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<strong>111</strong> <strong>Jahre</strong> Graphische revue<br />
<strong>111</strong> <strong>Jahre</strong><br />
Graphische revue<br />
Autoren des<br />
Sonderteils sind<br />
hanS-georg Wenke und<br />
knud WaSSermann.<br />
roman böSch,<br />
montfort Werbung:<br />
„Druck ist Bildung. Bildung<br />
ist die Quelle persönlicher<br />
(Weiter-)Entwicklung,<br />
privat wie beruflich.<br />
Bildung ist Wirtschaft.<br />
Bildung ist Wachstum.<br />
Bildung ist Leben. Bildung<br />
ist soziale Kompetenz.<br />
Bildung ist persönliche<br />
Zukunft. Druck und<br />
Medien ermöglichen<br />
(Weiter-)Bildung erst.<br />
Bildung, also Druck und<br />
Medien, öffnet Potenziale<br />
und macht den<br />
Menschen zur ‚Krone<br />
der Schöpfung‘.“<br />
<strong>111</strong> <strong>Jahre</strong> sind Kontinuität und extremer Wandel<br />
zugleich. Ein Beweis, wie faszinierend dieses Medium<br />
war, ist und sein wird. Druck hat feste Aufgaben<br />
und findet immer wieder zu neuen Möglichkeiten.<br />
Wenn Sie jetzt „in den beSten jahren“ Sind, waren<br />
1900, im Gründungsjahr der Graphischen revue, Ihre<br />
Ururgroßeltern in einem ähnlichen Alter. Vier Generationen zurück,<br />
vielleicht sogar fünf. Eine Fiktion: Die würden im Zeittunnel<br />
binnen Sekunden von „damals“ nach „heute“ katapultiert.<br />
Was würde sie aus dem täglichen Leben, zu Hause, bei der Arbeit,<br />
in der Öffentlichkeit noch wiedererkennen? Was hat sich seitdem<br />
kaum, nicht geändert?<br />
Es ist nicht viel, was „die Zeiten überdauert hat“. Aber Drucksachen<br />
gehören dazu! Wenn man die Spanne noch erheblich ausdehnt,<br />
fällt einem kaum noch etwas ein, was sich sozusagen über<br />
Jahrhunderte bewährt hat. Musikinstrumente könnte man nennen,<br />
Kirchturmuhren, die Fiaker – und eben Drucksachen.<br />
99 Prozent dessen, was uns täglich umgibt, was wir wie selbstverständlich<br />
benutzen, ist so verschieden und andersartig als früher,<br />
dass man kaum von einer Kontinuität sprechen kann.<br />
Freilich, auch die Art zu drucken hat sich gewaltig geändert; die<br />
alten Handsetzer und späteren Lithografen, die Drucker und Buchbinder,<br />
sie alle stünden fassungslos vor der neuen Technik. Aber!<br />
Das Produkt, das zum Schluss gefertigt würde, wäre sehr ähnlich<br />
dem, was sie selbst damals gemacht haben. Drucksachen müssen<br />
also etwas in sich, an sich haben, was sich ungemein bewährt hat.<br />
Sonst wäre es längst vergessen, außer Gebrauch. Doch gedruckt<br />
wird weiter munter. Und kaum ein Experte – Sie lesen es in diesem<br />
Heft – hat Zweifel daran, dass dies auch in Zukunft so sein wird.<br />
daS haptiSche<br />
Üblicherweise schreibt man dem wortwörtlich Begreifbaren, dem<br />
Haptischen, die USP der Printmedien zu („… kann man getrost<br />
nach Hause tragen“). Doch dieses Materielle ist zwar eine wichtige,<br />
wahrscheinlich aber gar nicht einmal die hervorragende Komponente.<br />
Diese verbirgt sich im Unbewussten, um dort so stark zu<br />
wirken, dass sie eine suggestive Kraft entwickelt (wer vom Lesevirus<br />
„infiziert“ ist, kommt nicht davon los).<br />
Zunächst einmal sind Bildschirme und Druckseiten gleichermaßen<br />
eine Bühne, um grafischvisuelle Elemente und Informationen<br />
zu präsentieren. Aber!<br />
• Papier kann ziemlich problemlos jedes Format annehmen, von<br />
klein bis ziemlich gewaltig – Bildschirme als Werkzeug haben im<br />
Stefan SagmeiSter,<br />
designer:<br />
„Für mich als Designer ist<br />
die Gestaltung von<br />
gedruckten Dingen<br />
äußerst befriedigend. Ich<br />
kann auf die Arbeit der<br />
letzten <strong>Jahre</strong>n zurückblicken<br />
und sehe, dass sich<br />
meine Anstrengungen<br />
greifbar manifestiert<br />
haben, ich habe etwas<br />
Handfestes und Haltbares<br />
in die Welt gesetzt, einige<br />
gestaltete CD-Covers, ein<br />
paar designte Bücher. Das<br />
tut gut.“<br />
4 GR|03|2011
lukaS kirchner,<br />
zeitungsdesigner:<br />
„Gedrucktes auf Papier<br />
wird es immer geben.<br />
Weil es nicht perfekt ist.<br />
Das Unebene, die Strukturfehler,<br />
wenn man über<br />
die Seiten streicht, das<br />
Unflüchtige, nicht Hastige,<br />
das Beständige. Das Knistern,<br />
das Blättern. Dass<br />
es vergilbt, die Würde des<br />
analogen Alterns, die<br />
ersten Falten. Papier<br />
hat Charakter.“<br />
GR|03|2011<br />
mer das gleiche Format, sie sind schon daher optisch langweiliger.<br />
Und nicht selten so klein oder wenig kontrastreich, dass Bücher<br />
und kleine Schriften schlecht zu lesen sind.<br />
• Bildschirme verführen extrem zu hetzen, hasten, eilen. Papier<br />
strahlt Ruhe aus. Vor allem Multimediales diktiert das Tempo.<br />
Auf Papier lesen kann jeder Mensch nach Belieben – sogar rückwärts<br />
und „quer“. So gesehen ist Papier das „menschendienlichste“<br />
Medium.<br />
daS Sorgfältige, Wertvolle, beSondere<br />
Was uns heute als zuweilen besonders hinderlich und ärgerlich erscheint,<br />
dass Drucken immer noch „richtig Geld kostet“, war mit<br />
Sicherheit einer der Gründe seiner Effizienz. Genau dieser Umstand,<br />
dass nicht jeder „mal eben schnell“, nach Belieben, ohne<br />
groß drüber nachzudenken, irgendwas irgendwie irgendwo drucken<br />
lassen konnte, zwang zu dem, worunter die heutige Zeit psychisch<br />
wie physisch leidet: Informationsselektion. Es war der Schutzwall<br />
gegen die Informationsflut, gegen die Überforderung des Einzelnen.<br />
Drucksachen bereitete man sorgfältig vor. Es wurde mehr als<br />
einmal überlegt, was des Druckens wert war – und was nicht. Natürlich,<br />
man kann dies als Einschränkung der Meinungsvielfalt bewerten.<br />
Aber summa summarum war es hilfreich, „die Spreu vom<br />
Weizen zu trennen“. Das half, dass man gegenüber dem Gedruckten<br />
viel Vertrauen haben konnte.<br />
Doch dieses „Vorkauen“ scheint nicht mehr dem Zeitgeist zu<br />
entsprechen. Die Faszination des Internets liegt vor allem darin,<br />
dass es aufgrund seiner Struktur (Hyperlinks) dem Nutzer die Navigation<br />
an die Hand gibt. Wer – heute wie früher – eine singuläre<br />
Publikation konsumiert (Gedrucktes, TV/Radio), ist von deren Inhalt<br />
abhängig. Wenn man „im Internet“ surft, erscheint es wie eine<br />
unendliche Publikation aus buchstäblich Abermillionen Kapiteln<br />
(Domains, URLs). Die Nutzer fühlen sich plötzlich souverän, sie<br />
übernehmen die Regie. Dies hat sich zum allgemeinen Verhalten<br />
im Umgang mit Medien entwickelt. Gleichwohl Medienkompetenz<br />
eigentlich meint, man solle souverän mit den verschiedenen<br />
Möglichkeiten und Eigenschaften der Medien umgehen und sie<br />
sach und sinngemäß einsetzen, wird das Wort meist ziemlich<br />
selbstbewusst als „Der Nutzer ist der Souverän der Medien“ interpretiert.<br />
Die „Herausgeber“ (Publisher) sind Diener der Medienkonsumenten.<br />
Nicht mehr länger sind Nutzer die „Kunden“ (um<br />
nicht ironisch zu sagen: die „Opfer“) der Informationsanbieter.<br />
daS maSSenmedium<br />
Globalität ist heute selbstverständlich. Wer hat sie erfunden? Ohne<br />
Wahrheiten zu verbiegen und aberwitzige gedankliche Winkelzüge<br />
machen zu müssen: Ermöglicht wurde Globalität, das Überwinden<br />
von Zeit und Raum, von Grenzen und Kulturräumen, in der Tat<br />
mithilfe von Drucksachen. Sie waren die ersten „Global Media“. Sie<br />
ermöglichten, was später – vor allem in Verbindung mit Radio und<br />
TV – „Broadcasting“ genannt wurde; auf Deutsch: Massenmedien.<br />
Es ist müßig zu philosophieren, ob Massenmedien ein globales<br />
Dorf geschaffen haben oder die Globalisierung die Massenmedien<br />
– zuletzt das Internet – extrem gefördert hat. Wahrscheinlich ist<br />
alles ein HenneEiSyndrom, ein evolutionäres Pingpongspiel.<br />
Doch als die Masse, das globale Dorf, immer größer wurde, bekam<br />
das gute, bewährte Medium Papier ein ziemlich unangenehmes<br />
Problem. Sein bis dato größter Vorteil, die Robustheit des Materials,<br />
wurde zum gigantischen Nachteil. Denn ganz ohne Frage:<br />
joSef koinig,<br />
geschäftsführer jung<br />
von matt, Wien:<br />
„Da wir eine Vielzahl an<br />
Handelskunden betreuen,<br />
machen wir sehr viel<br />
Print. Traditionell sind<br />
preisgetriebene Botschaften<br />
im Print gut aufgehoben,<br />
und deshalb hat Print<br />
seine Berechtigung.<br />
Handelskunden haben<br />
2009 ihre Budgets erhöht<br />
und dabei aufgrund des<br />
wirtschaftlichen Umfelds<br />
verstärkt auf Preiskommunikation<br />
gesetzt,<br />
was teilweise zulasten<br />
des Fernsehens ging.<br />
Print wird weiterhin eine<br />
gewisse Relevanz – auch<br />
bei jungen Leuten –<br />
haben. Ich sehe keinen<br />
Grund, warum Print<br />
aussterben sollte. Mein<br />
Gefühl sagt mir, dass es<br />
Print noch lange geben<br />
wird.”<br />
5
<strong>111</strong> <strong>Jahre</strong> Graphische revue<br />
boro petric,<br />
entwicklung<br />
medienprojekte<br />
red bull:<br />
„Aus meiner Sicht ist<br />
es egal, ob wir Papier<br />
bedrucken, iPads befüllen<br />
oder unseren Content<br />
auf andere Plattformen<br />
stellen. Wir machen das<br />
‚Red Bulletin‘, da man mit<br />
Papier am leichtesten<br />
eine gewisse Anzahl von<br />
Menschen erreichen<br />
kann. Natürlich haben wir<br />
auch Webplattformen und<br />
bieten mobilen Content<br />
an. Schlussendlich ist der<br />
Content viel wichtiger als<br />
das Medium. Mit langweiligen<br />
Inhalten ist man –<br />
egal, in welchem Medium<br />
– nicht erfolgreich.<br />
Für Papier spricht: Es<br />
besitzt eine gute Usability.<br />
Ich kann unfassbar schnell<br />
durch ein Magazin browsen<br />
und etwas suchen.<br />
Und Papier ist auch ein<br />
zuverlässiger Speicher.“<br />
Papier kann man nur lesen, wenn man es in Händen hält oder es an<br />
der Plakatsäule klebt respektive als Verpackung, Karton und dergleichen<br />
im Regal steht. Also muss Gedrucktes immer, ohne Ausnahme,<br />
körperlich transportiert und verteilt werden. Das allein<br />
jedoch begründete noch nicht den explosionsartigen Erfolg des Internets,<br />
gleichwohl es wesentlich dazu beitrug. Es kam eine andere<br />
180GradWende hinzu: die „informelle Selbstbestimmung“.<br />
In einer Drucksache kann man nur lesen, was die Macher ihr inhaltlich<br />
mit auf den Weg gegeben haben. Doch mit einer zunehmenden<br />
Produktivität in Beruf und Business und einer rasch steigenden<br />
Komplexität der Dinge des täglichen Lebens wurde das<br />
alte Prinzip „auf Vorrat lesen und sich informieren“ unbrauchbar.<br />
Massenmärkte wandelten sich zu fraktalen Märkten. Die Menschen<br />
wollten immer mehr ihre Informationsquellen selbst bestimmen,<br />
nicht lesen müssen, was ihnen vorgesetzt wurde. Das Internet<br />
mit seiner LinkCharakteristik kam da gerade recht.<br />
infogaining<br />
Ein neuer Trend wurde vor nunmehr 15, 20 <strong>Jahre</strong>n eingeleitet. Infogaining<br />
meint: Die Initiative zum Medienkonsum geht vom Leser,<br />
Nutzer aus. Das Prinzip „1 Verleger – viele Leser/Hörer/Zuschauer“<br />
wandelte sich zu „1 Medienkonsument – viele Medienkanäle<br />
und Infoquellen“.<br />
Werbung, Marketing, aber auch Information und Dokumentation<br />
standen und stehen von einer gewaltigen Aufgabe, die zuweilen<br />
wie die Quadratur des Kreises erscheint. Man will und muss<br />
• mit der richtigen Information, dem richtigen Inhalt<br />
• zum richtigen Zeitpunkt<br />
• in der richtigen Aufmachung, Art und Weise<br />
• im richtigen Kanal, Medium<br />
• beim richtigen Empfänger sein.<br />
„MultichannelPublishing“ ist also eine sich aus den Lebens und<br />
Arbeitsumständen ergebende Aufgabe und Strategie; sie hat mit den<br />
oft wahnwitzigen und holprigen Erklärungen, ob nun das Internet<br />
Print ablöst oder welche Chancen Print im MultimediaUmfeld hat,<br />
nichts zu tun (die Diskussionen sind auch wirklich langweilig).<br />
Nein, Print ist nach wie vor ungemein vorteilhaft und nützlich.<br />
Aber eben nicht mehr für alles und immer. Print hat seine Aufgaben,<br />
wie die anderen Medien auch ihre Funktionen haben. Sämtliche Versuche,<br />
generelle Regeln aufzustellen („was eignet sich für wen und<br />
wofür?“) sind nutzlos, zermürbend, unsinnig. „HeavyMediaUser“<br />
sind ebenso Vielleser wie InternetDauernutzer, sie sind TV und<br />
Radioaktiv, sie schreiben EMails und lesen gern gute Bücher. Sie<br />
schätzen im Edelrestaurant die seriöse Speisekarte auf wunderbarem<br />
Papier und schauen gleichzeitig mal im Mobiltelefon oder iPad in die<br />
News. Und andere, eher „Medienflüchter“, halten sich meist an<br />
einem Medium fest, das ihren mentalen Strukturen entspricht: die<br />
verkrochenen Leseratten oder die TVDauerberieselten.<br />
Papier, Drucken, die feinen Dinge der grafischen Welt bleiben.<br />
Wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir ihnen nicht mehr so oft<br />
begegnen und sie neue Nischen erobern oder für bestimmte Aufgaben<br />
und Gewohnheiten weiterhin akzeptiert werden; aber weder<br />
sind sie auf dem funktionalen Rückzug, noch sind ihre Vorteile<br />
plötzlich samt und sonders wertlos.<br />
In der Medienlandschaft bleiben Oasen, Biotope, „schöne Flecken“,<br />
eben das Gedruckte. Ein wenig Naturschutz dafür müssen<br />
wir schon betreiben. �<br />
jürgen brüeS,<br />
marketingleiter<br />
gugler* cross media:<br />
„Im Zug von Berlin nach<br />
Wien. Er liest ihr vor. Schlingensiefs<br />
Krebstagebuch. So<br />
schön wie hier kann’s im<br />
Himmel gar nicht sein! Wut,<br />
Trauer, Angst, Kampf. Jedes<br />
Umblättern ein Luftholen,<br />
Stimmesammeln, bis sie<br />
heiser wird und brüchig.<br />
Das Buch schließen, den<br />
Finger zwischen den Seiten.<br />
Blicke, die Landschaft<br />
fliegt vorbei, geschlossene<br />
Augen, den Kopf an der<br />
Schulter. Die Stimme ist zurück.<br />
Ein neuer Tag, Untersuchungen,<br />
Freunde, Verzweiflung.<br />
Das Papier reibt<br />
kaum spürbar unter der<br />
Fingerkuppe, weich, mit<br />
scharfer Kante. Blättern.<br />
Krankenhaus, Einsamkeit.<br />
Auf Tuchfühlung mit dem<br />
Schmerz. Erinnerungen,<br />
die Großmutter am Bett<br />
mit dem Lieblingsbuch. Die<br />
Seiten schwinden, was zurückliegt,<br />
wächst. Es geht<br />
dem Ende zu, die Hoffnung<br />
bleibt. Das Buch geschlossen.<br />
Leere. Zehn Minuten<br />
Verspätung in Linz. Was berührt,<br />
lebt. Was ich berühre,<br />
lebt. Immer. Weiter.“<br />
6 GR|03|2011