als Kritiker hatte<br />
er sich zu dem entwickelt, was man in Indien als „largerthan-life<br />
figure“ bezeichnet.<br />
Bharatantyam – „The ultimate metaphor“<br />
Was ist das Besondere an Bharatanatyam? Was hatte<br />
Subbudu bewegt, diesem Tanzstil ein Leben lang zu<br />
dienen? <strong>Die</strong> indische Tanzkritikerin Shanta Serbjeet<br />
Singh beschreibt den klassischen indischen Tanz als<br />
Metapher für die Sicht der Realität im hinduistischen<br />
Indien – „the ultimate metaphor“, wie sie sagt – als<br />
Spiegelung des althergebrachten Konzeptes des Hinduismus<br />
von Universum und Wirklichkeit: vor allem Polaritäten,<br />
wie etwa Gut und Böse, Freude und Leid, Leben<br />
und Tod, sowie das Männliche und das Weibliche,<br />
werden hier als zwei Seiten ein und derselben Realität<br />
verstanden. Raum und Zeit – und dies scheint von<br />
zentraler Bedeutung zu sein – werden lediglich als<br />
Konstrukte des menschlichen Geistes gesehen, die sich<br />
immer als relativ, begrenzt und letztlich als illusorisch<br />
erweisen (Singh, Sh.S. 2000: 3 ff). Eine außergewöhnliche<br />
Rolle spielt bis heute die im Tanz dargestellte<br />
Liebesbeziehung von einer Heldin (nayika) und ihrem<br />
Helden (nayaka), die die Sehnsucht der menschlichen<br />
Seele nach Vereinigung mit dem Transzendenten<br />
darstellen soll. <strong>Die</strong> in Südindien seit Jahrhunderten<br />
praktizierte Gottesmystik (bhakti) bildet die Grundlage<br />
dieser Thematik (vgl. dazu Gaston 2005: 87 ff.).<br />
Das Ende einer Ära?<br />
Subbudu bezog stets politische Positionen, wenn es um<br />
die Tanzkunst ging: In seinen Kritiken attackierte er<br />
berühmte Tanzmeister, stellte Sekretäre von sabhas für<br />
Unregelmäßigkeiten zur Rede und rügte Kulturorganisationen<br />
für ihr undurchschaubares Management, womit<br />
er die Betroffenen zur öffentlichen Stellungnahme<br />
zwang. Seine scharfen Attacken gegen alle experimentellen<br />
Tendenzen im Bereich des klassischen Tanzes und<br />
gegen Auftretende, welche seinen Ansprüchen nicht<br />
genügten, sorgten während Subbudus gesamter Schaffensperiode<br />
für Irritationen und Existenzängste, ja tätliche<br />
Angriffe und sogar Morddrohungen aus dem Kreis<br />
68 Region – Indien<br />
der Betroffenen (Singh 2005: 19). Trotzdem: Subbudu war<br />
niemandes Gegner. Er fühlte sich aber der Aufgabe verpflichtet,<br />
die Qualität des klassischen Tanzes zu schützen<br />
und kämpfte auch für die Rechte der KünstlerInnen<br />
selbst (vgl. dazu Singh 2005: 119, 138, 214 ff.).<br />
Der Tanzkritiker Subbudu verstarb am 29.März 2007 um<br />
halb acht Uhr abends. Binnen weniger Stunden mailte<br />
es die südindische Bharatanatyam-Community an TanzkollegInnen<br />
in aller Welt: Subbudu is no more, eine Ära<br />
ist zu Ende gegangen, für diesen Mann gibt es keinen<br />
Ersatz. �<br />
Erika Neuber ist Lektorin im Institut für Kultur- und<br />
Sozialanthropologie, und seit 1986 Leiterin der hiesigen<br />
Fachbereichsbibliothek. Schwerpunkte: Kunstforschung:<br />
Orientteppich-Kunst der Türkei, indische Tanzkunst in<br />
Südindien und Wien, sowie moderne bildende Kunst in Papua-<br />
Neuguinea.<br />
Literatur<br />
Bharucha, Rustom. Chandralekha. Woman – Dance<br />
– Resistance. New Delhi, 1995.<br />
Gaston, Anne-Marie. Bharata Natyam. From Temple to<br />
Theatre. New Delhi, 2005.<br />
Kersenboom-Story, Saskia. Nityasumangali. Devadasi<br />
Tradition in South India. Delhi, 1987.<br />
Marglin, Fédérique Appfel. Wives of the God-King. The<br />
Rituals of the Devadasis in Puri. Delhi, Oxford, New<br />
York, 1985.<br />
Ramani, Shakuntala (comp. and ed.). Rukmini Devi<br />
Arundale. Centenary Valedictory Volume. Chennai, 2004<br />
Ramnarayan, Gowri. Rukmini Devi: Dancer and<br />
Performer. A Profile (Part 2). Sruti. South Indian classical<br />
music and dance monthly. July 1984<br />
Singh, Lada Guruden. Beyond Destiny. The Life and Times<br />
of Subbudu. Mumbai, 2005.<br />
Singh, Shanta Serbjeet. Dance. The ultimate Metaphor for<br />
the Indian View of Reality. In: Singh, Sh.S. (ed.): Indian<br />
Dance. The ultimate Metaphor. Hongkong, New Delhi,<br />
2000.
Früher waren die devadasis in ganz Indien verbreitet; heute gibt es sie<br />
vor allem noch im Süden des Landes.<br />
Indische devadasis<br />
einst und jetzt<br />
von EVELINE ROCHA TORREZ<br />
Priesterinnen, Tänzerinnen oder Prostituierte?<br />
Gibt man den Begriff devadasi in eine<br />
Internet-Suchmaschine ein, so stößt<br />
man einerseits auf Berichte von zur<br />
Prostitution gezwungenen<br />
Minderjährigen, andererseits aber<br />
auch auf Websites zur indischen<br />
Tanzkunst und zu hinduistischen<br />
Priesterinnen. Man fragt sich zu<br />
Recht: Was hat all das miteinander<br />
zu tun?<br />
Foto: Christian Mazal<br />
Das Wort devadasi bedeutet soviel wie Gottesdienerin<br />
(Kersenboom-Story 1987: XV) und wird seit Ende des 19.<br />
Jahrhunderts als Sammelbegriff für geweihte Frauen<br />
(Svejda 1991: 67f) verwendet. <strong>Die</strong> Tradition, Frauen einem<br />
bestimmten Tempel zu weihen und sie dazu symbolisch mit der<br />
Tempelgottheit zu verheiraten, dürfte sehr weit zurückgehen. Unter<br />
verschiedenen Bezeichnungen werden derartige Tempelfrauen bereits<br />
ab dem 7. Jahrhundert n. Chr. erwähnt (Svejda-Hirsch 1991: 34,<br />
Shankar 1994: 17); ihre Anzahl und auch ihr Tätigkeitsbereich scheint<br />
unterschiedlich gewesen zu sein. Glaubt man den Inschriften, so ließ<br />
der Chola-Monarch Rajaraja im Jahr 1004 vierhundert devadasis in<br />
den Haupttempel von Tanjore beordern (Shankar 1994: 53) und auch<br />
200 Jahre später sollen hunderte devadasis im Tempel von Somnath in<br />
Gujarat gelebt haben (Svejda-Hirsch 1991: 36). Offenbar gab es eine<br />
starke Verstrickung zwischen dem Tempeldienst und den Tanzvorführungen<br />
in den königlichen Palästen: <strong>Die</strong> devadasis standen in einem<br />
Dreiecksverhältnis zwischen dem Tempel und einem reichen,<br />
adeligen oder gar königlichen Patron, der den Tempel einschließlich<br />
Priesterschaft und devadasis finanziell unterstützte (Svejda-Hirsch<br />
1991: 48). Als Tempeltänzerinnen erhielten sie ein fixes Gehalt und<br />
Ackerland von ihrem Tempel, wurden aber mitunter selbst so<br />
wohlhabend, dass sie dem Tempel Gold, Lampen, Tiere oder ebenfalls<br />
Land schenken konnten (Kersenboom-Story 1987: 27). Außerdem<br />
wurden die devadasis nicht nur (ausschließlich von Männern!) in<br />
Musik und Tanz ausgebildet und durften lesen und schreiben lernen,<br />
sondern waren auch berechtigt, Kinder zu adoptieren, als<br />
Haushaltsvorstand zu agieren und zu erben (Svejda 1991: 48, Shankar<br />
1994: 57); „Privilegien“, die für viele hinduistische Frauen bis zum<br />
heutigen Tag unvorstellbar sind.<br />
Europäische Handelsreisende, Missionare und Mitglieder der<br />
britischen Kolonialmacht konnten mit der vorgefundenen Verbindung<br />
von Sexualität und Religion meist wenig anfangen (Jordan 2003: 160)<br />
und berichteten entsprechend schockiert über die „Tempel-<br />
Prostituierten“. In seinem 1792 veröffentlichten Buch schildert Abbé<br />
Dubois u.a., dass wichtige Tempel jeweils acht bis zwölf devadasis<br />
beschäftigten (Gaston 1996: 46), dass diese den Göttern zwei Mal<br />
täglich mit Tanz und „obszönem“ Gesang huldigten bzw. schöne<br />
Frauen ihren Ehemännern von den priesterlichen Brahmanen für das<br />
Region – Indien<br />
69
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
unsittliche Tempel-Treiben weggenommen wurden<br />
(Shankar 1994: 54f, Gaston 1996: 38f). 1870 berichtet John<br />
Shortt davon, dass die geweihten Mädchen als<br />
Fünfjährige ein hartes Tanztraining begannen und bei<br />
Erreichen der Pubertät entweder von den<br />
Tempelpriestern selbst oder von gut dafür zahlenden<br />
reichen Männern defloriert wurden und fortan allen<br />
gleich- oder höherkastigen Männern zur Verfügung<br />
stehen mussten. Verhältnisse mit Männern aus niedrigeren<br />
Kasten oder Shudras (Unberührbaren) wurden bestraft<br />
und konnten sogar einen Ausschluss aus dem<br />
Tempelwesen zur Folge haben (Shankar 1994: 56f, Gaston<br />
1996: 41). In den meisten Fällen dürften sich vertraglich<br />
geregelte, längerfristige Konkubinate entwickelt haben,<br />
bei denen es der devadasi sehr wohl möglich war, selbst<br />
einen möglichst reichen, mächtigen und gebildeten Liebhaber<br />
auszuwählen bzw. hohe Summen für Tanz-Auftritte<br />
außerhalb des Tempels zu verlangen (Gaston 1996: 40ff).<br />
Religiöser Kontext<br />
Bei der gesamten Thematik darf nicht außer Acht<br />
gelassen werden, was Sexualität und Religiosität im<br />
hinduistischen Kontext bedeuten. Vor allem in Südindien<br />
haben sich drawidische Fruchtbarkeitskulte erhalten<br />
bzw. ab dem 5. Jahrhundert mit dem vedischen<br />
Hinduismus vermischt. Gleichzeitig wurde auch das<br />
tantrische Konzept der göttlichen Vereinigung von<br />
männlicher und weiblicher Energie (shiva-shakti) in die<br />
südindische Glaubenspraxis integriert (Vijaisri: 36ff). Vor<br />
diesem Hintergrund erscheint es durchaus plausibel,<br />
dass den sakralen Prostitutierten wichtige Funktionen<br />
zuteil wurden und sie daher einen hohen Stellenwert<br />
genossen. Devadasis sollten den bösen Blick, schlechte<br />
Ernten, Krankheit und Tod abwehren, das Tempelheiligtum<br />
pflegen und die höheren Mächte sowohl durch<br />
ihre Kunst (Gesang und Tanz) als auch durch ihre<br />
Sexualität gütig stimmen. Als Frau, die durch ihre Ehe<br />
mit der Tempelgottheit nie Witwe werden konnte (und<br />
dadurch niemals von der sati, der Witwenverbrennung<br />
bedroht war), galt /gilt sie als nityasumangali, die Immer-<br />
Glückliche/Glückbringende. Devadasis wurden/werden<br />
oft auf Hochzeiten und zu anderen Festlichkeiten<br />
eingeladen, um den Anwesenden Glück zu bringen. In<br />
diesen Kontext passt das Sprichwort „to see a courtesan<br />
(or prostitute) is auspicious and the destruction of sin“<br />
(Kersenboom-Story 1987: 47ff). Allerdings stellt sich hier<br />
die Frage, ob die solcherart bekundete Wertschätzung<br />
nicht einfach nur ein bequemes Instrument dafür war/ist,<br />
um mächtigen Königen bzw. reichen hochkastigen<br />
Männern eine gesellschaftlich akzeptierte Form der<br />
Promiskuität mit Frauen aus niedrigeren Kasten zu<br />
ermöglichen (Jordan 2003: 151).<br />
70 Region – Indien<br />
Wandel<br />
Auch wenn der Status der devadasis in früheren<br />
Jahrhunderten durchaus kritisch zu betrachten ist, kann<br />
man davon ausgehen, dass sich ihre gesellschaftliche<br />
Position in den letzten 150 Jahren enorm verschlechtert<br />
hat und von den einst vorhandenen Privilegien kaum<br />
mehr etwas übrig geblieben ist. Begonnen hat dieser<br />
Wandel mit der Besetzung Indiens durch die Briten im<br />
Jahr 1857. <strong>Die</strong> Verbreitung der christlich-viktorianischen<br />
Ideologie führte bald zum Heranwachsen einer von<br />
westlichem Gedankengut beeinflussten Mittel- und<br />
Oberschicht, die das Phänomen der devadasis aus<br />
europäischer Sicht zu betrachten begann. Gerne wurde<br />
die Tempelprostitution von den Brahmanen als für die<br />
„moderne“ Frau entwürdigend kritisiert und mit<br />
fiktiven, keuschen und „reinen“ Priesterinnen früherer<br />
Zeiten kontrastiert (Jordan 2003: 151). Es gilt mittlerweile<br />
als gesichert, dass es derartige „hinduistische Nonnen“<br />
niemals gegeben hat und aus der geschichtlichen Distanz<br />
scheint auch der Anspruch der damaligen probritischen<br />
Sozialorganisationen äußerst fragwürdig, mit einem<br />
Verbot des devadasi-Kults den Status der Frau<br />
verbessern zu wollen (Jordan 2003: 156). Vielmehr dürfte<br />
es bei der groß angelegten Anti-Nautch-Kampagne (von<br />
natch = bestimmter devadasi-Tanz) ab 1882 eher darum<br />
gegangen zu sein, ein weibliches Privileg zu beseitigen,<br />
dass dem hinduistischen Patriarchat schon lange ein<br />
Dorn im Auge war. Durch gezielte Propaganda wurde<br />
den devadasis in den folgenden Jahrzehnten die<br />
Lebensgrundlage entzogen (Jordan 2003: 161 f). Dabei<br />
war es der europäisierten hinduistischen Mittelschicht<br />
ein Anliegen, im Ausland nicht mit „barbarischen“<br />
Bräuchen in Verbindung gebracht zu werden. Immer<br />
wieder wurden die britischen Besatzer damit bedrängt,<br />
Anti-devadasi-Gesetze zu erlassen bzw. keine Auftritte<br />
von devadasis im Ausland oder vor hohen<br />
Regierungsmitgliedern zuzulassen. Zeitgleich mit der<br />
öffentlichen Diskreditierung der Tempeltänzerinnen<br />
entstand eine ebenfalls hochkastige revivalist-Bewegung,<br />
die den sadir-Tanz der devadasis zur rettenswerten<br />
klassischen Kunst stilisierte. <strong>Die</strong> Narrative von den<br />
ehemals keuschen „Hindu-Vestalinnen“ wurde dabei<br />
gern aufgegriffen, um den Tanz von seinem<br />
„unwürdigen“ Umfeld zu „reinigen“, für die<br />
brahmanische Oberschicht salonfähig zu machen<br />
(Shankar 1994: 146, Gaston 1996b: 42) und als neue, für<br />
die indische Nation repräsentative Staatskunst zu<br />
etablieren.
Was blieb von den devadasis – Heutige<br />
Situation<br />
Um es mit Svejda-Hirschs treffenden Worten<br />
auszudrücken: „Es sind einzig und allein die devadasis<br />
selbst, die […] zugrundegerichtet wurden. Weder der<br />
Tanz noch die Prostitution als solches wurden letztlich<br />
angeprangert oder verboten“ (Svejda-Hirsch 1991: 53).<br />
Tanz<br />
Unter dem neuen Namen Bharatanatyam wurde der<br />
sadir ab den 1930er Jahren zu der international<br />
anerkannten indischen Tanzkunst (Gaston 1996b: 45).<br />
Paradoxerweise hatten manche der aufstrebenden<br />
revivalist-Künstlerinnen überhaupt keine Bedenken, bei<br />
den geächteten devadasis Unterricht zu nehmen (wie<br />
etwa Rukmini Devi). Als inhaltlich problematisch erwies<br />
sich vor allem die tänzerische Darstellung von Erotik<br />
(shringar) im Rahmen der hingebungsvollen Gottesliebe<br />
(bhakti), die schlecht zum asketischen Bild des „neuen“<br />
klassischen Tanzes passen wollte (Gaston 1996b: 46f).<br />
Ohne den Tanz selbst allzu stark zu verändern, wurde<br />
das Problem letztlich durch eine stärkere Fokussierung<br />
auf abstraktere Inhalte und die zunehmende Sanskritisierung<br />
(Einbeziehen klassischer Sanskrit-Texte, Puja-<br />
Opfer auf der Bühne, Annahme brahmanischer Lebensformen)<br />
gelöst (Shankar 1994: 146). Veränderte Auftrittsbedingungen,<br />
wie große Bühnen und neue Unterrichtsformen<br />
(bezahlter Unterricht an Tanzakademien statt<br />
Unterweisung durch gurus aus devadasi-Familien), taten<br />
das ihre, um den Konnex zu den devadasis und zur<br />
Tempelprostitution vergessen zu machen.<br />
Prostitution<br />
Zwar verschwanden die devadasis mit dem Prevention of<br />
Dedication Act 1947 aus den großen, prestigeträchtigen<br />
Tempeln, am Land zeigte das Gesetz jedoch keinerlei<br />
Wirkung. 1975 wurden in Südindien drei- bis<br />
viertausend Mädchen der Göttin Yellamma geweiht<br />
(Jordan 2003: 151) und 1987 berichteten die<br />
Tageszeitungen des Bundesstaates Karnataka von der<br />
Weihe von tausend Mädchen, die im Beisein der Polizei<br />
erfolgte, als ob keinerlei Verbotsgesetze existierten<br />
(Shankar 1994: 131). Auf die Weihe im Kindesalter folgt<br />
unweigerlich eine Zukunft als Prostituierte, die nach<br />
einer möglichst gut finanziell abgegoltenen<br />
Entjungferung durch lokale Potentaten meist ein Leben<br />
in einem Großstadtbordell bedeutet. Eine Ausbildung<br />
erhalten die heutigen devadasis nicht; die meisten<br />
können, ebenso wie ihre Eltern, weder lesen noch<br />
schreiben. Nach einer Statistik der Indian Health<br />
Organisation waren 1994 15% der 10 Mio. indischen<br />
Prostituierten devadasis (Jordan 2003: 156). Gründe für<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
eine Weihe sind oft familiäre Probleme (Krankheiten,<br />
unerfüllter Kinderwunsch), die mit einem „Opfer“ an die<br />
Dorfgöttin/den Tempelgott gelöst werden sollen, aber<br />
natürlich auch die bittere Armut und Unwissenheit, die<br />
die Eltern oft zur leichten Beute von Kupplerinnen und<br />
Bordellbesitzerinnen werden lässt. Tatsächlich verdienen<br />
die jungen Frauen in den Stadtbordellen meist ein<br />
Vielfaches von dem, was sie jemals als Landarbeiterinnen<br />
verdienen könnten und schüren bei ihren Besuchen im<br />
Dorf Hoffnungen auf ein besseres Leben. Mit ihrem Geld<br />
erhalten sie neben den Kuplerinnen und Bordellbesitzerinnen<br />
jahrelang die eigene Großfamilie, die sich<br />
trotzdem oft nicht um gealterte oder kranke devadasis<br />
kümmert. Um die eigene Altersversorgung zu gewährleisten,<br />
kaufen oder adoptieren viele devadasis Mädchen,<br />
die in den Teufelskreis eingespannt werden (Jordan<br />
2003: 152). Der Preis ist hoch: Ungewollte Schwangerschaften,<br />
Geschlechtskrankheiten und der Tod durch<br />
eine HIV-Infektion sind übliche Schicksale. Nur selten<br />
gelingt der Ausstieg durch Heirat oder eines der überaus<br />
zaghaft installierten staatlichen devadasi-Rehabilitierungsprogramme.<br />
Internationale NGOs versuchen zu<br />
helfen, doch um das Übel an der Wurzel zu packen,<br />
müsste der Staat in den Bereichen Armutsbekämpfung<br />
und Bildung sehr aktiv werden (URL 1–3). �<br />
Eveline Rocha Torrez hat die Studienrichtungen Handelswissenschaft<br />
und Wirtschaftpädagogik absolviert und studiert<br />
derzeit KSA im 2. Abschnitt. www.bolivia.at.tf<br />
Literatur<br />
Gaston, Anne-Marie. Bharata Natyam. From Temple to Theatre. Manohar,<br />
New Delhi, 1996.<br />
Gaston, Anne-Marie. Interpreting the Erotic in Bharata Natyam. In:<br />
Tanzkunst, Ritual und Bühne. Begegnungen zwischen Kulturen. Hrsg.:<br />
Nürnberger, Marianne/Schmiderer, Stephanie. Frankfurt am Main, 1996.<br />
Jordan, Kay K.. From Sacred Servant to Profane Prostitute. A History of the<br />
Changing Legal Status of the Devadasis in India, 1857-1647. Manohar,<br />
New Delhi, 2003.<br />
Kersenboom-Story, Saskia. Nityasumangali. Devadasi tradition in South<br />
India. Motilal Banarsidass, New Delhi, 1987.<br />
Shankar, Jogan. Devadasi Cult. A sociological analisis. Ashish Publishing<br />
House, New Delhi, 1994.<br />
Svejda-Hirsch, Lenka. <strong>Die</strong> indischen devadasis im Wandel der Zeit.<br />
„Ehefrauen“ der Götter; Tempeltänzerinnen und Prostituierte. Peter<br />
Lang, Bern, 1991.<br />
Vijaisri, Priyadarshini. Recasting the Devadasi. Patterns of Sacred<br />
Prostitution in Colonial South India. Kanishka Publishers, New<br />
Delhi, 2004.<br />
Internet<br />
URL 1: http://www.worldvision.org/about_us.nsf/child/eNews_<br />
india_051606, Stand 30.11.07<br />
URL 2: Voykowitsch, Brigitte. http://www.nzz.ch/2005/05/30/fe/<br />
articleCKMEA.html, Stand 30.11.07<br />
URL 3: http://www.kindernothilfe.de/Bandhavi.html, Stand 30.11.07<br />
Region – Indien<br />
71
Ein Reisebericht über die Erfahrungen zweier<br />
Indien-Aufenthalte<br />
von KATHARINA HAMMERLE<br />
Reisen als Kind<br />
Kinder erleben Reisen anders als Erwachsene<br />
„24.7.1993 Heute bin ich sehr erschöpft<br />
von dem vielen Reisen […] Endlich waren<br />
wir in Bombay [Mumbai, Anm. K. H.]<br />
angelangt. Es war spät in der Nacht. Wir<br />
waren alle schon sehr müde. Wir mußten<br />
wieder einchecken, wegen dem nächsten<br />
Flug nach Bombay, Geld wechseln und<br />
noch viel mehr was halt dazu gehört […]“<br />
(Tagebucheintrag)<br />
Foto: Claudia Prinz<br />
72 Reisebericht – Indien<br />
Das Reisen als Kind beschäftigt mich schon lange. Besonders<br />
als ich im Sommer 2005 mit meinem Freund und unserem<br />
damals sieben Monate alten Sohn eine Reise nach Bali<br />
plante. Es stellten sich mehrere Fragen: Was macht das<br />
Reisen mit einem Kind? Inwieweit prägen Reisen den Lebenslauf?<br />
Was passiert durch das Reisen mit einem selbst? Welche Vor- und<br />
Nachteile, welche Konsequenzen entwickeln sich daraus und was ist<br />
dadurch anders im Alltagsleben? Ich begann intensiver als zuvor über<br />
das Reisen nachzudenken. <strong>Die</strong> wichtigste Erfahrung war, dass die<br />
Reisen erst zu Tage kommen, wenn man wieder „zu Hause“ ist. „<strong>Die</strong><br />
Reise ist erst dann wirklich abgeschlossen, wenn der einzelne die<br />
Reise im Alltag für sich und vor anderen installiert, vorgezeigt und<br />
erzählt hat.“ (Fendl/Löffler 1995, 55).<br />
Der Ausgangspunkt der Überlegungen für den vorliegenden Text<br />
waren zunächst die Bilder der Erinnerung. Es war schwer, die Bilder<br />
im Gedächtnis von denen zu trennen, die lediglich Erinnerungen an<br />
gemachte Fotos sind (vgl. Köstlin 1995). Meiner Ansicht nach werden<br />
sowohl im Alltag, als auch auf Reisen Bilder und Erlebnisse<br />
gespeichert, die in Kombination mit Gerüchen, Farben, dem Klima,<br />
mit Geräuschen etc. grundlegende Eindrücke hinterlassen. André<br />
Gingrich verdeutlicht hier: „<strong>Die</strong>s ist nicht bloß der elementare Bereich,<br />
in dem kulturelle Wertvorstellungen und Axiome an Angehörige der<br />
jeweiligen Kultur häufig vermittelt werden. Bei aller Betonung der<br />
Notwendigkeit des Erlernens lokaler Sprachen gilt auch für die<br />
ethnologische Feldforschung: Beispielhafte, oft wortlose Erfahrung ist<br />
eine nichtexklusive, aber unabdingbare Ebene, über die auch von<br />
außen kommende AnthropologInnen ‚Kultur erlernen‘“ (Gingrich<br />
1999: 200).<br />
<strong>Die</strong> wortlose Erfahrung war das, was bei meinen mehrwöchigen<br />
Indienreisen im Alter von zehn und elf Jahren bedeutend war. Das lag<br />
wohl auch daran, dass man sich das Reisen als Kind nicht aussucht.<br />
Man reist mit, ist nicht autark. Ein wesentliches Moment des modernen<br />
Reisens ist dadurch ausgehebelt: Jenes, sich in einem Land frei zu<br />
bewegen. <strong>Die</strong> Erinnerungsbilder an Indien sind somit auch an passive<br />
Erlebnisse gebunden: Ein Bambusgewebe, eine Theke; Barstühle,<br />
große Chapati, eine ockerfarbene und eine grüne Soße in kleinen<br />
weißen Schälchen vor mir unter dem Kinn. Nach zwei Metern<br />
verschwimmt die Erinnerung an diesen Ort.<br />
Natürlich sind die Erinnerungen an spätere Reisen präsenter. Ich<br />
entsinne mich etwa, als Sechzehnjährige wortlos in der australischen
Wüste gesessen und am Rande gehört zu haben, wie gut<br />
die Mitreisenden schon Englisch sprachen. Ich war<br />
überwältigt von der Landschaft und der Art zu Reisen.<br />
Kulturschock und Einsamkeit waren Gefühle, die<br />
aufkamen. „Es gehört zum Grundbestand bürgerlicher<br />
Reiseideologie, daß man das Fremde unverstellt in den<br />
Blick zu nehmen habe und gewissermaßen seine<br />
Herkunftskultur abstreifen müsse, um die Fremde<br />
wirklich authentisch erleben und erfahren zu können“,<br />
schreibt der empirische Kulturwissenschaftler Hans-<br />
Joachim Althaus. „<strong>Die</strong>ses gutgemeinte Reiseprogramm<br />
übersieht, daß es sich um eine Fiktion handelt: Niemand<br />
reist voraussetzungslos. Schon vor der Ankunft<br />
existieren Bilder dessen, was einen erwartet — was man<br />
erwartet“ (Althaus 1996: 105). <strong>Die</strong>se Bilder sind bei<br />
Kindern anders. Sie sind von Erziehung und<br />
Sozialisation geformt. So war in Indien die wortlose<br />
Erfahrung als Kind oft stärker, da ich in Situationen<br />
involviert war, die mir das Land „bescherte“: Allein und<br />
plärrend in einem dunklen Lift stecken zu bleiben und<br />
dann von lachenden Indern mit Brecheisenstangen<br />
wieder befreit zu werden. Es war das Einsammeln von<br />
Kniffen in die Wange. Blumengirlanden wurden von<br />
StraßenverkäuferInnen um mich gehängt, bis ich die<br />
wenige Meter entfernte Mutter erreichte, um Rupien zu<br />
bekommen. Kinder sind anders involviert als<br />
Jugendliche oder Erwachsene. Es waren Erlebnisse,<br />
jedoch nicht im Sinne des heute verbrauchten Begriffes<br />
„Adventure“.<br />
Ashram und „Adventure“<br />
Wir wohnten gemeinsam mit einer befreundeten<br />
Reisegruppe in einem Ashram im Süden Indiens. Ein<br />
Ashram kann mit einem Kloster verglichen werden.<br />
Dadurch kam die Gruppe nicht viel mit Hotel-Komplexen<br />
und anderer touristischer Infrastruktur in Berührung.<br />
Lediglich bei Kurzaufenthalten, die durch die<br />
Flugzeiten oder Notfälle entstanden, verbrachten wir<br />
wenige Stunden oder eine Nacht in einem Hotel. Für die<br />
Fahrten, die wir hie und da z.B. in einen Nationalpark<br />
unternahmen, stand uns immer derselbe Taxifahrer zur<br />
Verfügung — was heute ein Gefühl von Kolonialismus<br />
entstehen lässt: Ich war als europäisches Kind in Indien<br />
und ließ mich herumchauffieren. Wir bewegten uns<br />
kurzzeitig in quasi europäischen Kontexten innerhalb<br />
Indiens. So erinnere ich mich etwa, dass ich Freunde<br />
besuchte, die in einem Hotel untergekommen waren. Als<br />
ich auf die Toilette ging, bewunderte ich das gefaltete<br />
Dreieck am Ende der Klopapierrolle. <strong>Die</strong> Verwunderung<br />
war sehr stark, denn es bestand ein großer Unterschied<br />
zu den Plumpsklos ohne Klopapier, wo es stattdessen<br />
fließendes Wasser gab. <strong>Die</strong>se Toilette unterschied sich<br />
auch von den europäischen Aborten. Ich wurde in Indien<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
erstmals mit den Auswüchsen einer luxuriösen<br />
westlichen Kultur vertraut gemacht. Zwischendurch war<br />
es jedoch auch angenehm in einem „richtigen“ Bett zu<br />
schlafen und Spaghetti zu essen.<br />
Foto: Claudia Prinz<br />
Derlei Kontraste wurden im Ashram aufgehoben. Es war<br />
ein einfaches Gebäude, das wir mit Matratzen und<br />
Gittergestellen von Straßenhändlern bewohnten. Es gab<br />
regelmäßige Essens- und Gebetszeiten, die wir nach<br />
Möglichkeit einhielten. Während der mehrwöchigen<br />
Aufenthalte wurden wir Kinder von meiner Mutter und<br />
anderen GruppenleiterInnen in Einheiten der<br />
„Erziehungsarbeit von Menschlichen Werten“ unterwiesen.<br />
So ergab sich viel Abwechslung und besondere<br />
Reiseumstände stellten sich ein. In der Erziehungsarbeit<br />
wurden wir etwa in die Kindermeditationen eingeführt.<br />
Theaterstücke ließen uns im Spiel die Werte erspüren, die<br />
uns vermittelt werden sollten. Erlebnisse wie Elefantenritte<br />
etc. konnten nachgespielt werden. Hier war auch die<br />
Verbindung zur Umwelt in Indien gegeben. Besonders<br />
stark waren die Empfindungen in den Gesangsrunden,<br />
die regelmäßig vor Sonnenauf- und Sonnenuntergang im<br />
Ashram stattfanden. Hunderte Menschen aus dem Inund<br />
Ausland sangen Mantras und musizierten. Der<br />
Ashram mutierte zu einem großen „Klanghaus“. <strong>Die</strong>s<br />
scheinen verbindende, transkulturelle Erfahrungen zu<br />
sein, die gemeinsam in einem Tun eingebettet sind (vgl.<br />
Wenter 1996).<br />
Weitere Erlebnisse waren, von bettelnden Kindern<br />
umgeben zu sein oder die eigene Schwester fast durch<br />
die Türe des fahrenden Taxis zu verlieren. Affen, die<br />
Mangos aus den Zimmern stahlen, oder ein indisches<br />
Kind, dessen Schlangenbiss durch einen Schnelltransport<br />
mit unserem Buggy nicht tödlich endete, waren<br />
Impressionen anderer Qualität, als ich es von Strandurlauben<br />
kannte. Nicht zuletzt beeinflussten die Düfte<br />
von Blumengirlanden, Räucherstäbchen und exotischen<br />
Reisebericht – Indien<br />
73
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Speisen in Kombination mit Farben von Saris und Waren,<br />
die an Märkten oder Straßenecken verkauft wurden,<br />
meinen Eindruck vom „typisch Indischen“. Dadurch<br />
dass wir in einem Ashram lebten, nahm ich an<br />
Aktivitäten der südindischen Bevölkerung teil — und<br />
nicht an solchen, die für ErlebnisurlauberInnen inszeniert<br />
werden.<br />
Foto: Privatfoto K. Hammerle<br />
Was macht das Reisen mit einem selbst?<br />
Das Reisen verändert den Blick auf den europäischen<br />
Alltag, gibt zu denken und bereichert. Wenn ich in Wien<br />
unterwegs bin, erscheint manches vertraut. <strong>Die</strong><br />
Erlebnisse aus Indien schalten sich oft in die<br />
Wahrnehmung und wirken wie ein Filter, der manches<br />
relativiert und die Distanz zu Menschen anderer<br />
Kulturen aufhebt. „Beim Zusammentreffen mit<br />
Fremdem und Vertrautem scheint sich letztlich oft das<br />
Vertraute durchzusetzen“, schreibt Ulf Hannerz<br />
(Hannerz 2007: 106). Doch die Reisen verändern den<br />
Blick sowohl auf Fremdes als auch auf Vertrautes. <strong>Die</strong><br />
Sicht auf die eigenen „Mitbürger“ ist anders geworden.<br />
Das Reisen und die dabei gemachten Erfahrungen sind<br />
ein Zwischenort, in dem ein Rückzug in Form von<br />
Erinnerungen möglich ist. Im weiteren Lebenslauf<br />
entsteht also durch die Reisen eine Distanz zur<br />
europäischen Kultur.<br />
Aus einem Interview mit Ferdinand Gundolf, dem Leiter<br />
der damaligen Reisegruppe, und den Mitreisenden<br />
Marie Luise Prantner und Magdalena Hammerle gehen<br />
in Bezug auf das Reisen als Kind folgende Punkte hervor:<br />
Laut Prantner wird die Anpassungsfähigkeit des Kindes<br />
gefördert, Vorurteile und Generalisierungen gegenüber<br />
anderen Kulturen passieren nicht so schnell. Magdalena<br />
Hammerle sagte: „Wenn du in Indien warst, bist du für<br />
den Rest deines Lebens geimpft.“ Auf genaueres<br />
Nachfragen erklärte sie sinngemäß: Wenn du als Kind<br />
mit Armut, anderen Hygienepraktiken, einer anderen<br />
74 Reisebericht – Indien<br />
Art menschlicher Bedürfnisse konfrontiert wirst, gehst<br />
du auch anders mit deiner Umgebung um. Nicht zuletzt<br />
steht für sie das Wissen um das Wesen im Menschen im<br />
Vordergrund und dessen Erkundung im Reisen.<br />
Vertrauen ist für sie ein Resultat des Reisens.<br />
Meines ist Beweglichkeit und Flexibilität im Leben.<br />
In diesen Erlebnissen und ihren Konsequenzen sehe ich<br />
auch meine Verbindung zur Kultur- und Sozialanthropologie<br />
und ihren Inhalten, die dazu beitragen, sich<br />
allgemein und vielseitig mit jeglicher Umgebung<br />
auseinander zu setzen. �<br />
Katharina Hammerle studiert seit 2003 am Institut für Kultur-<br />
und Sozialanthropologie. Ein Sohn. Interessensschwerpunkte<br />
im Bereich der Ethnomedizin, Generationen und Gebiete<br />
des osteuropäischen Raumes. Radioprojekt „Ethnowelle“.<br />
Literatur<br />
Althaus, Hans-Joachim. Auslandsleute. Westdeutsche Reiseerzählungen<br />
über Ostdeutschland. Tübingen, TVV-Verlag, 1996.<br />
Fendl, Elisabeth/Löffler, Klara. <strong>Die</strong> Reise im Zeitalter ihrer technischen<br />
Reproduzierbarkeit: zum Beispiel Diaabend. In: Cantauw-Groschek,<br />
Christiane (Hg.): Arbeit - Freizeit - Reisen. <strong>Die</strong> feinen Unterschiede<br />
im Alltag. Münster/New York, Waxmann, 1996, 55-68.<br />
Gingrich, André. Erkundungen. Themen der Ethnologischen<br />
Forschung. Wien, Köln, Weimar, Böhlau, 1999.<br />
Hannerz, Ulf. Das Lokale und das Globale: Kontinuität und Wandel.<br />
In: Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Ethnizität und Migration.<br />
Einführung in Wissenschaft und Arbeitsfelder. Berlin, Reimer, 2007,<br />
95-113.<br />
Köstlin, Konrad. Photographierte Erinnerung? Bemerkungen zur<br />
Erinnerung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. In:<br />
Brunold Biegler, Ursula/Bausinger, Hermann (Hg.): Hören - Sagen -<br />
Lesen - Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen<br />
Kultur. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. u. a., Lang, 1995, 395-410.<br />
Wenter, Gerlinde. ,fahren und er-fahren'. Pädagogische und<br />
Anthropologische Überlegungen zum Reisen. Innsbruck, 1996.<br />
(Univ. Diplomarbeit)<br />
Weiterführende Literatur<br />
Punnamparambil, Asok (Hg.). Im Schatten des Taj Mahal.<br />
Zeitgenössiche Erzählungen und Lyrik aus indischen<br />
Regionalsprachen. Bad Honnef, Horlemann, 2006.
Nyahbinghi<br />
Ein anthropologischer Ausflug in die Welt von<br />
Words, Sounds and Power<br />
von WERNER ZIPS<br />
Eine elementare Erfahrung von Rastafari<br />
Über die Herkunft des Begriffes<br />
Nyahbinghi existiert eine Vielzahl von<br />
Theorien. Rastafari übersetzen den<br />
Terminus mit Tod den schwarzen und<br />
weißen Unterdrückern und beziehen<br />
sich auf den Befreiungskampf von<br />
Haile Selassie I. gegen die<br />
Besatzungsarmee Mussolins in<br />
Äthiopien ab dem Jahr 1935.<br />
Nyahbinghi betrachten sie als<br />
Speerspitze der antikolonialen<br />
Befreiung. Nyahbinghi werden aber<br />
auch die Versammlungen von<br />
Rastafari genannt, die üblicherweise<br />
zwischen drei Tagen und drei Wochen<br />
dauern. Nyahbinghi chants besitzen<br />
einige Ähnlichkeit mit den Hymnen<br />
afrikanisch-christlicher<br />
Glaubensgemeinschaften und gelten<br />
als wichtigste Inspiration, sowohl<br />
musikalisch als auch textlich für Rasta<br />
Reggae.<br />
Foto: Werner Zips<br />
Es darf bezweifelt werden, dass sich selbst der inspirierteste,<br />
gehirnentzündete Ethno-Fantast jemals eine Konstruktion<br />
von Vorstellungen erträumen hätte können, die so<br />
merkwürdig und mächtig ist, wie jene von Rastafari – so etwa<br />
beginnt das Kapitel über die Brotherhood of Rastafari in Reggae<br />
Bloodlines, dem ersten Buchklassiker über die aus Jamaica<br />
stammende Musik und Kultur. <strong>Die</strong> Erinnerung an den Satz schießt mir<br />
durch den Kopf, als ich mich bei meinem ersten Nyahbinghi wieder<br />
finde, am erst fünften Tag meiner ersten Jamaika Reise. Angesichts<br />
dessen, was sich vor meinen Augen und in meiner structure (Körper)<br />
bei diesem Ereignis abspielt, nimmt sich das Zitat geradezu wie eine<br />
maßlose Untertreibung aus. Words können nur unvollkommen<br />
beschreiben, welche Energien (Fire) durch die Sounds and Power bei<br />
einem physischen Nyahbinghi frei gemacht werden. Selbst der<br />
heißeste Sizzla oder Capleton chant wirkt dagegen wie ein Streichholz<br />
neben einem ausbrechenden Vulkan. Auch heute noch, beinahe ein<br />
Vierteljahrhundert danach, fallen mir nur Superlative ein, um mein<br />
damaliges Empfinden zu beschreiben: es war das faszinierendste,<br />
mitreißendste, intensivste, aber auch bedrohlichste Erlebnis von<br />
kultureller Praxis, das ich bisher haben durfte – trust me!<br />
Zu einem Binghi kann man nicht einfach hingehen, wie zu einem<br />
Reggae Konzert. Dazu bedarf es einer ausdrücklichen und formellen<br />
Einladung des Nyahbinghi Hauses oder wenigstens des jeweiligen<br />
veranstaltenden Elders und seiner Idren. Ich hatte nur die vage Info<br />
eines Korallenschnitzers in Montego Bay.<br />
Doch Jah schickte mir einen kleinen Dread mit mächtigen locks unter<br />
einer abgetragenen Tam als conductor meines Minibuses. Many are<br />
called, but chosen are few – ich musste ihn einfach fragen, ob er<br />
irgendetwas von einem Binghi wusste. Schließlich war ich hier, um<br />
eine Forschung über Rasta zu machen. Einen 500 Meter Sprint später,<br />
auf den Fersen des kleinen Dread hinter einem abfahrenden Taxi<br />
hinterher, finde ich mich mit vier Dreadlocks Rastafari eingepfercht in<br />
einem alten Cortina. Mit den Worten: „De I ah trod to the Binghi? Tek<br />
dis yah man deh!“ hatte mich der conductor einfach ins Taxi gesetzt.<br />
Aus der Perspektive der Vier im Cortina schien Jah schlicht jemanden<br />
zur Begleichung der Taxi Rechnung geschickt zu haben.<br />
<strong>Die</strong> legendenumwobenen Bergketten des Inselinneren haben schon<br />
den Maroons in ihrem Kampf gegen die Sklavenhalter Unterschlupf<br />
geboten. Eine kleine rot/gold/grüne Flagge am Wegrand ist das erste<br />
Zeichen für Eingeweihte, dass wir auf dem richtigen Weg zum<br />
Wiener Institut – Feldforschung<br />
75
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Nyahbinghi ground sind. „Willst du da wirklich hin?“,<br />
fragt mich einer der Vier im Taxi. „You are going to a<br />
battlefield!“ Nicht gerade ermutigend.<br />
Schließlich bleibt das Taxi mit jaulendem Motor und<br />
rauchender Kupplung im Lehmboden hängen. „Babylon<br />
cyaan move forward again!“, lautet der trockene<br />
Kommentar eines der Mitfahrenden. Ich bezahle wie<br />
prophezeit die Rechnung und bekomme zum Dank zwei<br />
große Taschen in die Hand gedrückt. Der dumpfe Klang<br />
von Trommeln weist uns den Weg zum Nyahbinghi.<br />
Steven Spielberg hätte sich keine bessere Kulisse für<br />
einen Rasta-Film aussuchen können: Regenwald ringsum,<br />
aufsteigender Dampf von der dichten tropischen<br />
Vegetation im Dämmerlicht der untergehenden Sonne,<br />
Klangfetzen von Nyahbinghi-Kriegsliedern. Plötzlich<br />
steht er vor uns, wie aus dem Boden ge-wachsen.<br />
Barfüßig, dreadlocks bis über die Hüfte, nur mit einer<br />
roten Short bekleidet, eine Kalebasse auf dem Kopf:<br />
„Hotter Hot!“ schreit er zur Begrüßung. „Redder Red!“<br />
erwidern meine Begleiter offensichtlich adäquat im Vorbeigehen.<br />
Gemeint ist der apokalyptische Endkampf,<br />
dem nach dem Untergang Satans und der Mächte des<br />
Bösen im kosmischen Feuer des Armageddon die<br />
Vollendung des Gottesreiches folgt.<br />
Dazu sollen mir die passenden Bilder sogleich nachgeliefert<br />
werden. Wir erreichen den Ort der Groun(d)ation.<br />
Mein Blick fällt auf ein gemaltes Bild neben dem Eingang,<br />
das einen Reiter mit fliegenden dreadlocks hoch zu<br />
(Kampf)Ross darstellt, der eine Lanze durch die Brust<br />
des Papstes bohrt, der wie ein Drache Babylon in seinen<br />
Fängen hält. Darunter die Losung: „Kill the pope!“ Über<br />
dem Eingang ein Schild mit der Aufschrift: „Nyahbinghi<br />
means death to all black and white downpressors.“ „Rastafari!“,<br />
rufen meine Begleiter der königlichen Versammlung<br />
entgegen. „Selassie I! Fire bun!“, kommt es machtvoll<br />
zurück. Rund zweihundert Dreadlocks Rastafari,<br />
mehrheitlich Männer und Angehörige des Nyahbinghi<br />
Ordens, sind zur Feier des 92. Geburtstages von Haile<br />
Selassie zusammengekommen. Jetzt sind alle Augen auf<br />
uns gerichtet, genau genommen auf mich. Mit den beiden<br />
Taschen in der Hand wirke ich auf den (wichtigen)<br />
ersten Blick wie ein geladener Gast und nicht wie ein<br />
ungebetener Besuch. Trotzdem schlägt mir unverhohlenes<br />
Misstrauen entgegen. Ein freundliches Willkommen<br />
sieht anders aus. Nie zuvor haben mir Blicke allein meine<br />
Hautfarbe und Herkunft spürbarer vermittelt. Als ob es<br />
die Szenerie nicht ohnehin schon ausreichend in sich<br />
hätte. Eine Gruppe brethren mit dreads wie ich sie nie zuvor<br />
gesehen habe umringt eine Feuerstelle. Zwei Männer<br />
werfen einen ganzen Baumstamm in die meterhohen<br />
Flammen. „Fire!“ kommt es wie aus einem Munde. „Bun<br />
de wicked!" "<strong>Die</strong> Gottlosen mögen verbrennen!“<br />
76<br />
Wiener Institut – Feldforschung<br />
Mittlerweile haben mir meine Taxi brethren ihre Taschen<br />
abgenommen und mich einfach stehen gelassen. Mit<br />
ziemlich weichen Knien begebe ich mich zu einer<br />
Gruppe Elders. Zu einer Begrüßung komme ich gar<br />
nicht. Schon prasselt ein Stakkato an Fragen auf mich ein.<br />
Woher kommst du? Warum kommst du? Was suchst du<br />
hier? Are you a Babylon spy? CIA? Ein Spiel von<br />
Herausforderungen und Druck, das so gar nicht wie ein<br />
Spiel wirkt. Am Anfang weiß ich nicht genau, wie mir<br />
geschieht, aber mit Fortdauer der challenges erwacht mein<br />
Widerstandsgeist und ich beginne, den pressure des<br />
Fragen-Bombardements aus zu halten. So laut und<br />
energisch wie möglich erkläre ich meine Positionen zu<br />
Apartheid in Südafrika, zur Verschleppung aus Afrika,<br />
zur Versklavung im Namen des Kreuzes, zu US<br />
polit(r)ic(k)s und britischem (Neo)Kolonialismus.<br />
Es ist eine Art Feuerprobe. A check, if you can take the<br />
heat. Nur wenn du die Hitze wie Daniel in the Lion's Den<br />
weg steckst – „cast in the fire, never get burn“ – darfst du<br />
bleiben. Grounding heißt dieser Prozess, den jeder<br />
Mensch durchlaufen muss, der an einem Binghi teilnehmen<br />
will. Eine Form von „Erdung“ im Rasta Bewusstsein.<br />
Wer dieses Verfahren einmal erfolgreich bestanden<br />
hat, fürchtet sich vor keiner Prüfung mehr. Wer hingegen<br />
bei der kollektiven Konfrontation mit „Words, Sounds,<br />
and Power“ durchfällt, gilt als „burned out of the<br />
Nyahbinghi“. Das passiert auch Dreads, die mit ihren<br />
deutschen oder italienischen Negril-Liebhaberinnen und<br />
aufgesetztem Rasta chat bei einem Binghi antanzen, als<br />
wäre es eine beach party in Rick's Cafe. So schnell können<br />
sie gar nicht an ihrem Spliff ziehen, dass sie sich schon<br />
mit Schimpf und Schande (Blood and Fire) davongejagt<br />
auf ihrer Leih-Honda samt Sozia wiederfinden, um heim<br />
nach Negril (Babylon fe true) zu düsen.<br />
Rasta ist keine Religion, die einen Aufnahmeritus vorschreibt,<br />
den eine bestimmte Autorität zu vollziehen hat.<br />
Wer Rasta fühlt, denkt und handelt, ist Teil von I and I<br />
– Ich und Ich – Jah Rastafari. Jah manifestiert sich in<br />
jedem Ich, das diese Manifestation sucht und zulässt.<br />
Also kann es keinen Unterschied zwischen dem eigenen<br />
Ich und dem der Anderen geben. Alle übrigen Fürwörter<br />
sind für jene da, die nicht den spirit of Jah in sich tragen.<br />
Sie sind Babylon und haben bei einem Binghi nichts<br />
verloren. <strong>Die</strong> kollektive Aufnahme bei einem Binghi, der<br />
kommunikative Prozess, grounded zu werden, bedeutet<br />
die Anerkennung einer Gemeinsamkeit. Kein Rasta wird<br />
den Tag, den Ort und die Umstände seines/ihres Groundings<br />
vergessen. Nyahbinghi heißt spirituelle Kriegsführung<br />
gegen Babylon, ein Synonym für Ungerechtigkeit.<br />
Bei dieser philosophischen und kulturellen Praxis<br />
würde jeder Fremdkörper die vibrations stören und<br />
schwächen. Vibrations, die den Untergang Babylons,
jener Mächte, die seit alten Zeiten mit Unterdrückung<br />
und Aus-beutung herrschen, beschwören. „To chant<br />
down Babylon“, erst nach einem Binghi weiß man, was<br />
diese Formel wirklich meint.<br />
Endlich scheine ich bestanden zu haben. Einer der Elders<br />
beendet das Rasta Verhör mit einer Art Willkommensgruß:<br />
„Du kommst am richtigen Tag. Heute ist der<br />
23. Juli, der 92. Geburtstag seiner Imperialen Majestät<br />
Haile Selassie I. Er muss dich eingeladen haben. Sonst<br />
wärst du niemals bis hierher gekommen. Vielleicht bist<br />
du einer der 144.000 Auserwählten<br />
für den Berge Zion, die das<br />
Armageddon überleben werden.<br />
Rasta no partial. Hautfarbe und<br />
Herkunft haben damit nichts zu<br />
tun, nur dein Bewusstsein und dein<br />
Herz zählen am Judgement Day,<br />
dem Tag des jüngsten Gerichtes.<br />
Und glaube mir, längst nicht alle,<br />
die du hier mit ihrem dreadlocks<br />
Stolz siehst, werden dann noch<br />
dabei sein.“ „True, true, Bongo“,<br />
bestärkt ihn einer der Elders, und<br />
reicht mir ein Büschel der<br />
berühmten trockenen Pflanzen:<br />
„Das ist King's Bread, die Nahrung<br />
der Könige, it's good for your nerves“,<br />
lacht er. „It give the I the right<br />
Iditation fi chant down Babylon<br />
with I and I. Es macht Deinen<br />
Körper zum Tempel für Rastafari.<br />
Andere errichten prunkvolle<br />
Gebäude mit dem Schweiß und Blut der sufferers und<br />
nennen diese Gotteshäuser. Aber damit lästern sie Jah,<br />
denn Rastafari ist immer auf der Seite der Leidenden und<br />
Unterdrückten.“<br />
Jetzt bin ich nicht mehr am Wort. Alle, die mich vorher<br />
„interviewt“ haben, erteilen mir jetzt Geschichtsunterricht<br />
nach dem Rasta-Lehrplan. Zwanzig, dreißig<br />
brethren beteiligen sich daran, mir stellvertretend für alle<br />
Weißen, eine Lektion zu geben, die mit Columbus, dem<br />
verdammten, aufgeblasenen Lügner beginnt. Nicht, dass ich<br />
die Klage über die unmögliche Entdeckung der längst<br />
besiedelten „neuen“ Welt nicht schon bei Burning Spear<br />
gehört hätte, aber dieses kollektive Lehrstück von<br />
gerechtem Zorn schlägt doch alles mir bisher Bekannte<br />
und sogar Vorstellbare. Angeheizt vom Feuerwerk der<br />
Nyahbinghi Trommeln in der anbrechenden Dunkelheit<br />
und untermalt vom stundenlangen chant „fire, fire, fire<br />
bun!“, schleudern mir immer neue Nyahbinghi warriors<br />
ihre Verbitterung über die Verschleppung aus Afrika, die<br />
anhaltende Gefangenschaft in Babylon, die ungerechte<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
Verteilung des Wohlstands in der Welt, die Fremdbeherrschung<br />
der Massen durch eine kleine Minderheit<br />
und vor allem die doppelten Standards bei der Einhaltung<br />
von Menschenrechten und dem Gerede von der<br />
Demokratie ins Gesicht:<br />
„Europa hat im Auftrag Roms die Kinder Afrikas<br />
gestohlen und sie in Amerika zu Sklaven gemacht. <strong>Die</strong><br />
Reinkarnation des Satans, der Papst in Rom, segnete all<br />
die Piraten und Sklavenschiffe, um an Afrikas Gold<br />
heranzukommen und es in den Vatikan verschleppen zu<br />
können. Und die Queen, die königliche<br />
Hure Babylons, war seine<br />
Sekretärin. Bis heute dauert die<br />
Knechtschaft Afrikas und seiner<br />
versklavten Söhne und Töchter an.<br />
Commonwealth – gemeinsamer<br />
Wohlstand – nennen sie das. Was für<br />
eine Lüge. That's why I and I say:<br />
Nyahbinghi! Death to all black and<br />
white downpressors!“ Ohne<br />
Unterbrechung setzt ein Binghi-Idren<br />
fort, dessen dreadlocks wie eine<br />
Fußmatte zu einem dicken Haarteppich<br />
verfilzt sind, der ihm bis<br />
weit unter das Gesäß reicht: „Ihr<br />
redet immer über Demokratie, die<br />
ihr über die ganze Welt verbreiten<br />
wollt, solange ihr eure Lakaien als<br />
Herrscher einsetzen könnt. Volksherrschaft<br />
soll das sein, wenn du<br />
einmal alle vier, fünf Jahre zwischen<br />
zwei Diktatoren und ihren Parteigängern<br />
wählen kannst? Ich sage dir: Herrschaft über<br />
das Volk ist es. Das nennen wir Dämonkratie, satanische<br />
Herrschaft der Reichen und Mächtigen. Wir Nyahbinghi<br />
predigen die Theokratie, die einzige wahre Herrschaft<br />
des Volkes über sich selbst. Denn Jah ist in allen von uns<br />
gleichermaßen.“<br />
Langsam pendelt sich mein Adrenalin Spiegel auf sein<br />
normales Binghi Niveau ein und ich kann das tun, wozu<br />
ich hier bin: sehen, fühlen, erleben. Im Tabernakel, einer<br />
nach alle Seiten offenen Rundhütte mit einem Altar in<br />
der Mitte, auf dem Bilder von Haile Selassie stehen,<br />
umkreisen tanzende brethren die royal drummers. Ihre<br />
Hymnen preisen His Imperial Majesty und beschwören<br />
den Fall Babylons mit Formeln, die heute jeder Reggae<br />
Fan kennt: „Fire pon Rome! Fire fi di pope!“ Ein hagerer<br />
Elder stampft mit spindeldürren Beinen, die zur Hälfte<br />
aus einer rot gold grünen Robe herausstehen, auf den<br />
Boden, als gelte es, das Böse hier und jetzt zu zertrampeln.<br />
Seinen Stock lässt er im Takt Löcher ins<br />
malträtierte Gras bohren. Bei jedem symbolischen Stich<br />
Wiener Institut – Feldforschung<br />
77
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
ins Herz des Drachens beutelt er seine angegraute<br />
dreadlocks Löwenmähne. Seine bambusdicken, fast weißen<br />
Bart-dreadlocks reichen bis zum rot/schwarz/grünen<br />
Gürtel, der ihn als Marcus Garvey Anhänger ausweist.<br />
Chalices aus Kokosnüssen kreisen unentwegt zwischen<br />
den Tanzenden. Eine Gruppe Empresses and Princesses<br />
bildet die Queen Omega Congregation auf einer Seite des<br />
Tabernakels. Sie geben der Versammlung Würde, ohne<br />
auch nur einen Hauch Abstriche von der Militancy der<br />
brethren zu machen.<br />
Nyahbinghi ist wahrhaftig dreadful – mit der gleichen<br />
Bedeutungsvielfalt, die schon in Dread oder dreadlocks<br />
steckt. Viele Jahre später sollte es Mutabaruka, mittlerweile<br />
einer der (wort)führenden Elders in Rastafari<br />
folgendermaßen auf den Punkt bringen (in seinem Vortrag<br />
„Rasta from Experience“ bei der Karibiktagung im<br />
Jahr 2001 an der Universität Wien):<br />
„Viele Leute haben Angst, sich auf das Nyahbinghi<br />
einzulassen, weil sie realisieren, wenn sie in die Erfahrung<br />
von Nyahbinghi hineingehen, dann lassen sie sich<br />
auf einen Orden ein, einen Afrikanischen Orden, der<br />
zum Ziel hat, alle europäischen Kolonialisten aus Afrika<br />
zu verjagen. [..] All diese (wissenschaftlichen, Anm. d.<br />
Red.) Studien und die ganzen Berichte werden dich<br />
niemals lehren und verstehen lassen können, wer Ich bin.<br />
Du musst Ich selbst erfahren. Das ist der größte Lehrer,<br />
die Erfahrung von Ich ist der größte Lehrer. <strong>Die</strong><br />
Wissenschaftler können nur zu Papier bringen, was sie<br />
glauben, dass Ich bin. […] Im Ich und Ich ist eine Universalität,<br />
die transzendental ist, sobald wir mit der eigenen<br />
Erfahrung beginnen, anstatt darüber zu lesen. […] Du<br />
kannst mich töten, du kannst Muta töten, du kannst Tom<br />
und John töten, aber du kannst nicht Ich töten. Weil das<br />
Ich transzendiert. Ich ist nicht, was du glaubst, was Ich<br />
sein sollte. Ich bin, was Ich ist. Das Ich muss Ich eben so<br />
nehmen, wie Ich bin.“<br />
Nyahbinghi, verstanden als spiritueller Kampf gegen die<br />
Unterdrückung von Menschen durch Menschen, gehört<br />
zum Kern der Rasta Erfahrung. Einer Erfahrung, die nur<br />
im Ich und nicht durch Zuhören und Nachbeten zu<br />
machen ist.<br />
In diesem Sinn lässt die Rastafari Philosophie<br />
Universalität zu. Niemand muss in Jamaica geboren oder<br />
Nachkomme von versklavten AfrikanerInnen sein, um<br />
für sich (im Ich und Ich) die Ungerechtigkeit jeder<br />
illegitimen Herrschaft von Menschen über Menschen<br />
erfahren zu können. Darin liegt der universelle Ansatz<br />
von Rastafari, der es erlaubt jegliche Grenzen der<br />
Hautfarbe, Nation, Sprache, Geschlecht, Alter, Schicht<br />
usw. zu überwinden, obwohl der Ausgangspunkt von<br />
78<br />
Wiener Institut – Feldforschung<br />
Rastafari als soziale Bewegung in Afrika und der<br />
Afrikanischen Diaspora (vor allem Jamaika) liegt. Wenn<br />
das Ich bei einem Binghi mit den oben zitierten Words,<br />
Sounds, and Power konfrontiert wird, gibt es nur zwei<br />
Möglichkeiten: entweder die vibes treffen dich persönlich,<br />
dann wirst du von ihnen (spirituell) verbrannt und<br />
kannst es unmöglich aushalten, bei dem Binghi zu<br />
bleiben, oder das Ich spürt die positive vibration des<br />
Befreiungskampfes, aus dem die Worte kommen.<br />
<strong>Die</strong>se Botschaft habe ich auf dem Weg der Erfahrung von<br />
Ich und Ich schon von vielen Rastafari mit immer neuen<br />
Worten gehört, aber die Power der Worte kann nur die<br />
eigene Erfahrung vermitteln: who feels it, knows it. Dann<br />
erst können sich scheinbare Widersprüche auflösen, die<br />
im ersten Augenblick wie jenes Rätsel klingen mögen,<br />
das mir einer der Elders, Jah T, bei meinem ersten Binghi<br />
mit auf den weiteren Weg in Rastafari gab: „Du willst<br />
wissen, was Nyahbinghi eigentlich ist? Nyahbinghi ist<br />
ein alter Orden, den Seine Königliche Majestät, Haile<br />
Selassie, im Jahr 1936 als Kriegs-Orden gegen Mussolinis<br />
Truppen in Äthiopien verwendet hat. Nyahbinghi steht<br />
seit dem Anbeginn der Zeiten für: Tod den Schwarzen<br />
und Weißen Unterdrückern! Dafür schlagen wir die<br />
Nyahbinghi Trommeln. Denn diese Trommeln können<br />
töten. Damit töten wir die Unterdrücker. Nyahbinghi ist<br />
Krieg, aber die Waffe ist die Liebe. Denn nur die Liebe<br />
kann das Böse besiegen. Hass erzeugt nur immer neuen<br />
Hass. Rastafari! Peace and Love!“ �<br />
Werner Zips, geboren 1958 in Wien, ist außerordentlicher<br />
Professor am Institut für Ethnologie, Kultur- und<br />
Sozialanthropolgie der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte:<br />
Rechtsanthropologie, Historische Anthropologie,<br />
Afrika, Afrikanische Diaspora, Visuelle Anthropologie.<br />
Anm. d Red: <strong>Die</strong>ser Artikel gibt Auszüge aus einem<br />
Artikel von Werner Zips in "Riddim" 04/04 wieder.<br />
Den gesamten Text gibt es unter:<br />
http://www.riddim.de/feature.php?id=176<br />
Literatur<br />
Davis, Stephen und Simon, Peter. Brotherhood of Rastafari. Anchor<br />
Press/Doubleday. Wien,1977.<br />
Barretts, Leonard . The Rastafarians. Boston, 1977.<br />
Zips, Werner. Rastafari. Eine Kulturrevolution in der Afrikanischen<br />
Diaspora. In: Kremser, Manfred (Hg.): Ay BoBo. Afro-karibische<br />
Religionen. Teil 3: Rastafari. Wien, 1990.<br />
Zips, Werner. Rastafari - eine universelle Philosophie im 3.<br />
Jahrtausend. Wien, 2007.<br />
Siehe auch: Dokumentationen von Werner Zips: "Rastafari - Tod den<br />
Schwarzen und Weißen Unterdrückern" und<br />
"Mutabaruka - Rückkehr ins Mutterland"
Interview with Bambi Schieffelin, professor of anthropology<br />
at New York University<br />
von STEFANIE SEITELBERGER und SONJA HOFMAIR<br />
Different languages,<br />
different cultures<br />
Approaching anthropology through linguistics<br />
Professor Bambi Schieffelin is an<br />
expert on linguistic anthropology – a<br />
field of research that is hardly<br />
established in Europe. During her stay<br />
in Vienna this summer 2007 we took<br />
the opportunity to talk to her about<br />
linguistic anthropology and language<br />
socialization. She also gave us<br />
interesting insights into her current<br />
research on missionization and<br />
language change in Papua New<br />
Guinea.<br />
The Interview took place in context of<br />
the International Guest Lecture Series<br />
“Engaging With Linguistic<br />
<strong>Anthropology</strong> Today” of the ÖAW<br />
(Österreichische Akademie der<br />
Wissenschaften).<br />
In Austria linguistic anthropology is not a well-known subject. We only get<br />
to know it in the context of the four field approach. You are one of the leading<br />
experts in linguistic anthropology – so could you summarize how you would<br />
define linguistic anthropology?<br />
Linguistic anthropology is the study of language in context and<br />
focuses on how members of communities all over the world use<br />
language to accomplish many different things in social life. Speech<br />
practices and the ways in which people think about and use them are<br />
rich resources not only for speakers, but also for researchers.<br />
Linguistic anthropologists can’t easily imagine doing anthropology<br />
without looking at the ways in which language constructs realities.<br />
Linguistic anthropologists investigate language and speech practices<br />
with the same systematicity as social and cultural anthropologists<br />
investigate other symbolic systems, such as religion, social<br />
organisation, kinship, etc. Linguistic and cultural practices and<br />
ideologies are viewed as interrelated.<br />
How important is linguistic anthropology in context of the four field<br />
approach?<br />
All four fields are important to understanding how we are human<br />
– we are biological, we are social, we have a past as evidenced in the<br />
archaeological record, but we also use language and talk to create and<br />
sustain our social worlds. We talk about all these things too, we talk<br />
about our biology, we talk about our past, we talk about our social<br />
lives, and we talk about language.<br />
To what extent is it important to you that linguistic anthropology will also be<br />
established in Europe?<br />
Europe is well known for being multilingual and valuing linguistic<br />
diversity. Linguistic anthropology would complement perspectives<br />
from social anthropology for understanding the dynamics of a broad<br />
range of cultural and historical processes taking place across Europe<br />
today. It would also enrich the training of social anthropologists in<br />
Europe whether they are working in urban, rural, traditional or<br />
diaspora communities around the world. The founders of linguistic<br />
Wiener Institut<br />
79
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
anthropology, Franz Boas and Edward Sapir, both came<br />
to the United States from Germany and were multilingual.<br />
It is ironic that linguistic anthropology is part of<br />
anthropology in the United States because the prevailing<br />
ideology is that everyone should speak English, the<br />
„English-only-movement“ which is a limited view of<br />
communication, identity and society.<br />
What are your main interests in linguistic anthropology?<br />
I started studying language socialisation: The ways in<br />
which children are socialised to use language and<br />
socialised through the use of language. Elinor Ochs and I<br />
developed that research program together over many<br />
years and it is now established as an important field<br />
within linguistic anthropology. I am also interested in<br />
language and change: the ways in which both social and<br />
linguistic change are part of every society, whether such<br />
changes and transformations are due to larger types of<br />
changes like missionization and colonialization or<br />
change that takes place across the life cycle of persons.<br />
People are always learning languages and losing<br />
languages, and languages themselves are involved in<br />
how people construct and communicate their identities.<br />
And how did you get to anthropology and particularly to<br />
linguistic anthropology?<br />
In high school I was very interested in languages and was<br />
able to study French and Spanish. My undergraduate<br />
study started with comparative literature but then I<br />
discovered anthropology. By the time I started graduate<br />
school, I knew I wanted to do linguistic anthropology. It<br />
allowed me to combine my interest in language and<br />
culture, focusing on real peoples’ lives.<br />
You already told us what you are interested in the context of<br />
linguistic anthropology – but what was the most important<br />
thing for you?<br />
I think my most important contributions have been based<br />
on my work in Bosavi, Papua New Guinea, initially<br />
looking at the ways in which children acquire the<br />
linguistic and cultural practices of their community. It<br />
was the first ethnographic investigation of a nonwritten<br />
language, one that had a very different structure than<br />
English or other European languages. The research<br />
challenged many expectations that people had not only<br />
about how children learn but also what they learn. My<br />
second project investigating the introduction of literacy<br />
in this society builds on the earlier research.<br />
80 Wiener Institut<br />
You prepared a Bosavi-English dictionary – can you tell us a<br />
little bit about that?<br />
The Bosavi-English-Tok Pisin dictionary that I put<br />
together was a long term project, done collaboratively<br />
with Steven Feld, my research partner, and several local<br />
consultants. When I asked people, „What would you like<br />
me to give back to you?“, they said they wanted a<br />
dictionary. First we were doing it just in the Bosavi<br />
language because the people said this would be helpful.<br />
In the 1990s people said it would be helpful to have an<br />
English part as well, because they were beginning to<br />
imagine a future where their children could go to school.<br />
We added the English to the Bosavi and Tok Pisin, so it<br />
was in three languages. It was our gift to the community<br />
– the Australian National University published it, and we<br />
gave it to the communities as a gift.<br />
How long did it take you to finish it?<br />
I started working on it in the 1970s and we presented it to<br />
the community in 1998. It took a long time but we<br />
learned a lot doing the dictionary. We used it to<br />
document the sources of new words that came into the<br />
language, for example, how do people acquired words<br />
for introduced things such as „lamp“ or „fishhook“,<br />
things, they did have before. We also tracked the new<br />
concepts as well as those that were lost. So the dictionary<br />
also traces Bosavi people’s contact with others’ ideas,<br />
people and things.<br />
About your field research: We saw that you carried out research<br />
in Papua-New Guinea and especially with the Kaluli.<br />
The Kaluli are one of the four groups that call themselves<br />
Bosavi people. There are approximately 2000 Bosavi<br />
people. There are four dialects of the Bosavi language,<br />
Kaluli is one of them. But for the dictionary, because of<br />
the way that people identified themselves, we called it<br />
Bosavi.<br />
And why did you choose the Bosavi?<br />
I went there first in 1967 because I had married an<br />
anthropologist who was doing his fieldwork there and so<br />
I spent the first 14 months of our marriage on that trip<br />
with him. I did a lot of photography during the first trip,<br />
and also worked on learning the language. When I<br />
started my own PhD study, I decided to go back, which I<br />
did, several times. I had already made many efforts in<br />
learning the language – and it was not an easy language
and there were a lot of interesting research questions.<br />
Bosavi people were very welcoming and they were really<br />
wonderful people to interact with. 1998 was my last trip,<br />
when I went there to bring the dictionary.<br />
Could you tell us something about your new book project „New<br />
Words, New Worlds“?<br />
I have another book that was published by Oxford<br />
University Press in September, so I want to say a little bit<br />
about that one first: It is called „Consequences of contact:<br />
Language ideologies and sociocultural transformations<br />
in Pacific societies“. It’s an edited collection that deals<br />
with the impact of colonization and missionization on<br />
language and culture. I am very excited about it because<br />
it is the first volume to explore different outcomes of<br />
contact.<br />
My new book project examines the ways in which<br />
missionization has reorganised and transformed the<br />
ways in which the Bosavi people think about language,<br />
think about themselves, think about the place where they<br />
live. It also addresses the role of translation in social and<br />
linguistic change. It’s about the ways in which Bosavi<br />
people tried to understand Christianity from its<br />
introduction in the early 1970s through the 1990s.<br />
How did the missionaries change things and how did you<br />
perceive the whole community?<br />
There where many traditional practices that people<br />
simply stopped, for example performing major<br />
ceremonies that took place around marriage.<br />
Missionaries also changed living arrangements. People<br />
lived in communal long houses, and the missionaries<br />
thought this was primitive and encouraged people to live<br />
in single family houses. They wanted people to stay in<br />
the village and go to church several times a week. They<br />
discouraged hunting in the bush, and long stays at<br />
garden houses. The missionaries wanted to domesticate<br />
the Bosavi people according to their own ideas of<br />
domestication. They thought the Bosavi people lived in<br />
the Stone Age and they wanted to bring them into a<br />
western, Christian world.<br />
Do you know how they feel today about the missionaries?<br />
The missionaries left in 1990. They had introduced an<br />
elementary school, medical clinic, and a store, in addition<br />
to Bible study. But the missionaries didn’t teach people<br />
how to do anything for themselves, so when they left<br />
people were frustrated. They had a glimpse of change,<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
but they could not run the school or clinic themselves.<br />
You have been visiting Vienna in 2001 – how did you<br />
experience Vienna and the institute?<br />
I think I was one of the first scholars to give talks in<br />
linguistic anthropology. Most people were not familiar<br />
with it – but I think most people now know more about<br />
this part of anthropology. Professor Gingrich is very<br />
supportive of linguistic anthropology. I think there is<br />
more interest, which is good.<br />
We are now at the seminar of Professor Gingrich about<br />
linguistic anthropology. What do you think about the<br />
presentations?<br />
Well, I am very impressed with the seriousness of the<br />
students. They did the work and engaged with the ideas.<br />
It is a really exiting and good form of cross-disciplinary<br />
contact. It is also intercultural, as well as crosslinguistic. I<br />
have learned a great deal. For me learning is always an<br />
exchange: If I don’t have students I can learn from,<br />
teaching is boring. That’s why many of us do this.<br />
Leaning from students helps to keep you excited, it’s 50<br />
percent of the game. People in the seminar really did a<br />
great job, took it very seriously, and worked very hard. I<br />
hope this is seminar will be repeated again.<br />
Thank you very much for your time and the interview.<br />
Thank you and good luck with your own research. �<br />
Wiener Institut<br />
81
82<br />
Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit visuellen Codes, Zeichensystemen und<br />
unterschiedlichen Sinngebungen – ein kontroversieller Beitrag<br />
von CHRISTIAN F. FEEST<br />
Mit der Sonderausstellung Benin:<br />
Könige und Rituale. Höfische Kunst aus<br />
Nigeria hat das wegen einer<br />
überfälligen Generalsanierung seit<br />
März 2004 geschlossene Museum für<br />
Völkerkunde Wien am Heldenplatz<br />
wieder ein nach außen hin sichtbares<br />
Lebenszeichen von sich gegeben. <strong>Die</strong><br />
von Dr. Barbara Plankensteiner<br />
kuratierte Ausstellung kann ohne<br />
Übertreibung als die größte Schau zur<br />
Kunst, Kultur und Geschichte Benins<br />
bezeichnet werden, die jemals aus den<br />
in aller Welt verstreuten Bronzen und<br />
Elfenbeinarbeiten zusammengetragen<br />
wurde.<br />
Foto: Christian Feest<br />
Reichsapfel, Königtum Benin,<br />
Nigeria, 16./17. Jh.<br />
Museum für Völkerkunde Wien<br />
(Slg. W.D. Webster)<br />
Wiener Institut – Völkerkunde Museum<br />
Museum für<br />
Völkerkunde Neu<br />
Benin am Beginn, Fortsetzung folgt<br />
<strong>Die</strong> Diaspora dieser Gegenstände, die zugleich den Weltruhm<br />
Benins begründete, erfolgte 1897, als im Rahmen einer<br />
militärischen Strafexpedition der Briten, mit der die Tötung<br />
einer britischen Delegation gesühnt werden sollte, der<br />
Königspalast von Benin geplündert und die Kriegsbeute als<br />
Reparation nach England gebracht wurde. Andere Teile des<br />
Palastinventars, das teils dynastischen und rituellen Zwecken gedient<br />
hatte, teils bereits als „historisches Archiv“ abgelegt worden war,<br />
gelangten über Händler an der Küste Nigerias auf den europäischen<br />
Kunstmarkt. So tragisch diese Episode der Kolonialgeschichte aus<br />
heutiger Sicht ist, steht sie doch zugleich am Beginn höchster<br />
Wertschätzung für afrikanische Kunst im Westen und dient als<br />
Illustration für die wechselnden und widersprüchlichen Sinnzuschreibungen,<br />
die „leblosen“ Objekten eine wechselvolle Lebensgeschichte<br />
bescheren. Auch wenn die metallenen Platten, Köpfe und<br />
Figuren von, in einer langen Tradition ihres Metiers stehenden<br />
Meistern geschaffen worden waren, war in Benin ihr ästhetischer<br />
Gehalt nur ein untrennbarer Teil kultureller Praktiken zur<br />
Glorifizierung der Herrschaft der Könige. In ihrer Fülle spiegeln die<br />
Werke auch den Reichtum wider, den Benin aus seiner strategischen<br />
Stellung im Handel bezogen hatte – ein Beispiel dafür, wie rasch aus<br />
Gewinnern des Kulturkontakts Verlierer werden konnten.<br />
In Europa spielte bei der „Entdeckung“ der Benin-Kunst der aus<br />
Österreich stammende Direktor des Berliner Museums für Völkerkunde,<br />
Felix von Luschan, eine wichtige Rolle, der für sein Museum eine<br />
bedeutende Sammlung zusammentrug. In Wien gelang es dem<br />
Direktor der anthropologisch-ethnographischen Abteilung des<br />
Naturhistorischen Museums (dem Vorläufer des Museums für<br />
Völkerkunde), Franz Heger, einen Mäzen dazu zu bewegen, ebenfalls<br />
eine große Benin-Sammlung für das Museum zu kaufen. Während in<br />
den ethnologischen Museen die Transformation von Kultgegenständen<br />
in Kunstwerke im Gange war, wurde in der britischen<br />
Kolonie Nigeria das Königtum Benin als Mittel der indirekten<br />
Herrschaft wieder errichtet, dessen Repräsentanten bis heute den<br />
Verlust von 1897 nicht verschmerzt haben. Gegen Ende der<br />
Kolonialzeit begannen nigerianische Museen mit dem Rückkauf von<br />
Benin-Werken (damals noch relativ preisgünstig) – nicht für die
Könige von Benin, sondern als Teil des historischen Erbes<br />
der Kolonie. Mit der Unabhängigkeit Nigerias begannen<br />
die Forderungen des Nationalstaats nach Rückstellung<br />
des „nationalen Erbes“ (unterstützt durch Resolutionen<br />
der UNESCO, teilweise unter Leitung eines nigerianischen<br />
Generalsekretärs). Heute stehen sich die<br />
Forderungen des Königshauses und jene Nigerias, mit<br />
jeweils anderer Zielsetzung bezüglich einer weiteren<br />
Verwendung, gegenüber und stoßen gemeinsam auf die<br />
Ablehnung der westlichen Museen.<br />
Foto: Christian Feest<br />
Gedenkkopf eines Königs, Königtum Benin,<br />
Nigeria, 19. Jh.<br />
Museum für Völkerkunde Wien (Slg. W.D.<br />
Webster)<br />
Bei aller Sympathie für beide Forderungen muss man<br />
jedoch die von der Geschichte geschaffenen Tatsachen<br />
anerkennen, die trotz aller damit verbundenen Schmerzen<br />
letztlich nicht umkehrbar sind. Ebenso wenig wie die<br />
Erfindung der Atombombe, lässt sich die Eroberung<br />
Amerikas rückgängig machen, und wenn die Kriegsbeute<br />
von 1897 zurück nach Afrika ginge, müssten wohl<br />
auch die Schweden die im Dreißigjährigen Krieg aus der<br />
Prager Burg verschleppten Kunstschätze reumütig<br />
zurückgeben.<br />
<strong>Die</strong> Anerkennung historischer Fakten bedeutet aber noch<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
nicht, dass man nicht nach Wegen suchen sollte, um mit<br />
den bis in die Gegenwart wirkenden Folgen angemessen<br />
umzugehen. In dieser Hinsicht stellt die Wiener<br />
Ausstellung auch ein wichtiges Signal dar, da an ihrer<br />
Vorbereitung alle an dem historischen Geschehen<br />
Beteiligten mitgewirkt haben: das British Museum als<br />
Institution der ehemaligen Kolonialherren, der Nationalstaat<br />
Nigeria, und die königliche Familie von Benin<br />
haben Leihgaben beigesteuert; Vertreter Benins und<br />
Nigerias wirkten bei einem Symposium im Anschluss an<br />
die Eröffnung mit und setzten damit einen wichtigen<br />
Schritt der Vertrauensbildung, die für die Anerkennung<br />
der gemeinsamen Verantwortung für die Werke Benins<br />
notwendig ist. So kann möglicherweise ein Prozess in<br />
Gang gesetzt werden, an dessen Ende gemeinsam<br />
entwickelte Alternativen zu dem entweder/oder von<br />
Rückstellung und ihrer Verweigerung stehen könnten.<br />
Immerhin nahmen die Vertreter Benins lobend zur<br />
Kenntnis, dass die Schätze aus ihrem Königspalast vor<br />
allem auch in ihrer ursprünglichen Bedeutung als<br />
Ritualgegenstände und nicht nur als Kunstwerke gezeigt<br />
wurden. Denn ungeachtet der Empfindungen der jeweiligen<br />
Betrachter, ist es auch eine historische Tatsache,<br />
dass diese Dinge nicht nur entweder Ritualgegenstände,<br />
nationales Erbe oder Werke der Weltkunst sind, sondern<br />
all dies zur gleichen Zeit. Globale Koexistenz funktioniert<br />
nur auf dem wechselseitigen Respekt vor den<br />
unterschiedlichen Sinngebungen, die man Dingen und<br />
Handlungen zuschreibt.<br />
Und damit sind wir schon beim Thema „Fortsetzung<br />
folgt“. Der baulichen Sanierung des Corps de Logis der<br />
Neuen Burg folgt nun die inhaltliche Sanierung des<br />
Museums für Völkerkunde. <strong>Die</strong> Benin-Ausstellung war<br />
nur ein Vorschuss auf ein Programm kleinerer und<br />
größerer Sonderausstellungen und schließlich auf die<br />
Neugestaltung der Schausammlung, an der seit der<br />
Schließung des Museums gearbeitet wird und die ab<br />
2008 verwirklicht werden soll. Seit Gründung des<br />
Museums im Jahr 1928 hat sich die Welt rasant verändert.<br />
Mobilität und Kommunikation hat die Welt deutlich<br />
kleiner werden lassen, auf den Inseln der Südsee oder<br />
Karibik, von denen man früher in Anfällen von<br />
Zivilisationsflucht nur träumen konnte, fliegt man heute<br />
auf Urlaub. <strong>Die</strong> großen Migrationsströme der letzten<br />
Jahrzehnte haben die Grenzen zwischen „uns“ und „den<br />
Anderen“ mitten in die eigene Gesellschaft verlegt.<br />
Niemals war es wichtige, die Gründe für die kulturelle<br />
Vielfalt der Menschheit und ihre Bedeutung für das<br />
Überleben der Welt zu verstehen. Museen als Sammlungen<br />
von Dokumenten dieser kulturellen Vielfalt sind<br />
Orte der Bewahrung notwendigerweise der Vergangenheit<br />
verpflichtet, sie richten sich aber an ein Publikum<br />
der Gegenwart, für das die Vergangenheit (auch die<br />
Wiener Institut – Völkerkunde Museum<br />
83
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> – Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />
eigene) oft unverständlicher und „fremder“ ist als die<br />
Lebensentwürfe anderer Kulturen. Zugleich müssen sie<br />
dem Betrachter die Geschichtlichkeit des Dargestellten<br />
deutlich machen, Kultur als anhaltenden Prozess und<br />
nicht als statisches Produkt zeigen. Sie müssen den Blick<br />
für die Tatsache öffnen, dass menschliche Gesellschaften<br />
auf Dauer niemals Inselcharakter hatten, sondern stets<br />
im Austausch mit ihren Nachbarn standen.<br />
Neben dem weiterhin wichtigen Ziel der Erklärung des<br />
Lokalen muss in ethnologischen Museen unserer Zeit<br />
verstärkt der Kulturvergleich treten, die Auslotung der<br />
Bandbreite der kulturellen Artikulation des Menschen<br />
– die Vielfalt in der Einheit – deren Untersuchung einen<br />
wichtigen Traditionsstrang unserer Wissenschaft<br />
darstellt. Ethnologische Museen sollten sich aber auch<br />
der Möglichkeiten und Beschränkungen bewusst sein,<br />
die aus der Materialität ihrer Bestände, ihrer Entfremdung<br />
aus sinnstiftenden Lebenszusammenhängen, und<br />
(siehe Benin) ihrer Veränderung durch Einbettung in<br />
unsere eigene Kultur entstehen und – anstatt sie zu<br />
kaschieren – selbst zum Thema der Betrachtung zu machen.<br />
Aus historischen Gründen haben die ethnologischen<br />
Museen ein wenig den Anschluss an die<br />
Entwicklungen des eigenen Fachs verloren. Aber sie<br />
haben auch die Chance, ihre allzu selten als Quelle der<br />
Erkenntnis genutzten Bestände für<br />
die Weiterentwicklung einer etwas allzu mentalistisch<br />
und präsentistisch gewordenen akademischen Disziplin<br />
einzubringen. „Museum neu“ bedeutet also auch einen<br />
größeren Stellenwert für die Forschung, ohne die es<br />
niemals spannende Ausstellungen geben wird.<br />
Demnächst in diesem Museum … �<br />
Christian Feest ist Direktor des Museums für Völkerkunde<br />
Wien und unterrichtet Kultur- und Sozialanthropologie an<br />
der Universität Wien.<br />
84<br />
Wiener Institut – Völkerkunde Museum<br />
Foto: Christian Feest<br />
Reliefplatte: Portugiese mit fünf Manillas<br />
Königtum Benin, Nigeria, 16./17. Jh.<br />
Museum für Völkerkunde Wien (Slg. A.<br />
Maschmann)
Studentisches Engagement –<br />
IG und STV: Was ist das?<br />
Bei den Hochschülerschaftswahlen 2007 (22. - 24. Mai)<br />
wurde die neue Studienvertretung Kultur- und<br />
Sozialanthropologie gewählt. Seit Anfang Juli arbeitet<br />
die STV also in neuer Besetzung: Eine Gelegenheit sie<br />
gemeinsam mit der Institutsgruppe vorzustellen.<br />
<strong>Die</strong> Studienvertretung (STV)<br />
<strong>Die</strong> STV der Kultur- und Sozialanthropologie ist die<br />
Interessenvertretung der Studierenden. Als solche<br />
beeinflusst sie die Institutspolitik u.a. durch die<br />
Teilnahme von Vertreter/innen in Gremien wie den<br />
Arbeitsgruppen für Curricula oder der Studienkonferenz<br />
(Stukon). <strong>Die</strong> Studienvertreter/innen sind<br />
gleichzeitig auch Mitglieder der Institutsgruppe (IG). In<br />
diesem Rahmen organisieren sie die Inskriptionsberatung,<br />
die Erstsemestrigentutorien und die während<br />
der Semester stattfindenden Journaldienste (Studienberatungen).<br />
Darüber hinaus leistet die STV finanzielle<br />
Unterstützung bei verschiedenen Projekten (wie etwa<br />
das Radioprojekt „Ethnowelle“ oder die Zeitschrift „<strong>Die</strong><br />
<strong>Maske</strong>“) und organisiert Seminare, Veranstaltungen und<br />
Hörerinnen- und Hörerversammlungen.<br />
<strong>Die</strong> neue Studienvertretung KSA sind Verena<br />
Rechberger (Vorsitzende), Sandra Martinz (1.Stellvertreterin),<br />
Christiane Dajeng (2.Stellvertreterin),<br />
Valerie Linner, Florian Hahn<br />
<strong>Die</strong> Institutsgruppe (IG)<br />
<strong>Die</strong> Institutsgruppe der Kultur-und Sozialanthropologie und die darin aktive und neu<br />
gewählte Studienvertretung stellen sich vor<br />
Wie vielen der Basisgruppen (bagru) und Institutsgruppen<br />
(IG) ist es der Institutsgruppe Kultur- und<br />
Sozialanthropologie wichtig, unabhängig zu sein und<br />
eigene Standpunkte zu formulieren. In der IG-KSA<br />
werden Begriffe wie „unabhängig“, „links“, „undogmatisch?“,<br />
„emanzipatorisch“, „basisdemokratisch„<br />
immer wieder explizit diskutiert oder sind zumindest oft<br />
implizit der Ausgangspunkt für das tägliche Engagement<br />
am und übers Institut hinaus. Durch ihre<br />
wöchentlichen Plena unterstützt die IG die Studienvertretung,<br />
einerseits bei der Entscheidungsfindung im<br />
Rahmen der studentischen Vertretung am Institut und<br />
andererseits bei der Durchführung von diversen<br />
Projekten. Neben studiumsergänzenden Aktivitäten<br />
bietet die IG auch einen guten Rahmen für<br />
bildungspolitische, aber auch außeruniversitäre Belange.<br />
<strong>Die</strong> IG verändert sich ständig, abhängig davon, wer<br />
gerade aktiv in, um und an ihr mitarbeitet. Mach dir also<br />
am besten selbst ein Bild von der IG und deiner STV und<br />
komm zu einem der wöchentlichen IG-Plena (jeden<br />
Donnerstag um 20:00 Uhr im STV-Kammerl, Zimmer C<br />
419, NIG 4. Stock). �<br />
Aus aktuellem Anlass:<br />
Linksammlung<br />
STV-Homepage:<br />
http://www.univie.ac.at/stv-ksa/<br />
Ethnomitschriften:<br />
http://www.ethnomitschriften.at/<br />
Studierendenforum:<br />
http://www.univie.ac.at/stv-ksa/forum/<br />
Kontakt: stv.ksa@univie.ac.at<br />
von der IG-KSA<br />
Wir möchten einen „Studienleitfaden<br />
für das neue Bachelorstudium“<br />
entwerfen. Dafür würden wir uns<br />
besonders über die Mitarbeit von<br />
Erstsemestrigen freuen, da u. a. eure<br />
Fragen Ausgangspunkt für diesen<br />
Leitfaden sein sollen. Wer Erfahrungen<br />
im studienrechlichen und/oder redaktionellen<br />
Bereich sammeln möchte,<br />
melde sich bitte unter:<br />
stv.ksa@univie.ac.at.<br />
Wiener Institut<br />
85
Renate Fiala – Ein Porträt<br />
Wer in Wien KulturundSozialanthropologie<br />
studiert, kommt sehr<br />
schnell mit Renate Fiala in<br />
Kontakt. Sie betreut u.a.<br />
das von ihr selbst programmierteVictoria-Anmeldesystem<br />
und ist somit auch<br />
die erste Anlaufstelle für<br />
Kummer und Frust derer,<br />
die keinen Platz in der<br />
gewünschten LV erhalten<br />
haben. Renate Fiala steht<br />
aber auch denjenigen<br />
StudentInnen mit Rat und Tat zur Seite, die sich bei<br />
Anträgen und Bestätigungen verschiedenster Art an sie<br />
wenden. Was allerdings die wenigsten vermuten, ist,<br />
dass sich hinter der ganzen Energie und Lebensfreude<br />
eine Mathematikerin, Programmiererin und Ethnologin<br />
verbirgt …<br />
Fragt sich nur: Wie kommt eine Mathematikerin ans<br />
Institut für KSA? „Schuld sind die Sami!“ Zumindest im<br />
Fall von Renate Fiala, die sich nach frustrierenden<br />
Erfahrungen als Mathematik-Lehrerin an einer Maturaschule<br />
für den einzigen Erasmus-Studienplatz im<br />
Diplomstudium Mathematik beworben und diesen auch<br />
bekommen hat. So kam es, dass sie ein Jahr im<br />
schwedischen Luleå verbrachte, das nur 80 km südlich<br />
des Polarkreises liegt. Wie vielen AustauschstudentInnen<br />
ist ihr das Zurückkommen sehr schwer<br />
gefallen, doch Renate Fiala wollte ihr Mathematik-<br />
Studium beenden, was ihr in Schweden nicht möglich<br />
gewesen wäre.<br />
Angeregt durch ihre Erfahrungen mit den Sami wollte<br />
sie sich nun auch in Wien intensiver mit deren Kultur<br />
und Lebensweise beschäftigen und beschloss deshalb<br />
kurzerhand, zusätzlich zur Mathematik, die Fächerkombination<br />
Skandinavistik und Ethnologie zu belegen.<br />
Nach acht Semestern KSA hätte eigentlich nur mehr die<br />
Diplomarbeit für den Abschluss gefehlt, doch es kam<br />
wieder einmal anders als geplant: Nachdem sie ihr<br />
Organisationstalent bei der EASA-Konferenz unter<br />
Beweis gestellt hatte, folgten gleich weitere universitäre<br />
Projekte, in die sie vor allem auch ihre langjährige<br />
Erfahrung mit Datenbanken einbringen konnte. Seit<br />
2004 ist Renate Fiala nun Angestellte an der KSA – ein<br />
86<br />
Von der Mathematik zur KSA<br />
SPL-Support am Institut<br />
von EVELINE ROCHA-TORREZ<br />
Wiener Institut<br />
Job, der ihr sichtlich viel Freude bereitet. Deshalb hat sie<br />
es mit der Diplomarbeit auch nicht so eilig. <strong>Die</strong> könnte<br />
sie zwar gut über den Bereich der Organisationsentwicklung<br />
schreiben, den sie ja am Institut selbst aktiv<br />
mitgestaltet, aber „wenn, dann muss die Diplomarbeit<br />
schon zu den Sami sein!“. Das Programmieren der ersten<br />
Ausgabe von Victoria hat über ein Jahr in Anspruch<br />
genommen und die Umstellung auf das Bakkalaureat<br />
bringt natürlich seit Monaten jede Menge Arbeit, die<br />
noch lange nicht zu Ende ist. <strong>Die</strong> Lehrenden müssen<br />
auch organisatorisch versorgt werden; ein Bereich, den<br />
sich Renate Fiala mit dem Sekretariat und einer<br />
Studienassistentin teilt.<br />
Fragt man Renate Fiala danach, was ihr den Kontakt mit<br />
den Studierenden am meisten vergällt, dann kommt die<br />
Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Dass sie nicht<br />
lesen können!“ Naja, lesen können sie zwar, aber sie<br />
tun´s wohl sehr oft nicht. Da hilft es auch nicht, wenn<br />
man die Dinge auf die Homepage stellt, auf Infoblätter<br />
schreibt … Was Frau Fiala auch stört, sind StudentInnen,<br />
die nur so lange auf Biegen und Brechen ein Seminar<br />
besuchen wollen, solange sie glauben, dass es eine<br />
Pflicht-LV sei. Leute, die nicht einmal einen Blick ins<br />
Vorlesungsverzeichnis riskieren, bevor sie fragen<br />
kommen, sind auch eine Herausforderung der eigenen<br />
Geduld. <strong>Die</strong>se hat Renate Fiala zwar im Übermaß, aber<br />
wenn sich Leute absolut nur die Rosinen rauspicken<br />
wollen und so tun, als würde die Welt zusammenbrechen,<br />
wenn sie nicht ihre Lieblings-LV bekommen,<br />
dann kann auch sie einmal grantig werden. Dafür freut<br />
sich Renate Fiala aber auch sehr, wenn sie helfen kann<br />
und StudentInnen voller Begeisterung sind, weil sie<br />
doch noch einen der gewünschten Plätze bekommen<br />
haben. Auch Kleinigkeiten, die zeigen, dass die<br />
StudentInnen mitdenken, wenn sie nicht das halbe<br />
Institut mit ihren Anfragen beschäftigen, sondern nur<br />
diejenigen, welche die Angelegenheit wirklich betrifft,<br />
freuen sie.<br />
Bleibt nur zu hoffen, dass Renate Fiala noch lange am<br />
Wiener KSA-Institut bleibt. Denn: Lust hätte sie schon,<br />
wieder zu den Sami zu gehen. Allerdings: „Wenn ich das<br />
mach, dann bleib ich dort. So ein hin und her wär nichts<br />
für mich …“ �
Von der Schublade<br />
ins Internet<br />
Der Verein textfeld (vormals mnemopol) setzt sich für<br />
mehr Online-Publikationen an österreichischen<br />
Universitäten ein und beginnt bei den ForscherInnen<br />
von morgen: bei den Studierenden.<br />
Es war im Frühjahr 2001, als vier Studierende der<br />
Universität Wien eine Idee hatten: Uni-Arbeiten sind zu<br />
schade, um nach deren Abgabe in diversen Schubladen<br />
zu verschwinden; Immerhin werden jedes Semester<br />
unzählige Arbeitsstunden ins Recherchieren und<br />
Schreiben investiert. Vielmehr sollte das relativ neue<br />
Medium Internet dazu benutzt werden, um diese Texte<br />
einfach und kostengünstig zu veröffentlichen, ohne die<br />
Hindernisse des Print-Publikationssystems.<br />
Aufbau<br />
textfeld ermöglicht es jungen ForscherInnen von der Seminararbeit bis zur Dissertation ihre<br />
Arbeiten publik zu machen.<br />
Im Herbst 2001 ging schließlich die Webpräsenz<br />
mnemopol.net online, die Vorgängerin von textfeld.ac.at.<br />
Dem nicht-kommerziellen Grundgedanken entsprechend,<br />
sollten Publikation und Download für die BenutzerInnen<br />
kostenlos sein. Methode der Wahl war eine<br />
Online-Datenbank mit kopiergeschützten PDF-Dateien.<br />
Dank der Kooperationen mit der Bundes-ÖH,<br />
science.orf.at und derStandard.at/wissenschaft erfuhren nun<br />
immer mehr Studierende von dem Projekt und steuerten<br />
ihre Seminar- und Diplomarbeiten bei.<br />
So erfreulich diese Entwicklungen waren, so wenig<br />
passierte auf der materiellen Seite. Ein weiterer Ausbau<br />
war aber ohne finanzielle Unterstützung nicht zu<br />
machen. Auch das Zeitbudget der ehrenamtlichen<br />
MitarbeiterInnen war begrenzt, schließlich musste das<br />
Studium vorangetrieben und finanziert werden. So<br />
fristete die Website noch einige Jahre ihr Dasein auf<br />
Sparflamme. Umso überraschender kam es dann, als im<br />
November 2006 die Fördergelder für den Relaunch vom<br />
damaligen Ministerium für Bildung, Wissenschaft und<br />
Kultur (BMBWK) genehmigt wurden. Jetzt waren die<br />
finanziellen Mittel da, um die Website technisch auf den<br />
neuesten Stand zu bringen und sie auch bekannter zu<br />
machen. Das damals dreiköpfige Team erstellte das<br />
Konzept während für die Ausführung ein<br />
Datenbankprofi und eine Grafikerin unter Vertrag<br />
genommen wurden. Nach Monaten der Entwicklungs-<br />
arbeit (neben Studium oder eigentlichem Broterwerb)<br />
konnte die neue Website im Sommer 2007 der<br />
Öffentlichkeit präsentiert werden. Sie bekam auch einen<br />
neuen handlicheren Namen verpasst: textfeld.<br />
Das Prinzip des kostenlosen PDF-Archivs wurde<br />
weitergeführt, aber im Gegensatz zu mnemopol.net sind<br />
auf textfeld.ac.at nun alle Fachrichtungen und alle<br />
Universitäten Österreichs in der Datenbank vertreten.<br />
Verbessert wurden zudem die Möglichkeiten zur<br />
Selbstpräsentation, Vernetzung mit den UserInnen und<br />
Verlinkung mit anderen Texten auf der Plattform. Seit<br />
September erscheinen wieder neue Rezensionen von<br />
Bakkalaureats- und Diplomarbeiten in einem eigenen<br />
Channel auf derStandard.at. Auch die UserInnen sind<br />
hierbei involviert und sind eingeladen (für ein Honorar<br />
von 40 Euro) Rezensionen zu verfassen. So ist das<br />
öffentliche Augenmerk für die Arbeiten auf textfeld.ac.at<br />
weiterhin gesichert.<br />
Zukunft<br />
von THOMAS MÜLLER<br />
Das langfristige Ziel ist die stärkere Etablierung von<br />
Online-Publikationen im universitären Betrieb. Der<br />
angelsächsische Raum lebt bereits vor, wie eine Welt<br />
ohne überteuerte Journals und langsame Verlagsabläufe<br />
aussehen kann. In Österreich kommt erst langsam<br />
Bewegung in die alten Publikationsstrukturen.<br />
textfeld konzentriert sich dabei vorerst auf junge<br />
ForscherInnen. Geplant ist die Zusammenarbeit mit<br />
SeminarleiterInnen und Studierenden, um gemeinsam<br />
inhaltliche Schwerpunkte auf der Seite zu setzen (so<br />
genannte „Themencluster“). Ein erster Versuch wird mit<br />
dem Thema „Netzwerke“ und dem Fach Publizistikund<br />
Kommunikationswissenschaft Ende 2007 gestartet.<br />
Aber auch gegenüber einer Zusammenarbeit mit der<br />
Kultur- und Sozialanthropologie ist der Verein<br />
aufgeschlossen, denn an interessanten Texten dürfte es<br />
hier nicht mangeln. �<br />
Thomas Müller ist Absolvent der Publizistik- und<br />
Kommunikationswissenschaft (Universität Wien) und seit<br />
2001 Mitarbeiter beim Verein textfeld.<br />
http://www.textfeld.ac.at<br />
Wiener Institut<br />
87
Das Studium der Volkskunde<br />
Was ist Europäische Ethnologie? Eine Kulturwissenschaft<br />
des Alltags, die Kultur in ihrem<br />
weitesten Sinne auffasst; als das was Menschen in und<br />
mit ihren Alltagen tun. Somit können Mixer ebenso<br />
Untersuchungsgegenstand sein wie das Reisen in<br />
Mitfahrgelegenheiten, Einweihungsfeten oder der<br />
Schnellimbiss. In diesem Fachverständnis einer Kulturund<br />
Sozialwissenschaft des Alltags, entwickelte sich die<br />
Europäische Ethnologie aus der Volkskunde, die sich<br />
„vormodernen Kulturen“ verpflichtet sah und im 19.<br />
Jahrhundert erstarkte.<br />
Das Wiener Institut wurde nach der Berufung Konrad<br />
Köstlins am 1. Januar 2000 von Institut für Volkskunde in<br />
Institut für Europäische Ethnologie umbenannt. Doch die<br />
Studienrichtung heißt nach wie vor Volkskunde. Bislang<br />
gliedert sie sich in zwei Studienabschnitte. Der erste<br />
dient dem Grundstudium, während der zweite<br />
Abschnitt mit einer Diplomarbeit abgeschlossen wird.<br />
Ab dem Wintersemester 2008/2009 ist auch hier eine<br />
Umstellung auf den Bakkelaureats- und Masterstudienplan<br />
geplant.<br />
Nach Informationen von Konrad Köstlin kommt das<br />
Institut derzeit auf etwa 500 Studierende, einschließlich<br />
der rund 100 DiplomandInnen und DissertantInnen.<br />
Regelmäßig sieht man davon ungefähr 120 Studierende.<br />
Dadurch ist das Institut vergleichsweise klein und die<br />
StudentInnen werden sehr gut betreut. Es findet eine<br />
rege Zusammenarbeit zwischen dem Institut und den<br />
StudienrichtungsvertreterInnen statt, was sich nicht nur<br />
bei den Institutsfesten zeigt. <strong>Die</strong>se Zusammenarbeit und<br />
Förderungen der StudentInnen wird z. B. beim Kauf von<br />
Diktiergeräten für die Feldforschung deutlich oder<br />
dadurch, dass das Institut für die Ideen der<br />
Studierenden offen ist. So wird derzeit beispielsweise<br />
eine studentische Veranstaltungsreihe mit Filmabenden<br />
und Lesungen entwickelt.<br />
Der Zusammenhang zwischen Forschung und Lehre<br />
wird durch die regelmäßig stattfindenden Studienprojekte<br />
gestärkt. Unter der Leitung einer oder eines<br />
Lehrenden wird ein mehrere Semester dauerndes<br />
Forschungsprojekt durchgeführt. Um zwei Beispiele zu<br />
88<br />
Das Institut der Europäischen Ethnologie in Wien<br />
bietet eines der kreativsten Fächer<br />
von MALTE BORSDORF<br />
Vernetzung – Deutschsprachige Institute<br />
nennen: Das von Elisabeth Timm geleitete<br />
Studienprojekt „Das Herz“ mündete in der Veröffentlichung<br />
eines wissenschaftlichen Kalenders, während<br />
das Projekt „Leben und Überleben im Konzentrationslager<br />
Dachau“ von Michaela Haibl derzeit mit der<br />
Ausstellung „Zeit. Raum. Beziehung.“ in der Gedenkstätte<br />
Dachau und einer Publikation abgeschlossen wird.<br />
Auch andere Lehrveranstaltungen sind sehr praxisnah.<br />
So etwa das von Klara Löffler geleitete Seminar „<strong>Die</strong><br />
Tücke des Objekts“ das sich zum Ziel setzt, einen<br />
Aufsatz zur Methodik der Objektanalyse zu schreiben<br />
und zu veröffentlichen.<br />
Vom 7. bis 10. Juni 2007 wurde das jährlich stattfindende<br />
Studierendentreffen der Deutschen Gesellschaft für<br />
Volkskunde in Wien ausgerichtet. Rund 160 TeilnehmerInnen<br />
aus Deutschland, der Schweiz und<br />
Österreich debattierten am Institut und im Österreichischen<br />
Museum für Volkskunde über die Zukunft des<br />
Fachs und feierten ein ausgelassenes Fest im<br />
Gartenbaukino. Ergebnis des Studierendentreffens war<br />
u. a. die Vernetzung der StudentInnen auf einer Wiki-<br />
Internetseite. Außerdem wird momentan eine Publikation<br />
erstellt, die die weiteren Ergebnissen des<br />
Studierendentreffens vorstellt.<br />
Kurzum: ein abwechslungsreiches Studium in einem<br />
schönen Altbau zwischen Burggarten und Albertina. �<br />
Urs Malte Borsdorf studierte Europäische Ethnologie in<br />
Innsbruck. Derzeit Magisterstudium am Institut für<br />
Europäische Ethnologie in Wien. Veröffentlichungen in<br />
Anthologien, Literatur- und Fachzeitschriften (bricolage,<br />
Schreibkraft, Podium u. a.).<br />
Internet<br />
Institut für Europäische Ethnologie: http://euroethnologie.univie.ac.at<br />
Studierenden-Wiki: http://www.ku-wi.net<br />
Österreichisches Museum für Volkskunde:<br />
http://www.volkskundemuseum.at<br />
Deutsche Gesellschaft für Volkskunde: http://www.d-g-v.org/
Ethnologik – München<br />
„Fremdes macht Sinn! – In unserem unermüdlichen<br />
Versuch fremde Lebensentwürfe zu verstehen, stoßen<br />
wir Ethnologen bisweilen an ernst zu nehmende Grenzen.<br />
Das im Feld Beobachtete kann schließlich nur mit<br />
den eigenen Kategorien erfasst, geordnet und beschrieben<br />
werden. Aber diese Erkenntnis ist nicht das Ende der<br />
Ethnologie. Im Gegenteil! – Sie gehört zu ihren großartigsten<br />
Leistungen!“ (Ethnologik 2007a: 3).<br />
Und gerade deshalb macht es Sinn, sich mit fremden<br />
Perspektiven auseinanderzusetzen. Nicht um zu werten,<br />
nicht um zu entwickeln, sondern um das eigene Denken<br />
zu bereichern und das volle Potential des "Menschseins"<br />
in einer gemeinsam bewohnten Welt sichtbar zu machen.<br />
Wir wollen ethnologische Themen daher nicht nur<br />
innerhalb unseres eigenen Faches diskutieren, sondern<br />
möglichst auch einer breiteren Öffentlichkeit nahe<br />
bringen.<br />
Mit diesem Vorsatz machte sich unsere Redaktion im<br />
Herbst 2005 an eine Neuauflage der schon lange existierenden<br />
Institutszeitschrift. Das Leitthema der ersten Ausgabe<br />
im Frühjahr 2006 „going <strong>public</strong>“ war somit schnell<br />
gefunden. Es folgten die Themen „flower power“ (Ethnologie<br />
ein Orchideenfach?), „Macht“ und „Integration“.<br />
Auf insgesamt sechzig Seiten bemühen wir uns seither<br />
um eine bunte Mischung aus theoretischen und journalistischen<br />
Artikeln, Feldforschungsberichten, Bildern,<br />
Interviews, Satire und vielem mehr. Dabei ist uns die<br />
„Lesbarkeit“ der Zeitung wichtig - keine trockene<br />
Textwüste, sondern abwechslungsreiche Unterhaltung!<br />
Anthropologische Zeitschrift von engagierten StudentInnen<br />
von der ETHNOLOGIK-REDAKTION<br />
So hoffen wir einen kleinen Einblick in die Vielfalt<br />
ethnologischer Themen zu ermöglichen. Darüber hinaus<br />
legen wir Wert auf interdisziplinäres Arbeiten, denn der<br />
sprichwörtliche „Blick über den eigenen Tellerrand“ ist<br />
bei uns Programm.<br />
Mit der Rubrik „Normal in München“, die etwa ein<br />
Drittel der Zeitschrift umfasst, greifen wir konkrete<br />
Themen im Münchener Alltag heraus und recherchieren<br />
diese vor Ort mittels Feldforschung und Interviews. „Es<br />
ist der Versuch, einen kleinen Einblick in die<br />
Lebenswelten einzelner Münchener Mitmenschen zu<br />
erlangen“ (Ethnologik 2006a: 38). So recherchierten wir<br />
beispielsweise für die Herbstausgabe 2006 als<br />
teilnehmende Beobachter in einem integrierten<br />
Wohnheim für geistig Behinderte und Studenten und in<br />
unserer aktuellen Ausgabe widmen wir uns der Frage<br />
nach der Integration muslimischer Mitbürger in<br />
München.<br />
<strong>Die</strong> Ethnologik erscheint halbjährig mit einer Auflage<br />
von derzeit neunhundert Stück und ist auch im Internet<br />
unter www.ethnologik.de und im NIG Facultas verfügbar.<br />
Bestellbar ist die Zeitschrift über folgende Adresse:<br />
Redaktion Ethnologik, Institut für Ethnologie und<br />
Afrikanistik der Universität München, Oettingenstraße<br />
67, 80538 München. Artikel können gerne per e-mail an<br />
ethnologik@gmx eingeschickt werden. �<br />
Mit besten Grüßen nach Wien,<br />
die Ethnologik-Redaktion<br />
Vernetzung – Zeitschriftenporträts<br />
89
Anthropologische Zeitschrift von engagierten StudentInnen<br />
von der CARGO-REDAKTION<br />
<strong>Die</strong> Cargo – Halle<br />
Gibt es eine Plattform, auf der Theorien, Perspektiven,<br />
Denkansätze und Debatten der Ethnologie<br />
unabhängig und frei diskutiert werden können? Ja: die<br />
Cargo – Zeitschrift für Ethnologie! Erstmals erschien die<br />
Zeitschrift im Jahre 1980. Seither sind durch wechselnde<br />
Redaktionen in unterschiedlichen Universitätsstädten 26<br />
Ausgaben entstanden. 2003 schlief das Projekt ein, doch<br />
im April 2006 wurde durch einen Appell aus Göttingen,<br />
das studentische Zeitschriftenprojekt nicht aufzugeben,<br />
die Cargo offiziell aus ihrem Schlummerzustand geholt.<br />
So kam es, dass sich schließlich eine kleine Gruppe von<br />
Hallenser StudentInnen der Cargo angenommen hat und<br />
im Frühjahr 2007 mit Hilfe aus Göttingen die 27.<br />
Ausgabe herausgab.<br />
Vor der anstehenden Neuauflage galt es einige Fragen zu<br />
klären. So stand zu Beginn nicht fest, ob die Cargo<br />
weiterhin Cargo heißen würde. Sollte man wirklich<br />
einen Namen wählen, der an einen Tropenhelm tragenden<br />
Ethnologen denken lässt? Ja, auf jeden Fall, denn<br />
was ist interessanter, als eine stereotype Vorstellung mit<br />
offenen und breit gefächerten Inhalten zu füllen?<br />
Ohne lang zu überlegen, übernahmen die „neuen<br />
Cargoten“ die Prämissen der Vergangenheit. So liest<br />
man in der Ausgabe 22: „ohne Hierarchien, offen für alle<br />
(bei uns dürfen sogar Profis schreiben), ohne Zensur,<br />
aber mit Anspruch“. Des Weiteren wurde eine Sache nie<br />
angezweifelt: <strong>Die</strong> Cargo ist und bleibt in erster Linie eine<br />
Zeitschrift von StudentInnen für StudentInnen. So setzt<br />
sich die Redaktion derzeit aus angehenden EthnologenInnen<br />
der Universitäten Halle, Leipzig und Göttingen<br />
zusammen. Wenn es nach den HerausgeberInnen<br />
ginge, könnte es eine Ausbreitung von Hamburg bis<br />
nach München geben. Ein Netzwerk zu schaffen ist eine<br />
der Intentionen der Cargo-RedakteurInnen.<br />
Gegenwärtig arbeiten neun EthnologiestudentInnen<br />
daran, dass es im kommenden Frühjahr 2008 die<br />
Ausgabe 28. geben wird. In Gedanken ist man auch<br />
schon bei Nummer 29., 30. und Folgenden. (Da hat das<br />
LangzeitstudentInnendasein doch gleich einen Anreiz<br />
mehr…) Ziel ist es, jedes Jahr eine bis zwei Cargos mit<br />
einer Auflagenstärke von 500 Stück und wechselnden<br />
Themenschwerpunkten zu drucken. <strong>Die</strong>se sind dann für<br />
drei Euro auf dem Völkerkundemarkt (bei euren<br />
Fachschaften oder im Internet) natürlich auch für Nicht-<br />
EthnologInnen zu erwerben. <strong>Die</strong> Inhalte der Cargo<br />
beziehen sich auf vielfältige Fragestellungen rund um<br />
90 Vernetzung – Zeitschriftenporträts<br />
die Ethnologie, aber auch artverwandter<br />
Fachrichtungen. Aktualität wird groß geschrieben, sei es<br />
die derzeitige MigrantInnendebatte in Deutschland, die<br />
Umstellung des Studiums auf BA/MA-Abschlüsse, oder<br />
die Perspektiven der Ethnologie als gesellschaftlich<br />
relevantes Fach.<br />
Falls jetzt noch Fragen auf eurer Seele brennen, schaut<br />
auf der Homepage unter www.cargo-zeitschrift.de vorbei.<br />
Dort erfahrt ihr unter anderem auch, wie und wo die<br />
Cargo käuflich zu erwerben ist und an wen ihr euch<br />
wenden müsst, um ins Cargo-Boot einzusteigen.<br />
Vergesst eines nicht: <strong>Die</strong> Cargo will Platz zum<br />
Ausprobieren bieten, sowie die Möglichkeit, sich neben<br />
der Uni im journalistischen beziehungsweise wissenschaftsjournalistischen<br />
Schreiben und in redaktioneller<br />
Arbeit zu versuchen. Jeder kann sich angesprochen<br />
fühlen, mitzumachen und los zu schreiben. Also: Nur<br />
Mut und ran an die Füllfederhalter oder Notebooks! �
CLTR – Zürich<br />
Irgendwann, irgendwo, irgendwie, geisterte der Gedanke,<br />
ethnologischen Themen auch mal ausserhalb der<br />
Hörsäle in unterschiedlichen Formen Präsenz zu<br />
verschaffen, durch die Köpfe einiger Züricher Ethnostudis.<br />
Das Frühjahrssemester 07 näherte sich schon<br />
langsam dem Ende, als an einem warmen Sommerabend<br />
bei kühlem Bier ganz offiziell die AG Medien gegründet<br />
wurde. Ah ja, AG von wegen Arbeitsgruppe, nix mit<br />
Aktien … um auch gleich die ersten Missverständnisse<br />
aus dem Weg zu räumen. Von Radioprogrammen war da<br />
die Rede, und von Homepages, Blogs, Zeitschriften,<br />
Fotoausstellungen, Podcasts und Filmfestivals. An Ideen,<br />
was so eine AG Medien alles auf die Beine stellen könnte,<br />
mangelte es jedenfalls nicht.<br />
Nach einem langen und ziemlich tiefen Sommerschlaf<br />
wurde der harte Kern der AG denn auch sofort wieder<br />
aktiv und langsam aber sicher wurde auch klar, dass als<br />
erster Schritt eine Zeitschrift ins Leben gerufen werden<br />
sollte. Als nächstes galt es natürlich einen passenden<br />
Namen für unser Heft zu finden. Nach einem längeren<br />
Aushandlungsprozess stand fest: CLTR heisst die erste<br />
Zürcher Ethno-Zeitschrift.<br />
CLTR ist eine Anspielung an die Begriffe culture/cultura<br />
aus dem Wortschatz verschiedenster Sprachen und an<br />
das täglich benutzte „Ctrl“ der Computertastatur: CLTR<br />
steht für den Umgang mit ethnologisch relevanten<br />
Themen in einem neuen Jahrtausend, für eine kritische<br />
Betrachtung aktueller Themen in der Welt: Weit weg von<br />
Zürich, gleich um die Ecke oder in sozialen Hyperspaces,<br />
wie dem Internet.<br />
Unterdessen hat der Kaffee an den Redaktionssitzungen<br />
das frühsommerabendliche Bier ersetzt, es wurden<br />
Druckkosten verglichen und Autor (-en und -innen) gesucht<br />
und gefunden. <strong>Die</strong>se widmen sich in der erste<br />
Ausgabe dem, was Wikipedia als den „archimedischen<br />
Anker“ unseres Faches beschreibt: dem Fremden. Einem<br />
Begriff, der der Ethnologie seit längerem suspekt zu sein<br />
scheint, aber nichts an Aktualität eingebüßt hat.<br />
Interviews, Reportagen, Analysen, Buchrezensionen<br />
aber auch künstlerische Beiträge werden aus den<br />
unterschiedlichsten Perspektiven heraus Blicke auf den<br />
„archimedischen Anker“ werfen.<br />
Mehr soll jetzt aber noch nicht verraten werden; ab Mitte<br />
Februar des kommenden Jahres wird CLTR schliesslich<br />
an der Uni Zürich käuflich erwerbbar sein und in<br />
Anthropologische Zeitschrift von engagierten StudentInnen<br />
Zukunft ein Mal pro Semester erscheinen. Weitere Infos<br />
findet ihr auch im virtuellen Zuhause unseres<br />
Fachvereins: www.fvez.ch oder direkt per Mail an:<br />
agmedien@gmail.com.<br />
Ganz im Sinne der Globalisierung streben wir auch eine<br />
Vernetzung mit anderen Zeitschriften im Deutschsprachigen<br />
Raum an. Wer also Lust verspürt die Computertastatur<br />
auch mal außerhalb von Seminararbeiten zu<br />
quälen, soll sich doch bei uns melden!<br />
Wie der Name AG Medien vermuten lässt, haben wir<br />
natürlich unsere übrigen Ideen nicht verworfen; Ziel ist<br />
es, ethnologische Themen nicht nur via Printmedien zu<br />
verbreiten, sondern auf das gesamte Spektrum medialer<br />
Ausdrucksmöglichkeiten zurückzugreifen. Fotoausstellungen,<br />
Filmfestivals, Podcasts und ähnliches stehen<br />
somit weiterhin zur Diskussion und sollen Studierenden<br />
eine Möglichkeit bieten, sich in Medienaktivitäten zu<br />
üben. Also, was auch immer ihr macht, kontaktiert uns!<br />
Nicht nur Schreiberlinge, auch FotografInnen, FilmemacherInnen,<br />
ComiczeichnerInnen und KünstlerInnen aller<br />
Art sind willkommen! �<br />
www.fvez.ch<br />
agmedien@gmail.com<br />
von der AG MEDIEN<br />
Vernetzung – Zeitschriftenporträts<br />
91
92 Vernetzung<br />
Ein kurzer Abriss zum Projekt <strong>Maske</strong><br />
von der MASKE-REDAKTION<br />
<strong>Die</strong> <strong>Maske</strong> –<br />
The story continues…<br />
Es läuft! Und zwar gut!<br />
Mit der Zeit kristallisierte sich vor allem eines heraus:<br />
<strong>Die</strong> MASKE herauszugeben – das ist ein Fulltimejob. <strong>Die</strong><br />
Doppelbelastung durch Studium und redaktionelle Arbeit<br />
ist nur dann zu schaffen, wenn es engagierte MitarbeiterInnen<br />
gibt, die die Zeitschrift als ihr eigenes Projekt<br />
anerkennen. Im vergangenen Semester gab es eine starke<br />
Teamumstrukturierung – die Köpfe hinter der MASKE<br />
verändern sich also, aber die MASKE bleibt. Wir haben<br />
Verstärkung im Kernteam (Wilhelm Binder, Birgit Pestal,<br />
Ursula Probst), beim Layout (Mathias Wittau), beim<br />
Lektorat (Malte Borsdorf, Martina Leovac, Lisa Ringhofer)<br />
und bei Fragen der professionellen Buchhaltung<br />
und des Web-Auftrittes erhalten. Aus dem Kernteam der<br />
ersten Ausgabe ist nur die Gründerin der Zeitschrift,<br />
Norma Deseke, erhalten geblieben, die das Projekt heute<br />
engagiert am Leben erhält und den Überblick bewahrt.<br />
Anthropologische Themen sind durch die Arbeit an der<br />
MASKE für uns praktisch, anschaulich und überaus<br />
brisant geworden. Wir stellen interessante Kontakte her,<br />
diskutieren Beiträge, Konzeptionen, anthropologische<br />
Theorien und Erklärungsmodelle und – wir geraten unter<br />
verschiedenste Arten von Druck, der mit redaktioneller<br />
Arbeit ganz natürlich einhergeht. Unweigerlich<br />
kommen wir dabei auch mal in Verlegenheit, begehen<br />
den einen oder anderen Fauxpas und lernen dazu. <strong>Die</strong><br />
Auswahl an Fehlern scheint groß genug zu sein, wir<br />
versuchen also jeden nur einmal zu machen. Zudem<br />
scheint es notwendig, formale Prozedere zu entwickeln,<br />
die einheitlich sind, sowie Transparenz für die Autor-<br />
Innen zu schaffen. Beim Lektorieren geben wir uns<br />
größte Mühe auch versteckte Ethnozentrismen aufzudecken.<br />
Und da auch StudentInnen für uns schreiben,<br />
geraten wir unter anderem in die brenzlige Situation,<br />
unsere eigenen KollegInnen zu kritisieren. <strong>Die</strong> <strong>Maske</strong><br />
wird zunehmend ein diskursives Projekt.<br />
Für das nächste Semester streben wir auch etwas an, das<br />
wir derzeit das „MASKE- Individualpraktikum“ nennen.<br />
Wir stellen uns vor, dass es künftig möglich sein wird,<br />
bei uns mitzuarbeiten und dafür auch ein Praktikumszeugnis<br />
ausgestellt zu bekommen. <strong>Die</strong>se Möglichkeit<br />
wollen wir evtl. auch StudentInnen anderer Fakultäten<br />
ermöglichen – wobei der Nutzen für das Projekt im Vordergrund<br />
steht. Wir brauchen z.B. rechtliche Beratung,<br />
jemanden der unsere PR und Werbung übernimmt und<br />
Aushilfe bei Verkauf und Anzeigen. Unser Lektorat kann<br />
noch Verstärkung gebrauchen. Auch Illustrationen sind<br />
immer gefragt. Wenn wir dafür Zeit hätten, würden wir<br />
auch gerne einen Weblog betreuen, der zu aktuellen<br />
Geschehnissen am Institut, bzw. in der Anthropologie<br />
allgemein, Stellung nimmt. Anthropologie kann für<br />
StudentInnen durch Mitarbeit bei der MASKE praktisch<br />
und realitätsnah werden, das ist zumindest unsere<br />
Erfahrung. Unterstützen kann man uns natürlich auch<br />
ganz einfach, indem man die MASKE im Freundeskreis<br />
weiterreicht und ins Gespräch bringt. Wir sind ein No-<br />
Budget Projekt – dementsprechend freuen wir uns auch<br />
über stille TeilnehmerInnen, die uns, bzw. den<br />
Kulturverein Pangea mit Spenden unterstützen wollen.<br />
<strong>Die</strong> Nachfrage für die erste Ausgabe ist immer noch<br />
vorhanden – wir planen daher einen Nachdruck<br />
– abhängig von den Geldmitteln die uns nach dem<br />
Verkauf von Ausgabe Nr.2 zur Verfügung stehen<br />
werden. Wenn alles gut geht, ist auch die dritte Ausgabe<br />
der MASKE finanziert – an dieser Stelle wollen wir uns<br />
beim Institut und insbesondere bei Thomas Fillitz für die<br />
moralische als auch finanzielle Unterstützung bedanken.<br />
Für 2008 planen wir eine klarer strukturierte Arbeitsverteilung,<br />
eine konkretere Konzeption sowie auch den<br />
Relaunch unserer Webseite. Gute Ideen sowie MitarbeiterInnen,<br />
die diese auch verwirklichen wollen, sind<br />
gefragt und mehr Vernetzung wird angestrebt. Unser<br />
Anspruch auf Qualität ist hoch und wir nehmen uns vor,<br />
ein Medium für originelle Beiträge zu sein, die<br />
wissenschaftlich und dennoch flott zu lesen sind. Wir<br />
hoffen, das ist uns auch mit dieser Ausgabe gelungen! �<br />
<strong>Die</strong> MASKE-Redaktion<br />
www.diemaske.at<br />
Kulturverein Pangea<br />
Gussenbauerg.1/10, 1070 Wien<br />
Spenden-Knt..Nr.: 03010 923 890<br />
BLZ 14000 BAWAG