pdf-Datei - Grundlagen und Praxis
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Richard Moskowitz Die f<strong>und</strong>amentalistische Reaktion – Sommer 2002 4<br />
Milde, schüchterne, nachgiebige Art, mit Neigung zu weinen. Grämlichkeit, die<br />
sich zu Tränen steigert ... Schwermütig, melancholisch, voller Sorgen. Misstrauen,<br />
Menschenscheu. Herzschmerz, sogar Neigung zum Selbstmord. Zitternde Qual,<br />
als wäre der Tod nahe. Habsucht, Geiz. (3)<br />
In seinem Vorwort weist Lippe sorgfältig darauf hin, dass er keinerlei Anspruch auf<br />
Vollständigkeit erhebe; seine Absicht sei einzig, "die charakteristischsten Symptome unserer<br />
bestgeprüften <strong>und</strong> am häufigsten benutzten Arzneien" aufzulisten. Kents Materia medica<br />
entstand ebenfalls aus einer Vorlesungsreihe, die seinen Studenten als Leitlinie durch die<br />
riesige bereits existierende Menge von "Rohmaterial" dienen sollte. Doch anstatt einige<br />
Keynotes <strong>und</strong> bestätigende Symptome eins nach dem anderen aufzulisten, so wie Lippe es tat,<br />
synthetisiert Kent sie in einem leichten Erzählerstil, belebt durch seine klinischen<br />
Erfahrungen mit Patienten, die dieses Mittel bekommen <strong>und</strong> davon profitiert haben, damit wir<br />
die Nuancen des Pulsatilla-Archetyps von dem anderer Arzneien mit den gleichen Keynotes<br />
unterscheiden können:<br />
Die Pulsatilla-Patientin ist interessant; man findet sie in jedem Haus, in dem es<br />
viele junge Mädchen gibt. Sie ist weinerlich, vollblütig <strong>und</strong> sieht im allgemeinen<br />
gar nicht so krank aus; sie ist jedoch äußerst nervös, unruhig, wechselhaft, dabei<br />
leicht zu führen <strong>und</strong> zu überzeugen. Auch wenn sie mild, sanft <strong>und</strong> weinerlich ist,<br />
so ist sie doch bemerkenswert reizbar - nicht im Sinne von streitsüchtig, aber<br />
leicht aus der Fassung zu bringen, empfindlich; fühlt sich immer missachtet oder<br />
befürchtet, dass ihr dies widerfahren werde.<br />
Melancholie, Traurigkeit, Weinen, Verzweiflung, religiöse Verzweiflung,<br />
fanatisch; voll von w<strong>und</strong>erlichen Vorstellungen <strong>und</strong> Launen; starke<br />
Einbildungskraft, extrem erregbar. Sie bildet sich ein, in Begleitung des anderen<br />
Geschlechtes zu verweilen sei eine gefährliche Sache, <strong>und</strong> es sei gefährlich,<br />
gewisse Dinge zu tun, die in der Gesellschaft als gut für die menschliche Rasse<br />
anerkannt sind. Sie bilden sich ein, es sei nicht gut, Milch zu trinken, oder<br />
bestimmte Nahrungsmittel seien nicht gut für die Menschheit. Abneigung zu<br />
heiraten. Ein Mann setzt sich in den Kopf, es sei verwerflich, Geschlechtsverkehr<br />
mit seiner Frau zu haben. Religiöse Fanatiker; Tendenz zum Verweilen bei<br />
religiösen Vorstellungen; fixe Ideen, was die Bibel angeht; grübelt so lange<br />
darüber, ein Heiliger zu werden, bis er fanatisch <strong>und</strong> verrückt wird; denkt er sei<br />
überaus scheinheilig oder er habe durch seine Sünden sein Seelenheil verwirkt.<br />
Wochenbettpsychose bei einer Frau, die mild, sanft <strong>und</strong> weinerlich war <strong>und</strong> später<br />
traurig <strong>und</strong> schweigsam wurde; sitzt den ganzen Tag nur in ihrem Sessel <strong>und</strong><br />
antwortet nicht, oder nur durch Kopfnicken oder Kopfschütteln. (4)<br />
Auch wenn Kent seine Erfahrungen phantasievoll nutzt, heißt das nicht, dass er spekuliert<br />
oder über detaillierte Prüfungssymptome hinausgeht - er dramatisiert sie einfach in den<br />
Zusammenhang tatsächlicher menschlicher Wesen hinein, so dass das Arzneimittel nicht<br />
länger eine bloße Ansammlung von Symptomen ist, sondern eine lebendige Einheit, eine Art<br />
von Synthese aller, die es jemals eingenommen haben. In diesem Sinne war Kent der erste<br />
"Illuminist", eine stolze Stammlinie, die sich ungebrochen über Vithoulkas, Whitmont <strong>und</strong><br />
Coulter bis hin zu Sankaran <strong>und</strong> Scholten fortsetzt.<br />
Diese archetypischen Portraits oder "Essenzen" sind lediglich Lernhilfen <strong>und</strong> waren niemals<br />
dazu gedacht, die mühevolle <strong>und</strong> schwierige Disziplin eines detaillierten Materia medica-<br />
Studiums zu umgehen oder zu ersetzen. Ganz im Gegenteil: der Lehrwert, den sie besitzen, ist<br />
einzig <strong>und</strong> allein ihrer Relevanz <strong>und</strong> Sorgfältigkeit zuzuschreiben, welche wiederum eine hart<br />
erarbeitete Beherrschung der Arzneimittel auf die gute altmodische Weise voraussetzt,