Abbildung 1: Denkentwicklung bei Erwachsenen (nach Laske 2009, 120)Nach Laske (2006, 2009) entwickelt sich das Denkenvon Erwachsenen in Phasen: vom ges<strong>und</strong>en Menschenverstandzum Verstehen, dann zur Vernunft <strong>und</strong>schliesslich zur praktischen Weisheit. Die ersten dreiEpochen der Denkentwicklung können vereinfacht charakterisiertwerden als alltägliches Denksystem (Locke),als formal-logisches Denksystem (Kant) <strong>und</strong> alsdialektisches Denksystem (Hegel). Dabei setzt jedesDenksystem das vorhergehende voraus. Die Denkentwicklungfindet ihren vorläufigen Abschluss in einerForm von praktischer Weisheit, die zu einer höherenArt von ges<strong>und</strong>em Menschenverstand zurückführt. Dasformallogische Denken ist mit ungefähr 25 Jahren vollentwickelt. Das dialektische Denken beginnt mit ungefähr18 Jahren <strong>und</strong> die praktische Weisheit beginnttypischerweise nicht vor 50 Jahren. Der Umgang mitWidersprüchen bzw. die Verwendung <strong>und</strong> Koordinationvon dialektischen Denkformen innerhalb eines holisti-schen Rahmens bildet in der Denkentwicklung von Erwachsenenden wichtigsten Meilenstein.Im ersten Teil dieses Beitrags wurden bereits LaskesKlassen der dialektischen Denkformen vorgestellt (vgl.Frischherz 2013). Die vier Klassen von Denkformen bildeneine geordnete Sequenz: K > P > R > T. Das heisst,etwas muss als Form <strong>und</strong> Kontext (K) existieren,damit man es in Veränderung (P) oder in Beziehungen(R) verstehen kann. Und nur wenn etwas sowohl prozessual,kontextuell, <strong>und</strong> relational gefasst ist, kann esauch als ein System im Wandel, als Transformation (T)verstanden werden (Laske 1969, 172). Empirische Untersuchungenhaben gezeigt, dass sich die kognitiveEntwicklung bei Erwachsenen tendenziell an dieser systematischenSequenz orientiert. <strong>Dialektische</strong>s Denkenbeginnt in der Phase der Illumination normalerweisemit Denkformen der Klasse Kontext <strong>und</strong> bezieht späterauch Denkformen der Klassen Prozess <strong>und</strong> RelationBruno Frischherz: «<strong>Dialektische</strong> <strong>Textanalyse</strong> II» www.zeitschrift-schreiben.eu 24.8.2013 Seite: 2 /6
ein. Die Remediation setzt die Illumination voraus <strong>und</strong>nutzt Denkformen der Klasse Transformation. Die dialektische<strong>Textentwicklung</strong> nutzt nun diese Erkenntnisseaus der empirischen Forschung zur Erwachsenenentwicklung<strong>und</strong> bildet die ontogenetische Denkentwicklungquasi im Zeitraffer ab.2 <strong>Dialektische</strong> <strong>Textentwicklung</strong>Die Denkentwicklung bei Erwachsenen kann als dialektischeDenkbewegung auch als Leitfaden für dieEntwicklung von Texten mit einem hohen Anteil vonabstraktem Denken dienen. Konzept- <strong>und</strong> Strategiepapierensetzen eine umfassende Erhellung unterschiedlicherAspekte eines Themas voraus <strong>und</strong> sollentrotz komplexer <strong>und</strong> widersprüchlicher Sachverhaltezu handlungsorientierten Schlussfolgerungen führen.Kurz gesagt, die Entwicklung von Konzept- <strong>und</strong> Strategiepapierenverlangen nach intensivem dialektischemDenken.<strong>Dialektische</strong> <strong>Textentwicklung</strong> geschieht in vierSchritten:Schritt 1: StrukturierungDas Ziel der logischen Strukturierung ist es, eine widerspruchsfreieOrdnung in einen unübersichtlichenSachverhalt zu bringen. Die Erkenntnisse werden ineinem konsistenten System von Aussagen d.h. in einerTheorie über einen bestimmten Realitätsausschnitt niedergelegt.Dazu benötigt die Theorie begriffliche <strong>und</strong>formale Gr<strong>und</strong>lagen bzw. Axiome als Ausgangspunkte.Eine Theorie braucht auch empirischen Gehalt, der ausder Beobachtung oder aus Experimenten stammt. MitHilfe der formalen Logik kann man dann aus den allgemeinenAussagen auf den konkreten Einzelfall schliessen(Deduktion). Aus konkreten Beobachtungen lassensich wiederum allgemeine Aussagen erschliessen, diedann zum gesicherten Bestand einer Theorie gehören(Induktion). Diese Gedankenordnung bzw. Theorie zueinem Sachverhalt bildet den Ausgangspunkt, die TheseA, für die weitere dialektische Denkbewegung.Schritt 2: IlluminationDas Ziel der Illumination ist es, verschiedene Aspektedes Sachverhalts weiter zu erhellen. In allen Sachverhaltensind Spannungsfelder auszumachen: Was imKleinen stimmt – stimmt oft im Grossen nicht mehr.Was heute gewiss ist – ist morgen bereits ungewiss.Was in einem Zusammenhang richtig erscheint – ist ineinem anderen Zusammenhang völlig falsch. In die-sem zweiten Schritt geht es nun darum, verschiedene,oft widersprüchliche Aspekte des Sachverhaltes auszuleuchten.Die Illumination ist die Kritik der bisherigenGedankenordnung durch den Einsatz von dialektischenDenkformen der Klassen Kontext, Prozess <strong>und</strong> Relation.Zu allen Denkformen lassen sich offene Fragen formulieren,die als Denkanstösse zur Erhellung des Sachverhaltsdienen. Hier wird auch der dialogische Charakterder dialektischen <strong>Textentwicklung</strong> deutlich. Die Illuminationeines Sachverhalts kann entweder alleine durcheine reflektierende Person geschehen oder in Kooperationmit anderen Autoren oder Anspruchsgruppen. DieKritik der ersten Gedankenordnung bildet die AntitheseNicht-A zur ursprünglichen Gedankenordnung A.Schritt 3: RemediationDas Ziel der Remediation ist es, zwischen den verschiedenenoft widersprüchlichen Aspekten des Sachverhaltszu vermitteln <strong>und</strong> eine neue, ausgewogene Gedankenordnungzu finden. Dabei werden Denkformender Klasse Transformation eingesetzt. Es handelt sichnicht um eine formal-logische Schlussfolgerung, sondernum die Suche nach einem ausgewogenen, reflektiertenUrteil. In sozialen Prozessen handelt sich umeine kooperative Lösungssuche <strong>und</strong> Konsensfindung.Dabei müssen unterschiedliche Ansprüche von Betroffenenanerkannt <strong>und</strong> berücksichtigt werden. Die Suchegeht so lange weiter, bis die Beteiligten ein Gleichgewichtder Überlegungen gef<strong>und</strong>en haben. Gemäss demGr<strong>und</strong>satz der Diskursethik müssten ausgewogene Lösungenvon allen Beteiligten zwanglos akzeptiert werdenkönnen. Die Remediation bildet die Synthese ausder ursprünglichen These A <strong>und</strong> der Antithese Nicht-A.Schritt 4: UmsetzungDas Ziel der Implementierung ist es, die erarbeiteteKonzeption praktisch umzusetzen. Das geglückte Ergebnisder Implementierung ist eine reflektierte Praxisbzw. praktische Weisheit.Die vier Schritte der dialektischen Denkbewegung können<strong>und</strong> sollen wiederholt durchlaufen werden, um dieGedankenordnung laufend der sich ändernden Realitätanzupassen.Der nächste Abschnitt zeigt exemplarisch, wie die dialektische<strong>Textentwicklung</strong> helfen kann, ein Konzeptpapierzum E-Learning an einer Fachhochschule zu entwerfen.Bruno Frischherz: «<strong>Dialektische</strong> <strong>Textanalyse</strong> II» www.zeitschrift-schreiben.eu 24.8.2013 Seite: 3 /6