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DDR-Geschichte in der Übertragung Besonderheiten ... - Ngat.de

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1<strong>DDR</strong>-<strong>Geschichte</strong> <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> ÜbertragungBeson<strong><strong>de</strong>r</strong>heiten ost<strong>de</strong>utscher Psychotherapie-Patienten -1Dr. med. Michael J. Froese, PotsdamVortrag gehalten auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Tagung <strong><strong>de</strong>r</strong> NGaT <strong>in</strong> Malente am 17. März 20121. E<strong>in</strong>führungSehr geehrte Damen und Herren,ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre E<strong>in</strong>ladung und die Möglichkeit überunsere Erfahrungen aus unserer psychohistorischen Arbeitsgruppe sprechen zukönnen. Ich wer<strong>de</strong> Ihnen also e<strong>in</strong>iges über die Mentalität und <strong>in</strong>psychotherapeutischen Behandlungen auftauchen<strong>de</strong> Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>heiten Ost<strong>de</strong>utscherversuchen nahe zu br<strong>in</strong>gen.Als ich darüber nachdachte, wie ich diesen Vortrag beg<strong>in</strong>nen könnte, s<strong>in</strong>d mirzwei Patienten verschie<strong>de</strong>ner Generationen e<strong>in</strong>gefallen, e<strong>in</strong>e junge Frau, von MitteDreißig und e<strong>in</strong> Mann Mitte 50. Bei<strong>de</strong> stehen für Patienten, wie wir sie heute <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>Psychotherapie häufig sehen. Ich möchte im Folgen<strong>de</strong>n über das Beispiel <strong><strong>de</strong>r</strong> jungenFrau berichten. Über <strong>de</strong>n Mann können wir vielleicht <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Diskussion sprechen.Darüber h<strong>in</strong>aus will ich aufgrund unserer Erfahrungen <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> psychohistorischenGruppe e<strong>in</strong>ige behandlungstechnische Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>heiten ost<strong>de</strong>utscher Psychotherapie -Patienten darstellen. Wie ich Ihnen zeigen wer<strong>de</strong>, mischen sich bei ihnen nicht seltentransgenerationelle Traumatisierungen mit seelischen Verletzungen, die während <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>DDR</strong>-Zeit entstan<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d. Schließlich hat die sog. Wen<strong>de</strong> von 1989 viele Ost<strong>de</strong>utsche nichtnur stolz gemacht. Die mit ihr e<strong>in</strong>hergehen<strong>de</strong> zeitweilige Chaotisierung zentralerLebensbereiche kann Störungen h<strong>in</strong>terlassen haben.H<strong>in</strong>tergrund me<strong>in</strong>er Erörterungen s<strong>in</strong>d Erfahrungen aus e<strong>in</strong>erpsychohistorischen Arbeitsgruppe. E<strong>in</strong> Kreis von Lehranalytikern <strong>de</strong>s psychoanalytischenInstitutes <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Invali<strong>de</strong>nstrasse, <strong><strong>de</strong>r</strong> APB, hat e<strong>in</strong>e spezielle Arbeitsweiseentwickelt, die es erlaubt, <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>fluss prägen<strong><strong>de</strong>r</strong> historischer Ereignisse aufBetroffene <strong>de</strong>utlicher sehen zu können. Zunächst aber e<strong>in</strong> Wort zum Begriff <strong>de</strong>s


2Psychohistorischen. Ich verwen<strong>de</strong> <strong>de</strong>n von Erikson und DeMause (2000) entwickeltenAnsatz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Weise. Uns geht es weniger um <strong>de</strong>n prägen<strong>de</strong>n E<strong>in</strong>flussfrüher K<strong>in</strong>dheiten o<strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>zelner Persönlichkeiten auf Institutionen o<strong><strong>de</strong>r</strong>Gesellschaften. Wir <strong>in</strong>teressieren uns <strong>in</strong> umgekehrter Richtung für dieAuswirkungen traumatischer Ereignisse auf die <strong>in</strong>nere Realität e<strong>in</strong>es bestimmten,latent o<strong><strong>de</strong>r</strong> manifest traumatisierten Klientels (vgl. Ra<strong>de</strong>bold et.al. 2009).2. Zur Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> psychohistorischen ArbeitsgruppeSeit Mitte <strong><strong>de</strong>r</strong> 90 - er Jahre beschäftigen wir uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er AG Psychoanalyse undGesellschaft mit <strong>de</strong>m psychischen Erbe <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>DDR</strong>-Zeit. Erste Themen, mit <strong>de</strong>nen wiruns ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>setzten, waren Folgen von Nazizeit, Krieg und Nachkrieg,Krippenerziehung, Stasi-Bespitzelung und politischer Haft. Auf e<strong>in</strong>er Arbeitstagung2005 setzten wir uns das erste Mal gründlicher mit verschie<strong>de</strong>nen Formen <strong><strong>de</strong>r</strong>Traumatisierung Ost<strong>de</strong>utscher ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong> (vgl. Seidler u. Froese 2009). DieseDiskussionen waren noch theoretischer Natur. 2007 begannen wir, regelmäßig überPatienten zu besprechen, bei <strong>de</strong>nen historische E<strong>in</strong>flüsse e<strong>in</strong>e beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Rollespielen. Unsere Gruppe trifft sich e<strong>in</strong>mal im Monat. E<strong>in</strong>e Sitzung dauert 90 M<strong>in</strong>uten.Wie wer<strong>de</strong>n unsere Fälle ausgewählt? Es gibt nur die e<strong>in</strong>fache Verabredung,e<strong>in</strong>en Patienten mitzubr<strong>in</strong>gen, bei <strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> Analytiker <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>druck hat, geschichtlicheFaktoren könnten zum Verständnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Störung <strong>de</strong>s Patienten wesentlich se<strong>in</strong>. DerGruppenleiter achtet neben <strong>de</strong>n kl<strong>in</strong>ischen Aspekten <strong>de</strong>s Falles zusätzlich auf imMaterial enthaltene signifikante historische E<strong>in</strong>flüsse und ermuntert die Gruppe,hierzu zu assoziieren. Meist am Anfang bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorstellung durch <strong>de</strong>n betreffen<strong>de</strong>nKollegen und am En<strong>de</strong> je<strong><strong>de</strong>r</strong> Sitzung wird darüber nachgedacht, welche beson<strong><strong>de</strong>r</strong>epolitisch/kulturelle Konstellation sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>m diskutierten Fallmaterial f<strong>in</strong><strong>de</strong>n lässt.Wenn es gel<strong>in</strong>gt, e<strong>in</strong>e Szene aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppendiskussion herauszulesen, ist dasAuff<strong>in</strong><strong>de</strong>n e<strong>in</strong>er solchen Figur erleichtert. Nach <strong>de</strong>n Fallvorstellungen wer<strong>de</strong>nProtokolle geschrieben. In e<strong>in</strong>igen Fällen ist es erst mit zeitlichem Abstand möglich,e<strong>in</strong>en Fokus zu formulieren, <strong><strong>de</strong>r</strong> das gesuchte historische Moment be<strong>in</strong>haltet. Ziel istes, prägen<strong>de</strong> Momente <strong>de</strong>s Geschichtlichen <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung aufzuspüren. Um zu zeigen, wie wir arbeiten, wer<strong>de</strong> ichIhnen jetzt e<strong>in</strong> ausführliches Fallbeispiel geben.


33. Der Fall ClaudiaE<strong>in</strong>e vitale 33-jährige, <strong>in</strong> ihrem Auftreten sympathische Versicherungsangestellte, dieich Claudia nenne, kam wegen Bulimie, Selbstunsicherheit und aggressiven Durchbrüchen zumir. Anlass für ihren Entschluss e<strong>in</strong>e Therapie zu beg<strong>in</strong>nen, war die kränken<strong>de</strong>Zurückweisung durch e<strong>in</strong>en Dozenten, <strong>in</strong> <strong>de</strong>n sie sich während e<strong>in</strong>es Weiterbildungs-Lehrgangs verliebt hatte. Der zog sich nach e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>sam verbrachten Nacht zurück.Sie geriet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Selbstwertkrise. Die bulimischen Beschwer<strong>de</strong>n, die es <strong>in</strong> bestimmtemUmfang seit früher K<strong>in</strong>dheit und Pubertät gab, nahmen drastisch zu. In unserer zweitenSitzung teilte sie mit, dass sie die Tochter e<strong>in</strong>es hohen Staatssicherheits-Offiziers un<strong>de</strong><strong>in</strong>er Lehrer<strong>in</strong> sei. Über <strong>de</strong>n Verantwortungsbereich ihres Vaters sagte sie nichts. IhreMutter me<strong>in</strong>te, als sie die Schwangerschaft mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Patient<strong>in</strong> ent<strong>de</strong>ckte, e<strong>in</strong> bösartigesGewächs hätte sich <strong>in</strong> ihrer Gebärmutter entwickelt. Essen wur<strong>de</strong> frühzeitig zuBeruhigung und Kompensation fehlen<strong><strong>de</strong>r</strong> Zuwendung und Liebe von bei<strong>de</strong>nübergewichtigen Eltern verwen<strong>de</strong>t. Schon im K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>garten und später <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Schule, hatsie sich als Außenseiter<strong>in</strong> gefühlt.Als sie von ihrem Vater erzählt, kann ich kaum nachfragen. Täter-Phantasienbeschäftigen mich sofort. Spontan verspüre ich e<strong>in</strong>e Abneigung, mit <strong>de</strong>m K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>esehemaligen Stasi-Oberst e<strong>in</strong>e Therapie zu beg<strong>in</strong>nen. Tief <strong>in</strong> mir b<strong>in</strong> ich empört überdiese Konstellation und <strong>de</strong>nke, e<strong>in</strong>e therapeutische Beziehung zwischen uns kannke<strong>in</strong>esfalls produktiv wer<strong>de</strong>n. Aber Claudia gel<strong>in</strong>gt es <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Probestun<strong>de</strong>n, mich durchihre offene, sympathische Art für sich e<strong>in</strong>zunehmen. So beg<strong>in</strong>nen wir e<strong>in</strong>e analytischeBehandlung, zunächst mit zwei, später drei Wochenstun<strong>de</strong>n. Der Prozess entwickelt sichanfangs gut. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Atmosphäre e<strong>in</strong>er positiven Vaterübertragung bleibt die Stasi-Vergangenheit ihres Vaters lange randständig. Claudia beschrieb ihren Vater <strong>in</strong> dieserZeit als verbittertes Wen<strong>de</strong>opfer. Er arbeitet als Vermögensberater und steht <strong>de</strong>naktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen äußerst kritisch gegenüber. Mit se<strong>in</strong>er Fraulebt er isoliert. Bei<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Stasi-Vergangenheit von ihrem sozialen Umfeldgemie<strong>de</strong>n. Umso wichtiger ist ihnen <strong><strong>de</strong>r</strong> Kontakt zu bei<strong>de</strong>n Töchtern. Claudias ältereSchwester hält sich von <strong>de</strong>n Eltern fern. Deren Mann versteht sich mit <strong>de</strong>m Vater nicht.So fühlt sich Claudia für ihre Eltern verantwortlich; zugleich will sie diese Rolleloswer<strong>de</strong>n.Nach e<strong>in</strong>iger Zeit erfahre ich, dass es väterlicherseits zu e<strong>in</strong>er hel<strong>de</strong>nhaften verarbeitetenTrennungstraumatisierung und mütterlicherseits zu e<strong>in</strong>em außeror<strong>de</strong>ntlich beschämen<strong>de</strong>n


4Verrat gekommen ist. Über bei<strong>de</strong> tragische <strong>Geschichte</strong>n ist während K<strong>in</strong>dheit undJugend <strong><strong>de</strong>r</strong> Patient<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Familie nur <strong>in</strong> für Claudia wenig verständlichenAn<strong>de</strong>utungen gesprochen wor<strong>de</strong>n.Der wegen politischen Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stands gegen die Nazis verurteilte väterliche Großvaterwar e<strong>in</strong>em KZ-To<strong>de</strong>smarsch durch mutige Flucht entkommen. Nach <strong>de</strong>m Krieg heirateteer und verließ se<strong>in</strong>e noch schwangere Frau, um als sog. Kundschafter für <strong>de</strong>n KGB <strong>in</strong> <strong>de</strong>nWesten zu gehen. Se<strong>in</strong>e Abwesenheit wur<strong>de</strong> durch die Großmutter verleugnendi<strong>de</strong>alisiert, e<strong>in</strong>es Tages käme er zurück. Sie blieb verbittert alle<strong>in</strong>. Claudias Vater wur<strong>de</strong>selbst Geheimdienstmann und traf se<strong>in</strong>en Vater noch e<strong>in</strong>ige wenige Male, sozusagen alsKollegen; sonst gab es ke<strong>in</strong>e Kontakte. In <strong><strong>de</strong>r</strong> mütterlichen Familie entwickelte sich imGefolge e<strong>in</strong>er kühl-abweisen<strong>de</strong>n Haltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Großmutter e<strong>in</strong>e heftige Rivalität zwischenzwei Schwestern um die Liebe ihres Vaters. Als die ungeliebte ältere Tante <strong><strong>de</strong>r</strong> Patient<strong>in</strong>diesen im Affekt nach e<strong>in</strong>em Streit wegen se<strong>in</strong>er SA-Mitgliedschaft verriet, wur<strong>de</strong> er fürJahre e<strong>in</strong>gesperrt und kam als gebrochener Mann zurück.Die Beziehung von Claudia zu ihrer Mutter bleibt <strong>in</strong> <strong>de</strong>n damaligen Stun<strong>de</strong>n blass.Der analytische Prozess kommt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e größere Krise, nach<strong>de</strong>m Claudia die familiärenTraumatisierungen e<strong>in</strong>gebracht hat. Ihre Bulimie verstärkt sich massiv. Me<strong>in</strong>e damaligeDeutung, Claudia sei enttäuscht, dass ich mich mehr für ihre Eltern bzw. Großeltern alsfür sie <strong>in</strong>teressiere, bestätigt sie zwar. Sie bleibt aber dabei, mir auszuweichen, wenn ichversuche, über unsere Beziehung zu sprechen. Claudia bagatellisiert hartnäckig o<strong><strong>de</strong>r</strong>verbreitet unmotivierten Optimismus. Ich habe das Gefühl, wir steckten fest. Aus diesemGrund br<strong>in</strong>ge ich sie <strong>in</strong> unsere Gruppe.Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorstellung sagen e<strong>in</strong>ige Kollegen, Claudia weiche mir nicht nur aus, wennich unsere Beziehungen anspreche. Sie hätten <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>druck, dass die Patient<strong>in</strong> sichanstrenge, mich zu schonen, zu versorgen, eigentlich mich zu bemuttern. Sie wür<strong>de</strong> sichähnlich ambivalent um mich kümmern, wie sie es für ihre Eltern tue. Und ich hätte dasoffensichtlich nicht bemerkt. In <strong>de</strong>m Bericht war me<strong>in</strong>en Kollegen auch aufgefallen, wiesehr ich mich bemühte, me<strong>in</strong>e Schwierigkeiten mit Claudia anhand <strong>de</strong>taillierterDarstellungen therapeutischer Mikro-Szenen zu illustrieren. Die Gruppe phantasiert e<strong>in</strong>eschwierige therapeutische Grundsituation. Dass ich sie gegen me<strong>in</strong>e ursprünglicheIntention genommen hatte, sehen mehrere Kollegen als e<strong>in</strong>e dauerhafte Belastung. Mankann sich kaum vorstellen, wie es mir gel<strong>in</strong>gen soll, dieses Ressentiment zu kontrollieren.Mehrere Kollegen i<strong>de</strong>ntifizieren sich mit <strong>de</strong>n gesun<strong>de</strong>n, sympathischen Anteilen <strong><strong>de</strong>r</strong>


5Patient<strong>in</strong> und betonen die Chance, die sie durch die Therapie bekäme. E<strong>in</strong>e Kolleg<strong>in</strong>thematisiert die schwierigen Umstän<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>nen Claudia <strong>in</strong> ihrer Familie aufwuchsund wun<strong><strong>de</strong>r</strong>t sich, dass bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Essstörungs-Symptomatik so wenig von <strong><strong>de</strong>r</strong> Mutter dieRe<strong>de</strong> gewesen sei. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe wird schließlich überlegt, ob Claudia es gut verstün<strong>de</strong>,jeweils schwierige Momente per Spaltung aus unserer Beziehung herauszuhalten. E<strong>in</strong>eKolleg<strong>in</strong> fühlt sich durch die von mir – wie sie f<strong>in</strong><strong>de</strong>t – „zwanghaft kle<strong>in</strong>teilig“ geliefertenSchil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen von „zu viel Gegenübertragungsmaterial“ gestört.Die Diskussion <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe begann mich nun doch zu verstimmen. Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s dasArgument, ich hätte zu viel von me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Reaktionen mitgeteilt, nahm ich als Kritik.Eigentlich war ich froh, <strong>de</strong>tailliert unsere Beziehung darstellen zu können. Aber das sahich von me<strong>in</strong>en Kollegen nicht honoriert. Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Sitzung blieb e<strong>in</strong> Gefühl vonVerkennung und Ablehnung. Erst als ich Tage später e<strong>in</strong> Protokoll über dieFalldiskussion schrieb, gelang es mir wahrzunehmen, wie sich <strong>in</strong> mir e<strong>in</strong>eReaktionsbildung gegen die Ablehnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Stasi-Vater-Tochter-Konstellation von Claudiagebil<strong>de</strong>t hatte. Ich fasste <strong>de</strong>n von mir empfun<strong>de</strong>nen Dialog unserer Übertragungs-Situation<strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Protokoll mit folgen<strong>de</strong>n Worten zusammen:Claudia sagte etwa: „Wenn ich Dich schone, wirst Du das hoffentlich auch tun. Dennes gibt Grün<strong>de</strong>, wegen <strong><strong>de</strong>r</strong>er ich geschont wer<strong>de</strong>n möchte. Zum Beispiel will ich ke<strong>in</strong>eVerräter<strong>in</strong> se<strong>in</strong>, wie me<strong>in</strong>e Tante e<strong>in</strong>e war und gleichfalls me<strong>in</strong>en geliebten Vaterbloßstellen. Noch schwieriger als die B<strong>in</strong>dung an me<strong>in</strong>en Vater aber ist das Verhältnis zume<strong>in</strong>er Mutter. Aber darüber re<strong>de</strong> ich momentan lieber nicht. Auch nicht über dieBeziehung zu Dir, das ist mir momentan zu heiß. Du bist e<strong>in</strong> wohlwollen<strong><strong>de</strong>r</strong> Therapeut,<strong><strong>de</strong>r</strong> mich behan<strong>de</strong>lt und nicht weggeschickt hat. Aber das kann ja im Ernstfall nochgeschehen. Ich habe immer erlebt, im Zweifelsfall lästig zu se<strong>in</strong>. Ich spüre, wie du an <strong>de</strong>nhistorischen Sachen <strong>in</strong>teressiert bist. Ist ja auch <strong>in</strong>teressant. Da ich auch nicht genauweiß, was me<strong>in</strong> Vater getan hat, sche<strong>in</strong>t es besser, diese D<strong>in</strong>ge erst e<strong>in</strong>malauszuklammern. Ich will ihn nicht unnötig kränken. Und wer weiß, wie Du daraufreagieren wirst. Denn ich brauche Dich als gutes Objekt, um von me<strong>in</strong>er Krankheitloszukommen und e<strong>in</strong> normales Leben führen zu können!“Me<strong>in</strong>e Antwort darauf ist etwa folgen<strong>de</strong>: „Ich behandle Dich, obwohl ich es nichtwollte. Denn mit Stasi-Leuten und <strong><strong>de</strong>r</strong>en K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>n hatte ich nichts am Hut. Denen mussteich mich lange genug beugen und jetzt b<strong>in</strong> ich <strong>in</strong> Gefahr, mich irgendwann an dir fürfrüher erlittene Erniedrigungen rächen zu wollen. Aber die alten Zeiten s<strong>in</strong>d Gott-sei-


84. Weitere Befun<strong>de</strong> aus <strong><strong>de</strong>r</strong> psychohistorischen ArbeitsgruppeZwischen Mai 2007 und März 2011 haben wir <strong>in</strong> unserer historischen Arbeitsgruppe 29Fälle besprochen. Am häufigsten waren das Wen<strong>de</strong>-Themen gefolgt von Problemen mit <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>DDR</strong>-Vergangenheit, an dritter Stelle rangierten therapeutische Ost-West-Konstellationen.Kollegen, die Material vorstellten, exponierten sich <strong>in</strong> beson<strong><strong>de</strong>r</strong>er Weise. Aber auch wirMitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeitsgruppe gerieten während <strong><strong>de</strong>r</strong> Falldiskussionen und <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit danachmehrfach <strong>in</strong> diffizile <strong>in</strong>nere Situationen politisch-historischer Selbsterfahrung. Erst mit e<strong>in</strong>emgewissen zeitlichen Abstand war meist möglich, die eigenen Reaktionen auf unsereVergangenheit <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Therapien umfassen<strong><strong>de</strong>r</strong> zu reflektieren.Fasst man die bisherige Arbeit unter behandlungstechnischen Gesichtspunkten zusammen,lassen sich verschie<strong>de</strong>ne Aspekte beschreiben, die wir <strong>in</strong> psychotherapeutischenBehandlungen ost<strong>de</strong>utscher Psychotherapie-Patienten wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holt beobachtet haben:1. Viele ost<strong>de</strong>utsche Patienten, die heute <strong>in</strong> unsere Behandlungen kommen, waren zurZeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Wen<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Pubertät o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Adoleszenz. Die Verunsicherungen <strong><strong>de</strong>r</strong>Wen<strong>de</strong>zeit erzeugten e<strong>in</strong>e beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>in</strong>tergenerationelle Dynamik. Die existentiellenVerunsicherungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Eltern führten oft zu Parentifizierungen durch ihreadoleszenten K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>. Diese Entwicklung wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte sich <strong>in</strong> mehreren von unsuntersuchten Therapien auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Ebene <strong><strong>de</strong>r</strong> Übertragungsbeziehungen, wenn Therapeutenund Patienten unterschiedlichen Generationen angehörten. Diagnostisch lohnt essich, darauf zu achten, ob das Familiensystem, <strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> Patient angehörte, labilisierto<strong><strong>de</strong>r</strong> evtl. sogar traumatisiert war. Insofern sollten diese Übertragungsentwicklungennicht als narzisstisch motivierte Abwehr von Abhängigkeitswünschenmissverstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.Parallel zu <strong>de</strong>n Parentifizierungen während und nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Wen<strong>de</strong> haben wir pseudoprogressiveEntwicklungen gesehen, <strong>in</strong>nerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong>er sich Adoleszente forciert von ihrenPrimärobjekten ablösten. In Therapien traten Übertragungskonstellationen auf, <strong>in</strong>welchen Flucht <strong>in</strong> die Gesundheit o<strong><strong>de</strong>r</strong> ähnliche Ten<strong>de</strong>nzen beschleunigter Entwicklungzum Ausdruck kamen.2. Psychotherapeutische/analytische Behandlungen kamen nicht zustan<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong> wur<strong>de</strong>nnach kurzer Zeit abgebrochen, weil heftige <strong>in</strong>itiale, negative Übertragungs-/Gegenübertragungskonstellationen das Entstehen e<strong>in</strong>es Arbeitsbündnissesverh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>ten. Das beobachteten wir beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s bei ehemals politisch Inhaftierten. Deren


9Entschluss, sich psychotherapeutisch behan<strong>de</strong>ln zu lassen, mobilisiert meist hoheAmbivalenzen, sich wenig strukturierten Therapiesituationen auszusetzen. Daspsychotherapeutische Sett<strong>in</strong>g er<strong>in</strong>nert ehemalige Häftl<strong>in</strong>ge nicht selten an ihreVerhörsituation (vgl. Trobisch-Lütke (2004). Wenn schon <strong>in</strong> <strong>de</strong>n ProbesitzungenEnactments mit heftigen Affekten auftreten, kann sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Therapeut fragen, ob e<strong>in</strong>esolche Retraumatisierungsangst angetriggert wor<strong>de</strong>n se<strong>in</strong> könnte. Wir habenmehrere solcher Fälle besprochen und waren, wie die vorstellen<strong>de</strong>n Kollegen,überrascht, dass therapeutische Angebote trotz heftiger Symptomatik und starkenLei<strong>de</strong>nsdrucks und guten Willens seitens <strong>de</strong>s Therapeuten nicht genutzt wer<strong>de</strong>nkonnte.3. E<strong>in</strong> <strong>in</strong> unserem Material unerwartet auftauchen<strong><strong>de</strong>r</strong>, überraschen<strong><strong>de</strong>r</strong> Befund warenSchwierigkeiten bestimmter Therapeuten, mit Patienten, die sie als Täter ansahen,aktiv und konfrontativ umzugehen. Sie wirkten angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> therapeutischenSituation enthaltenen neuen Machtmöglichkeiten auffällig gehemmt. So als wollten siediese vor ihrem eigenen Straf- und Racheimpulsen verschonen. Interessanterweiseentwickelten gera<strong>de</strong> solche Kollegen, die selbst <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>DDR</strong> verfolgt o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong>haftiertwor<strong>de</strong>n waren, <strong><strong>de</strong>r</strong>artige Reaktionsbildungen.Weshalb diese Schwierigkeiten mehr als 20 Jahre nach <strong>de</strong>m Zusammenbruch <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>DDR</strong> noch bestehen, ist e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Frage. Es sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> ausreichen<strong><strong>de</strong>r</strong>zeitlicher Abstand erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>lich zu se<strong>in</strong>, sich mit Tätern ause<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>zusetzen. InWest<strong>de</strong>utschland kam es öffentlich erst 1968 zu e<strong>in</strong>er solchen Situation. DieOst<strong>de</strong>utschen müssen das Erbe zweier Diktaturen verarbeiten. Halberstadt - Freud hat<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em 2011 erschienenen Beitrag gezeigt, wie Nachkommen <strong><strong>de</strong>r</strong> Täter unterSymptomen lei<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n weitergegebenen Traumatisierungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Opfer ähnlichs<strong>in</strong>d. Sie hält sie zum Teil für noch schwerer zu verarbeiten, da une<strong>in</strong>gestan<strong>de</strong>ne Schuldund gesellschaftliche Ächtung zu Schamreaktionen und sozialer Vermeidungbeitragen. K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> und K<strong>in</strong><strong>de</strong>sk<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Täter entwickeln nach Halberstadt - Freu<strong>de</strong><strong>in</strong>e gespaltene Loyalität. E<strong>in</strong>erseits s<strong>in</strong>d sie ihren Eltern und Großeltern gegenüberunbewusst loyal, an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits missbilligen sie <strong><strong>de</strong>r</strong>en Vergangenheit und s<strong>in</strong>d längstmit entgegen gesetzten Werten i<strong>de</strong>ntifiziert. Die persönliche Loyalität <strong><strong>de</strong>r</strong> Familiegegenüber beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>e o<strong><strong>de</strong>r</strong> vereitele die Suche nach Wahrheit und <strong>de</strong>n Wunsch, dieTatsachen <strong>in</strong> Erfahrung zu br<strong>in</strong>gen, was die Voraussetzung für e<strong>in</strong>e Heilung wäre,möglicherweise völlig. Dieses Problem haben Ost<strong>de</strong>utsche <strong>in</strong> zweifacher H<strong>in</strong>sichtdurchzuarbeiten. Diese doppelte Schuld-Problematik ist vielfach unbewusst und stellt


10e<strong>in</strong>en wichtigen Ansatzpunkt für Nostalgie und <strong>de</strong>fensive SelbstbehauptungsversucheOst<strong>de</strong>utscher dar.4. E<strong>in</strong>en beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Schwerpunkt stellen Fragen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuld dar. Dabei ist es auspsychotherapeutischer Perspektive nötig, zwischen realer und entlehnter Schuld zuunterschei<strong>de</strong>n. Es ist <strong>in</strong> Diktaturen für die meisten Menschen unmöglich, nichtirgendwann real schuldig zu wer<strong>de</strong>n. Das ist auf die latent sado-masochistischenMachtstrukturen <strong>de</strong>s politischen Systems zurückzuführen. Die Herrschen<strong>de</strong>n setzenihre Macht im Zweifel sadistisch durch. Damit wird e<strong>in</strong>e Beziehungsstrukturetabliert, welche auch die Opfer dieser Machtausübung ver<strong>in</strong>nerlichen. Irgendwannwer<strong>de</strong>n auch sie zu Tätern. Sie kennen die Befun<strong>de</strong> und Begriffe über das Leben imDritten Reich. Für die <strong>DDR</strong>-Zeit ist es nicht e<strong>in</strong>fach, über Schuldfragen zu sprechen,da sie oft subtiler zustan<strong>de</strong> kamen als es im Dritten Reich <strong><strong>de</strong>r</strong> Fall war.Schwieriger, weil ver<strong>de</strong>ckter, ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Umgang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> geerbten, <strong><strong>de</strong>r</strong> entlehntenSchuld. Haben sich Väter im Krieg schuldig gemacht, gaben sie diese oft unbewusstweiter. Bei e<strong>in</strong>em me<strong>in</strong>er Patienten, <strong>de</strong>ssen Vater Wehrmachtsoffizier war, fan<strong>de</strong>nwir e<strong>in</strong>e ausgeprägte masochistische Lebenshaltung, die sich auf die vom Vaterübernommenen Schuld zurückführen ließ. Der Vater war zunächst <strong>in</strong> die KasernierteVolkspolizei <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>DDR</strong> übernommen, später als Nazi enttarnt und entlassen wor<strong>de</strong>n.Er nahm sich im 4. Lebensjahr <strong>de</strong>s Patienten das Leben. Der Patient blieb sehr mitse<strong>in</strong>em Vater, als <strong>de</strong>ssen Liebl<strong>in</strong>g er sich fühlte, i<strong>de</strong>ntifiziert. Lange wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte erdas Trauma se<strong>in</strong>es Vaters, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m er im Beruf nach e<strong>in</strong>er gewissen Zeit mehrfach alsjemand enttarnt wur<strong>de</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schutzbefohlene aggressiv und sexuell missbrauchte unddann entlassen wur<strong>de</strong>. Ähnlich gestaltete er se<strong>in</strong>e Liebesbeziehungen. Er hat mitdrei Frauen fünf K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>. Jeweils nach wenigen Jahren brachte er die Frauen dazu,nach großen Hoffnungen von ihm total enttäuscht zu se<strong>in</strong> und ihm <strong>de</strong>n Laufpass zugeben. Als er zu mir kam, lebte er frustriert alle<strong>in</strong> und war nur zu polymorphperversensexuellen Begegnungen mit Heim<strong>in</strong>sassen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Männern im Stricher-Milieu fähig.5. E<strong>in</strong> weiterer wichtiger Komplex unserer Untersuchungen bezog sich auf die Ost-West-Konstellation von Patienten und Therapeuten. Da <strong>in</strong> unserem Institut sowohlAusbildungskandidaten wir Lehren<strong>de</strong> aus Ost- und West stammen, bot sich dieserGegenstand zu e<strong>in</strong>er genaueren Untersuchung an. Dorothee Adam-Lauterbach, e<strong>in</strong>eLehranalytiker<strong>in</strong> unseres Institutes mit e<strong>in</strong>er Westsozialisation, hat am Beispiel


11mehrerer Behandlungen von Ost-Patient<strong>in</strong>nen Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>heiten gezeigt (2010): Sief<strong>in</strong><strong>de</strong>t es hilfreich, Ostpatienten zu fragen, warum sie, wenn sie die Wahl haben, zue<strong>in</strong>em Westtherapeuten kommen. Sie beobachtet bei sich e<strong>in</strong>e Ten<strong>de</strong>nz zu e<strong>in</strong>ervorschnellen Übernahme von erlittenem Unrecht, politischer Unterdrückung undOpferstatus, welche bei genauerem H<strong>in</strong>sehen Abwehrcharakter besitzen können. Siehat <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>druck beschrieben, dass ost<strong>de</strong>utsche Analysan<strong>de</strong>n ihre Enttäuschung an <strong>de</strong>nElternobjekten leicht auf <strong>de</strong>n Staat verschieben, was man als Therapeut aus <strong>de</strong>m Westenso ohne weiteres nicht bemerkt. Sie schil<strong><strong>de</strong>r</strong>t auch, wie sie <strong>in</strong> Analysen mitOstpatienten weniger Phantasie zu haben glaubt. Es sei als fehle e<strong>in</strong> Innenraum, <strong><strong>de</strong>r</strong>Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>, Assoziationen und Gefühle zulasse. Dazu passend beschreibt sie e<strong>in</strong> Gefühl,von Ostpatienten <strong>in</strong> vergleichbarer Weise wesentlich weniger i<strong>de</strong>alisiert zu wer<strong>de</strong>n.Hier wirkt bei Ost<strong>de</strong>utschen nach me<strong>in</strong>er Erfahrung e<strong>in</strong> SpaltungsmechanismusAutoritäten gegenüber, <strong>de</strong>n Par<strong>in</strong> (1977) als Form e<strong>in</strong>erpsychosozialen Anpassung beschrieben hat. Ausgehend von e<strong>in</strong>er Trennung <strong>in</strong> dasOffizielle und das Private im Umgang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Staatsmacht entwickeln die Menschen<strong>in</strong> Diktaturen e<strong>in</strong>e Spaltung ihrer <strong>in</strong>neren Objekte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en guten, beschützen<strong>de</strong>n un<strong>de</strong><strong>in</strong>en bösen, verfolgen<strong>de</strong>n Teil (Meador 2001). Mit <strong>de</strong>m positiven Anteil kann man sichleicht i<strong>de</strong>ntifizieren, <strong><strong>de</strong>r</strong> negative wird abgelehnt und projektiv entsorgt. Diese<strong>in</strong>neren Reaktionen folgten auch aus <strong>de</strong>m <strong>DDR</strong>-Alltag. Den Gesetzen <strong>de</strong>s Staatesmusste man sich beugen. Sie konnten aber zugleich <strong>in</strong> Teilen ignoriert undh<strong>in</strong>tergangen wer<strong>de</strong>n. Das führte zu e<strong>in</strong>er massenhaften Nichtachtung staatlicherVorgaben mit <strong>de</strong>n bekannten Folgen fehlen<strong>de</strong>n Engagements, von Mangelwirtschaftund ger<strong>in</strong>ger Produktivität. Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Ebene <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes s<strong>in</strong>d väterlicheOrdnung und väterliches Gesetz missachtet und <strong>in</strong>zestuöse Phantasien erhaltenwor<strong>de</strong>n. Man unterwarf sich, ohne anzuerkennen. Trennung und Ablösung wur<strong>de</strong>nso oft erheblich beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>t. Dieser Abwehr- o<strong><strong>de</strong>r</strong> besser gesagt Anpassungsmechanismusist für viele Ost<strong>de</strong>utsche typisch und wird von west<strong>de</strong>utschen Kollegen oft so nichterkannt.Zu <strong>de</strong>n potentiell traumatisieren<strong>de</strong>n historischen Ereignissen für die Ost<strong>de</strong>utschen(Nazizeit, Krieg, Nachkrieg, SED-Diktatur, Umbruch u. Chaos <strong><strong>de</strong>r</strong> Wen<strong>de</strong>zeit)kommt jetzt e<strong>in</strong> weiteres Ereignis h<strong>in</strong>zu: Die Entwertung <strong><strong>de</strong>r</strong> Lebenszeit <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>DDR</strong>,die für viele, wenn nicht gleich e<strong>in</strong> Trauma, so doch e<strong>in</strong>e seelische Verletzungdarstellt.


126. E<strong>in</strong> letzter Punkt bezieht sich auf die historische Nachträglichkeit. Ich habe <strong>de</strong>nE<strong>in</strong>druck, dass es uns leichter fiel, zeitgeschichtliche Phänomene die <strong><strong>de</strong>r</strong> Wen<strong>de</strong>folgten, zuerst zu beschreiben. Die psychischen Folgen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>DDR</strong> zu untersuchen, fälltuns dagegen schwerer. Obwohl <strong>in</strong>zwischen über 20 Jahre vergangen s<strong>in</strong>d, waren dieOst<strong>de</strong>utschen, ähnlich wie die Menschen nach <strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg, vor allem mit<strong>de</strong>m Aufbau e<strong>in</strong>es neuen Lebens beschäftigt. So dass die Zeit für e<strong>in</strong>e tiefere Reflexion<strong><strong>de</strong>r</strong> Vergangenheit erst jetzt e<strong>in</strong>zusetzen sche<strong>in</strong>t. Insofern bef<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir uns erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emfrühen Stadium <strong>de</strong>s Aufarbeitung von psychischen Folgen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>DDR</strong>-Zeit.5. FazitIch habe versucht, Ihnen anhand <strong>de</strong>s Beispiels e<strong>in</strong>er jungen ost<strong>de</strong>utschen Psychotherapie-Patient<strong>in</strong> zu zeigen, wie s<strong>in</strong>nvoll es se<strong>in</strong> kann, Gegenübertragungsschwierigkeiten über e<strong>in</strong>eBewusstmachung geschichtlich entstan<strong>de</strong>ner, hier politischer Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>heiten zu erhellen. Dabeistellen nicht die geschichtlichen Bezüge <strong>de</strong>s Patienten, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n die <strong>in</strong>neren Reaktionen<strong>de</strong>s Therapeuten das eigentlich <strong>in</strong>teressante Material dar.E<strong>in</strong>e psychohistorische Gruppe ist sehr geeignet, Übertragungsverhältnisse h<strong>in</strong>sichtlichzeitgeschichtlicher und kultureller Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>heiten genauer zu untersuchen. Trotz <strong><strong>de</strong>r</strong>Vorteile e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zelfallarbeit sollte systematische Forschung diese so gewonnenen Befun<strong>de</strong>vervollständigen und ergänzen. Falls jemand sich mit ähnlichen Fragen beschäftigt, s<strong>in</strong>dwir an e<strong>in</strong>em Austausch sehr <strong>in</strong>teressiert.E<strong>in</strong> letztes Wort zum Mitnehmen: Mit ost<strong>de</strong>utschen Patienten ist es wie mitMigranten. Es ist gut, wenn man etwas von ihrer Kultur und <strong>Geschichte</strong> versteht. Nochwichtiger aber ist die Bereitschaft, sich für das Frem<strong>de</strong> <strong>in</strong> ihnen zu <strong>in</strong>teressieren und offenzu se<strong>in</strong>, die eigenen Reaktionen darauf zu untersuchen. Zumal dieses Frem<strong>de</strong> sich oft alsfast vergessener Teil <strong>de</strong>s Eigenen erweist.Literatur:Adam-Lauterbach, D.: Erfahrungen e<strong>in</strong>er West-Analytiker<strong>in</strong> <strong>in</strong> Analysen mit ost<strong>de</strong>utschen Patient<strong>in</strong>nen.Vortrag auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeitstagung „Vom Glück <strong>de</strong>s Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>f<strong>in</strong><strong>de</strong>ns“ <strong><strong>de</strong>r</strong> APB Berl<strong>in</strong>, 23. – 24.10. 2010.Akhtar, S. (2007): Immigration und I<strong>de</strong>ntität. Bibliothek <strong><strong>de</strong>r</strong> Psychoanalyse. Psychosozial-Verlag. GiessenArdjomandi, M.E. (1998): Migration – e<strong>in</strong> Trauma? In: Schlösser, A-M. & K. Höhfeld (Hg.): Trauma undKonflikt. Giessen (Psychosozial-Verlag), 309-322.Bergmann, M.S., M.E. Jucovy & J. Kestenberg (Hg.) (1998): K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Opfer, K<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Täter. Frankfurt (S.Fischer Verlag).Bomberg, K.-H. (2009): Traumatisierung durch politische Haft <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>DDR</strong>. In: Seidler, Chr. & M. Froese(Hg.): Traumatisierungen <strong>in</strong> Ost<strong>de</strong>utschland. Giessen (Psychosozial-Verlag), 141-150.Eckstaedt, A. (1989) Nationalsozialismus <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> „zweiten Generation“. Psychoanalyse vonHörigkeitsverhältnissen. Suhrkamp. Frankfurt/M.

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