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Pier Luigi Nervi - db - Deutsche Bauzeitung

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Ingenieurporträt<br />

<strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong><br />

Betonbaumeister und Begründer des »Ferro-Cemento«<br />

Von Annette Bögle<br />

Italiens bekanntester Ingenieur Anfang bis Mitte des<br />

20. Jahrhunderts entwickelte aus Gründen der Wirtschaftlichkeit<br />

verschieden einsetzbare »Ferro-Cemento«-Elemente<br />

– und schuf damit zugleich auch eine eigenständige und ausdrucksstarke<br />

Architektur- und Formensprache.<br />

76<br />

Driven by a need for economy, Italy’s most famous engineer<br />

of the first half of the 20th century developed a range of Ferro-<br />

Cemento elements for immediate use. In doing so, he also<br />

developed a new and expressive architectural and formal<br />

language.<br />

1<br />

<strong>db</strong> 8/06


Sensible Strukturen aus konstruktiven Elementen zeichnen harmonische<br />

Ordnungen an die Decken gewölbter Räume; filigrane Formen<br />

und elegante, lichtdurchflutete Innenräume sind die unverkennbaren,<br />

charakteristischen Merkmale der Entwürfe und Bauten<br />

des italienischen Ingenieurs, Bauunternehmers und Professors <strong>Pier</strong><br />

<strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong>. Erstaunen und Faszination rufen seine Konstruktionen<br />

hervor, und das, obwohl – oder gerade weil – sie aus Beton sind.<br />

Von Anfang an erweckte das Werk <strong>Nervi</strong>s Aufmerksamkeit, die Kritik<br />

allerdings reagiert bis heute höchst unterschiedlich [1, 2]. Dies ist<br />

unter anderem durch die eigenständige, von den vorhandenen architektonischen<br />

Strömungen unabhängige Entwurfshaltung <strong>Nervi</strong>s<br />

begründet. Er entzog sich den architektonischen Diskussionen mit<br />

ihren sozialen, politischen und formalen Bezügen, indem er den<br />

Entwurf auf einen intuitiven Bewusstseinsakt zurückführte, der eine<br />

übergeordnete, ewig gültige – göttliche – Ordnung freilegt. Das<br />

Ergebnis wurde so, unabhängig von modischen Strömungen, das<br />

Kennzeichen wahrer Baukunst [3]. Wie auch immer diese Haltung<br />

von Kritikern bewertet wird – <strong>Nervi</strong> hat damit einen wichtigen baukulturellen<br />

Diskussionsbeitrag zwischen architektonischer Form und<br />

konstruktiven Möglichkeiten geleistet.<br />

Werdegang Ganz selbstverständlich war <strong>Nervi</strong>s Suchen nach Gestalt<br />

und Ausdruck nicht – wenn man die Zeit betrachtet, in der er<br />

seine Ausbildung erhielt. Als er 1913 an der Universität Bologna<br />

diplomierte, hatte er zwar eine hervorragende Ingenieurausbildung<br />

genossen, aber ohne jeglichen architektonischen Bezug. Die Architektur<br />

wurde auf Fassaden und Details reduziert, nicht aber in die<br />

Lehre und Gestaltung so genannter Ingenieurbauwerke wie Brücken,<br />

Türme oder Hallen einbezogen [4]. Dem Studium folgte eine<br />

nur durch den Ersten Weltkrieg unterbrochene, etwa zehnjährige<br />

Tätigkeit bei der Società per Costruzioni Cementizie – hier liegen<br />

die Grundlagen seines fundierten Wissens über das Material Beton.<br />

Sehr früh gründete <strong>Nervi</strong> sein eigenes Ingenieurbüro, zunächst von<br />

1923 bis 1932 die Rom Soc. Ing. <strong>Nervi</strong> et Nebbiosi und dann ab<br />

1932 die Firma <strong>Nervi</strong> und Bartoli. In dieser Firma arbeiteten später<br />

1 Beeindruckende Raumwirkung: das Lagerhaus der Tabakmanufaktur<br />

Bologna (1952) mit einer kassettenartigen Deckenstruktur aus speziell<br />

entwickelten Schalungskästen<br />

2 <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong> (1891–1979)<br />

<strong>db</strong> 8/06<br />

auch drei seiner vier Söhne – zwei als Architekten, einer als Bauingenieur.<br />

Viele Entwürfe und Projekte ab den fünfziger Jahren sind<br />

mit ihrer Mitarbeit entstanden.<br />

Eigene Formensprache Nach eigenem Bekunden hatte <strong>Nervi</strong> erst<br />

Ende der dreißiger Jahre vollständige Kenntnis der auf dem Gebiet<br />

des Stahlbetonbaus wegweisenden Arbeiten von Auguste Perret<br />

(1874 – 1954), Robert Maillart (1872 – 1940) oder Eugène Freyssinet<br />

(1879 – 1962), was unter anderem auch auf die kulturelle Isolation<br />

[4] durch die politischen Gegebenheiten während des Faschismus<br />

hindeutet. Dies mag sowohl als Erklärung für seine ganz persönliche<br />

Ausdrucksweise dienen als auch seine Haltung begründen, dass<br />

korrektes architektonisches Entwerfen die geistige Unabhängigkeit<br />

von bekannten Lösungen analoger Problemstellungen oder von stilistischen<br />

Strömungen der Zeit voraussetzt [5].<br />

Lehr- und Entwurfsphilosophie Die Persönlichkeit <strong>Nervi</strong>s zeichnet<br />

sich nicht nur durch ein umfangreiches Oeuvre an Bauprojekten<br />

aus, sondern auch durch seine Schriften mit ihren umfassenden Gedanken<br />

zum Entwurf, zur Beziehung von Form und Konstruktion<br />

und nicht zuletzt zur richtigen didaktischen Vermittlung. In diesem<br />

Kontext steht auch seine Tätigkeit als Professor für Konstruktionslehre<br />

und Materialkunde an der Architekturfakultät der Universität<br />

Rom von 1946 bis 1962 und sein nachdrücklicher Vorschlag, ein gemeinsames<br />

postgraduelles Studium für Architekten und Bauingenieure<br />

einzuführen [6].<br />

Den von ihm so verhassten Formalismus klagte <strong>Nervi</strong> in der gängigen<br />

Architekturausbildung an [7], ebenso wie er sich als Gegner des<br />

»hübschen« Bildes, der perspektivischen Skizze, positionierte: Die<br />

ausschließliche Bewertung des architektonischen Entwurfs auf dem<br />

Papier habe zur Folge, sich über das wahre Wesen der Architektur<br />

hinwegzusetzen, also die wesentlichen konstruktiven, funktionalen<br />

und wirtschaftlichen Zusammenhänge nicht mehr zu sehen [3].<br />

Seiner Kritik an der Architekturdisziplin und damit an der ausschließlich<br />

bildlich reduzierten Skizze entspricht auf der anderen<br />

2<br />

77


Ingenieurporträt <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong> (1891–1979)<br />

Seite seine Kritik an der reinen Formel beziehungsweise der abstrakten<br />

Berechnungsmethode als Sinnbild für die Ingenieurdisziplin und<br />

-ausbildung [7]. Zwar ist die Formulierung bauwissenschaftlicher<br />

Theorien entscheidende Voraussetzung für Planung und Realisierung<br />

weit gespannter Konstruktionen und wesentliche Entwicklungen<br />

fallen in die Zeit von <strong>Nervi</strong>s Wirken, aber sie wird schnell zum –<br />

im besten Fall eleganten – Selbstzweck, wenn die Bauaufgabe auf<br />

Formeln und theoretische Abhandlungen abstrahiert wird. Das entscheidende<br />

Entwurfswerkzeug besteht unter anderem im zähen<br />

Ringen um einen ausgeglichenen Kompromiss zwischen ästhetischer<br />

Aussagekraft – Formen und Räume, die die architektonische<br />

Idee widerspiegeln – und technischer Korrektheit, den statischen<br />

und wirtschaftlichen Gesetzen [4, 5]. Diese Haltung rückt für beide<br />

Disziplinen die Suche nach dem »korrekten« statischen Konzept an<br />

eine zentrale Stelle in der Entwurfsausbildung und bildet die Grundlage<br />

für das idealerweise entstehende Ingenieurgefühl, dem sinnlichen<br />

Einklang von Form und Kräfteverlauf. Ebenso wenig wie statische<br />

Gesetzmäßigkeiten sind wirtschaftliche Gesichtspunkte eine<br />

Einschränkung des Entwurfsprozesses: »Sparen ist immer eine Hilfe,<br />

kein Hindernis beim guten Bauen« [8]. Vielmehr werden gerade die<br />

so genannten Zwänge der Wirtschaftlichkeit Quelle der Kreativität<br />

<strong>Nervi</strong>s; gestalterische Merkmale haben oftmals ihre Begründung in<br />

der Herstellungsmethode.<br />

Internationaler Auftakt Mit der Begründung der Wirtschaftlichkeit<br />

hat <strong>Nervi</strong> viele Wettbewerbe gewonnen, aus denen seine meisten<br />

Bauten hervorgingen; unter anderem auch sein erstes großes,<br />

international beachtetes Bauwerk, das 1932 fertig gestellte, städtische<br />

Stadion von Florenz. Die umlaufende Tribüne für 35 000 Zuschauer<br />

besteht aus einer klar gegliederten Stahlbetonskelettkonstruktion.<br />

Das an der Längsseite vorspringende Tribünendach und<br />

die fliegenden, weit ausschwingenden Wendeltreppen nehmen der<br />

Regelmäßigkeit der Stützen die Strenge und setzen zudem optische<br />

Akzente. Die vollendete Verbindung von Form und Konstruktion<br />

3 Schwingende Treppen nehmen dem »Giovanni Berta Municipal<br />

Sports Stadium« in Florenz (1932) die Strenge<br />

4 Flugzeughangar aus vorgefertigten Stahlbetonelementen (um 1940)<br />

5 <strong>Nervi</strong>s Erstlingswerk aus Ferro-Cemento-Elementen: eine Lagerhalle<br />

in Rom (1945)<br />

78<br />

3<br />

4 5<br />

zeigt hier bereits eine der Kernaussagen von <strong>Nervi</strong>s Konstruktionsphilosophie:<br />

»Mein Vertrauen in die natürliche ästhetische Aussagekraft<br />

einer guten konstruktiven Lösung wurde nie enttäuscht«<br />

[7]. Die geschwungenen Kragträger des Tribünendachs sind entsprechend<br />

der Beanspruchung geformt, so dass der Kraftfluss klar<br />

nachvollziehbar wird, aber auch damit ein mit den damaligen Möglichkeiten<br />

einfach berechenbares System entsteht. Den Gegensatz<br />

dazu bilden die halbkreisförmigen Treppen (Bild 3) als komplexe,<br />

schwer zu berechnende Konstruktionen: In einen gekrümmten<br />

Randträger ist eine Kragplatte für die Treppenstufen eingespannt,<br />

ein gegenläufig gekrümmter Balken dient der Reduzierung der großen<br />

Torsionsbeanspruchung. Zur Berechnung wurden vereinfachende<br />

Annahmen nötig, die aber nur dann hinreichend genaue Bemessungswerte<br />

ergeben, wenn die konstruktiven Zusammenhänge von<br />

Form, Beanspruchung und Materialverhalten bekannt sind und berücksichtigt<br />

werden.<br />

Tragwerksanalyse am Messmodell Als <strong>Nervi</strong> in den dreißiger Jahren<br />

seine ersten weit gespannten Tragwerke entwarf, waren die<br />

heutigen Methoden der analytischen Tragwerksuntersuchung noch<br />

in weiter Ferne: Konrad Zuse vollendete 1941 den ersten Computer,<br />

1956 wurde die Finite-Elemente-Methode erstmals zur Berechnung<br />

von Flugzeugtragflügeln angewendet. Daher waren Messmodelle<br />

zur detaillierten Untersuchung des Tragverhaltens und als Ergänzung<br />

und Überprüfung vereinfachter analytischer Berechnungen gängiger<br />

und unverzichtbarer Bestandteil bei den Berechnungsverfahren komplexer<br />

Flächentragwerke.<br />

Bereits 1935 untersuchte <strong>Nervi</strong> das Tragverhalten eines Gewölbes<br />

aus diagonalen, sich kreuzenden Betonträgern an der Polytechnico<br />

in Mailand anhand eines Zelluloid-Modells im Maßstab 1:30. Die<br />

schmalen, hohen und gekrümmten Betonträger mit einem Querschnitt<br />

von 110 x 15 cm bildeten eine Art Gitterschale mit 5 m<br />

Kantenlänge und überspannten eine Grundfläche von 100 x 40 m.<br />

Diese Konstruktion wurde zunächst für einen Flugzeughangar in<br />

6 Innenansicht des »Salone Principale«, Turin (1949)<br />

7 Querschnitt durch ein Tragelement des »Salone Principale« mit den<br />

drei vorgefertigten, gewellten »Ferro-Cementi«<br />

8 Innenansicht des Palazetto dello Sport (1951), den <strong>Nervi</strong> zusammen<br />

mit dem Architekten Antonio Vitellozzi baute<br />

<strong>db</strong> 8/06


Orvieto eingesetzt. Dort endeten die in Ortbetonweise hergestellten<br />

Balkenscharen auf der Rückseite und an den Seiten direkt in einer<br />

Stütze, an der Torseite standen nur drei Stützen, ein horizontaler<br />

Fachwerkträger diente der horizontalen Aussteifung gegen Windkräfte.<br />

Die Dacheindeckung bestand aus Hohlziegeldecken mit<br />

Eternitabdeckung.<br />

Wege zur Vorfabrikation Der hohe Aufwand an Schalung und<br />

Leergerüsten für den Flugzeughangar in Orvieto, aber auch für das<br />

Stadion in Florenz, veranlassten <strong>Nervi</strong> zur Entwicklung vorfabrizierter<br />

Elemente. Bei den Konstruktionen weiterer Hangars wurden die<br />

gebogenen Ortbetonträger der Gitterschale des Flugzeughangars<br />

durch aufgelöste Fachwerkträger ersetzt (Bild 4) und nur die Knotenpunkte<br />

mit Ortbeton vergossen. Die Dacheindeckung bestand<br />

aus Welleternit, auf dünnen Pfetten befestigt. Das Dach stützten<br />

nur sechs Strebepfeiler, was zu einer leichter zu berechnenden und<br />

analysierenden symmetrischen Konstruktion führte. So entstand bis<br />

1943 eine Reihe von Flugzeughangars, unter anderem in Torre del<br />

Lage und Otbetello, die leider im Zweiten Weltkrieg von der sich auf<br />

dem Rückzug befindenden deutschen Armee zerstört wurden.<br />

Ferro-Cemento Getrieben von dem Gedanken der Wirtschaftlichkeit<br />

verfolgte <strong>Nervi</strong> Mitte der vierziger Jahre einen ganz neuen Weg<br />

in der Entwicklung von Fertigteilen für weit gespannte Flächentragwerke:<br />

Mehrere Lagen eines sehr feinmaschigen und dünnen<br />

Drahtnetzes aus Drähten mit 0,5 – 1,5 mm Durchmesser und mit<br />

einer Maschenweite von 10 mm wurden mit Zementmörtel ummantelt.<br />

Es entstand ein elastischer und sehr fester Baustoff, der so<br />

genannte Ferro-Cemento [9]. Der erste Bau mit dieser neuen Technik<br />

war ein Lagerhaus in Rom (1945) mit 3 cm dicken Schalenelementen<br />

für die Wände (Bild 5). In der Folgezeit gab es kaum ein<br />

Flächentragwerk, in dem <strong>Nervi</strong> nicht die Eisen-Zement-Elemente<br />

vielseitig einsetzte: als Fertigteile, als verlorene Schalung sowie als<br />

wieder verwen<strong>db</strong>are Schalung.<br />

<strong>db</strong> 8/06<br />

6<br />

Fertigteile aus Ferro-Cemento Eindrucksvoll kamen die Elemente<br />

für den so genannten Salone Principale des Turiner Ausstellungsgebäudes<br />

(1949) zum ersten Mal international zur Geltung: Ein<br />

wellenförmig geripptes Gewölbe überspannt den Ausstellungsraum<br />

mit 82 m Spannweite und wird durch Lichtdurchbrüche und Querscheiben<br />

gegliedert. Die gewellten Rippen aus 5 cm dicken Elementen<br />

mit einer Breite von 2,50 m und einer Länge von 4,50 m sind in<br />

der Mitte durchbrochen und verglast. Diese Filigranität ist möglich<br />

dank des zusätzlichen bewehrten Ortbetons an den Kehlen und den<br />

Graten sowie dank der Querversteifungen (Bilder 6, 7).<br />

8<br />

7


Ingenieurporträt <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong> (1891–1979)<br />

9 Raumwirkung und historische Pläne mit isostatischen Nervaturen:<br />

Decke im Palazzo dello Sport (1960) und …<br />

10 … Studie <strong>Nervi</strong>s<br />

Verlorene Schalung aus Ferro-Cemento – geometrische<br />

Nervaturen Für die an den Salon Principale anschließende Rundkuppel<br />

wurden die Eisen-Zement-Elemente als verlorene Schalung<br />

verwendet, so dass die Schalelemente mit dem Ortbeton im Verbund<br />

wirken. Dafür wurden geformte, 2 cm dicke Elemente mit Abstand,<br />

in der Regel zwischen 10 und 15 cm, auf einem Gerüst verlegt.<br />

Dann wurden die Zwischenräume und die gesamte Fläche mit<br />

Ortbeton vergossen. Die Zwischenräume bilden <strong>Nervi</strong>s berühmte,<br />

architektonisch eindrucksvolle Rippen, gelegentlich Nervaturen genannt.<br />

Die konstruktive Begründung dieser Strukturlinien ist in den<br />

einzelnen Projekten zu hinterfragen [10]. Die so entstandene, rautenförmige<br />

Ornamentik kam über kreisrunden (Casino am Strand<br />

von Ostia, 1950), elliptischen (Festsaal Terme de Chianciano, 1952)<br />

oder rechteckigen Grundrissen (Salzmagazin in Tortona, 1951) zur<br />

Anwendung. Zu besonders ästhetischer Vollendung gelangte sie bei<br />

<strong>Nervi</strong>s wohl berühmtestem Bauwerk, dem Palazetto dello Sport in<br />

Rom (1956/57): 1 600 Stahlbetonfertigteile sind zu einer großen,<br />

blütenartigen Struktur angeordnet; geneigte, Y-förmige Stützenböcke<br />

halten die Schale, die sich spielerisch und gleichzeitig statisch<br />

sinnfällig am Rand wellt (Bild 8).<br />

Schalung aus Ferro-Cemento Um neue Wege in Herstellung und<br />

Montage gehen zu können, aber auch um die traditionellen gestalterischen<br />

Beschränkungen der Holzschalungen zu überwinden, entwickelte<br />

<strong>Nervi</strong> für Decken Schalungskästen aus Ferro-Cemento. Bei<br />

der erstmaligen Anwendung für das Lagerhaus der Tabakmanufaktur<br />

in Bologna (1952) (Bild 1) mit einer kassettenartigen Deckenstruktur<br />

ruhte der Schalungskasten eines Deckenfeldes auf einem<br />

Rohrgerüst, das mittels hydraulischer Pressen in senkrechter Richtung<br />

und mittels Schienen in horizontaler Richtung verfahrbar war.<br />

Um die Schalung leichter lösbar zu machen, erfuhr die Oberfläche<br />

eine spezielle Behandlung. Mit dieser Schalung entstand eine extrem<br />

glatte Decke mit abgerundeten Kanten und Graten, die einen<br />

interessanten Kontrast zu den holzgeschalten Stützen bildete.<br />

Isostatische Nervaturen Die Ferro-Cemento-Schalungen wurden<br />

wie die Fertigteile auf Gipsformen hergestellt und ermöglichten so<br />

freie Deckenstrukturen. Um die Rippen statisch optimal anzuordnen,<br />

orientierte sich <strong>Nervi</strong> an den isostatischen Linien. Zum ersten<br />

Mal wurden diese bei der mehrschiffigen Halle der Wollfabrik Gatti<br />

in Rom (1953) umgesetzt. Hier folgen die Deckenrippen den Hauptbiegemomenten,<br />

<strong>Nervi</strong> leitete daraus die ideale Bewehrungsführung<br />

ab [10] (Bilder 9, 10).<br />

Konstruktion und Licht Die berühmten Rippen entfalten ihre gestalterische<br />

Kraft im Innern – nicht zuletzt dank des Lichtes und der<br />

Lichtführung: Mal kommt es von oben, mal von der Seite, mal zirkuliert<br />

es im Raum, nie aber ist es dem Zufall überlassen. Gewollt<br />

und gekonnt bricht das Licht an den konstruktiven Kanten der<br />

Strukturlinien und unterstreicht so den Kräfteverlauf. Der heikle<br />

Übergang eines Bogengewölbes zum Widerlager wurde beim Turiner<br />

Salon Principale durch eine fächerförmige Abfangung aufgebrochen<br />

und lässt die Halle von Licht getragen schweben (siehe Bild<br />

Inhalt). <strong>Nervi</strong> gelang somit vielfach die Entmaterialisierung der Oberflächen.<br />

Einer der beeindruckenden Innenräume ist mit dem Konferenzsaal<br />

der Unesco in Paris (1957) entstanden (Bilder 11, 12).<br />

10<br />

9<br />

<strong>db</strong> 8/06


11 Schnitte durch das Gebäude der Unesco in Paris (1957), das <strong>Nervi</strong><br />

gemeinsam mit den Architekten Marcel Breuer und Bernhard H. Zehrfuß<br />

realisierte …<br />

12 … Die Lichtführung im Konferenzraum unterstreicht zugleich den<br />

staatischen Kräfteverlauf<br />

Das Faltwerk aus Stahlbeton ist von einer zusätzlichen Platte durchzogen.<br />

Diese wird im Bereich der größeren Spannweite, also im Bereich<br />

des Konferenzsaals nach oben gezogen und verläuft so immer<br />

statisch sinnfällig voll ausgenutzt in der Druckzone. »Es gibt wenige<br />

Beispiele der modernen Architektur, bei denen die restlose Durchdringung<br />

architektonischen Schaffens und konstruktiven Denkens<br />

zu einer derart überzeugenden Gestalt geführt hat« [11].<br />

Aktualität <strong>Nervi</strong>s Die Menge und Vielfalt von <strong>Nervi</strong>s Oeuvre<br />

macht es zwingend, dass hier vieles unerwähnt bleibt: Motor-<br />

und Segelboote aus Ferro-Cemento (1948), der Entwurf für ein<br />

drehbares Wohnhaus (1932), das <strong>Pier</strong>relli-Hochhaus in Mailand<br />

(1956) ebenso wie der Palast der Arbeit in Turin (1961) mit seinen<br />

strahlenförmig angeordneten Pilzköpfen aus Stahlträgern oder die<br />

markante Hängebrückenkonstruktion für die lange Halle der Papierfabrik<br />

Burgo bei Mantua (1962) – um nur einige markante Beispiele<br />

herauszugreifen. Viele seiner Bauwerke, insbesondere die großen<br />

internationalen Projekte, sind in Zusammenarbeit mit Architekten<br />

entstanden, der Einfluss dieser Arbeitsgemeinschaften auf <strong>Nervi</strong>s<br />

Formensprache wird dabei unterschiedlich bewertet [4]. Allen Projekten<br />

<strong>Nervi</strong>s, den realisierten wie den Entwürfen, ist eine spürbare<br />

Gestaltungsfreude eigen, basierend auf einer erfindungsreichen<br />

Konstruktion und einer konzeptionellen Umsetzung bis ins Detail.<br />

Es ist dieser umfassende Ansatz, in dem sich gestalterische, konstruktive<br />

und wirtschaftliche Argumente durchdringen, der <strong>Nervi</strong> bis<br />

heute Aktualität verleiht. Mit dem Ansatz einer »richtigen« Sparsamkeit<br />

hat <strong>Nervi</strong> gezeigt, wie serielle Fertigung und wirtschaftliche<br />

Herstellung nicht zu Einfallslosigkeit und Monotonie führen müs-<br />

Literaturhinweise:<br />

[1] <strong>Luigi</strong> Ramazzotti, Das Werk von <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong>. In: Gestalten in Beton –<br />

zum Werk von <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong>, arcus 7, Rudolf Müller Verlag, 1989<br />

[2] Stefan Polónyi, Analyse der Tragwerke von <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong>. In: Gestalten in<br />

Beton – zum Werk von <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong>, arcus 7, Rudolf Müller Verlag, 1989<br />

[3] <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong>, Die Architektur und die menschlichen Forderungen unseres<br />

Jahrhunderts: In: Der Mensch und die Künste – Rolle und Aufgabe der<br />

Künste in der Gesellschaft, Unesco, Weber S.A., Genf, 1970<br />

[4] Ada Louise Huxtable, <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong>, Otto Maier Verlag, Ravensburg,<br />

1960<br />

[5] <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong>, Über das Entwerfen. In: Struktur in Kunst und Wissenschaft,<br />

Gyorgy Kepes (Hrsg.), Brüssel, 1967<br />

[6] <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong>, Neue Strukturen, Stuttgart, Hatje Verlag, 1963<br />

[7] <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong>, Bauten und Projekte, Hatje Verlag, 1957<br />

[8] Silvia Kugler, Gespräch mit <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong>, in: du – kulturelle Monatszeitschrift,<br />

Juni 1962, Conzett & Huber, Zürich<br />

[9] <strong>Pier</strong> <strong>Luigi</strong> <strong>Nervi</strong>, Costruire Correttamente, Ulrico Hoepli, Mailand, 1965<br />

[10] Irmgard Lochner, laufende Dissertation am ILEK, Universität Stuttgart<br />

[11] Vorwort Jürgen Joedicke, in: ebd [7]<br />

<strong>db</strong> 8/06<br />

sen. Für die Ingenieursdisziplin sind insbesondere <strong>Nervi</strong>s theoretische<br />

Auseinandersetzungen zum Entwerfen und seine Gedanken<br />

über Entwurfsprinzipien von höchster Aktualität. Auch wenn sich<br />

diese inhaltlich nicht direkt in unseren heutigen kulturellen Kontext<br />

übertragen lassen, auch wenn <strong>Nervi</strong> selbst diese nicht immer eingehalten<br />

haben sollte [2], könnten ihre Wesenszüge doch die so dringend<br />

erforderliche Diskussion um Form und Konstruktion, aber<br />

auch um die gestalterische wie statische und wirtschaftliche Verantwortung<br />

aller am Bau Beteiligter zurück in die Ingenieurausbildung<br />

bringen. A. B.<br />

12<br />

11

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