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M (1931) - Das Dokument des Grauens

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BandI:1930-1945VonGöternundMonstern


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>Eine Chronik <strong>des</strong> HorrorfilmsBand 2Von Göttern und MonsternRalf RamgeVollausgabe, Version 1.0, Stand: 27. Januar 2012


Ralf Ramge, Sägetstrasse 18, 3123 Belp, Schweizdokument.<strong>des</strong>.grauens@gmail.com, http://retro-park.de<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>Eine Chronik <strong>des</strong> HorrorfilmsBand 2: Von Göttern und Monsternvon Ralf RamgeMit Bibliografie und IndexNichtkommerzielle Veröffentlichung und Verwendungc○2004 - 2012 Ralf Ramge, alle Rechte vorbehaltenUmschlagfoto vorne: Boris Karloff, „Frankenstein“,c○1932 Universal PicturesUmschlagfoto hinten: Lon Chaney jr., „The Wolf Man“,c○1941 Universal Pictures


Kapitel 8M (<strong>1931</strong>)Der Buchstabe M gilt in Cineastenkreisenals Synonym für Innovationen.Da wäre zuerst die Verwendung dieseseinzelnen Buchstabens als Titel füreinen Film. Kurz, einprägsam und in jederHinsicht aus der Masse fülliger Filmtitelherausragend. Eine Idee, so einfachwie genial.Dann wäre da noch der Film, für welchendieser Buchstabe steht. M (<strong>1931</strong>) 1gilt als der beste Film, welches das deutscheKino hervorbrachte. Der alleinstehendeBuchstabe wurde mit zunehmendemAlter immer mehr zu einem Zeichen,einem Symbol innerhalb der Filmgeschichte.Kein anderer deutscher Film wur<strong>des</strong>o oft durch Zitate oder Nachahmungengewürdigt; von Woody Allen (Shadowsand Fog (1992)) über Robert Altman(The Player (1992)) und MichaelPowell (Peeping Tom (1959)) bis hin zuFirmenlogos <strong>des</strong> Fernsehsenders MTVoder visuellen Tricks von Regisseurenwie David Fincher reichen die Anleihen.Abbildung 8.1: Filmplakat, <strong>1931</strong>1 M, aka M: Eine Stadt sucht einen Mörder, aka Mörder unter uns (Nero Film, Deutschland<strong>1931</strong>, Regie: Fritz Lang, Drehbuch: Fritz Lang, Thea von Harbou, Kamera: Fritz Arno Wagner, Darsteller:Peter Lorre, Otto Wernicke, Gustaf Gründgens, Georg John, Ellen Widmann, Theo Lingen, IngeLandgut, Theodor Loos, Friedrich Gnaß, Fritz Odemar, Paul Kemp, Rudolf Blümner, Franz Stein, ErnstStahl-Nachbaur, Gerhard Bienert, Karl Platen, Rosa Valetti, Hertha von Walter, Bildformat: 1.20:1, Tonformat:Movietone, Laufzeit: ca. 109 Minuten)161


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>M war anfangs nur ein Buchstabe, aber mit zunehmendem Alter wurde daraus immermehr ein Symbol für filmische Qualität.Als der französische Regisseur Jean-Luc Godard seine berühmte <strong>Dokument</strong>ationCinéma de notre temps: Le dinosaure et le bébe, dialogue en huit parties entre FritzLang et Jean-Luc Godard (1967) drehte, stellte er Fritz Lang die Frage, welchen seinerFilme er als den besten ansähe. Fritz Lang antwortete ohne großes Nachdenken: M(<strong>1931</strong>). Manchem durchschnittlichen Kinogänger mag diese Entscheidung zuerst irritieren,zu stark sind die visuellen Eindrücke von Filmen wie Metropolis (1926), Langswohl populärstem Film. M (<strong>1931</strong>) empfindet man leicht als angenehme, kleine Produktion,hübsch anzusehen, aber nicht spektakulär. Doch Langs Antwort ist durchausangemessen, wie man bei genauerem Hinsehen leicht selbst feststellen kann. Langs M(<strong>1931</strong>) ist sein mit Abstand virtuosestes und vor allem komplexestes Werk - hübsch anzusehen,völlig richtig, aber unter der Oberfläche lauert ein auf den ersten Blick schwerauszumachen<strong>des</strong> Monstrum von durchaus literarischer Qualität, ein wahrhafter Geniestreich.M (<strong>1931</strong>) erzählt oberflächlich von der Jagd auf einen Mörder, einem Wettlaufzwischen der Polizei und einem Verbrechersyndikat. Doch M (<strong>1931</strong>) ist weitaus mehr.Der Film steckt bis unter Rand voller filmischer und erzählerischer Innovationen, welchevon einer ausgefeilten Schnitttechnik bis hin zu nahezu unmerklich und damitumso meisterlicher eingesetzten Details wie zum Beispiel der Kamerafahrt durch einvergittertes Fenster reichen. Der Film ist von Anfang bis Ende durchgehend mit Symbolikversehen; einige dieser Symbole ziehen sich vom Anfang bis zum Ende durchden Film, zum Beispiel der stetige Kampf gegen den Fluss der Zeit. Der Film schildertnicht nur die Suche nach einem Mörder, sondern er erzählt auch von einem Krieg,fast unmerklich mit stilistischen Mitteln eines Kriegsfilms inszeniert. Er ist stellenweiseähnlich technokratisch wie Metropolis (1926), serviert diese Technokratie jedochdezenter und stellt sie in den Dienst <strong>des</strong> Films, nicht umgekehrt. M (<strong>1931</strong>) ist eine <strong>Dokument</strong>ation<strong>des</strong> Berlins im Jahr 1930, von der gesellschaftlichen Struktur bis hin zumSelbstwertgefühl der Berliner in den Zeiten der Wirtschaftsflaute und der Nachwehen<strong>des</strong> ersten Weltkrieges. Und natürlich steckt auch eine Dosis Horror drin, welche manzwar erst ausgraben muss, aber die dafür dann umso mehr fasziniert.M (<strong>1931</strong>) vollständig zu analysieren würde ein eigenes Buch füllen. Dies alleinewäre zwar nicht schlimm, aber Sie lesen diese Seiten ja nicht, weil Sie etwas überdie Gesellschaft der sterbenden Weimarer Republik lesen wollen, sondern weil Siesich für Horror interessieren. Daher wird sich dieses Kapitel inhaltlich auf das Wesentlichebeschränken. Wir werden kurz auf die Handlung <strong>des</strong> Films eingehen, hierjedoch weniger als gewohnt; eine streng chronologische Betrachtung aufeinanderfolgenderSzenen entfällt, da der Film mit häufigen Kreuzverweisen durchsetzt ist undeine solche Herangehensweise bei Langs Werk nicht dienlich wäre. Wir werden dieVorgeschichte <strong>des</strong> Films beleuchten, ebenso wie die in ihm Mitwirkenden und derenHerkunft. Wir stellen den Film in einen Kontext zum Horror und zeigen auf, wie er mitder Serienmörderthematik umgeht. Wir analysieren die ersten Filmminuten stellvertretendfür den Rest <strong>des</strong> Films akribisch, den Rest <strong>des</strong> Films nur ausschnittsweise. Wirerklären Langs vortrefflichen Umgang mit suggestivem Ton. Abschließend zeigen wir162


8. M (<strong>1931</strong>)mit Sicherheit in Berlin und so soll jede Wohnung genauestens und möglichst unauffälligunter die Lupe genommen werden - insbesondere jene mit Holztischen, dennseinen letzten Brief an die Presse verfasste der Mörder auf einem solchen, wie dieUnregelmäßigkeiten in seiner Handschrift erkennen lassen.Lohmanns Gegenpart in der Unterwelt ist Schränker, ein Supergangster. AuchSchränker plant eine Maßnahme, welche ganz Berlin umfasst. Doch er setzt nicht wieLohmann auf Kontrollen, sondern auf reine Observation. Seine Geheimwaffe sind jeneMenschen, welche ein fester Bestandteil <strong>des</strong> Straßenbil<strong>des</strong> Berlins sind und sich dahernahezu unauffällig überall bewegen können: die Zunft der Bettler.Einer jener Bettler, ein alter und völlig blinder Luftballonverkäufer, hört eines Tageseinen Mann ein Lied pfeifen. Der Alte erbleicht, denn genau dieses Lied pfiff ein Mannin Begleitung eines kleines Mädchens, welcher bei ihm einen Luftballon kaufte - amTag der Ermordung von Elsie Beckmann. Er ruft sofort einen sehenden Kollegen herbei,der sich an Beckerts Spur heftet.Als er Zeuge wird, wie Beckert einkleines Mädchen anspricht, kritzelt <strong>des</strong>senVerfolger in seiner Not mit Kreideden Buchstaben M auf seine Handflächeund rempelt Beckert im Vorbeigehen an.Hierbei drückt er seine Handfläche aufBeckerts Schulter und kennzeichnet ihnso als den Mörder.Etwa zur gleichen Zeit durchsuchtLohmann die Wohnung Beckerts undsein Begleiter wird stutzig. Auf einembreiten Fensterbrett finden sich Farbresteeines Stiftes der gleichen Art wie jenem,Abbildung 8.2: Hans Beckertwelchen der Mörder beim Schreiben seinesletzten Briefes benutzte. Und bei genauerer Suche finden Lohmann und er Abdrückeder Mine im weichen Holz <strong>des</strong> Fensterbrettes, welche identisch sind mit Passagen<strong>des</strong> Schreibens.Sowohl der Polizei als auch der Unterwelt ist der Mörder somit bekannt. Doch Lohmannmuss Beckert erst noch finden, wohingegen die Ganoven ihm bereits unmittelbarauf den Fersen sind.Beckert bemerkt seine Verfolger und flüchtet in ein mehrstöckiges Bürohaus. Esist kurz vor Feierabend und die Gangster sind zu spät; die Menschen verlassen dasGebäude und es wird von der Wachmannschaft für die Nacht verschlossen.Schränker reagiert umgehend. Seine Leute überwältigen den Wachmann an derPforte und brechen in das Gebäude ein. Jeder Raum soll durchsucht werden, bis manden Mörder gefasst hat. Doch die Zeit und die Gegebenheiten sind gegen sie; bis zumMorgen müssen sie Beckert gefunden haben und das Gebäude gehört dummerweisezu einer Bank und ist entsprechend gesichert.165


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>Beckert hat sich in einer Abstellkammer unter dem Dach verschanzt und ahnt nicht,was in den Fluren <strong>des</strong> Bankgebäu<strong>des</strong> auf ihn wartet. Er hat aber auch ein anderesProblem, denn der Wachmann hat ihn in dem Abstellraum eingeschlossen und er musses selbst schaffen, dort herauszukommen.Beckerts Chancen scheinen sich zu verbessern, als der gefangene Wachmann ander Pforte es schafft, einen Alarm auszulösen. Schränker und seinen Leuten bleibennur noch fünf Minuten, um zu verduften. Doch Schränker spielt auf volles Risiko undtatsächlich schaffen sie es, Beckert zu finden und zu entführen, bevor die Polizei eintrifft.Lohmann kann nicht verstehen, was das Ziel dieses Einbruchs gewesen sein könnte.In jeden Raum wurde eingebrochen, im Tresorraum wurde sogar ein Loch durchdie Decke gestemmt, aber der Tresor wurde nicht angetastet. Genauer gesagt wurdeabsolut nichts gestohlen. Doch die Einbrecher haben bei ihrer panischen Flucht einender Ihren zurückgelassen und Lohmann setzt diesen mit zwielichtigen Methoden unterDruck. Er behauptet, der Wachmann von der Pforte sei getötet worden und schließlichbricht der Beschuldigte unter diesem Vorwurf zusammen und erklärt, man habe denKindermörder entführt, um ihm in einem alten Fabrikgebäude den Prozess zu machen.Beckert befindet sich derweil vor dem Tribunal der Gesetzlosen. In einem verzweifeltenPlädoyer versucht er, Verständnis für seine Situation zu wecken und schildertden grausamen Zwang, unter welchem er die Morde beging. Sein Verteidiger versuchtnicht minder verzweifelt, Recht und Ordnung gegenüber dem Mob durchzusetzen, derletztlich nur eines will, nämlich Beckert lynchen. Doch dieser Plan wird vereitelt, alsLohmanns Männer eintreffen und Beckert verhaften.Es schien für lange Zeit, als habe Fritz Lang seinen Zenit als Filmemacher überschritten.Nach großen Klassikern wie Der müde Tod (1921), Dr. Mabuse (1922),Die Nibelungen (1924), und Metropolis (1926) schien es, als könne Langs Stern nichtnoch weiter steigen und er die Qualität seiner bisherigen Werke nicht mehr erreichen,geschweige denn übertreffen. Der dreistündige Spione (1928) blieb hinter den Erwartungenzurück, beinahe wäre es ein Flop geworden. Und danach begann der Siegeszug<strong>des</strong> Tonfilms, gegen welchen sich Fritz Lang sehr vehement aussprach. Der in typischerManier von Fritz Lang ebenfalls fast dreieinhalb Stunden lange Science-Fiction-Film Die Frau im Mond (1929) schien das Ende von Langs Karriere als Filmregisseureinzuläuten. Der Film war opulent, bot viele technische Sensationen (darunter aucheinen Flug zum Mond), er war durch und durch auf die Befriedigung <strong>des</strong> Geschmacksder breiten Masse ausgelegt - bis auf einen Punkt, denn auch Die Frau im Mond (1929)war ein Stummfilm.Die UFA gab sich alle Mühe, Fritz Lang davon zu überzeugen, dass Stummfilmenicht mehr vernünftig zu vermarkten seien und dass er bitte Die Frau im Mond(1929) nachvertonen möge. Fritz Lang war in dieser Frage wesentlich zimperlicher alszum Beispiel sein englischstämmiger Kollege Alfred Hitchcock, der sich für Blackmail(1929) zu diesem Schritt erweichen ließ - Fritz Lang lehnte ab. Damit befand sich dieUFA auch bei Die Frau im Mond (1929) im Teufelskreis der technischen Entwicklung.166


8. M (<strong>1931</strong>)Einerseits verlangten die Besucher Tonfilme. Aber durch die miserable Wirtschaftslagetrauten sich nur wenige Kinobesitzer, die entsprechende teure Ausrüstung anzuschaffen,denn es gab einerseits noch keinen einheitlichen Standard für die Tonwiedergabeund durch die Rezession gingen die Besucherzahlen um fast ein Drittel zurück. DieFilmstudios wollten in der Folge keine Tonfilme produzieren, die nirgends gezeigtwerden konnten. Fritz Lang sprengte mit seinem rigorosen Nein diese Abwärtsspirale,allerdings nicht im Sinne der UFA. Die Folge war ein Streit und Fritz Lang stieg ausseinem Vertrag mit der UFA aus. Sein Karriereende schien damit besiegelt.Auch in Langs Privatleben gab es eine einschneidende Veränderung. Seine Beziehungzu Thea von Harbou, seiner langjährigen und an seinem Erfolg zu einem großenTeil mitverantwortlichen Kollaborateurin, ging in die Brüche, nachdem Fritz Lang einVerhältnis mit Gerda Maurus, der Hauptdarstellerin aus Die Frau im Mond (1929)begonnen hatte.19 Monate lang blieb es still um Deutschlands einstige Regieikone. Dann kreuztejedoch ein junges und aufstreben<strong>des</strong> Filmstudio den Weg Fritz Langs: Nero Film.Der Vertrag mit Nero Film gab Fritz Lang neuen Auftrieb. Zu aller Überraschungtaten sich Fritz Lang und Thea von Harbou für M (<strong>1931</strong>) wieder zusammen. Würdeder Versuch einer erneuten Zusammenarbeit Früchte tragen? Würde Lang, der sichso lange gegen den Tonfilm wehrte, mit dem neuen Medium zurechtkommen? FritzLangs neues Werk wurde schon im Vorfeld von der Presse und der Filmindustrie mitArgusaugen beäugt.Aber Fritz Lang wäre nicht mehr der große Innovator gewesen, hätte er sich fürM (<strong>1931</strong>) kein hohes Ziel gesetzt. Sicher, er verachtete den Tonfilm, da dieser dieKunst <strong>des</strong> Filmemachens und der Bildsprache nach Langs Meinung mit Füßen trat.Aber Lang setzte sich hier ein Ziel: Er wollte es schaffen, den Tonfilm trotz all seinerNachteile im Geiste eines Stummfilmers zu nutzen und den Ton vom einen die Kunstbanalisierenden Störfaktor selbst zu einem Kunstwerk erheben.Tonfilm als Kunst war keineswegs eine neue Idee. Als Vorbild für M (<strong>1931</strong>) dientenhier Arbeiten Walter Ruttmanns. Ruttmann hatte zuerst mit Berlin: Symphonie einerGroßstadt (1927) auf sich aufmerksam gemacht, einer ungeheuer erfolgreichen <strong>Dokument</strong>ationüber das Treiben in Berlins Straßen. Dies war jedoch ein Stummfilm unddas widersprach letztlich der Bezeichnung als Symphonie im Titel <strong>des</strong> Films. Im Mai1930 wurde in Berlin Ruttmanns neuerliches dokumentarisches Experiment aufgeführt,Weekend (1930). Ruttmanns neues Werk tat genau das Gegenteil von dem, wasdie Berlindokumentation tat: Er zeigte einen Film ohne Bilder. Bei Weekend (1930)handelt es sich um eine komplexe Toncollage, welche ein typisches Wochenende beschreibt.Vorgeführt wurde das Werk mit geschlossenem Vorhang. Einem Freund WalterRuttmanns, dem Tontechniker Paul Falkenberg, imponierte dieser Prototyp <strong>des</strong>Erzählens anhand von Geräuschen sehr und er beschloss, bei seiner nächsten Arbeitdie aus Weekend (1930) gewonnenen Erkenntnisse gezielt einzusetzen. Wie Sie sicherschon erraten haben, war Falkenbergs nächste Arbeit die Vertonung von M (<strong>1931</strong>).167


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>Fritz Lang war von Ruttmanns Werken ebenfalls sehr angetan 2 . Er übernahm die zweiherausragendsten Arbeiten Ruttmanns in das Konzept für seinen eigenen Film: die<strong>Dokument</strong>ation <strong>des</strong> zeitgenössischen Berlins und jenes der Toncollagen als narrativesMittel.Auf Fritz Langs Inszenierung <strong>des</strong> Tons werden wir noch zu sprechen kommen,soviel sei bereits verraten. Doch wie sieht es mit der <strong>Dokument</strong>ation Berlins aus? FritzLang weitete dies aus; die Darstellung Berlins als Stadt war selbstverständlich, dochFritz Lang wollte auch die Hintergründe <strong>des</strong> Lebens in der Großstadt nicht unerwähntlassen. Die deutsche Politik war im Jahr 1930 hochgradig verworren, sie lag ebenso amBoden wie die Wirtschaft. <strong>Das</strong> Volk knabberte nicht nur an den Nachwirkungen <strong>des</strong>Ersten Weltkrieges, was ein Trauma mit sich brachte, welches in seiner Intensität mitjenem der Amerikaner nach den niederschlagenden Erfahrungen <strong>des</strong> Vietnamkriegsdurchaus vergleichbar war.Es war auch die Zeit einer katastrophalen gesellschaftlichen Entwicklung. Protestwählerhatten Adolf Hitlers nationalsozialistische Partei zur zweitstärksten Fraktion imParlament gemacht. Hitlers Privatarmee, die SA, veranstaltete im Herbst 1930 Menschenjagdenauf politisch Andersgesinnte, vor allem auf Mitglieder der KPD. Hitlerspolitische Doktrin wurde durch den wirtschaftlichen Ruin <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> noch weiter unterstützt,Unruhen in Form von Straßenschlachten waren in Berlin an der Tagesordnung.Dies musste aus Sicht von Fritz Lang in M (<strong>1931</strong>) auf jeden Fall einfließen 3 .Doch nicht nur die Politik, sondern auch die Stadt Berlin selbst sollte repräsentiertwerden. Was charakterisiert eine Metropole am ehesten? Fritz Lang entschied sich hierfür den Puls der Großstadt, ihr Eigenleben, ihr Ticken. <strong>Das</strong> Leben in einer Großstadtwird durch den Fluss der Zeit diktiert. Menschen strömen morgens zur Arbeit und amNachmittag wieder nach Hause. Öffentliche Verkehrsmittel fahren den Tag über nachfesten, sich rhythmisch wiederholenden Zeitspannen ihre Strecken ab. Der Wechselzwischen Tag und Nacht dominiert alles - der Moloch Stadt diktiert das Leben derdarin lebenden Menschen.In Metropolis (1926) hatte Lang dieses Thema bereits in überzeichneter Form aufden Punkt gebracht, in M (<strong>1931</strong>) taucht es abgeschwächt erneut auf. Eine ähnliche,beinahe karikative Darstellung wie in Metropolis (1926) hätte jedoch dem Realitätsgedankenhinter M (<strong>1931</strong>) widersprochen, weshalb Lang sich in seinem neuen Film weitgehendauf Symbole beschränkte, welche aus dem Hintergrund Einfluss auf den Filmnehmen. In M (<strong>1931</strong>) steht alles unter dem Druck der Zeit. Die Polizei und SchränkersBande müssen Ergebnisse liefern, bevor ein neuer Mord geschieht. Auch hier strömenMenschen pünktlich auf die Minute aus einem Bürogebäude heraus, als die Stunde<strong>des</strong> Feierabends naht. Die nächtliche Suche nach Beckert muss bis zum Morgen abge-2 Ob dies auch noch der Fall gewesen wäre, hätte Fritz Lang damals geahnt, dass Ruttmann einmalder Autor von Leni Riefenstahls berüchtigtem NSDAP-Propagandafilm Triumph <strong>des</strong> Willens (1934) seinwürde?3 Es kann hier schon beinahe als Bestätigung empfunden werden, was sich während der Premiere <strong>des</strong>Films im Mai <strong>1931</strong> vor dem Berliner Zoopalast abspielte. Während der Vorführung tobte vor dem Kinoeine Straßenschlacht und Hitlers Braunhemden mischten hierbei kräftig mit.168


8. M (<strong>1931</strong>)schlossen sein. Nach dem Alarm <strong>des</strong> Pförtners bleiben nur fünf Minuten, um Beckertdoch noch zu finden. Über den ganzen Film verstreut tauchen Uhren auf, welche denFluss der Zeit verdeutlichen. M (<strong>1931</strong>) ist vom Fluss der Zeit diktiert und der Großteilder Zeitspannen und Fristen ist von den äußeren Umständen diktiert und entzieht sichder Kontrolle der Protagonisten, ähnlich wie es im Leben eines Stadtbürgers völlignormal ist. Diese Abbildung <strong>des</strong> Tickens der Großstadt in M (<strong>1931</strong>) war keine trivialeAufgabe, was vor allem darin begründet liegt, dass die Stadt selbst keine wesentlicheRolle in dem Film spielen durfte - denn M (<strong>1931</strong>) wurde vollständig im Studio gedrehtund beinhaltet keine realen Bilder Berlins.Ein Regisseur, eine Szenerie, Inhalte - diese Bestandteile reichen für einen Filmnoch nicht aus. Es fehlen noch Schauspieler. Bei allen bisher genannten Punkten strebteFritz Lang eine Höchstleistung an, und da ein Filmemacher unmittelbar von seinenAkteuren und Aktricen abhängig ist, brauchte er auch Darsteller, welche ein ähnlichhohes Niveau boten (eine Grundregel, welche viele Produzenten vergessen oder versuchen,hierbei auftretende Mängel durch zusätzliche Investitionen in andere Bereichezu übertünchen - und sei es nur das Marketing). Fritz Lang wusste, wo er die geballteEnergie und Leistungskraft der deutschen Schauspielkunst finden konnte: im Theater.Und dort bediente sich Fritz Lang in hohem Maße; in M (<strong>1931</strong>) sind selbst die Nebenrollenmit erfolgreichen Vertretern der deutschen Bühnenwelt besetzt, lediglich dieKinderrollen und einige Statisten bilden hier eine Ausnahme.Der bekannteste Darsteller, welchefür M (<strong>1931</strong>) rekrutiert wurde, war eineTheaterlegende: Gustaf Gründgens.Gründgens war bereits ein Star auf derBühne, als der Tonfilm aufkam und ertat als Vollblutschauspieler das genaueGegenteil von dem, was die Stars undSternchen Hollywoods angesichts <strong>des</strong>neuen Mediums taten: Gründgens freutesich darüber, denn jetzt konnte er seineKunst einem größeren Publikum vorführen.Seine Filmkarriere begann er umgehendmit Hocuspocus (1930) und warfortan regelmäßig sowohl auf der Bühneals auch auf der Leinwand zu bewundern.Abbildung 8.3:SchränkerGustaf Gründgens spieltGründgens drehte bis zu seinem Tod im Jahre 1963 insgesamt etwa drei Dutzend Filme,doch wir werden ihm nur noch in seiner letzten Arbeit als Darsteller und Regisseur,Faust (1960), nochmals treffen. In M (<strong>1931</strong>) wurde der bekannte Darstellerjedoch nicht für die Titelrolle besetzt, denn hier hatte Fritz Lang ein ganz anders Asim Ärmel. Gründgens spielte vielmehr den Erzgauner Schränker.Für die Rolle <strong>des</strong> Mörders Hans Beckert wollte Fritz Lang einen Darsteller, welchemder Wahnsinn schon ins Gesicht geschrieben stand. Lang wurde fündig, als er169


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>1929 eine Vorstellung von Bertolt Brechts Pioniere in Ingolstadt in <strong>des</strong>sen epischemTheater besuchte. Dort sah er den jungen Schauspieler Peter Lorre agieren und war zutiefstbeeindruckt. Der Theaterkritiker Kurt Pinthus schrieb am 2. April 1929 im Berliner8-Uhr-Abendblatt über Lorres Schauspiel: „Ein neues Gesicht war da, ein fürchterlichesGesicht: Der hysterische Kleinbürgersohn, <strong>des</strong>sen glotzäugiger, schwammigerKopf gelblich aus dem Anzug quillt; wie dieser Bursche zwischen Phlegma und hysterischemAusbruch taumelt, wie er zage geht und greift und manchmal gierig zutapst,das werden auch Ältere als ich kaum so unheimlich auf dem Theater erblickt haben.Dieser Mensch heißt Peter Lorre. Wenn er auch andere Gestalten so deckend darstellenkann, ist hier ein Schauspieler ersten Ranges.“Abbildung 8.4:<strong>des</strong> MördersPeter Lorre in der RolleFritz Lang muss es ähnlich empfundenhaben, denn Lorre wurde umgehendsein Wunschkandidat für die Rolle<strong>des</strong> Psychopathen. Fritz Lang setzte allesdaran, Peter Lorre von seinem Vorhabenzu überzeugen. Gut, Fritz Lang war janicht irgendwer, sein Name verströmte inder deutschen Filmwelt eine gottgleicheAura. Peter Lorre wusste sehr wohl dasAngebot zu schätzen, aber er war dennochskeptisch. Der gebürtige Ungar warnach Deutschland gekommen und hattedort eine intensive Liebesbeziehung zumTheater begonnen, und diese Liebe wollteer nicht aufs Spiel setzen. So ließ ersich von Fritz Lang das Versprechen abringen, keine anderen Filmangebote anzunehmen,aber dem Film gegenüber der Bühne den Vorrang zu geben, kam für Lorre nichtin Frage. Und natürlich wusste auch Bertolt Brecht, welch eine Perle sich hier unterseiner Darstellerriege befand und war nur allzu bereit, um Lorre zu kämpfen. Brechtgab Lorre die Hauptrolle <strong>des</strong> Galy Gay in seiner Inszenierung von Mann ist Mann,eines Packers, welcher in die Fänge der britischen Kolonialarmee Indiens gerät undsich zunehmend von einem Menschen in eine Kriegsmaschine verwandelt. Peter Lorrewählte schließlich jenen Weg, den auch John Barrymore während der Dreharbeiten zuDr. Jekyll and Mr. Hyde (1920) gegangen war: Tagsüber drehte er mit Fritz Lang,abends stand er auf der Bühne.Natürlich ist solch eine Doppelbelastung äußerst problematisch, bei John Barrymoreendete es mit einem Nervenzusammenbruch. Auch auf Peter Lorres Arbeit hattedies Auswirkungen und als es zu terminlichen Konflikten zwischen den Dreharbeitenzu M (<strong>1931</strong>) und den Aufführungen von Mann ist Mann kam, entschied sich Peter Lorrefür Bertolt Brecht. Doch er hatte die Rechnung ohne seinen neuen Chef gemacht.Fritz Lang war ein berühmter Regisseur, aber auch ein gnadenloser. Ähnlich wie esspäter Stanley Kubrick tun sollte, peitschte Lang seine Darsteller förmlich zu Höchstleistungenund bediente sich hierbei der vollen Palette <strong>des</strong> Erzwingens von Leistungen,170


8. M (<strong>1931</strong>)bis hin zu psychologischen Tricks und offenem Sadismus. Peter Lorre wurde es zu vielund es kam zwischen ihm und Lang zum offenen Streit. Der Streit eskalierte vollends,als Fritz Lang gegenüber Lorre auf die Einhaltung <strong>des</strong> Vertrages pochte und drohte, ihnnotfalls auch über eine gerichtliche Anordnung ins Studio zu zwingen. Lorre blieb amSet, allerdings ausgesprochen widerwillig - und weigerte sich den Rest seines Lebensvehement, ein weiteres Mal mit Fritz Lang zu arbeiten, obwohl sie letztlich Seelenverwandtewaren, da sie beide vor den Nazis in die USA flüchteten, um dort ein neuesLeben aufzubauen.Fritz Langs Rücksichtslosigkeit gegenüber Lorres Interessen trug jedoch Früchte.Peter Lorre war für M (<strong>1931</strong>) eminent wichtig und ohne Lorre wäre es ein andererund mit Sicherheit schlechterer Film geworden. Peter Lorre ist schon von seinem Äußerenher außergewöhnlich - nicht hässlich, aber andersartig. Seine etwas weinerlicheStimme half mit, M (<strong>1931</strong>) zu einem Klassiker <strong>des</strong> Thrillers werden zu lassen. Unddies tat sie nicht nur wegen ihres Tonfalls, sondern auch wegen Lorres Herkunft. DerFilm wird von der Berliner Zunge dominiert, und selbst wenn man Peter Lorre nichtunmittelbar auf der Leinwand sieht, fällt sein österreichischer Akzent unterschwelligauf und trägt diese Andersartigkeit auch in den Tonfilm hinein - und den Ton effektivund künstlerisch zu nutzen, war ja eines der erklärten Ziele Fritz Langs.Und auch für Peter Lorre hat sich die Qual gelohnt, denn sie eröffnete ihm einezweite Karriere, die er, ohne es zum Zeitpunkt der Dreharbeiten zu wissen, dringendnötig haben würde. Die Theaterwelt, allen voran natürlich Brechts episches Theater,war politisch links ausgerichtet. Es war die intellektuelle Opposition zum einfachenVolk, welches zunehmend nach rechts driftete und letztlich Hitler zur Macht verhelfenwürde. <strong>Das</strong> linke Theater stand auf der Abschussliste der Nazis ziemlich weit oben,und somit auch Peter Lorre.Nach seiner Flucht in die USA hatte Lorre durch M (<strong>1931</strong>) dort bereits einen Namenund der Einstieg in das Filmgeschäft fiel ihm verhältnismäßig leicht - zumin<strong>des</strong>tmusste er keine Zeit mit kleinen Nebenrollen vertrödeln. Er drehte dort bereits dreiJahre nach M (<strong>1931</strong>) mit Alfred Hitchcock The Man Who Knew Too Much (1934) undweitere große Erfolge folgten. Dazu gehörten die Hauptrolle in Mad Love (1935) unterder Regie von Karl Freund, die Titelrolle in der erfolgreichen Serie um den asiatischenDetektiven Mr. Moto mit insgesamt sieben Filmen, die zwischen 1937 und 1939 entstanden(im achten Film, The Return of Mr. Moto (1965), wurde Lorres angestammteRolle von Henry Silva übernommen), er wirkte in The Maltese Falcon (1941), Casablanca(1942) und 20,000 Leagues under the Sea (1954) mit und blieb auch stets demHorrorgenre verbunden, was natürlich zum Teil auch in Lorres physischer Erscheinungbegründet liegt. Wir werden Peter Lorre noch oftmals begegnen, zum Beispielin Arsenic and Old Lace (1941) an der Seite von Cary Grant, in einer weiteren Charakterrollein The Beast With Five Fingers (1946) und in mehreren Filmen aus demDunstkreis von Roger Corman wie Edgar Allan Poe’s Tales of Terror (1962) undThe Raven (1963) an der Seite von Vincent Price. Peter Lorre blieb bis zu seinem zufrühen Tod im Jahr 1964 ein vielbeschäftigter Mann und ist der vielleicht bekanntesteund erfolgreichste Schauspieler, der den Sprung von Deutschland nach Hollywood171


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>wagte. Dies alles verdankt dieser großartige Mime letzten En<strong>des</strong> Fritz Langs eisernerBeharrlichkeit.Nach all dieser angedeuteten Großartigkeit der Voraussetzungen <strong>des</strong> Films werfenwir nun einen Blick auf das Ergebnis. Fritz Lang und Bertolt Brecht haben bei diesemFilm geschichtliche Berührungspunkte, aber auch das Endergebnis braucht einenVergleich nicht zu scheuen. Auch M (<strong>1931</strong>) ist von enormer künstlerischer Qualität,ja sogar in literarischer Hinsicht braucht er sich nicht zu verstecken. Es ist leicht zusagen, M (<strong>1931</strong>) sei der beste Film, welcher jemals in Deutschland entstand, aber esist für den normalen Kinogänger nicht unbedingt erkenntlich, warum dies behauptetwird. Betrachtet man jedoch den Film mit den analytischen Mitteln, welche bei derLiteraturanalyse angewandt werden, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.Um hierfür einen Eindruck zu vermitteln, betrachten wir die ersten Minuten <strong>des</strong> Filmsen detail und noch einige andere Szenen etwas oberflächlicher in Form von Hinweisen;falls Sie, werter Leser, zufällig ein Deutschlehrer sein sollten, betrachten Sie diesals Anregung zu einer erneuten Folter ihrer Schüler oder, falls Sie noch ein Themafür eine wissenschaftliche Arbeit im Rahmen ihres Studiums der Germanistik oder derMedienwissenschaften suchen, bekommen Sie hiermit einen heißen Tipp für ein äußerstlohnenswertes Objekt. Betrachten wir nun als Einstieg gemeinsam die Anatomieder Anfangsszene, welche als Exposition <strong>des</strong> Filmes dient. Verzeihen Sie mir, dass ichhierbei die Aspekte <strong>des</strong> subtilen <strong>Grauens</strong> etwas in den Vordergrund stelle; aber letztlichist dies das Thema dieses Buches und M (<strong>1931</strong>) zehrt unmittelbar von dieser Eigenschaft.Und falls Sie den Film anders empfinden sollten, seien Sie getröstet; ich liefereIhnen an dieser Stelle zur Verdeutlichung auch Szenenfotos zu jeder Einstellung mitund gehe natürlich auch auf die für den Horrorliebhaber eher unwesentlichen Detailsein.Der Film beginnt mit völliger Lautlosigkeit. <strong>Das</strong> phallisch anmutende Firmenemblemder Nero Film erscheint (Abbildung 8.5).Es folgt der Titel <strong>des</strong> Films, eingebettet in eine expressionistische Zeichnung. Wirsehen die stilisierte Hand, in deren Handfläche der Buchstabe M geschrieben steht.Dieses Motiv ist weitgehend identisch mit dem Filmplakat. Auch hier ist noch keinTon zu hören, wir befinden uns gerade in einem Stummfilm (Abbildung 8.6).Als nächste Titelkarte erscheint der Schriftzug Ein Fritz Lang Film in quadratischerAnordnung (Abbildung 8.7). Mehr verrät der Film nicht über seine Mitwirkenden; keineNennung von Schauspielern, keine Autoren, nichts - nur Ein Fritz Lang Film. Diesist nicht die einfache Nennung eines Namens, sondern ein Gütesiegel. „Hallo, ich binein Film von Fritz Lang, haben Sie sonst noch Fragen?“, scheint der Film von derLeinwand zu rufen. Alles andere ist irrelevant, das Wesentliche hat der Film hierdurchmitgeteilt.Noch während wir auf diesen Schriftzug starren, dröhnt eine Kirchenglocke durchden Zuschauerraum. Der laute Glockenschlag zerreißt die bisherige Stille wie ein be-172


8. M (<strong>1931</strong>)Abbildung 8.5: Logo der Nero Film Abbildung 8.6: Der Titel <strong>des</strong> FilmsAbbildung 8.7: <strong>Das</strong> Gütesiegel Abbildung 8.8: AbzählreimAbbildung 8.9: Im Abseits Abbildung 8.10: Von Eltern getrennt173


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>drohlicher Weckruf, der Schriftzug auf der Leinwand erlischt und der Zuschauer sitztfür einige Sekunden im Dunkeln.Dieser erste Ton <strong>des</strong> Film läutet eines der wesentlichen Merkmale dieses Films ein,nämlich die bereits angesprochene Betonung <strong>des</strong> Flusses der Zeit. Aber seine Funktionist auch von emotionaler Art. Der Ton durchbricht die Stille aggressiv und weckt dieEmotion kurzen Erschreckens, der Klang <strong>des</strong> Tons verwandelt dies in unterschwelligeAngst. Der Ton bereitet die Basis für die nun folgenden Einstellungen, welche dieAngst intonieren, die To<strong>des</strong>angst der Mütter um ihre Kinder, ihre Hilflosigkeit gegenüberder in der Stadt lauernden ungreifbaren Gefahr.Die Schwärze der Leinwand wird durchbrochen durch den Gesang von Kindern(Abbildung 8.8). Sie singen eine Variation <strong>des</strong> in den 20er Jahren beliebten Abzählreimsüber Fritz Haarmann:„Warte, warte nur ein Weilchen,Bald kommt der schwarze Mann zu Dir,Mit dem kleinen Hackebeilchen,Macht er Schabefleisch aus Dir - Du bist raus!“Die Kinder stehen auf einem Steinboden und nicht etwa auf einem Spielplatz. Diesist natürlich Absicht, denn ein Steinboden wirkt bedrückender und härter als Rasenoder Sand. Er repräsentiert hier die für Kinder ungeeignete Umwelt und die Bedrohung,welcher sie ausgesetzt sind. Diese Bedrohung hat der Film noch nicht gezeigt,aber er spricht davon. Der Haarmann-Reim ist hier unmissverständlich. Die Kinderleben keineswegs in einer idyllischen und kindgerechten Welt, was Fritz Lang mit nureiner einzigen Einstellung deutlich macht.Der Haarmann-Reim teilt uns mit, dass ein Mörder in der Stadt unterwegs ist. DieAnsicht der spielenden Kinder präzisiert dies noch genauer. Ein einzelnes Kind unterliegtdurch das Abzählen einer Zufälligkeit und man weiß nicht, welches es alsNächstes trifft. Ebenso sucht der Mörder seine Opfer, stets Kinder, zufällig aus. EinigeKinder wurden bereits ausgezählt, sie stehen neben der Gruppe im Abseits. Diesverdeutlicht, dass die Mordserie nicht an ihrem Anfang steht, sondern bereits einigeZeit durch die Stadt tobt. Um dies zu betonen, beginnt eine Kamerafahrt über zweibewegungslos an der Seite stehende Kinder hinweg (Abbildung 8.9).Die Kamerafahrt führt die hinter den Kindern befindlich Hauswand hinauf. Jetztwird erkenntlich, dass die Kinder in einem Hinterhof typischer Großstadtgebäude spielen.Die mehrstöckigen Gebäude suggerieren Sicherheit. Die Kinder sind durch sie vondem Treiben auf der Straße der Stadt abgeschirmt und geschützt; so wie Gefängnisinsassennicht über die Mauer hinweg flüchten können, kann das Böse in diesem Fallnicht in die Welt der Kinder eindringen. Jedenfalls in der Theorie, aber in der Praxissieht das anders aus. Während die Kamera hinauf in die Höhe der ersten Etage gleitet,singen die Kinder den Haarmann-Reim erneut. Die Häuserschlucht bietet hier keinenSchutz, der Mörder streckt dennoch seine Hand nach ihnen aus.Auf dem Balkon hängt eine Frau Wäsche ab und legt sie in einen Korb. Sie hatAngst um die Kinder und das Aufsagen <strong>des</strong> Reimes beunruhigt sie sehr. Sie kann174


8. M (<strong>1931</strong>)es nicht ertragen, dass der Mörder Einzug in die vermeintlich abgeschottete Welt <strong>des</strong>Hinterhofes hält. Daher läuft sie zu dem Geländer <strong>des</strong> Balkons und ruft hinab: „Ihr solltdet verfluchte Lied nich singen, hab ick euch jesaht. Könnt ihr nich hörn!“(Abbildung8.10).Doch, die Kinder hören sie, aber es ist nutzlos. Stellvertretend für alle Eltern istsie von den Kindern getrennt, sie sind für sie unerreichbar. Sie kann die Kinder zwarhören und umgekehrt, aber das Geländer fungiert in diesem Film als Barriere zwischenihnen.Ihr Versuch, den Mörder aus dem Hinterhof draußen zu halten, misslingt. Die Kindersind zwar zunächst ruhig. Doch als die Frau den Balkon verlässt und die Kindersomit wieder aus ihrer Reichweite sind, lässt Fritz Lang die Kamera weiterlaufen, bisanstelle <strong>des</strong> erhofften Schnittes die Kinder den Reim erneut anstimmen. Die Erwachsenensind der Bedrohung <strong>des</strong> Mörders gegenüber offensichtlich nicht nur angsterfüllt,sondern vor allem hilflos (Abbildung 8.11).Die Frau trägt den Korb mit frischer Wäsche mühsam die Treppe hinauf zur Wohnungder Beckmanns (Abbildung 8.12). Frau Beckmann öffnet die Tür und die Frau,von welcher wir nicht wissen, ob sie ebenfalls eine Mutter oder nur eine bediensteteWaschfrau ist, setzt Frau Beckmann über das Treiben im Hinterhof in Kenntnis:„Fuffzich mal kannste den Jörn verbieten, det verdammte Mörderlied zu singen. Denjanzen Tach brülln se dir in de Ohrn. Als ob man nich jenuch von den Mörder zu hörnkriechte.“„Solang man se singen hört, weiß ma wenigstens, dass se noch da sind.“, antwortetFrau Beckmann (Abbildung 8.13).Frau Beckmann fasst hier ihre Hilflosigkeit in einem Satz zusammen. Während derVersuch der anderen Frau, aktiv in das Geschehen einzugreifen, zwar völlig fehlschlug,aber wenigstens noch ein Kampf gegen das drohende Unheil stattfand, ergibt sich dieMutter Beckmann in völliger Passivität. Sie weiß, dass die Kinder noch da sind - aberweiß sie auch, ob die Kinder in einer Minute noch da sein werden?Fritz Lang zeigt nun eine an der Wand hängende Kuckucksuhr (Bild 8.14). Es istzwölf Uhr, Mittagszeit.Erneut bringt Lang hier das Zeitmotiv ins Spiel und nutzt dies auch als verbinden<strong>des</strong>Element zur nächsten Einstellung. Die Kuckucksuhr verkündet noch akustisch dieZeit, als Fritz Lang die Straße vor der Gemein<strong>des</strong>chule zeigt. Der visuelle Schnitt wirdakustisch verdeckt, indem der durch den Kulissenwechsel abrupt gestoppte Ton derKuckucksuhr nahtlos durch das Läuten einer Kirchturmglocke weitergeführt wird. Einderartiger Tonschnitt war im Jahr <strong>1931</strong> noch nicht üblich, aber das gilt für so ziemlichalles, was im Laufe <strong>des</strong> Films aus den Lautsprechern erschallt.Wir sehen nun das Eingangstor der Gemein<strong>des</strong>chule (Abbildung 8.15). Die Kamerabefindet sich in erhöhter Position auf der anderen Straßenseite. Einige Autos fahrenvorbei, aber der eigentliche Bildinhalt sind die Eltern, welche bewegungslos vor derTür auf ihre Kinder warten. Oder besser gesagt: Sie warten darauf, dass sie ihnenwieder übergeben werden. Diese Einstellung ist die Erste, welche die kollektive Angstund Hysterie <strong>des</strong> Falles Peter Kürten andeutet.175


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>Abbildung 8.11: Keine Reaktion Abbildung 8.12: Wäsche kommtAbbildung 8.13: Solang se singen ... Abbildung 8.14: 12:00 UhrAbbildung 8.15: Vor der Schule Abbildung 8.16: Elsies Essen176


8. M (<strong>1931</strong>)Abbildung 8.17: Elsie und Polizist Abbildung 8.18: Der MittagstischAbbildung 8.19: Nachhauseweg Abbildung 8.20: FahndungsplakatAbbildung 8.21:schönen Ball ...Du hast aber einenAbbildung 8.22:auf den Tisch<strong>Das</strong> Essen kommt177


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>Ein Kind wird jedoch nicht abgeholt. Frau Beckmann steht nicht vor den Torender Schule, sondern in der Küche. Dort kocht sie das Mittagessen ihrer Tochter Elsie(Abbildung 8.16). Fritz Lang greift mit diesem Zwischenschnitt der Geschichte voraus;wir wissen nun, dass sich Elsie in Gefahr befindet.Die kleine Elsie Beckmann läuft den Bürgersteig entlang, die Kamera folgt ihr. Siemöchte die Straße überqueren, doch hierbei wird sie beinahe von einem Auto angefahren.Ein Polizist eilt zur Stelle, hält den Verkehr an und geleitet Elsie über die Straße(Abbildung 8.17).Doch er bringt sie nicht in Sicherheit, wie er und auch die Zuschauer denken mögen.Vielmehr führt er Elsie auf den Weg in die Fänge ihres Mörders.Erneuter Zwischenschnitt: Zuhause deckt Mutter Beckmann bereits den Tisch. Elsiekann nicht mehr weit von daheim entfernt sein (Abbildung 8.18).Elsie läuft die Straße entlang. Sie führt einen Ball mit sich, welchen sie beim Gehenauf den Boden wirft und in ihre Hand zurückspringen lässt (Abbildung 8.19).Interessant ist hier die Kamerafahrt; diese fährt parallel zu Elsie die Straße entlang,sodass Elsie im Zentrum <strong>des</strong> Bil<strong>des</strong> bleibt. Sie bewirkt, dass die Einstellung einenHauch von Elsies Unbeschwertheit ins Publikum transportiert. Elsie und der springendeBall bestimmen für einige Sekunden die Gefühle <strong>des</strong> Zuschauers.Die Kamerafahrt endet an einer Litfaßsäule. Elsie bleibt davor stehen und wirftimmer wieder den Ball auf eine dort angebrachte Reklame, der Ball springt ab, Elsiefängt ihn wieder. Weiterhin dominiert der Aufprall <strong>des</strong> Balls die ansonsten sehrsparsame Geräuschkulisse, als die Kamera sich stetig der Litfaßsäule nähert und wirerkennen können, worum es sich bei der vermeintlichen Reklame in Wirklichkeit handelt:um ein Fahndungsplakat <strong>des</strong> Kindermörders (Abbildung 8.20).Spätestens jetzt ist klar: Die bislang unausgesprochene Angst der Mütter um ihreKinder und ihr Entsetzen beim Hören <strong>des</strong> Haarmann-Reims ist nur zu gut begründet.Elsies Ball scheint nun sowohl visuell als auch akustisch das Schicksal in hohemMaße herauszufordern. Die Fahndungsmeldung beherrscht lange Sekunden die Leinwand,lange genug, um sie in ihrer Gänze lesen zu können. Während dieser Zeit kommtder Ball wiederholt ins Bild geflogen, schlägt klatschend an das Plakat und springtwieder aus dem Bild hinaus. Elsie scheint hiermit ihr Schicksal unbeabsichtigt zu besiegeln.<strong>Das</strong> Plakat ist die Schnittstelle zwischen Elsies heiler Kinderwelt und der Welt<strong>des</strong> Kindermörders. Und was macht Elsie? Sie wirft den Ball an dieses Tor zum Grauen,sie spielt gewissermaßen mit dem Mörder. Und schlimmer noch: Sie klopft an seineTür.Er wurde gerufen, und schon ist er da. Der Schatten eines Mannes fällt auf dasPlakat. Sein Kopf verdeckt das Wort Mörder (Abbildung 8.21). Der Mörder hat seinenersten Auftritt als Schatten, als ein Phantom, ein körperloses Wesen mit einer körperlosenStimme, die Elsie anspricht: „Du hast aber einen schönen Ball. Wie heißt dudenn?“„Elsie Beckmann!“, quietscht das kleine Mädchen vergnügt als Antwort.Für Mutter Beckmann ist die Welt noch in Ordnung. Sie stellt das Essen auf denTisch (Abbildung 8.22). Dies ist eine subtil beunruhigende Überblendung Langs. Frau178


8. M (<strong>1931</strong>)Beckmann steht gebeugt, im gleichen Winkel wie der Schatten <strong>des</strong> Mörders am Endeder vorherigen Einstellung, und schält mit einem Messer eine Kartoffel. Die Analogieist überdeutlich, wenngleich auch unauffällig in Szene gesetzt.Wieder zeigt Fritz Lang die Kuckucksuhr, jetzt ist es 12:20 Uhr. Elsie muss jedenAugenblick nach Hause kommen (Abbildung 8.23).Frau Beckmann hört einige Kinder das Treppenhaus emporstürmen. Voll freudigerErwartung öffnet sie die Tür, doch Elsie ist nicht unter ihnen (Abbildung 8.24).Jetzt beginnt Frau Beckmann, sich Sorgen zu machen. Zuerst schaut sie den Kindernhinterher und wirft dann einen ersten Blick das Treppenhaus hinunter (Abbildung8.25).Nun schneidet Lang zurück auf die Straße. Wir sehen aus einer göttlichen Perspektive,wie der Fremde einen Luftballon für Elsie kauft. Der Luftballon hat eine kindlicheGestalt: rundlicher Körper, übergroßer Kopf mit aufgemalten Gesichtszügen. Verkauftwird er von einem blinden Bettler, der späterhin noch eine gewichtige Rolle in demFilm haben wird (Abbildung 8.26).Der Ton in dieser Szene ist bemerkenswert, denn der Mörder pfeift ein Lied. Eshandelt sich um das Leitmotiv aus Edvard Griegs Peer Gynt, Suite No. 1, Opus 46-4,In der Halle <strong>des</strong> Bergkönigs. Diese bekannte Melodie ist nicht nur einprägsam, sondernauch eine zeitgenössische Anleihe, welche den Bezug <strong>des</strong> Films zur Realität Berlinsim Jahre 1930 mitträgt, denn 1929 gab es eine beliebte und gefeierte Aufführung <strong>des</strong>Stückes in der Hauptstadt. Jene Passage aus Peer Gynt erzählt davon, wie Peer Gyntdie Halle <strong>des</strong> Bergkönigs durchkreuzt, bedroht von Trollen und anderen Kreaturen.Der Mörder Beckert sieht sich in einer ähnlichen Situation, wie im weiteren Verlauf<strong>des</strong> Films wiederholt angedeutet wird. Immer dann, wenn das Monstrum in ihm erwacht,setzt die Melodie ein. Manchmal, wie in dieser Szene, pfeift er die Melodieselbst. Manchmal jedoch entsteht sie auch in seinem Kopf, scheint von überall überihn hereinzubrechen und ihn schier in den Wahnsinn zu treiben, wie zum Beispielin einer Szene in einem Straßencafé, einem jener Art, wie auch Peter Kürten sie oftbesuchte, um dort den Schauergeschichten über die von ihm begangenen Morde zulauschen. Langs Einsatz von Peer Gynt, der übrigens immer von Lang selbst gepfiffenwurde, weil Peter Lorre nicht pfeifen konnte, drückt Langs erstem Tonfilm den Stempelauf. Die Musik ist so markant und einprägsam wie das Thema aus Carol Reeds TheThird Man (1949) oder Mikis Theodorakis’ Spiel aus Alexis Zorbas (1964), allerdingsmit einem bedrohlichen Unterton. Peer Gynt brennt sich als das Lied eines Mörders indas Gedächtnis ein.Erneut folgt ein unvermittelter Schnitt zurück in die Küche der Beckmanns. Esklingelt an der Tür und Frau Beckmann öffnet sie in der Erwartung, dass Elsie vor derTür steht. Doch es ist nur Herr Gehrke, der Zusteller der von ihr so geliebten Kriminal-Groschenromane (Abbildung 8.27).Durch diesen Schnitt lässt Lang den Gedanken entstehen, dass just in dem Moment,in welchem Frau Beckmann die neueste Folge ihrer Krimiserie entgegennimmt, Elsievon Beckert ermordet wird.179


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>Abbildung 8.23: 12:20 Uhr Abbildung 8.24: Ist es Elsie?Abbildung 8.25: Mutter sorgt sich Abbildung 8.26: LuftballonAbbildung 8.27: Ist es jetzt Elsie? Abbildung 8.28: Leeres Treppenhaus180


8. M (<strong>1931</strong>)<strong>Das</strong>s Frau Beckmann hier ausgerechnet eine Kriminalgeschichte erhält und nichteine Ausgabe einer üblichen Klatsch und Tratsch-Zeitschrift, kommt nicht von ungefähr.<strong>Das</strong> Verhältnis von fiktivem und realem Verbrechen ist hier eine interessanteKonstellation. <strong>Das</strong> fiktive Verbrechen dient Frau Beckmann, wie jedem anderen Menschenauch, als angenehmes Mittel der Unterhaltung. <strong>Das</strong>s man das reale Verbrechenals grauenvoll empfindet, spielt bei diesem Genuss keine Rolle. Horrorliteratur und-filme bilden hierbei auch keine Ausnahme. <strong>Das</strong> Bewusstsein, dass es zwischen dengeschilderten Vorgängen und der eigenen Realität eine Distanz gibt, schafft hier einausreichen<strong>des</strong> Polster, auch wenn es kaum ein Gewaltverbrechen gibt, welches nochnicht durch die Literatur behandelt wurde. M (<strong>1931</strong>) ist hier keine Ausnahme, undLang war sich <strong>des</strong>sen offensichtlich bewusst. Die Neuigkeiten von den DüsseldorferMorden und Peter Kürtens Enthüllungen fütterten solche Magazine und diese fandeneinen reißenden Absatz. Ein besonders auffälliges Beispiel ist hier die Ausgabe derTageszeitung Berliner Morgenpost vom 25. November 1929. In dieser Zeit gab es eineKolumne mit der Überschrift Der Kriminalist und in der genannten Ausgabe brachtedie Zeitung unter dem Titel Krieg in Düsseldorf eine ausführliche Beschreibung derbisherigen Düsseldorfer Bluttaten. Direkt daneben, noch auf der gleichen Seite, befandsich der Abdruck einer Kriminalgeschichte von Frank Heller. Nichts anderes machtletztlich auch Fritz Lang mit M (<strong>1931</strong>). Was immer Lang in seinem Film auch zeigenmag, es wird stets als Fiktion vom Publikum aufgenommen werden. Daher erscheintes also umso logischer, dass Lang sich bemühte, seinen Film in eine möglichst realeSzenerie einzubetten, um so die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit möglichstverschwimmen zu lassen.Nachdem Herr Gehrke sagt, dass er Elsie nicht gesehen habe und sie sicher nochkommen würde, beginnt sich in Frau Beckmann die nackte Angst zu regen. Sie eiltwieder ins Treppenhaus und wirft einen Blick hinunter. Doch das Treppenhaus ist immernoch leer (Abbildung 8.28.Diese Einstellung ist ein echter Klassiker. Wagner fotografierte das Treppenhausaus einem sehr steilen Winkel nahezu senkrecht hinunter, insgesamt vier Stockwerke.<strong>Das</strong> Bild von der harten, gnadenlos anmutenden Geometrie harter Kanten dominiert.Auch diese Einstellung wurde oft kopiert, unter anderem von Alfred Hitchcock inVertigo (1958), wobei Hitchcock sie noch zusätzlich um einen berühmt gewordenenZoom-Effekt anreicherte.Mit von der Angst gezeichnetem Gesicht kehrt Frau Beckmann in die Wohnungzurück (Bild 25).Dort verharrt sie kurz, dann wirft sie erneut einen Blick auf die Uhr. Es ist mittlerweile13:15 Uhr, Elsies Heimkehr ist bereits eine Stunde überfällig (Bild 26).Nun schlägt Frau Beckmanns Angst in Panik um (Abbildung 8.31). Sie eilt zumKüchenfenster und ruft Elsies Namen zur Straße hinunter. Ihr zweiter Schrei verhalltungehört im Treppenhaus (Abbildung 8.32), der dritte Schrei im Speicher (Abbildung8.33).Hier haben wir ein weiteres Beispiel für Langs grandiosen Umgang mit Ton. Wirdenken, Frau Beckmanns Rufe würden durch das Gebäude schallen, aber dem ist nicht181


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>Abbildung 8.29: Angst Abbildung 8.30: 13:15 UhrAbbildung 8.31: Panik Abbildung 8.32: Elsie!Abbildung 8.33: E-L-S-I-E! Abbildung 8.34: Der leere Teller182


8. M (<strong>1931</strong>)Abbildung 8.35: Elsie stirbt Abbildung 8.36: Die Seele entweichtso. Es handelt sich hierbei um ein klassisches Voice-Over in Szenen, die stumm gedrehtwurden. Die Wucht dieser Szene ergibt sich aus ihrem Kontext. <strong>Das</strong> leere Treppenhaus,der leere Speicher - egal wo Frau Beckmann sucht, sie wird ihre kleine Elsie nie mehrsehen.Der Höhepunkt dieser Einstellung ist erreicht, als Fritz Lang einen langen Blickauf Elsies unberührtes Essgeschirr und den Stuhl, auf welchem Elsie jetzt eigentlichsitzen sollte, aber nie mehr sitzen wird, zeigt. In dieser Einstellung ruft Frau Beckmannnicht mehr den Namen ihrer Tochter, sondern es herrscht eisige Stille, Grabesstille(Abbildung 8.34).Die Stille hält an, als wir sehen, wie Elsies Ball aus einem Gebüsch hervorrollt.Elsie stirbt gerade (Abbildung 8.35).Zuletzt zeigt uns Fritz Lang den Luftballon, der nicht mehr von Elsies kleinenHänden festgehalten wird. Er steigt als Sinnbild für Elsie Beckmanns Seele hinaufzu einer Telegrafenleitung. Dort verfängt er sich kurz, als ob er sich nicht endgültigvon dieser Welt verabschieden wollte. Doch dann driftet er doch noch in den Himmelhinauf. Elsie ist von uns gegangen (Abbildung 8.36).Dies waren die ersten vier Minuten von M (<strong>1931</strong>) - die ersten vier Minuten voninsgesamt 106. Der Film hält dieses Niveau bis zu seinem Ende und nun können Siesich vorstellen, weshalb ich schrieb, eine umfassende Betrachtung würde ein eigenesBuch füllen. An dieser Stelle treten wir daher auf die Bremse, zumal sich im weiterenVerlauf <strong>des</strong> Films der Horror auf reine Theorie reduziert. Die Horrormotive in derExposition sind, wenngleich auch subtil eingesetzt, unübersehbar, doch der Rest <strong>des</strong>Filmes konzentriert sich darauf, ein typischer Kriminalfilm zu sein, in welchem einMörder gejagt wird.Ich habe jedoch versprochen, noch auf einige Besonderheiten <strong>des</strong> Films einzugehen.183


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>Die Sicht <strong>des</strong> Films auf die Stadt Berlin haben wir bereits genügend erwähnt. In derBetrachtung der ersten Filmminuten fällt aber auf, dass Fritz Lang die Stadt selbstnicht zur Hauptperson kürt, und das wird sich in den restlichen 102 Minuten Filmdauerauch nicht ändern. Fritz Lang zeigt keine städtischen Merkmale Berlins. Er zelebriertdie Stadt nicht, er zeigt lediglich das Leben darin. Berlin ist hier auch ein Stellvertreterfür andere deutsche Großstädte. Dies hatte unter anderem auch zur Folge, dassin der Vergangenheit einige Rezensenten unter dem Eindruck der Kürten-Hysterie davonausgingen, dass M (<strong>1931</strong>) in Düsseldorf spiele. Dies ist jedoch ein Trugschluss,denn Berlin bleibt nicht anonym. Als erstes Indiz wäre hier die Sprache zu nennen;die Protagonisten sprechen mit Ausnahme Hans Beckerts alle eine Berliner Zunge.Auf einem Zeitungsartikel ist der Name der Stadt zu erkennen. Im Film wird die Stadtals die Heimat von viereinhalb Millionen Menschen bezeichnet; nur Berlin hatte imJahr 1930 diese Größe. Und ein Stadtplan lässt endgültig keinen Zweifel am Ort <strong>des</strong>Geschehens, denn auf diesem ist Berlin eindeutig identifizierbar. Die Anonymisierungder Großstadt kommt daher, dass die Stadt nicht gefilmt wurde. Der Film entstandvollständig im Studio, dementsprechend sehen wir nur Studiobauten anstelle echterGebäude.Ein kleiner Hinweis am Rande für die Filmhistoriker unter Ihnen: Einer der Bühnen<strong>des</strong>ignerwar ein junger Mann, der ebenfalls in die USA auswandern und dort inHollywood als Regisseur von B-Movies zu einer Kultfigur heranwachsen würde: EdgarG. Ulmer. Er wird uns noch wiederholt begegnen, denn er drehte Filme wie Bluebeard(1944), The Man from Planet X (1951), Daughter of Dr. Jekyll (1957) undThe Amazing Transparent Man (1960), also vorrangig echte Trashgranaten, wie dieFilmtitel bereits andeuten.Wesentlich unverständlicher als das Portrait einer Großstadt dürfte für Sie meineBehauptung sein, bei M (<strong>1931</strong>) handele es sich auch um einen Kriegsfilm. Es ist in derTat so; der Horror verschwindet zunehmend, der Krieg hält zunehmend in den FilmEinzug. Diesen interessanten Aspekt schauen wir uns nochmal genauer an, denn diesist notwendig, um M (<strong>1931</strong>) wirklich zu würdigen (und nebenbei ist dies auch sehrinteressant).Als der Erste Weltkrieg ausbrach, herrschte eine große Begeisterung im Volk fürden Krieg, welcher der Propaganda zufolge nur wenige Wochen oder Monate dauernsollte. Die Menschen waren hungrig nach Neuigkeiten von der Front und ihre hauptsächlichenInformationsquellen waren Tageszeitungen und Litfaßsäulen. An Letzterenwurden die Neuigkeiten als Plakate angeschlagen und vor ihnen bildeten sich regelmäßigMenschentrauben. Fritz Lang zitiert dies kurz nach dem Ende der Exposition.An einer Plakatwand ist eine Kopie <strong>des</strong> Fahndungsplakats angebracht, Fritz Lang zeigtes in einer Nahaufnahme. Dann zieht sich die Kamera zurück, zeigt zuerst einige Hüte,dann Menschen. Die Kamera entfernt sich immer weiter von dem Plakat, aber dieMenge bleibt unüberschaubar groß.184


8. M (<strong>1931</strong>)Abbildung 8.37:Karikatur von George GroszEine nervig hohe Stimme aus dem Off liest vor, dass der Schrecken in der Stadt einneues Opfer heimgesucht habe. Hierbei kann es sich nur um Elsie Beckmann handeln.Die Männer vor dem Plakat sind als Stummfilm inszeniert, die körperlose Stimme istdas Einzige, was man hört.Die Stimme aus dem Off gehört einemdicklichen Exemplar der Bourgeoisie,wie wir nach dem folgenden Schnittsehen. Dieses sitzt mit seinen Kumpanenin einer Stammtischrunde und fachsimpeltmunter. Dies ist ein AnleiheFritz Langs an den wohl schärfsten Kritikerder kriegstreibenden Oberschicht underst recht der rechten Szene Deutschlands,George Grosz. Grosz warf einwachsames Auge auf die Weimarer Republikund machte sich mit seinen bitterbösenKarikaturen in den 20er Jahreneinen Namen. Er erkannte so mancheUnstimmigkeit und neben den Nazis warAbbildung 8.38: Fritz Lang stellt die Bonzenaus den Bildern von Grosz nachdie fette Bourgeoisie, welche mal eben nebenher die Menschen <strong>des</strong> einfachen Volkesfür ihre Kriegsspiele verheizt, das Lieblingsthema von Grosz. Nach Hitlers Machter-185


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>greifung im Jahr 1933 verließ er Deutschland und zog nach New York, wohl wissend,welches Schicksal ihn unter Hitlers Herrschaft erwartet hätte. Seine Arbeiten wurdenim Jahr 1937 von den Nazis als „entartete Kunst“ eingestuft und somit verboten.Fritz Lang verehrte Grosz und er ließ es sich nicht nehmen, <strong>des</strong>sen Karikaturenals Vorlage für diese Tischrunde zu benutzen. Der sprechende und Zigarren qualmendeBonze hinten links scheint einer von Grosz’ vielen Kriegskarikaturen entsprungenzu sein und wie auch bei Grosz bekommen sich die Stammtischbrüder in die Wolle,indem sie sich in ihrem Übereifer gegenseitig beschuldigen, der Mörder zu sein(bei Grosz waren es seinerseits „Hochverräter“). Über dem Tisch thront, wie eine allesüberwachende Spinne, ein Kronleuchter. Er spendet das Licht, ohne welches dieDiskussion gar nicht möglich wäre, kontrolliert aber ebenso das Geschehen wie dassich bei Grosz <strong>des</strong> Öfteren wiederholende Bild eines Geldsäckels, die Haupttriebfederhinter dem Kriege.Langs Kritik in Form der Anspielungen auf Grosz sind schwer zu entdecken. FritzLang hütete sich davor, in seinem Film offene Kritik zu üben. Andere Anleihen anden Krieg sind offensichtlicher, aber hier stellt Fritz Lang nur dar, er kritisiert nicht.Die auffälligsten Referenzen an den Krieg seien hier erwähnt, die Suche nach weiterenüberlasse ich dem interessierten Leser und Betrachter.Die Polizei plant, das Gebiet um die Tatorte systematisch zu durchkämmen. JederStein soll umgedreht, jeder Vorgarten durchkämmt und jede Wohnung durchsucht werden,damit man endlich Hinweise auf den Mörder entdeckt. Der Film zeigt hier einegeneralstabsmäßige Planung. Die Ziele werde auf einem Stadtplan festgelegt wie dieZiele eines Angriffs aus der Luft.Schränker hingegen wählt einen anderen Ansatz. Er will die totale Kontrolle durchInfiltration. Als Kriegsgegner der Polizei benutzt er ebenfalls einen Stadtplan, um seineSoldaten und Agenten, die Bettler, flächendeckend geschickt zu positionieren. Seineauf dem Stadtplan liegende Hand ballt sich zu einer Faust; im Gegensatz zu den chirurgischanmutenden Angriffen seiner Kontrahenten möchte er die komplette Stadt inseinen unerbittlichen Würgegriff bringen - er möchte sie besetzen.Schränkers Armee besteht aus den Verlierern <strong>des</strong> Ersten Weltkrieges. Bettler warenin der Tat ein fester Bestandteil von Berlins Stadtbild und die meisten von ihnenwurden im Ersten Weltkrieg zu Krüppeln geschossen. Deutschlands Großstädte littendamals unter einem Trauma, und dieses Trauma macht Fritz Lang zu einem essenziellenBestandteil seines Films. Die Bettler werden nicht nur gezeigt, sondern wie voneiner Mel<strong>des</strong>telle <strong>des</strong> Heeres rekrutiert. Die Kriegskrüppel schreiben sich für einenneuen Einsatz an der Front ein.Die Polizei hingegen zeigt das saubere Antlitz <strong>des</strong> Krieges. Hier gibt es keine gemeinenSoldaten, welche im Dreck leiden; Lohmanns Armee ist uniformiert und sauber,marschiert im formierten Gleichschritt zu den durch ihren General angeordnetenRazzien oder wird in Transportlastwagen durch die Gegend gekarrt. Sogar der Ministerkontaktiert seinen untergebenen Polizeichef und zwingt diesen zu einem Großeinsatz;die Suche nach dem Mörder wird durch ihn wie ein Krieg auf einer politischen Ebeneausgetragen.186


8. M (<strong>1931</strong>)Militärische Pla-Abbildung 8.39:nung Lohmanns ...Abbildung 8.40: ... und SchränkersPlan totaler KontrolleAbbildung 8.41: Polizei? Militär? Abbildung 8.42: KriegsversehrteAbbildung 8.43: Westfront 1918 Abbildung 8.44: Eingekreister Feind187


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>Ein ebenso interessantes Detail ist eine der Szenen, in welcher Beckert mit einemseiner potenziellen Opfer eine Straße entlangmarschiert. Sie kommen an mehrerenPlakaten vorbei, auf welchen G.W. Pabsts meisterliches und von den Nazis später verbotenesMeisterwerk Westfront 1918 (1930) beworben wird. Diese kleine Anspielungist ein Detail von großer Brillanz. Westfront 1918 (1930) ist ein offensiver Antikriegsfilm,welcher den Vergleich mit dem amerikanischen Im Westen nichts Neues (1930)nicht zu scheuen braucht. Dieses Plakat ist hier auch eine Stellungnahme Langs zumKrieg selbst. Des weiteren lief der Film kurz vor Drehbeginn zu M (<strong>1931</strong>) sehr erfolgreichin Berlin; das Plakat ist somit auch ein Beitrag zur Aktualität <strong>des</strong> Filmes. Drittensist diese Szene auch noch geschickt platzierte Werbung, denn wie M (<strong>1931</strong>) war auchWestfront 1918 (1930) eine Produktion der Nero Film.Motive <strong>des</strong> Kriegsfilm wie die hier genannten sind Bestandteil <strong>des</strong> Films, aber siedominieren ihn nicht. Man kann sich den Film anschauen, von ihm unterhalten werden,und dennoch nimmt man sie gar nicht wahr, ähnlich wie auch einige Details aus derEröffnungssequenz <strong>des</strong> Films, welche wir genauer betrachteten. Gleiches gilt für eineVielzahl anderer Momente <strong>des</strong> Films, aber zwei davon sind so offensichtlich, wenngleichauch nicht auf Anhieb für jedermann nachvollziehbar, dass sie hier unbedingtnoch Erwähnung finden müssen. Beide Szene sind auch ein weiteres Beispiel für denleichten Unterton <strong>des</strong> Horrors, der in diesem Film herrscht.Die erste dieser eindrucksvollen Szenenzeigt Beckert als Gefangenen seinerselbst. Beckert begibt sich zu einemStraßencafé. Die beiden auf der Straßestehenden Tische sind durch eine Heckevom Bürgersteig abgetrennt. Wir sehenBeckert, wie er durch die Hecke hindurchzu einem der Tische geht und sich auf einemder Stühle niederlässt.Nun beginnt Lang eine Kamerafahrtüber die Straße hinweg ganz nah andie Hecke heran. Der Zuschauer schautdurch sie hindurch den Mörder an. DieAbbildung 8.45: Beckert wird im Straßencafévon seinen Dämonen heimgesuchtZweige der Pflanze wirken hierbei wieGitterstäbe.Anfangs ist Beckert noch einigermaßen normal. Er beginnt, sein Peer Gynt zu pfeifen,doch er bricht schnell wieder ab. Er greift in seine Tasche und holt eine Zigarettehervor, führt sie zu seinem Mund.Doch dann erwachen wieder die bösen Geister in ihm. Er beugt sich kurz mit gequältemGesichtsausdruck nach vorne über den Tisch, seine Augen treten leicht hervor.Noch immer sehen wir ihm durch die Hecke zu, wie Voyeure.Beckert fängt sich schnell wieder. Er steckt sich die Zigarette wieder in den Mundund möchte sie anzünden.188


8. M (<strong>1931</strong>)Doch jetzt übermannt ihn das Grauen. Er wirft die Zigarette weg und verhüllt in Paniksein Gesicht mit seinem Mantel. Aggressiv ertönt das Pfeifen der Peer Gynt-Suite.Doch die Melodie kommt diesmal aus dem Off; Beckert pfeift sie nicht selbst, sonderndie Melodie erschallt in seinem Kopf, quält ihn, will das Monstrum zum Erscheinenzwingen.Fritz Lang etabliert in dieser Szene den Ton <strong>des</strong> Films als nicht zu übersehen<strong>des</strong>Stilmittel. Die kurze Melodie wird zu einem Vorboten <strong>des</strong> Unheils und ist nicht mehrlänger nur das Liedchen, welches von einem durchgeknallten Mörder gepfiffen wird.Im späteren Verlauf <strong>des</strong> Films kommt noch eine Szene, in welcher der blinde Luftballonverkäuferdas Pfeifen hört. Er wird vom Grauen gepackt, denn er erkennt anhanddieses Lie<strong>des</strong>, und notgedrungen nur an ihm, den Mörder. Der Mörder entfernt weitsich von dem Blinden, bis auch der zur Hilfe gerufene Sehende Beckert fast aus denAugen verliert - aber das Pfeifen als Ausdruck <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong> wird einfach nicht leiser.Auch in der zweiten Szene erwacht das Monster in Beckert, dieses Mal wehrt sichBeckert jedoch nicht dagegen. Beckert geht hier einer seiner Lieblingsbeschäftigungennach, dem Betrachten von Schaufenstern. Er landet vor dem Schaufenster einerEisenwarenhandlung und betrachtet sich die darin ausgestellten Waren.Fritz Lang wählte hier nun plötzlich eine Kameraposition im Inneren <strong>des</strong> Geschäftes.Wir sehen Beckert durch die Glasscheibe, zusammen mit einer Reflexion in derAuslage befindlicher Messer. Die Messer formen eine Raute um Beckerts Kopf, ihreKlingen sind auf sein Gesicht gerichtet. Es scheint, als würden sie Beckert bedrohen,ein Symbol für die Bedrohung <strong>des</strong> braven Beckert durch sein morden<strong>des</strong> Ego.Dann wechselt Lang die Kameraposition und zeigt die Auslage aus Beckerts subjektiverSicht. Wir schauen nun direkt auf die Raute aus Messern. Doch dieses Malsehen wir nicht Beckerts Spiegelbild in der Glasscheibe, sondern jenes eines kleinenMädchens. Der Mörder ist erwacht, Beckert wird das Mädchen nun verfolgen.Fritz Lang erreichte mit M (<strong>1931</strong>) sein Ziel, einen Tonfilm zu schaffen, welcherdem Anspruch von Stummfilmen gerecht wird. Inszeniert nach den visuellen Maßstäben<strong>des</strong> Stummfilms und einer unbeschreiblichen tour de force beim Umgang mitdem Ton, war M (<strong>1931</strong>) seiner Zeit weit voraus und legte die Messlatte für die filmischeQualität von Tonfilmen ein ganz Stück höher. Die Vermarktung <strong>des</strong> Films tat dasÜbrige, um den Film zu einem kolossalen internationalen Erfolg zu machen.Fritz Lang war Geschäftsmann genug, um sämtliche Unwägbarkeiten frühzeitig zuerkennen und geschickt zu umschiffen. Seine leise Kritik an der politischen Entwicklungin Deutschland, welche nur den aufmerksamsten Beobachtern auffällt, ist nur einTeil <strong>des</strong> Ganzen. Langs Umsicht macht sich schon beim Titel <strong>des</strong> Films bemerkbar.Der Arbeitstitel <strong>des</strong> Films lautete Mörder unter uns, doch dieser Titel wurde verworfen.Der Grund hierfür war, dass Fritz Lang befürchtete, dass sich Hitlers menschenjagendeLakaien angesprochen fühlen könnten. Statt<strong>des</strong>sen wählte er den BuchstabenM als Filmtitel und auch dies war ein Geniestreich. Was bedeutet M? Mörder? Mabuse?Metropolis? Der Filmtitel lässt Interpretationsspielraum und weckt Neugier. Hinzukommt noch, dass M wegen seiner optischen Kürze in der Liste der etwa 140 deut-189


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>Abbildung 8.46: Seine Taten belastenBeckert ...Abbildung 8.47: ... doch dann gewinntdas Monstrum die Oberhandschen Filmproduktionen dieses Jahres sofort auffiel. Dies war ein Titel, welcher dasPotenzial hatte, Besucher ins Kino zu locken, welche ansonsten ausgeblieben wären.Die rechte Szene zeigte sich von dem Film durchaus angetan. M (<strong>1931</strong>) ist einFilm, welcher dahingehend interpretiert werden kann, dass die Kraft <strong>des</strong> einfachstenVolkes, <strong>des</strong> Untergrunds, ausreicht, um der Staatsgewalt eins auszuwischen. Der andersartige,unmenschliche Mörder wird gefangen und seiner gerechten Strafe zugeführt.M (<strong>1931</strong>) ließ die Nazis in anderer Weise als befürchtet aufhorchen. 1933, kurznach der Machtübernahme Hitlers, bot der Reichsminister für Volksaufklärung undPropaganda, Dr. Joseph Goebbels, Fritz Lang die Leitung der deutschen Filmwirtschaftan. Dieses Angebot lag nahe, denn Fritz Lang war nicht nur ein Aushängeschildder deutschen Filmwirtschaft, deren propagandistisches Potenzial Goebbels völlig zuRecht als sehr hoch einstufte. Adolf Hitler hatte M (1926) gesehen und Goebbelsmitgeteilt, dass Fritz Lang der Mann sei, welcher ihnen den nationalsozialistischenFilm schenken würde. Außerdem war Fritz Lang bekennend deutsch-national ausgerichtetund hatte zusammen mit Carl Boese, Luis Trenker und Victor Janson dieRegie-Abteilung der NSBO, der Nationalsozialistischen Betriebsorganisation, gegründet.Aber Fritz Lang hatte kein Interesse daran, eine Propagandafilmmaschinerie zuleiten und gab Goebbels eine hinhaltende Antwort; noch in der gleichen Nacht packteer die Koffer und setzte sich nach Paris ab.Seine Karriere in Deutschland war somit beendet. M (<strong>1931</strong>) wurde nach der MachtergreifungHitlers dann doch noch verboten, aber aus einem Grund, mit welchem niemandgerechnet hatte und der auch eher als Vorwand zu dienen scheint. <strong>Das</strong> Verbot190


8. M (<strong>1931</strong>)<strong>des</strong> Films beruhte darauf, dass im Dritten Reich die Darstellung von Triebtätern undpsychisch Kranken nicht erlaubt war. Fritz Langs nächster Film und Antwort auf Hitlerspolitischen Aufstieg, <strong>Das</strong> Testament <strong>des</strong> Dr. Mabuse (1932), wurde am 29. März1933 von der Filmprüfstelle verboten - neun Monate vor seiner Uraufführung in Wien.Von dem Film existieren noch zwei weitere Sprachfassungen, welche jedoch nichtvollständig von Fritz Lang inszeniert wurden. In der französischen Sprachfassung trittPeter Lorre ebenfalls auf. Diese Fassung wurde nicht, wie in den USA üblich, parallelgedreht, sondern ist eine Mixtur aus Synchronisation und parallel in französischgedrehten Szenen. Die französische Sprachversion ist in den 1990er Jahren wiederaufgetaucht. Im Jahr 2005 tauchte in den Archiven <strong>des</strong> British Film Institute auch eineenglischsprachige Fassung auf, welche komplett (schlecht) synchronisiert war undwohl ohne die Mitarbeit Fritz Langs entstand. Einige Szenen wurden nachgedreht, zumBeispiel um Zeitungsschnipsel und Briefe in englischer Sprache darzustellen, aber beikomplizierteren Einstellungen verblieb man auch hier bei den deutschen Originalbildern.So genial M (<strong>1931</strong>) erzählt und inszeniert sein mag, ist er dennoch nicht frei vontechnischen Mängeln. Hier sticht vor allem die Arbeit Fritz Arno Wagners hervor. DieBilder <strong>des</strong> Films sind geprägt von Problemen im Umgang mit Licht und Beleuchtung;häufig haben Personen und Gegenstände in Tagesszenen bis zu acht Schattenwürfegleichzeitig und in der Szene mit dem Straßencafé filmt Wagner während der Kamerafahrtzur Hecke seinen eigenen Schatten. Auch die Tiefenschärfe entgleitet hin undwieder seiner Kontrolle. Aber diese artifiziellen Details hielten M (<strong>1931</strong>) nicht davonab, als Meisterwerk zu gelten.191


192<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>


Literaturverzeichnis[1] John T. Soister, Of Gods and Monsters: A Critical Guide to Universal Studios’Science Fiction, Horror and Mystery Films, 1929-1939, McFarland & Company,Inc., S. 74f.[2] Michael H. Price, George E. Turner, Forgotten Horrors: Early Talkie Chillersfrom Poverty Row, A.S. Barnes and Co., S. 27[3] Andréa Fernan<strong>des</strong>, Iconic America, Mental_Floss,http://www.mentalfloss.com/blogs/archives/22639[4] Die Rekonstruktion der Taten Peter Kürtens erfolgte unter Nutzung von Protokollen<strong>des</strong> Gerichtsprozesses, zeitgenössischen Artikeln und Fotografien ausder Tageszeitung Düsseldorfer Nachrichten, dem Artikel To<strong>des</strong>urteile vonG.H. Mostar und R.A. Stemmle aus Kriminalreport, Ausgabe 1964, S. 219-307, sowie Peter Kürten, genannt der Vampir von Düsseldorf von ElisabethLenk (Hrsg.) und Katharina Kaever (Hrsg.), Eichborn 1997, 1. Auflage, ISBN3821841567193


IndexAlraune (1930), 33, 33Alraune (1952), 33Amazing Transparent Man, The (1960),184American Gothic (1988), 139Amityville 3-D (1983), 63Andere, Der (1913), 32Andere, Der (1930), 31, 32Arsenic and Old Lace (1941), 171Autre, L’, siehe Procureur Hallers, Le(1930)Bat Whispers, The (1930), 57, 58–62, 66–72, 74, 85Bat, The (1926), 59, 60, 69Beast With Five Fingers, The (1946), 171Belle et la bête, La (1946), 54Benson Murder Case, The (1930), 19, 19,20, 21Between Two Worlds (1944), 30Birds of Prey (1930), 34Bishop Murder Case, The (1930), 17, 17,18Black Cat, The (1934), 86Black Christmas (1974), 164Blood of a Poet, The, siehe Sang d’unpoète, Le (1930)Bluebeard (1944), 86, 184Blut eines Dichters, <strong>Das</strong>, siehe Sang d’unpoète, Le (1930)Bride of Frankenstein (1935), 86Cabinet <strong>des</strong> Dr. Caligari, <strong>Das</strong> (1919), 3Canary Murder Case, The (1929), 17–19,21Cat and the Canary, The (1927), 15, 17,60, 66Cat Creeps, The (1930), 14, 14, 15–17, 31,60, 116, 117Cat Creeps, The (1946), 16Chien andalou, Un (1928), 45Chien andalou, Un(1928), 55Christine (1983), 140Crazies, The (1973), 141Creature from the Black Lagoon, The(1954), 22Creepshow (1982), 140Cuerpo del delito, El (1930), 21, 21, 22,120Cujo (1983), 140Dämon der Frauen, Der, siehe Rasputin:Dämon der Frauen (1930)Daughter of Dr. Jekyll (1957), 184Daughter of Evil, siehe Alraune (1930)Dawn of the Dead (1978), 141Der Golem: Wie er in die Welt kam(1920), 3Die Nibelungen (1924), 166Doctor X (1932), 86Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1908), 3Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1920), 170Dr. Mabuse (1922), 166Drácula (<strong>1931</strong>), 115, 116–125, 127–130,132, 134–136Dracula (1921, I), 78Dracula (1921, II), 78Dracula (1930), 4, 9, 77, 77, 78, 84, 85,87, 88, 90–93, 95, 97–103, 106, 107,113–116, 120–136, 163Dracula (1958), 105Dracula (1992), 96Dracula’s Daughter (1936), 105, 110Eaten Alive (1977), 141Edgar Allan Poe’s Tales of Terror (1962),171End of the World, The, siehe Fin du monde,La (1930)Exorcist, The (1973), 63Faust (1960), 169194


FilmindexFearless Vampire Killers, The (1967), 95,110Fin du monde, La (1930), 39, 40, 41Forbidden Adventure in Angkor (1935),28Frankenstein (1910), 3Frankenstein (<strong>1931</strong>), 4Freaks (1932), 12Gato y el canario, El, siehe Voluntad delmuerto, La (1930)Gorilla Mystery, The (1930), 24, 25Gorilla, The (1927), 23Gorilla, The (1930), 23, 23Graa dame, Den (1909), 3Green Murder Case, The (1929), 17Greene Murder Case, The (1929), 21Halloween (1978), 164Henry: Portrait of a Serial Killer (1986),164House of Frankenstein (1944), 86Hunchback of Notre Dame, The (1923), 4,84, 89Hunger, The (1983), 96I Spit on Your Grave (2010), 141Ilorona, La (1933), 22Ingagi (1930), 25, 26–28Invisible Man’s Revenge, The (1944), 86Invisible Man, The (1933), 4Invisible Man, the (1933), 86It Came from Beneath the Sea (1955), 86Januskopf, Der (1920), 78, 81Jaws (1975), 29Just Imagine (1930), 42, 42Kennel Murder Case, The (1933), 19King Kong (1933), 4, 28Last Hour, The (1930), 41Last House on the Left (2009), 141Liliom (1930), 35, 36Liliom (1933), 36London After Midnight (1927), 80, 116M (<strong>1931</strong>), 160, 161, 162–164, 167–172,181, 183, 184, 188–191M: Eine Stadt sucht einen Mörder, sieheM (<strong>1931</strong>)Mörder unter uns, siehe M (<strong>1931</strong>)Müde Tod, Der (1921), 166Mad Love (1935), 171Man from Planet X, The (1951), 184Man Who Laughs, The (1928), 84Mangler, The (1996), 140Manoir du diable, Le (1896), 3Mark of the Vampire (1935), 140, 141Maximum Ovberdrive (1986), 140Metropolis (1926), 162, 166, 168, 190Metropolis (1927), 42Midnight Mystery (1930), 22Monster (2003), 164Monster, The (1925), 59, 60, 69Mother’s Day (2010), 141Mummy’s Ghost, The (1944), 86Mummy, The (1932), 4Murders in the Rue Morgue (1932), 11Mysterious Dr. Fu Manchu, The (1929),31New Adventures of Dr. Fu Manchu, sieheReturn of Dr. Fu Manchu, The (1930)Night of the Living Dead (1968), 141Nosferatu: Eine Symphonie <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>(1922), 3, 44, 78, 89, 97, 100, 125Orphée (1950), 54Other One, The, siehe Andere, Der (1930)Outward Bound (1930), 30Peeping Tom (1959), 161, 164Penalty, The (1920), 4Perfect Alibi, The, siehe Birds of Prey(1930)195


<strong>Das</strong> <strong>Dokument</strong> <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>Pet Sematary (1989), 141Phantom of Paris, The (<strong>1931</strong>), 10Phantom of the Opera, The (1925), 4, 9,16, 44, 84, 89, 128Poltergeist (1982), 50Procureur Hallers, Le (1930), 32Psycho (1960), 164Rasputin, Demon with Wives, siehe Rasputin:Dämon der Frauen (1930)Rasputin: Dämon der Frauen (1930), 34Raven, The (1963), 171Reazione a catena (1971), 164Return of Chandu, The (1934), 22Return of Dr. Fu Manchu, The (1930), 31,31Revenge of the Zombies (1943), 86Rocky Horror Picture Show, The (1975),140Sang d’un poète, Le (1930), 45, 45, 46,51, 52, 54, 55Saw (2004), 18Scotland Yard (1930), 37, 37Sea Bat, The (1930), 29, 29, 30Sei donne per l’assassino (1964), 164Seven (1995), 18Shining, The (1980), 70, 141Silence of the Lambs, The (1991), 164Son of Ingagi (1940), 28Spanish Dracula, siehe Drácula (<strong>1931</strong>)Spectre Vert, Le (1930), 38Spiral Staircase, The (1946), 69Spooks (1930), 44Staatsanwalt Hallers, siehe Andere, Der(1930)Such Men Are Dangerous (1930), 36, 37Svengali (<strong>1931</strong>), 117Temple Tower (1930), 38, 38Terrors (1930), 28, 28, 29Testament <strong>des</strong> Dr. Mabuse, <strong>Das</strong> (1932),164, 191Texas Chain Saw Massacre, The (1973),141Texas Chain Saw Massacre, The (1974),164Twelfth Hour, The, siehe Zwölfte Stunde:Eine Nacht <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>, Die (1930)Unholy Night, The (1929), 38Unholy Three, The (1925), 9Unholy Three, The (1930), 9, 10–12, 24Unknown Purple, The (1923), 59Unknown, The (1927), 4Valley of the Zombies (1946), 86Vampires, Les (1915–16), 60Vampyr (1932), 54Vertigo (1958), 181Voice from the Sky, The (1930), 43, 43Voluntad del muerto, La (1930), 16, 16,22, 116, 117Voodoo Man (1944), 86Wizard of Oz, The (1939), 12Wolf Man, the (1941), 4Zwölfte Stunde: Eine Nacht <strong>des</strong> <strong>Grauens</strong>,Die (1930), 44196

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