Ende - Andrea Bottlinger
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Verliebte küssten sich unter meinem Blätterdach.<br />
Wanderer ruhten an meinem breiten Stamm.<br />
Hunderte von eingeritzten Botschaften zieren meinen<br />
Körper.<br />
Einige sind fast so alt wie ich.<br />
Ich wurde geboren als ein Mann starb. Wie es zu<br />
dieser Zeit üblich war, opferte man ihn auf den<br />
Wurzeln und Ästen meines Mutterbaumes.<br />
Ich erinnere mich an das lüsterne Rauschen ihrer<br />
Blätter, das ekstatische Knarren ihrer Äste als sie<br />
das vergehende Leben in sich aufsog. Doch das,<br />
was an diesem Opfer unvergänglich war, entstieg<br />
dem Leichnam wie ein Stern. Meine Mutter fing<br />
den Stern und gab ihn mir.<br />
„Eichen werden weit über tausend Jahre alt. Diese hier<br />
schätzen wir auf etwa 1.500 Jahre.“ Meine Blätter lassen<br />
Licht auf dem Gesicht des klugen, jungen Mannes tanzen.<br />
Woher soll er auch wissen, dass ein Stück Unsterblichkeit<br />
in mir ruht.<br />
Ob seine Zuhörer von heiligen Eichen gehört haben?<br />
Bestimmt. Viele haben das, die zu meinen Füßen tanzen,<br />
meditieren oder feiern. Ob sie wissen, wie heilig ich bin?<br />
Und wie alt?<br />
Der Stern ließ sich in mir nieder und gemeinsam<br />
wurden wir geboren. Wir schlugen Wurzeln und<br />
ich konnte fühlen, wie er es genoss, wieder zu<br />
leben. Meine Mutter schütze uns vor Menschen<br />
und Tieren. Ihre Macht war groß zu dieser Zeit.<br />
Getränkt von Blut zu jeder Sonnenwende. Oh ja -<br />
4<br />
Baumgeschichte von Macalla<br />
Wenn Bäume sprechen könnten, hätten sie sicher<br />
einiges zu erzählen. Denn immerhin sind viele von<br />
ihnen ziemlich alt und haben bestimmt so<br />
manches interessante Ereignis beobachten können.<br />
Also kann die Geschichte eines Baumes nicht<br />
langweilig sein, auch wenn man vielleicht<br />
einwenden könnte, dass es ihr möglicherweise ein<br />
wenig an Bewegung mangelt. Aber selbst das ist<br />
hier nicht der Fall. Dieser Text stellt eine äußerst<br />
packende und bewegende Baumgeschichte dar.<br />
Langweilig ist sicher etwas anderes.<br />
Daher freue ich mich, diese Ausgabe von Blah!<br />
mit einem solchen Text einleiten zu können und<br />
präsentiere stolz Macallas Baumgeschichte.<br />
damals schlief sie nicht einmal im Herzen des<br />
Winters. Lachend und trotzig reckte sie Grün in die<br />
dunkle Kälte und verhöhnte sie. Ihre Macht war<br />
gewaltig und die Menschen konnten sie fühlen<br />
und wurden angelockt wie Motten von einer<br />
Kerzenflamme.<br />
Blut für Leben und Tod. Blut für Winter und<br />
Sommer. Blut zum Dank und zur Bitte.<br />
Rot und Grün sind symbolträchtige Farben, nicht<br />
wahr?<br />
Der junge Mann spricht nun von Coevolution. Von Tieren,<br />
die gemeinsam mit mir leben und sich mit mir und durch mich<br />
entwickelt haben.<br />
Eine Gallwespe legt ihr Eier in eines meiner Blätter. Es stört<br />
mich nicht. So wie meine Jugend mit Leben genährt wurde, so<br />
will ich andere nähren.<br />
Früher freute man sich sogar über die Wespen. Menschen<br />
kamen, schnitten die Galläpfel herunter und machten Tinte<br />
daraus. Es amüsiert mich, darüber nachzudenken wie viele<br />
Worte aus mir hervorgingen.<br />
Meine Mutter war wild und schön und stark und die<br />
Verehrung der Menschen war ihr selbstverständlich.<br />
Ich weiß nicht, warum sie den Lebensstern des<br />
Opfers einfing und an mich weitergab.<br />
Wahrscheinlich hat sie nicht viele Gedanken darauf<br />
verwandt. Manchmal hielt sie jene, die man auf ihre<br />
Äste spießte noch eine Weile am Leben. Nur um zu<br />
sehen, was passieren würde.