KUH & CO - Jules Spinatsch
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M E T A M O R P H O S E N U N D M E T A P H E R N<br />
den schafft Hugues Ryffel die Verzauberung,<br />
von der der Titel spricht.<br />
Kühe, Pferde: Die eindrücklichsten Bilder<br />
von Kühen sind wohl in Cyril Schläpfers Ur-<br />
Musig (1993) zu finden. In Aufnahmen von<br />
seltener Schönheit wird über den Einbezug<br />
der Landschaft und insbesondere des Viehs<br />
der eigentliche Arbeitsliedcharakter all der<br />
Jodel, Juzer und Rufe ersichtlich, die die traditionelle<br />
Appenzeller und Innerschweizer<br />
Volksmusik charakterisieren. Auf so noch<br />
nicht gesehene Weise macht der Film die Liebe<br />
augenfällig, die diese Bergbauern für ihre<br />
Tiere empfinden, für deren Wohlergehen sie<br />
hingebungsvoll sorgen. Eindrücklich aber<br />
auch, wie der uralte, tremolierende Lockruf<br />
in Sennenballade (1996) von Erich Langjahr<br />
die Tiere am Abend eine schnellere Gangart<br />
anschlagen lässt, diskret unterstützt durch die<br />
Arbeit des Hirtenhunds im Hintergrund. In<br />
Bauernkrieg (1998) wird derselbe Autor die<br />
Kühe und Stiere zeigen, wie sie als blosse<br />
(Re-)Produktionsmaschinen Höchstleistungen<br />
in der Milch- und Samenherstellung zu<br />
erbringen haben, um dann in ohnmächtiger<br />
Empörung in minutenlangen Einstellungen<br />
zu dokumentieren, wie Kadaver zu Tiermehl<br />
verarbeitet werden. Nicht entfremdete<br />
Arbeits- und Lebenszusammenhänge führt<br />
Jacqueline Veuves Chronique paysanne en<br />
50<br />
Gruyère (1991) vor Augen. Hugues Ryffels<br />
meisterliche Kamera verwendet besondere<br />
Sorgfalt darauf zu zeigen, wie bei der Alpabfahrt<br />
die mit einem prächtigen Maien geschmückte<br />
Leitkuh bockt ob der ungewohnten<br />
Fracht zwischen den Hörnern, wie sich<br />
ein Kälbchen von der Katze die Schnauze<br />
lecken lässt oder wie Pferde und Menschen<br />
mit schwerer Holzlast lustvoll durch den<br />
Winterwald stieben (ein Thema, das Franz<br />
Kälin und Karl Saurer im Jahr darauf in<br />
ihrem halbstündigen Holz schleike mit Ross<br />
ebenfalls aufnehmen werden). Jacqueline<br />
Veuves Meisterschaft erweist sich an Momenten<br />
wie dem kurzen Zwischenschnitt vor<br />
dem Schuss auf das zum Schlachten bestimmte<br />
Schwein, der den Blick eines Pferds durch<br />
das Stallfenster auffängt. Auf höchst beziehungsvolle<br />
Weise wird das ‹Universum› der<br />
Kuh in Q – Begegnungen auf der Milchstrasse<br />
(2000) von Jürg Neuenschwander ausgelotet;<br />
insbesondere der Blick der Viehzüchter aus<br />
Burkina Faso auf hiesige, schweizerische Verhältnisse<br />
ist von ebenso umwerfender wie<br />
erhellender Komik.<br />
Das Hochland, die Wüste, der Urwald, der<br />
Zoo: Sehr viel mehr als eine Alpfahrt ist der<br />
vielwöchige Zug der Yak-Karawane in Nordtibet,<br />
den Ulrike Koch in Die Salzmänner<br />
von Tibet (1997) auf eindrückliche Weise dokumentiert<br />
hat. Bewegend etwa, wie Zopön,<br />
der ‹Herr der Tiere›, dem die Sorge um das<br />
Wohlergehen der 160 Yaks obliegt, mit einem<br />
kranken Tier leidet, und rührend, wie er sich<br />
vorstellt, was die Yaks nach der Ankunft am<br />
Salzsee nun wohl so denken – die erfahrenen<br />
und die Neulinge. Der Film schlägt auch<br />
einen Bogen zurück zu Die letzten Karawa-<br />
nen (1966), worin René Gardi eine Karawane<br />
von Tuaregs auf ihrem langen Marsch durch<br />
die südliche Sahara begleitet, ja bis zu den<br />
Bororo in Henry Brandts Les Nomades du<br />
soleil (1954). Auf ähnliche Weise berührt sich<br />
über die Jahrzehnte hinweg ein Film wie der<br />
von Henry Brandt gemeinsam mit Heinz<br />
Sielmann in den Urwäldern des Belgischen<br />
Kongos realisierte Les Seigneurs de la forêt<br />
(1958) mit Lisa Faesslers Tumult im Urwald<br />
(1998), in dem sie zeigt, wie Indianer vom<br />
Stamm der Huaorani in Ecuador die Affen,<br />
die sie von der Jagd mitgebracht haben,<br />
zunächst achtlos auf den Boden schmeissen,<br />
dann aber mit Muttertier und Baby eine Szene<br />
wie im Leben nachstellen. In den Urwald<br />
begeben hat sich auch der im Januar verstorbene<br />
Mike Wildbolz. Seine Dokumentation<br />
Das langsame Sterben des Sumatranashorns<br />
(1993) ist hervorgegangen aus der jahrelangen<br />
Beschäftigung mit Leben und Tätigkeit<br />
des berühmten Schweizer Tierfängers Peter<br />
Ryhiner, die ihren Abschluss fand in Ryhiners<br />
Business (1998), einer gerade durch ihr<br />
historisches Filmmaterial sehr aufschlussreichen<br />
Darstellung des Verhältnisses zwischen<br />
Mensch und wildem Tier.<br />
Was danach kommt, ist das Rendez-vous im<br />
Zoo (1995, siehe S. 32). Christoph Schaubs<br />
Film unternimmt einerseits eine kleine Kulturgeschichte<br />
des zoologischen Gartens und<br />
erkennt anderseits in dieser Institution eine<br />
der wesentlichen Schnittstellen in der Beziehung<br />
des Menschen zum Tier. Und er verschweigt<br />
keineswegs die Trauer, die uns<br />
ergreift, wenn wir uns darüber Rechenschaft<br />
ablegen, was wir, bei allem Bemühen um sein<br />
Wohl, dem Tier, seiner Schönheit und Kraft<br />
in unserer Faszination antun. In welche Zeiträume<br />
dieses Verhältnis zurückdatiert, daran<br />
erinnert Matthias von Gunten in Ein Zufall<br />
im Paradies (1999). Eine Evolutionsbiologin<br />
spricht von der ästhetischen Bedeutung, die<br />
Antilopen in den afrikanischen Savannenlandschaften,<br />
als ‹Boten guter Zeiten›, für<br />
den frühen Menschen besessen haben müssen.<br />
Wenn der Film dann Christophe Boeschs<br />
Forschungsarbeit an beziehungsweise mit<br />
einer Schimpansenpopulation im Tai-Urwald<br />
von Elfenbeinküste vorstellt, kann es geschehen,<br />
dass ein mächtiges Männchen vertrauensvoll<br />
zwischen Boesch und dem fremden<br />
Kameramann hindurchgeht.<br />
Der Luchs, die Pinguine: Die Schweizer Dokumentarfilmer<br />
haben, nach den ethnographischen<br />
‹Vorläufern› in den frühen fünfziger<br />
und sechziger Jahren, lange gebraucht, bis<br />
sie das Thema Natur und Zivilisation in den<br />
Blick bekommen haben: unser Verhältnis<br />
zum Fremden, Wilden, dessen Eindämmung,<br />
Domestikation, ja Vernichtung uns zugleich<br />
wesentlicher Erfahrungen beraubt und das<br />
deshalb unseres Schutzes bedarf. Wie stark<br />
unsere uralte Angst vor der Bedrohung durch<br />
das Tier nachwirkt, hat Franz Reichle in Lynx<br />
(1989) aufgezeigt. Es ist das Bedeutende und<br />
Erschreckende an dieser Untersuchung – mit<br />
der im Schweizer Film die ‹Wende› zur vertieften<br />
Reflexion über unser Verhältnis zur<br />
Natur einsetzt –, dass sie sichtbar und begreifbar<br />
zu machen versteht, wie der Luchs, dieses<br />
in den natürlichen Lebenszusammenhängen<br />
autonom existierende Tier, in unserer restlos<br />
verwalteten und besetzten Umwelt fremdbestimmt<br />
ist: als blosse Funktion der Ängste<br />
und Vorurteile der Schafhalter und Jäger, des<br />
Wohlwollens und Interesses der Förster und<br />
Ökologen. Folgerichtig tritt er im Film nur als<br />
Phantom in Erscheinung. Ungefähr zur gleichen<br />
Zeit wie Franz Reichle hat Hans-Ulrich<br />
Schlumpf mit den Vorarbeiten zu Der Kongress<br />
der Pinguine (1993) begonnen. Es ist ein<br />
schönes, grosses, ambitioniertes Werk mit fiktionalen<br />
Elementen, das über die genaue<br />
Dokumentation praktischer Forschung in der<br />
Antarktis hinaus Fragen nach globalen Zusammenhängen<br />
stellt und sich zum Plädoyer<br />
für einen verantwortungsvollen Umgang mit<br />
dem Planeten Erde weitet. Die exzellente<br />
Kameraarbeit stammt, wie in den erwähnten<br />
Filmen von Schaub, Koch, Faessler und von<br />
Gunten, von Pio Corradi.<br />
Die Stadt der Tiere: Es ist ein beinah unvorstellbares<br />
Durcheinander und Ineinander<br />
von Tier- und Menschenwelten, das Frédéric<br />
Gonseths La cité animale (2000) vor uns eröffnet.<br />
Der Filmemacher hat in der Altstadt<br />
von Jaipur, der Hauptstadt des nordindischen<br />
Gliedstaats Rajasthan, Verhältnisse vorgefunden,<br />
wie sie in manchem ähnlich bis weit<br />
in die Neuzeit hinein auch in europäischen<br />
Städten bestanden haben dürften. Durch subtile<br />
Beobachtung und beherzten Nachvollzug<br />
der Navigation der Tiere durch den tosenden<br />
Verkehr gelingt es dem Film tatsächlich, so<br />
etwas wie einen ‹regard animal sur une cité<br />
humaine› zu entwerfen. Faszinierend mitzuverfolgen<br />
ist dabei, wie sich die Beziehung<br />
zum Menschen bei Nutz- und Wildtieren<br />
gegenläufig niederschlägt. Während die domestizierten<br />
Arten eine erstaunliche Autonomie<br />
leben, betätigen sich die Wildtiere in<br />
verblüffendem Masse als Kulturfolger. Unübersehbar<br />
macht der Film jedoch deutlich,<br />
dass insbesondere Arbeitsgemeinschaften,<br />
die sich über Jahrhunderte hinweg eingespielt<br />
haben, durch die auch hier nicht aufzuhaltende<br />
Motorisierung dem Verschwinden<br />
geweiht sind. ■<br />
Christoph Egger, 1947 geboren, Studium der Germanistik,<br />
Romanistik und Nordistik in Zürich, Montreal<br />
und Stockholm.Abschluss in Zürich mit einer Arbeit<br />
über Probleme der Umsetzung einer literarischen<br />
Vorlage in den Film. Seit 1983 Leiter der Filmredaktion<br />
bei der Neuen Zürcher Zeitung. Während zwölf<br />
Jahren Mitglied der Eidgenössischen Jury für filmische<br />
Qualitätsprämien. Photographisch tätig für das<br />
Musiklabel ECM in München. Ausstellungen in Steffisburg,<br />
Brighton und Zürich (Tieraufnahmen).