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KUH & CO - Jules Spinatsch

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Wenn man in irgendeiner Form von<br />

der Kuh erzählt, so lässt das den<br />

staunenden, herablassenden oder<br />

ironischen Stadtmenschen angesichts des ihm<br />

wohlvertrauten und doch so fremden Tiers<br />

immer auflachen. Wenn man noch einen<br />

Schritt weitergeht und von der Schweizer Kuh<br />

spricht, so führt das nochmals zu einem Lachen,<br />

in welches patriotisches Heimweh und<br />

Ablehnung einer strapazierten helvetischen<br />

Folklore mit hineinspielen. Dennoch hat diese<br />

wirklich rätselhafte Beziehung zwischen<br />

Kuh und Lachen zur Folge, dass dieses uralte<br />

und scheinbar so abgedroschene Tier in den<br />

Medien, unter der Feder der Schriftsteller, in<br />

allen möglichen Kunstsparten und auf unzäh-<br />

8 ligen Werbeträgern immer wieder in jugendlicher<br />

Frische zurückkehrt. Die Schweizer<br />

Kuh kann man nicht abschütteln, und um die<br />

Schweizer Kuh kommt man nicht herum!<br />

Wenn man diesen Erfolg zu erklären versucht,<br />

so sei sogleich darauf hingewiesen, dass<br />

das historische Entstehen eines rinderbezogenen<br />

Schweiztums vom Körper der Kuh selber<br />

ausging und von drei Dingen profitierte,<br />

die für die Entstehung und Entfaltung eines<br />

Schweizer Motivs unerlässlich waren: eine<br />

ursprünglich umfassende Volkskultur, eine<br />

grenzenlos produktive Modernisierung und<br />

das pausenlose Herumbasteln an einem folkloristisch-patriotischen<br />

Register mit unerhörten<br />

Möglichkeiten.<br />

Kuh und Kultur – an den Quellen des Mythos:<br />

In der traditionellen Schweiz gibt es<br />

eine ‹authentische Zivilisation der Kuh›.Aber<br />

unser Land kann sich nicht exklusiv darauf<br />

berufen, denn eine solche Kultur findet sich<br />

auch in den orientalischen Ländern, in Afrika,<br />

ja sogar in den Vereinigten Staaten, wo<br />

die Kuh Gegenstand eines richtigen Starkults<br />

ist. Was der Kuh aber ihre schweizerische<br />

Originalität verliehen hat, sind natürlich die<br />

Berge. Wenn nach alter Tradition die Alpen<br />

das Herz der Schweiz sind, so ist das Herz<br />

dieses Herzens die Kuh. Die Kuh kann als<br />

etwas Doppeltes definiert werden: als Nahrung<br />

und als Symbol. Raumaufteilung, Architektur,<br />

ländliche Gemeinschaft, Technologie,<br />

Nahrung, Rhythmus der Jahreszeiten,<br />

Religion, Hexerei, Märchen, Legenden und<br />

Mythen gaben der Kuh erst ihren uneingeschränkten<br />

Sinn und schufen eine Kontinuität<br />

zwischen dem Natürlichen und dem<br />

Übernatürlichen. In der Natur stand die Kuh<br />

L E I T B I L D E R U N D L E G E N D E N<br />

Unterwegs mit dem vierbeinigen Symbol der Schweiz<br />

Die Kuh als Königin<br />

Von Bernard Crettaz<br />

für das Leben und Überleben, aber auch für<br />

das Übernatürliche, das ihr wegen der unzähligen<br />

Symbole für Milch, Weiblichkeit, Stier<br />

und Ochse eine geradezu übermenschliche<br />

Bedeutung gab.<br />

Im Alltagsleben ist die Kuh ein Familienmitglied.<br />

Man ist bei ihrer Geburt dabei, gibt ihr<br />

einen Namen und redet mit ihr. Man hängt<br />

ihr das Glöckchen oder die Glocke oder die<br />

Treichel um, man gibt ihr das Beste zu fressen,<br />

was die ‹Graskultur› hergibt. Man führt<br />

sie auf die Weide und schafft für sie die ‹Alpkultur›,<br />

man tauscht sie auf dem Viehmarkt<br />

ein, man lebt ein Leben lang von ihr und setzt<br />

ihrem Werdegang ein Ende, indem man sie<br />

nach den Bräuchen einer Schlachtung auf<br />

dem Land konsumiert. Und in dieser Kultur,<br />

die ständig Werk- und Feiertage vermischt,<br />

wird die Kuh zum herausragenden Sinnbild<br />

der Alpauf- und Alpabzüge, bei ein paar<br />

Grossveranstaltungen und beim ‹Kampf der<br />

Königinnen›. Hier wird dieser altüberlieferte<br />

Brauch gepflegt, bei welchem die Kühe<br />

untereinander kämpfen, um die hierarchisch<br />

gegliederte Herde zu bilden, aber auch für<br />

den Ruhm ihrer Besitzer.<br />

So begreift man auch die Entstehung der<br />

grossen urtümlichen Erzählungen. Überall in<br />

den Schweizer Alpen, wenn auch in vielen<br />

lokalen Variationen, sind diese Erzählungen<br />

im Umlauf, in welchen die Berge eine Art<br />

Paradies darstellen. Die anfängliche Überfülle<br />

erlaubt es den Menschen, nicht zu arbeiten,<br />

denn die Kühe geben alles, was man<br />

zum Leben braucht, manchmal wegen einer<br />

geheimnisvollen Milchpflanze. Dieser Glückszustand<br />

dauert aber nur solange, bis die Menschen,<br />

deren Herz von so viel Reichtum hart<br />

ist, einem Fremden das Almosen verweigern.<br />

Und schon bricht die Katastrophe herein:<br />

Wasser, Gletscher, Felsstürze, Lawinen überdecken<br />

die blühenden Wiesen eines verlorenen<br />

Paradieses, in das Menschen und Kühe<br />

von jetzt an wieder zu gelangen versuchen,<br />

indem sie möglichst weit hinauf zum saftigsten<br />

Alpengras ziehen.<br />

Das Erstaunlichste liegt aber hierin: Als die<br />

Stadtbewohner im 16. und vor allem im 18.<br />

Jahrhundert die Berge bestiegen, nahmen sie<br />

den Mythos vom Paradies wieder auf und<br />

stellten ihn auf den Kopf: Dort, wo die Einheimischen<br />

glaubten, sie hätten es verloren,<br />

meinten die Philosophen und Naturforscher,<br />

sie hätten es wiedergefunden. Im Herzen dieses<br />

Paradieses, das eine reine Erfindung der<br />

Stadtbewohner war, hatten die Kuh und das<br />

Volk der Schäfer einen glänzenden Auftritt in<br />

den Gedankengängen der Bürger der Städte,<br />

die den modernen Schweizer schaffen wollten.<br />

Die Stadtbewohner bemächtigten sich damals<br />

der Alpen, um daraus einen Spielplatz für<br />

sich zu machen, aber auch mit einer doppelten<br />

Absicht: eine ertragreiche Kuh zu züchten<br />

und eine patriotische Kuh zu definieren.<br />

Die Kuh als disziplinierter und leistungsfähiger<br />

Körper: Vom 19. Jahrhundert an machten<br />

die gekreuzten, gescheckten und gemischten<br />

Herden der traditionellen Aufzucht allmählich<br />

‹Rinderrassen› Platz, die soliden wissenschaftlichen<br />

Kriterien gehorchen sollten. In<br />

den Lehrbüchern konnten alle lesen, wie einmalig<br />

die ‹Alpenrassen› unseres Landes seien,<br />

die hauptsächlich aus Braunvieh, aus Simmentalern,<br />

aus schwarz- und braungefleckten<br />

Freiburgern sowie aus der kämpferischen<br />

Hérens-Rasse bestanden. Unter diesen Bezeichnungen,<br />

die immer wieder stolz aufgesagt<br />

wurden, geriet die Aufzucht in einen<br />

grossen Modernisierungsprozess. Man teilte<br />

das Land neu auf, man schritt zur Trennung<br />

der Rassen, um eine ‹reinrassige› Zucht zu<br />

sichern. Die Tiere wurden zielgerichtet auf<br />

einen Typ von Aufzucht ‹veredelt›: Milch,<br />

Mast, Fleisch. Die weiblichen Tiere wurden<br />

vorübergehend von den männlichen und die<br />

jungen von den ausgewachsenen Tieren getrennt.<br />

Unter all diesen Gesichtspunkten<br />

nahm die Tierzuchtlehre allerlei Einteilungen<br />

und Neueinteilungen vor, dank denen man<br />

homogene Einheiten von Rindern voneinander<br />

trennen, zusammenführen, unterscheiden<br />

und die man anschliessend klassifizieren und<br />

hierarchisieren konnte, um eine maximale<br />

Leistung zu erreichen. Man führte das Herdbuch<br />

ein, damit der Stammbaum des Tieres<br />

zum wesentlichen Faktor seiner Veredelung<br />

wurde. Ein breitangelegtes Überwachungssystem<br />

mit allen möglichen Jurys, Wettbewerben,<br />

Prämierungen und Auszeichnungen<br />

wurde angelegt. Man vereinheitlichte den<br />

Tierkörper nach rasseeigenem Standard und<br />

individualisierte ihn, damit man sich die besten<br />

Rinder merken konnte. So entstanden<br />

das grosse Lehrbuch der modernen Zucht<br />

und die tadellos geführte Kartei. Die Schönheit<br />

der Kuh und die Harmonisierung ihrer<br />

äusseren Formen wurden zu den ästhetischen<br />

Zeichen einer hervorragenden Leistung.<br />

Um den leistungsstarken Körper des Tiers

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