BIRKE <strong>Norwegen</strong>s L<strong>in</strong>kssozialisten 427127). Die Entwicklung <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r chemischen Industrie, der »Werkstatt<strong>in</strong>dustrie«(Metallsektor) <strong>e<strong>in</strong>e</strong>rseits, aber auch der <strong>in</strong>dustriellen Landwirtschaftund der Fischerei, die bis Anfang der 1970er Jahre besondersim Norden noch <strong>e<strong>in</strong>e</strong> entscheidende Bedeutung hatten, wurde defacto staatlich organisiert und reguliert. Der Ausbau <strong>e<strong>in</strong>e</strong>s universalistischenWohlfahrtsstaates <strong>in</strong>tegrierte zugleich <strong>in</strong>sbesondere die Gewerkschaftsverbändeder Privat<strong>in</strong>dustrie <strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong>e</strong>n historischen Kompromiss,dessen Basis der Ausbau der <strong>in</strong>dustriellen Produktion, <strong>e<strong>in</strong>e</strong>umfangreiche Rationalisierung aller Lebensbereiche und die bestimmendeRolle des Staates <strong>in</strong> der Gesellschaft war. Bis <strong>in</strong> die 1970erJahre wurden Volksrente, Arbeitslosenversicherung und andere sozialeLeistungen auf der Grundlage von Rechtsansprüchen und Steuerf<strong>in</strong>anzierungausgebaut. Die Expansion des öffentlichen Dienstesbrachte bis 1980, etwas später als <strong>in</strong> Dänemark und Schweden, die Erhöhungder Frauenerwerbsquote weit über den westeuropäischenDurchschnitt. Die Ölfunde seit Ende der 1960er Jahre machten <strong>Norwegen</strong>nicht nur zum drittgrößten Ölexporteur der Welt, sondern auchzu dem Laand auf Platz 1 der UNDP-Liste über den Ausbau der Sozial-,Gesundheits- und Ausbildungssysteme (UNDP 2002). Auch dieErschließung der Ölvorkommen ist vor allem <strong>e<strong>in</strong>e</strong> staatliche Aufgabegewesen: All<strong>e<strong>in</strong>e</strong> der norwegische Staat war als größter Kapitalist <strong>in</strong>der Lage, die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Aberanders als <strong>in</strong> anderen Ländern war Statoil, bis vor wenigen Jahren e<strong>in</strong>staatliches Unternehmen, zugleich <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r der Hauptprofiteure der Ölfunde.Der Ölfonds ist noch heute <strong>e<strong>in</strong>e</strong> der wichtigsten E<strong>in</strong>kommensquellendes Staatshaushalts.Die norwegischen L<strong>in</strong>ksparteien (neben der SV vor allem noch dieRV – Rød Valgalliance) s<strong>in</strong>d also mit <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m Kapitalismus konfrontiert,der <strong>in</strong> noch größerem Maße als <strong>in</strong> anderen europäischen Ländernstaatlich reguliert war. E<strong>in</strong>e der großen Herausforderungen derPolitik dieser <strong>Partei</strong>en besteht heute jedoch dar<strong>in</strong>, dass sie auf<strong>e<strong>in</strong>e</strong> Situation reagieren müssen, <strong>in</strong> der derselbe Staat entscheidenderTräger der Deregulierungspolitik ist. Ähnlich wie <strong>in</strong> Dänemarkist auch <strong>in</strong> <strong>Norwegen</strong> die DNA <strong>in</strong> den 1990er Jahren für den Durchbruchzur Privatisierungspolitik verantwortlich gewesen (vgl. Birke,2003/1). Auch die Umorientierung zu <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r »aktivierenden Sozialpolitik«hat die DNA zu <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Zeit vollzogen, als man <strong>in</strong> der bundesdeutschenSozialdemokratie noch nicht genau wusste, was mit»Aktivierung« geme<strong>in</strong>t ist. Insgesamt ist die norwegische Sozialdemokratieder wichtigste Akteur der »zweiten Welle« neoliberaler Reformen<strong>in</strong> den 1990er Jahren gewesen und hat sich damit zugleichvom der egalitären Politik verabschiedet, die die norwegische Nachkriegsgesellschaftgeprägt hat. Obwohl diese Tendenzwende <strong>in</strong> e<strong>in</strong>dichtes Netz tripartaler Absprachen – im Rahmen der Politik der sogenanntenSolidarischen Alternative – e<strong>in</strong>gewoben war, hat dieDNA ihre hegemoniale Stellung im norwegischen <strong>Partei</strong>ensystemverloren, nachdem die soziale Basis der <strong>Partei</strong> sich <strong>in</strong> den vorigenJahren fluchtartig nach rechts (zu den Populisten) und nach l<strong>in</strong>ks(zur SV) verabschiedet hat.Die vier im Parlament vertretenen alten bürgerlichen <strong>Partei</strong>en s<strong>in</strong>d<strong>in</strong> diesem Muster <strong>e<strong>in</strong>e</strong>rseits lange nichts weiter gewesen als potenzielleJuniorpartner der DNA, andererseits s<strong>in</strong>d sie wie überall <strong>in</strong>
428 BIRKE <strong>Norwegen</strong>s L<strong>in</strong>kssozialisten1 Im Gegensatz zu anderenskand<strong>in</strong>avischen Ländernund parlamentarischenSystemen gibt es für dasnorwegische E<strong>in</strong>-Kammern-Parlament k<strong>e<strong>in</strong>e</strong> Bestimmung,die während derLegislaturperiode Neuwahlenermöglicht, falls <strong>e<strong>in</strong>e</strong>Regierung nicht mehr dienotwendige Mehrheit hat.Bereits nach dem Fall derabsoluten Mehrheit der Sozialdemokratie(1965) warendeshalb M<strong>in</strong>derheitsregierungen<strong>in</strong> <strong>Norwegen</strong> dieRegel. Meistens wurdendiese Regierungen von derDNA gestellt, mit wechselndenZusammenarbeitspartnernje nach Sachfrage. DieBestimmung, dass währendder Legislaturperiode zwar<strong>e<strong>in</strong>e</strong> neue Regierung e<strong>in</strong>treten,aber k<strong>e<strong>in</strong>e</strong> Neuwahlendurchgeführt werden können,hat <strong>e<strong>in</strong>e</strong>rseits die auchanderswo <strong>in</strong> Skand<strong>in</strong>avienvorf<strong>in</strong>dbare Tendenz zurKonsensdemokratie bestärkt– die bis zur Zusammenarbeitzwischen (rechtspopulistischer)FrP und SV<strong>in</strong> Lokalparlamenten reicht,<strong>e<strong>in</strong>e</strong> Konstellation, die <strong>in</strong>den meisten anderen europäischenLändernsicherlich undenkbar wäre.Andererseits stellt sie ständigdie Legitimität der aktuellenRegierung <strong>in</strong> Frage,zumal die Wahlbeteiligung<strong>in</strong> den letzten Jahren <strong>e<strong>in</strong>e</strong>s<strong>in</strong>kende Tendenz aufweist.2 E<strong>in</strong>e im Auftrag derTageszeitungen Klassekampen,Nationen undDagen durchgeführteMe<strong>in</strong>ungsumfrage ergab imNovember 2003 folgendesResultat (<strong>in</strong> der Klammerdas Resultat der letztenStort<strong>in</strong>gswahl): Die potenziellenKoalitionsparteien<strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Mitte-L<strong>in</strong>ks-Koalitionerhielten: DNA: 25,7 Prozent(24,3), SV 19,7 (12,5), SP(Senterparti) 5,6 (5,6), <strong>in</strong>s-Skand<strong>in</strong>avien stark zersplittert: Die seit 2001 regierende bürgerlicheKoalition unter Kjell-Magne Bondevik profitiert vor allem von derSchwäche der DNA.Allerd<strong>in</strong>gs ist die norwegische <strong>Partei</strong>enlandschaft seit dem Abgangder sozialdemokratischen Regierung Stoltenberg im Jahre 1997(im Grunde seit dem Rücktritt Gro Harlem Brundtlands 1996) von<strong>e<strong>in</strong>e</strong>r bisher ungekannten Instabilität geprägt. Diese Instabilitätdrückt sich unter anderem dar<strong>in</strong> aus, dass bei den Haushaltsberatungenalljährlich neu die Machtfrage gestellt wird. 1 Während die erstenHaushalte der seit 2001 amtierenden bürgerlichen Regierung durche<strong>in</strong> Abkommen mit der rechtspopulistischen Volkspartei zustandegekommen s<strong>in</strong>d, gab es 2003 <strong>e<strong>in</strong>e</strong>n Kompromiss, der im wesentlichenvon den Konservativen (der »Rechtspartei« Høyre, die diemeisten M<strong>in</strong>ister stellt) und der DNA ausgehandelt wurde.Die derzeit regierenden bürgerlichen <strong>Partei</strong>en – Høyre, Venstreund Kristeligt Folkeparti – haben zusammengenommen weder <strong>e<strong>in</strong>e</strong>parlamentarische Mehrheit noch die Mehrheit der Stimmen bei Me<strong>in</strong>ungsumfragen:Sie lagen im ganzen Jahre 2003 bei nicht mehr als25 Prozent. In der Opposition bef<strong>in</strong>det sich die DNA, die derzeit etwasüber 25 Prozent der Stimmen erwarten kann, die FrP, die nachMe<strong>in</strong>ungsumfragen ungefähr bei 20 Prozent liegt, zeitweise aber dieSozialdemokratie als stärkste <strong>Partei</strong> abgelöst hatte, und die SV, dieetwas unter 20 Prozent liegt und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Me<strong>in</strong>ungsumfragen zurDNA aufschließen konnte sowie die alte Bauernpartei (Senterparti)mit etwa 6 Prozent. 2 Seit der Landeskonferenz im Vorfeld der Stort<strong>in</strong>gswahlenvon 2001 spricht sich die SV für die Regierungsalternative<strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Koalition zwischen SV, SP und DNA aus.Zur Geschichte der <strong>Sosialistisk</strong> <strong>Venstreparti</strong>Anfang der 1960er Jahre trat die »sicherheitspolitische Opposition«der DNA um die Wochenzeitschrift Ny Tid (»Neue Zeit«) aus der<strong>Partei</strong> aus und bildete die <strong>Sosialistisk</strong> Folkeparti (SF). <strong>Norwegen</strong>war bereits 1949 <strong>in</strong> die NATO e<strong>in</strong>getreten und die norwegischeSozialdemokratie praktizierte danach <strong>e<strong>in</strong>e</strong> stark pro-amerikanischeAußen- und Verteidigungspolitik. Die neu gebildete SF plädierte für<strong>e<strong>in</strong>e</strong> norwegische Neutralität <strong>in</strong> der Blockkonfrontation, lehnte dasWettrüsten ab, während sie <strong>in</strong>nenpolitisch für <strong>e<strong>in</strong>e</strong> Weiterentwicklungdes Wohlfahrtsstaates und der staatlichen Ökonomie h<strong>in</strong> zu <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m»demokratischen Sozialismus« e<strong>in</strong>trat (www.sv.no/hvem). ImUnterschied zu Schweden, wo sich die L<strong>in</strong>kspartei erst <strong>in</strong> den 1970erJahren <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m eurokommunistischen Kurs annäherte (Schmidt 2003,auch: Brie 2003), kannten sowohl <strong>Norwegen</strong> als auch Dänemark bereits<strong>in</strong> den 1960er Jahren <strong>Partei</strong>en des »Dritten Wegs«, die als solcheeher mit den der <strong>l<strong>in</strong>kssozialistische</strong>n Tradition im Italien der1950er Jahre vergleichbar waren als mit der eurokommunistischenBewegung der 1970er Jahre (vgl. auch Birke 2003/2, Abschnitt 2).Im Unterschied zu Italien kam es aber weder <strong>in</strong> Dänemark noch <strong>in</strong><strong>Norwegen</strong> zu <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Regierungsbeteiligung der <strong>Partei</strong>en der »NeuenL<strong>in</strong>ken«. Am Ende der 1960er Jahre zerfiel die SF <strong>in</strong> <strong>Norwegen</strong> zunehmendaufgrund <strong>in</strong>terner Konflikte. Im Zuge der neuen Jugendbewegungspaltete sich 1969 die Jugendorganisation SUF (<strong>Sosialistisk</strong>Ungdoms Front) von der SF ab – vergleichbar mit der Entwicklung