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Wirklichkeit in Malerei und Fotografie - Mumok

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Alles was wahr ist<br />

Robert Bechtle, Berkeley P<strong>in</strong>to (John de Andrea and his Family next to Bechtle‘s Car), 1976 © Robert Bechtle<br />

Es gibt gute Gründe, an der Realität zu zweifeln. Woran aber kann man sich dann festhalten? Von Bert Rebhandl<br />

Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick<br />

hat gern die Geschichte von e<strong>in</strong>em Mann erzählt, der<br />

die Aufmerksamkeit der Umwelt erregt, weil er sche<strong>in</strong>bar<br />

gr<strong>und</strong>los <strong>in</strong> die Hände klatscht. Als man ihn darauf<br />

anspricht, sagt er: „Ich mache das, um die Elefanten zu<br />

verscheuchen.“ Aber es seien doch gar ke<strong>in</strong>e Elefanten<br />

da, wenden die Umstehenden e<strong>in</strong>. Darauf antwortet der<br />

Mann: „Na sehen Sie – es wirkt.“ Mit diesem klassischen<br />

Beispiel e<strong>in</strong>er Vorstellung, die noch <strong>in</strong> vernünftigen<br />

E<strong>in</strong>wänden e<strong>in</strong>en Beleg für die eigene Sichtweise f<strong>in</strong>det,<br />

wollte Watzlawick nicht nur auf die paradoxen Grenzfälle<br />

von Kommunikation h<strong>in</strong>aus. Der Mann, der die Elefanten<br />

zu sehen glaubt, ist auch e<strong>in</strong> Beispiel für den sogenannten<br />

radikalen Konstruktivismus, über den Watzlawick 1976<br />

e<strong>in</strong>en bis heute viel gelesenen Bestseller geschrieben hat:<br />

Wie wirklich ist die <strong>Wirklichkeit</strong>?<br />

Gute Frage. Auf der e<strong>in</strong>en Seite ist die Sache ganz<br />

e<strong>in</strong>fach. Wenn wir morgens aus dem Haus gehen, dann<br />

gehen wir aus guten Gründen davon aus, dass vor der<br />

Haustür ke<strong>in</strong> Abgr<strong>und</strong> klafft, dass die E<strong>in</strong>richtungen des<br />

öffentlichen Lebens noch da s<strong>in</strong>d, dass die Mitmenschen,<br />

die wir sehen, hören <strong>und</strong> riechen können, nicht bloße<br />

E<strong>in</strong>bildung s<strong>in</strong>d. Was es aber genau mit unserem <strong>Wirklichkeit</strong>sverhältnis<br />

auf sich hat, darüber streiten die großen<br />

Denker im Gr<strong>und</strong>e schon seit immer. Und bei diesem<br />

Streit ist doch auffällig, dass eher die Positionen <strong>in</strong> der<br />

Philosophie vorherrschen, die den Standpunkt vertreten,<br />

dass es mit der Realität der äußeren <strong>Wirklichkeit</strong> e<strong>in</strong>e<br />

problematische Bewandtnis hat. Für Platon ist die hiesige<br />

Welt nur das Abbild e<strong>in</strong>er anderen, idealen Welt. Für Kant<br />

war die Existenz von D<strong>in</strong>gen „an sich“ so ungewiss, dass er<br />

lieber von „Ersche<strong>in</strong>ungen“ sprach. Der frühe Wittgenste<strong>in</strong><br />

prägte den berühmten Satz, dass die Grenzen der Sprache<br />

auch die Grenzen se<strong>in</strong>er Welt wären.<br />

In all diesen Positionen äußert sich e<strong>in</strong> pr<strong>in</strong>zipieller<br />

Zweifel an der Erreichbarkeit e<strong>in</strong>er objektiven Welt <strong>in</strong><br />

der Erfahrung. Der Nachbar, über den wir uns ärgern,<br />

ist vielleicht auch nicht „realer“ als die Elefanten, die e<strong>in</strong><br />

Mann durch Händeklatschen zu vertreiben sucht. Zu allem<br />

Überfluss lauern, wenn man diesen Zweifel erst e<strong>in</strong>mal<br />

methodisch ernst nimmt, auch auf deren anderen Seite alle<br />

möglichen Probleme: Denn dann ermangelt das <strong>in</strong>dividuelle<br />

Leben womöglich jeder Gr<strong>und</strong>lage, <strong>und</strong> den Menschen<br />

bleibt nur die Wahl zwischen Wahn <strong>und</strong><br />

Wahn, zwischen naivem Realitätsglauben<br />

<strong>und</strong> endgültigem Skeptizismus.<br />

Im Alltag verzichten die Leute deswegen<br />

<strong>in</strong> der Regel darauf, diese Fragen zu stellen.<br />

Es bleibt den großen Frage-Antwort-<br />

Systemen <strong>in</strong> der Moderne vorbehalten,<br />

da weiterh<strong>in</strong> dranzubleiben. Neben der<br />

Religion <strong>und</strong> der Philosophie waren es vor<br />

allem die Künste <strong>und</strong> die neuen technischen<br />

Medien, die dafür gesorgt haben, dass<br />

gerade im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert die Sache mit<br />

dem Realismus noch e<strong>in</strong>mal deutlich an<br />

Popularität gewann. Inwiefern die Romane<br />

des „bürgerlichen“ Realismus von Keller<br />

oder Balzac oder Tolstoi dabei auf die neue<br />

Konkurrenz zur <strong>Fotografie</strong> reagierten, ist<br />

e<strong>in</strong>e der spannenden Fragen. Tatsache ist<br />

auf jeden Fall, dass es seit gut 170 Jahren so<br />

etwas wie e<strong>in</strong>e materielle Spur der <strong>Wirklichkeit</strong><br />

gibt: E<strong>in</strong>e <strong>Fotografie</strong> ist ja im Gr<strong>und</strong>e<br />

e<strong>in</strong> Abdruck von e<strong>in</strong>em Gegenstand, der<br />

Licht reflektiert – dem Bild liegt also e<strong>in</strong>e<br />

physische Ersche<strong>in</strong>ung zugr<strong>und</strong>e. Mit<br />

der Erf<strong>in</strong>dung der Kamera g<strong>in</strong>g man erst<br />

e<strong>in</strong>mal daran, diesen Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>in</strong> aller<br />

Welt h<strong>in</strong>terherzujagen, <strong>und</strong> zwei Generationen<br />

später wiederholte sich das mit dem<br />

K<strong>in</strong>ematografen.<br />

Die unerwarteten Weltgew<strong>in</strong>ne, die mit<br />

den fotografischen Reproduktionsmedien<br />

e<strong>in</strong>herg<strong>in</strong>gen, hatten langfristig allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht ganz den erwarteten Effekt. Denn es<br />

lief zwar e<strong>in</strong>e Weile darauf h<strong>in</strong>aus, dass die<br />

Reisenden mit der Kamera gewissermaßen<br />

die Berichte der großen Forscher „verifizierten“,<br />

<strong>in</strong>dem sie den Nil aufnahmen<br />

oder den Himalaya, die Völker entlegener<br />

Gegenden <strong>und</strong> die unberührte Schönheit<br />

unzivilisierter Landschaften. Doch je stärker<br />

im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert die Bildwelten wurden,<br />

je massiver sich das visuelle Regime <strong>in</strong> die<br />

Erfahrung drängte, desto vernehmlicher<br />

wurde e<strong>in</strong> neuer Realitätszweifel, den man<br />

als e<strong>in</strong>en Zweifel auf der nächsten Ebene<br />

bezeichnen könnte. Wieder verschwand<br />

das, was man geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> als das Wirkliche<br />

bezeichnen könnte, h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>er Zwischen<strong>in</strong>stanz<br />

der Vermittlung, die alles Unmittelbare<br />

auffrass: Die Massenmedien wurden<br />

nach Me<strong>in</strong>ung vor allem postmoderner<br />

Theoretiker zu e<strong>in</strong>er eigenen, vorherrschenden<br />

<strong>Wirklichkeit</strong>, h<strong>in</strong>ter der das Reale,<br />

das e<strong>in</strong> konservativer Denker wie George<br />

Ste<strong>in</strong>er gegen Jean Baudrillard verteidigte,<br />

vollkommen unerreichbar wurde.<br />

Der hartnäckige Witz, dass die amerikanische<br />

Mondlandung nur e<strong>in</strong>e Inszenierung<br />

gewesen sei, wirkt im Rückblick<br />

wie e<strong>in</strong>e Vorbereitung auf die gegenwärtigen<br />

Realismusfragen, die sich vor allem<br />

auf Momente der Wahrheitsf<strong>in</strong>dung <strong>in</strong><br />

politischen Konfliktsituationen beziehen.<br />

Wenn e<strong>in</strong> Krieg zu e<strong>in</strong>er Abfolge nahezu<br />

abstrakter Bilder im Fernsehen wird, wenn<br />

Aufnahmen aus Krisenregionenbloß e<strong>in</strong>en<br />

bestimmten „sp<strong>in</strong>“ e<strong>in</strong>er Problemlage<br />

zeigen, wenn die Montage von Videomaterial<br />

zu s<strong>in</strong>nverkehrenden Effekten führen<br />

kann, wird die Frage nach der <strong>Wirklichkeit</strong><br />

der <strong>Wirklichkeit</strong> ganz konkret. Dann geht<br />

es darum, wem <strong>und</strong> welchen Institutionen<br />

aus welchen Gründen zu trauen ist. Damit<br />

wird die Sache mit dem Realismus wie<br />

schon bei Kant aus den Fallen des Individualismus<br />

herausgehoben – was zählt,<br />

ist e<strong>in</strong>e Öffentlichkeit, die am Austausch<br />

vernünftiger Nachrichten <strong>in</strong>teressiert ist.<br />

Die bildende Kunst mit ihren extremen<br />

Pendelschlägen zwischen Abstraktion <strong>und</strong><br />

Abbildung dient <strong>in</strong> dieser Öffentlichkeit<br />

e<strong>in</strong>er kritischen Schärfung der S<strong>in</strong>ne, e<strong>in</strong>er<br />

Emanzipation von den Apparaten, e<strong>in</strong>er<br />

Beförderung der Intersubjektivität. Sie dient<br />

dem „common sense“ gerade dadurch, dass<br />

sie sich nicht geme<strong>in</strong> macht.<br />

Positionen zur Kunst<br />

MUMOK 3

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