Frei Otto - db deutsche bauzeitung
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Ingenieurporträt<br />
<strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong><br />
Architekt, Konstrukteur und Visionär, Förderer der Leichtbauweise<br />
Von Falk Jaeger<br />
Wie kein anderer hat <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong> die Leichtbauweise in der zweiten<br />
Hälfte des 20. Jahrhunderts wissenschaftlich erforscht und<br />
die Entwicklung leichter, ressourcenschonender und umweltgerechter<br />
Tragwerke gefördert und beeinflusst. Seine Bauten<br />
von höchst gestalterischer Qualität sind fast allen bekannt –<br />
Zeit, sich seiner Person zu widmen.<br />
Like no other, <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong> has in the second half of the 20th century<br />
scientifically researched lightweight construction and furthered<br />
and influenced the development of lightweight, economical and<br />
ecologically appropriate structures. Of the highest design<br />
quality, his buildings are known to almost everyone – time for a<br />
personal appraisal.<br />
72<br />
1<br />
Die Ausstellung im Münchner Architekturmuseum, das Erscheinen<br />
seines Gesamtwerks, die Ehrung mit der RIBA-Goldmedaille und<br />
schließlich sein 80. Geburtstag, am 31. Mai diesen Jahres – die Anlässe<br />
sind zahlreich und bedeutend, den Architekten und Ingenieur,<br />
Bildhauer und Maler, Philosophen und Weltverbesserer im besten<br />
Sinne <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong> zu feiern und zu würdigen. »Ein glänzender Mann,<br />
mehr Wissenschaftler als Künstler, voller origineller Ideen, in seinen<br />
Ansichten ausgeglichen und gedankenvoll«, so hatte ihn Walter<br />
Gropius 1963 charakterisiert.<br />
Als Künstler ist er Architekt, als Wissenschaftler Ingenieur, könnte<br />
man ergänzen. Architekten betrachten Tragwerkslehre und Materialkunde<br />
oft als untergeordnete Hilfswissenschaft – und ignorieren<br />
Bauschäden und allzu rasche Alterung als Misslichkeiten, die ihren<br />
Meisterwerken keinen Abbruch mehr tun können. Bauingenieure<br />
wiederum konstruieren oftmals ohne Ansehen des baukünstlerischen<br />
Ergebnisses. Gesucht wird (zum Beispiel durch integrierte<br />
Studiengänge) die ideale Kombination: der Architekt, der weiss<br />
wie vernünftig zu konstruieren ist, beziehungsweise der Ingenieur,<br />
der Schönes zu gestalten weiß. So kommt <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong> diesem Ideal<br />
als einer der wenigen von Seiten der Architektenschaft sehr nahe,<br />
wie wenige von Seiten der Ingenieure. So nahe, dass er für viele die<br />
Grenze bereits überschritten hat, dass er ihnen eher als Ingenieur<br />
gilt, arbeitete er doch als Wissenschaftler zeitlebens an Problem-<br />
stellungen, die gemeinhin dem Bauingenieurwesen zugerechnet<br />
werden.<br />
Fritz Leonhardt, selbst einer der Ingenieure, denen eine gute Gestaltung<br />
von Ingenieurbauwerken immer am Herzen lag, hatte den an<br />
der TH Berlin als Architekten Ausgebildeten 1964 als »Ingenieurkollegen«<br />
an die TU Stuttgart geholt. Dort entwickelte <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong><br />
»leichte Flächentragwerke«, und gründete 1969 einen Sonderforschungsbereich<br />
»Materialforschung und Forschung im konstruktiven<br />
Ingenieurbau« – ein Terrain, auf das sich normalerweise kein<br />
Architekt verirrte. Später wurde der Sonderforschungsbereich SFB<br />
64 »Weitgespannte Flächentragwerke« genannt, was die Arbeit im<br />
Institut mit Netzen, Zelten, Schalen und Pneus anschaulicher beschreibt.<br />
»Natürliche Konstruktionen« war das nächste Thema, dem er sich<br />
mit einem interdisziplinären Team in einem Sonderforschungsbereich<br />
widmete. Auch hierzu holte er Konstrukteure, Materialtechniker,<br />
Biologen und Geisteswissenschaftler aus aller Welt nach<br />
<strong>db</strong> 6/05
Stuttgart, um gemeinsam der Natur die Geheimnisse zu entlocken,<br />
wie man ökonomisch, ökologisch und im Einklang mit ihr bauen<br />
könne. Zellen und Knochen, Stämme und Halme, Kieselalgen und<br />
Spinnennetze, Wasserwirbel und Seifenblasen, Termitenhügel und<br />
Vogelnester wurden untersucht, um ihnen für künstliche Konstruktionen<br />
brauchbare Gesetzmäßigkeiten abzuschauen.<br />
Interessant ist, dass er von Architektenseite her eine Urform der<br />
ingenieurtechnischen Entwicklungsmethode mitbringt, den empirischen<br />
Prozess. Es geht ihm um »Formfindung«, bereits in den<br />
zwanziger Jahren ein Begriff der Protagonisten der organischen<br />
Architektur. Die Form wird nicht erschaffen, sondern experimentell<br />
ermittelt, denn sie ist zuallererst Ausdruck herrschender statischer<br />
Kräfte und ergibt sich als Reaktion auf diese. So führen Hängemodelle,<br />
in ihrer selbst entstandenen, momentfreien Form fixiert und<br />
umgedreht, zu ökonomischsten, logischsten (und elegantesten)<br />
Tragwerken; Seifenblasen zwischen beliebigen Rahmen zu deren<br />
materiell und kräftemäßig minimierten Membrantragwerken und<br />
zu optimalen Pneukonstruktionen.<br />
Am Anfang stand allerdings die Hängekonstruktion, mit deren erster<br />
<strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong> bei seinem Amerika-Aufenthalt 1950–51 in Kontakt<br />
kam, der berühmten, 1953 fertig gestellten Arena in Raleigh, North<br />
Carolina. Ihr Entwerfer Metthew Nowicki war kurz zuvor tödlich<br />
verunglückt, als <strong>Otto</strong> die Pläne bei Fred Severud auf den Zeichen-<br />
tischen sah. Er erkannte, dass mit dieser leicht herzustellenden,<br />
materialsparenden Technik eine Bauweise zur Verfügung stand,<br />
die in einer Zeit der Materialknappheit weiterhelfen konnte und die<br />
ihm zudem als Gegenparadigma zur monumentalen Repräsentationsarchitektur<br />
des Dritten Reichs äußerst willkommen war.<br />
Zurück in Berlin formulierte er in seiner Dissertation »Das hängende<br />
Dach« die Kernsätze der ökonomischen, von ihm »das Prinzip<br />
Leichtbau« genannten Bauweise: »Durch sparsame Anwendung<br />
hochwirksamer Baustoffe und durch Ausnutzung der Trageigenschaften<br />
räumlicher Systeme entstehen leichte, bewegliche Bauwerke<br />
ohne wesentliches Eigengewicht. Die Konstruktion<br />
schrumpft auf das unbedingt Notwendige zusammen«. Bald darauf<br />
bekam er Gelegenheit, seine Ideen mit weiter entwickelten Hängekonstruktionen<br />
zu demonstrieren. Der <strong>deutsche</strong> Pavillon auf der<br />
Weltausstellung 1967 in Montreal (Bild 2) ist eine solche Seilnetzkonstruktion,<br />
organisch, spielerisch leicht, aller Erdenschwere und<br />
Monumentalität enthoben. Das experimentelle Modell dazu steht<br />
<strong>db</strong> 6/05<br />
1 <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong>, am 31.5.1925 in Chemnitz-Siegmar geboren<br />
2 Erinnert bereits an das fünf Jahre später fertig gestellte Münchener<br />
Olympiastadion: die Seilnetzkonstruktion des Deutschen Pavillons für die<br />
Weltausstellung 1967 in Montreal<br />
3 Zeltdach für eine Sporthalle in Jeddah, 1976<br />
3<br />
2<br />
73
Ingenieurporträt <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong><br />
4 Skizze des Eingangsbogens für die Bundesgartenschau 1957 in Köln<br />
5 Voliere im Tierpark Hellabrunn in München, 1980<br />
noch heute in Stuttgart. <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong> hatte es aufs TU-Gelände im Pfaffenwald<br />
versetzt und fortan für sein Institut genutzt – ein ständiges<br />
Anschauungsobjekt für Studenten und Mitarbeiter.<br />
Das Prinzip der durch mehrere Masten angehobenen Zeltdecke hat<br />
er dann zusammen mit Günter Behnisch und dessen Partnern in<br />
großem Maßstab in München umsetzen können. Zur angestrebten<br />
Vollendung einer eleganten, ultraleichten Dachhaut hat es beim<br />
Olympiapark 1972 nicht ganz gereicht, sind doch die Stützglieder<br />
auf Grund der damals noch eingeschränkten EDV-Rechenkapazitäten<br />
für komplexe Tragsysteme aus Sicherheitsgründen unerwünscht<br />
kräftig ausgefallen. Zusätzlich entstanden weitgespannte Zelt-<br />
und Hängekonstruktionen in verschiedensten Variationen, für eine<br />
Sporthalle in Jeddah, ein Konferenzzentrum in Mekka, Ausstel-<br />
74<br />
4<br />
lungsbauten der Buga 1957 in Köln oder der Internationalen<br />
Gartenschau 1963 in Hamburg, Fabrikdächer für Wilkhahn in Bad<br />
Münder Eimbeckhausen oder ein Großvoliere in München.<br />
Quasi als Umkehrung des Prinzips sind die auf Druck belasteten<br />
Schalenbauten zu verstehen, deren Form sich gleichwohl oft am<br />
einfachsten durch Selbstfindung mittels zugbelasteter Hängemodelle<br />
ermitteln lässt; ähnlich wie einst auch Antoni Gaudí zu seinen<br />
nahezu momentfreien Gewölbeformen gekommen ist.<br />
Prominentestes Beispiel ist die gemeinsam mit den Architekten<br />
Mutschler, Langner und Partner entworfene Gitterschale der Bugahalle<br />
1971 in Mannheim (Bild 6). Sie besteht aus einem gleichmaschigen<br />
Netz aus geraden, durchlaufenden Holzlatten. Interessant<br />
dabei ist die Tatsache, dass nicht nur das Modell, sondern<br />
folgerichtig auch die realisierte Konstruktion ihre Form selbst bildet:<br />
Hierzu wird das Gitter zunächst eben auf der Baustelle ausgebreitet<br />
und dann durch Stützgerüste angehoben. Durch Biegung der Latten<br />
und Verdrehung der Knoten entsteht dann die Form der Schale,<br />
die wiederum durch Fixieren der zuvor flexiblen Gitterknoten, die<br />
Befestigung des Gitterrandes und das Aufbringen der Dachhaut<br />
schließlich ihre Stabilität erhält.<br />
Wenn <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong> seine Seilnetzideen auch in seinen typischen luziden<br />
Zeichnungen – man hat diese zum Teil aquarellierten Skizzen mit<br />
Bruno Tauts Fantasien verglichen – ins Utopische dehnte, die komplette<br />
Überdachung der Stuttgarter Bahnhofsanlage, eines Konferenzzentrums<br />
in Rijad oder ganzer Gebirgstäler, so blieb ihnen<br />
doch immer das Wissen um die Realisierbarkeit. Hätte sich ein Bauherr<br />
gefunden, hätte es auch Wege gegeben, die Ideen in die Wirklichkeit<br />
umzusetzen. Charakteristisch für <strong>Otto</strong>s ganzheitlichen<br />
Ansatz ist die Ausweitung der Erkenntnisfelder über das Ingenieurtechnisch-Konstruktive<br />
hinaus. Zwar wurden Bemessungs-, Berechnungs-<br />
und rechnerunterstützte Entwurfsmethoden für die verschiedensten<br />
Flächentragwerksprinzipien entwickelt, doch er fragte<br />
auch: »Wie werden weitgespannte Flächentragwerke vom Menschen<br />
erlebt?« und »Wie müssen Objekte entworfen werden, die<br />
5<br />
<strong>db</strong> 6/05
eine zufriedenstellende Erlebniswirkung haben?«. Dazu wurden<br />
psychologische Untersuchungen durchgeführt und Tausende von<br />
Nutzern befragt. Es war ihm klar, dass man die menschlichen Bedürfnisse<br />
an die gebaute Umwelt analysieren müsse, um die allgemeine<br />
Tauglichkeit der Flächentragwerke ermessen zu können.<br />
Es ging nicht darum, die Menschheit mit neuen, fantastischen Bauwerken<br />
zu beglücken, sondern auch darum, ob sie damit glücklich<br />
wird – ein Rückkopplungseffekt, an dem Ingenieure und Architekten<br />
eigentlich immer interessiert sein sollten.<br />
Vergleicht man die Entwürfe von Transrapid-Trassen, die <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong><br />
zusammen mit seinem Freund, dem britischen Ingenieur Edmund<br />
Happold, entwickelt hat, mit dem inzwischen in Shanghai in die<br />
Landschaft betonierten Brückenband, wird dieses Anliegen deutlich.<br />
<strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong>s Team hat zehn Entwürfe untersucht und sechzig<br />
Varianten gerechnet, eine filigraner als die andere. Dass bei seinen<br />
Trassenkonstruktionen auch deren Abbau und Recycling bedacht<br />
ist, überrascht nicht, hat er doch schon in den sechziger Jahren die<br />
Forderung aufgestellt, von allen Bauwerken die Gesamtenergiebilanz<br />
zu berechnen. Dazu hat er unter anderem das »Bic-�-Diagramm«<br />
aufgestellt, mit dem das Verhältnis zwischen Leistung und<br />
den dazu benötigten, also zu produzierenden und zu transportierenden<br />
Massen berechnet werden kann.<br />
Anlagen zur Sonnenenergiegewinnung gehören ebenfalls seit mehr<br />
als drei Jahrzehnten zu seinem Programm. Vielfach kombinierte er<br />
sie mit Schirmkonstruktionen, die einen weiteren Schwerpunkt seiner<br />
Arbeit darstellen. Leichte Flächentragwerke können auch temporär<br />
sein, so sein Ansatz, der ihn zur Entwicklung von aufklappbaren<br />
Schirmen für Messen und Rockkonzerte (Bild 7) führte. Die<br />
Vela römischer Amphitheater schließlich waren Vorbild für raffbare<br />
Textildächer, etwa über der Stiftskirchenruine in Bad Hersfeld (Bild<br />
9), einem Multimediastadion oder einer Moschee in Saudi Arabien.<br />
In die so faszinierende wie vielfältige Welt der natürlichen Konstruktionen<br />
ist <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong> mit der Methodik des »umgekehrten Weges«<br />
eingedrungen. Das heißt, es werden Wachstums- und Bildungspro-<br />
<strong>db</strong> 6/05<br />
6<br />
7<br />
6 Neben Hängetragwerken entstanden auch Schalenkonstruktionen,<br />
wie etwa eine Halle für die Bundesgartenschau in Mannheim 1975<br />
7 »Leichte Flächentragwerke können auch temporär sein«:<br />
Schirme für ein Konzert von Pink Floyd<br />
zesse der anorganischen wie der organischen Natur experimentell<br />
künstlich in Gang gesetzt, um daraus Erkenntnisse für Konstruktionen<br />
zu gewinnen. Dieser umgekehrte Erkenntnisweg führte zu der<br />
Überzeugung, dass die lebende Natur nicht beliebige Strukturen<br />
wachsen lässt, sondern sich des abiotischen Selbstbildungsprozesses<br />
der Bläschenbildung bedient und diese mittels komplizierter<br />
Fasernetze stabilisiert: Der weiche, fasergestützte Pneu – im technischen<br />
Sinn eine durch Innendruck stabilisierte Membrankonstruktion<br />
aus einer biegeweichen Hülle und einer fließfähigen Füllung –<br />
ist also die Urkonstruktion des biologischen Lebens, das Abbild der<br />
Zelle, des kleinsten Bausteins lebender Konstruktionen. Wieder ist<br />
es das Phänomen der Selbstfindung, das zu den Tragwerksformen<br />
führt. Die von <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong>s Teams erdachten Anwendungen dieses natürlichen<br />
Prinzips reichen vom Staudamm bis zum Luftschiff.<br />
Man kann mit Pneus Dämme aufbauen und temporäre Wasserreservoires<br />
vorhalten. Und man kann natürlich die vielfältigsten Dachkonstruktionen<br />
damit meistern. Traglufthallen in allen Größenordnungen<br />
sind dabei die häufigsten Anwendungsfälle, und <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong><br />
wäre nicht der visionäre Architekt, hätte er es nicht Richard Buckminster<br />
Fuller gleichgetan und Klimahüllen für ganze Städte entworfen<br />
(doch im Unterschied zu diesem beließ er es nicht bei utopisch-hypertrophen<br />
Ideen, sondern wies nach, wie sie zu konstruieren<br />
seien). So entstand zusammen mit Kenzo Tange und Ove Arup<br />
das Projekt einer Stadt in der Antarktis (Bild 8), die mit einer transparenten<br />
pneumatischen Hülle von zwei Kilometern Durchmesser
Ingenieurporträt <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong><br />
8 Zwei Kilometer Durchmesser hat die Hülle, die <strong>Frei</strong><br />
<strong>Otto</strong> gemeinsam mit Kenzo Tange und Ove Arup für eine<br />
Stadt in der Antarktis vorsah<br />
9 Das wandelbare Dach über der Kirchenruine in Bad<br />
Hersfeld entstand bereits 1968 und schützt das <strong>Frei</strong>lufttheater<br />
bei schlechter Witterung<br />
76<br />
9<br />
8<br />
überspannt werden sollte. Die Membranhülle für eine Stadt im Norden<br />
Kanadas sollte eher eine amöbenhafte Form annehmen und im<br />
inneren differenzierte Raumeindrücke bieten.<br />
Die Plexiglas-Modelle dazu werden mit einer speziellen Technik hergestellt,<br />
die inzwischen – nach Weiterentwicklung einschlägiger<br />
Techniken – als zukunftsträchtig gilt: Das Tiefziehen durch Unterdruck<br />
(Gleichflächenlast), das, wenn es ohne Gegenform geschieht,<br />
wiederum einen Prozess der Formselbstfindung ausnutzt. Dünnste<br />
Membrantragwerke lassen sich damit herstellen, etwa wenn Stahl-<br />
oder Aluminiumbleche durch Kaltverformung zu flachen Kalotten<br />
gezogen werden, die an Stabilität und spezifischem Tragvermögen<br />
kaum zu übertreffen sind. Ein kreisrundes Dach mit 100 Metern<br />
Durchmesser könnte theoretisch mit einer Blechstärke von nur einem<br />
Millimeter auskommen. Vorerst beschränkt sich das Verfahren<br />
auf handlichere Formate, etwa die Herstellung von Metallspiegeln<br />
zur Gewinnung von Sonnenenergie.<br />
Gemessen an seinem internationalen Renommee hat <strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong> nicht<br />
allzu viel selbst gebaut. Ihn scheint die Mehrung der Erkenntnisse<br />
immer wichtiger gewesen zu sein als deren Anwendung. »Gelehrt<br />
in dem Sinne, wie es an Hochschulen gemacht wird, habe ich nie.<br />
Ich habe all meine Lehr- und Forschungstätigkeit genutzt, um selbst<br />
Wissen zu sammeln und Grundlagen für neue Ideen zu erarbeiten.<br />
Ich war und bin im Erfahrenwollen maßlos und selbstsüchtig«,<br />
schrieb er 1985. Zahllose Architekten und Ingenieure haben mit ihm<br />
zusammen geforscht und mit ihm »etwas aufgelesen, was unbenützt<br />
am Wegesrand lag«. Er gibt seine Erfahrungen gerne weiter,<br />
wenngleich es ihn schmerzt, wenn andere unverhohlen seine Arbeiten<br />
ausnutzen, ohne ihn einer Erwähnung zu würdigen. Baumförmige<br />
»Verzweigungskonstruktionen« hat er zum Beispiel Anfang<br />
<strong>db</strong> 6/05
Ausstellung:<br />
<strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong> – Leicht bauen, natürlich gestalten, 26.5.-28.8.2005,<br />
Architekturmuseum TU München, Pinakothek der Moderne,<br />
www.freiotto-architekturmuseum.de, www.pinakothek.de/pinakothek-der-moderne<br />
Literaturhinweis:<br />
<strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong>. Das Gesamtwerk. Leicht bauen – Natürlich gestalten, Winfried Nerdinger<br />
(Hrsg.), Birkhäuser, Basel, 2005<br />
der achtziger Jahre entwickelt. Gebaut wurde damit der Terminal<br />
des Flughafens Stuttgart ohne sein Zutun. Und es ärgert ihn, weil<br />
seine Vorschläge oft besser sind als das dann realisierte. »Ein Himmel<br />
voller Metall!«, klagt er beispielsweise über das mittlerweile errichtete<br />
Dach des Olympiastadion in Berlin, bei dem 22 Stahlstützen<br />
vielen Zuschauern im Blickfeld stehen. Für dessen Überdachung<br />
hatte er eine leichte Konstruktion ohne sichtstörende Stützen<br />
erdacht.<br />
Jüngstes spektakuläres Projekt aus seinem Atelier ist das Dach des<br />
neuen Stuttgarter Hauptbahnhofes, das er gemeinsam mit dem<br />
Architekten Christoph Ingenhoven entworfen hat. Es gehört zum<br />
städtebaulichen Projekt »Stuttgart 21«, das die Drehung der Gleisanlagen<br />
um 90 Grad und die unterirdische Anfahrt des Hauptbahnhofs<br />
vorsieht (und, trotz politischer Probleme, noch immer zur Realisierung<br />
steht). Eine unterirdische Bahnsteighalle quer zu den bis-<br />
herigen Hallen soll unter dem Schlossgarten liegen und nur durch<br />
Oberlichtöffnungen mit dem Park in Verbindung stehen. Die für<br />
<strong>Frei</strong> <strong>Otto</strong> charakteristischen tropfenförmigen Öffnungen lassen<br />
erahnen, dass auch diese Formen mit Seifenhaut- und Hängemodellen<br />
ermittelt worden sind. Auf diese Weise kommt der Entwurf <strong>Frei</strong><br />
<strong>Otto</strong>s Vorstellungen nahe, die Architektur topologisch wie gestalterisch<br />
weitgehend in die Natur einzubetten.<br />
Der Mensch in Harmonie mit der Natur, das menschliche Handeln<br />
und vor allem natürlich das Bauen mit der Natur, mit der Ökologie<br />
in Einklang zu bringen, ist von Anbeginn sein Ziel gewesen. In<br />
diesem Sinn erforscht er Bauweisen und Materialien und äußert<br />
sich immer wieder zu ethischen, philosophischen und architekturtheoretischen<br />
Grundsatzfragen des Bauens. Er ist das Gewissen<br />
der Architekten, und als solches sicherlich auch der Gesellschaft. F. J.<br />
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