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PDF zum Download: WPK-Quarterly I 2010

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<strong>Quarterly</strong>www.wpk.orgSchwerpunkt Recherche Ausgabe I / <strong>2010</strong>DAS MAGAZIN DER WISSENSCHAFTS-PRESSEKONFERENZ e.V.Recherche unerwünscht!?Das Märchen von einer heilenden Salbeund bösen PharmariesenUmzug: Die dpa geht nach Berlin und wertetdie Wissenschaft aufChance: Stipendien für deutsche Wissenschaftsjournalistenim AuslandUnterschiede: Der Klimawandel in ZEIT und Spiegel


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>2Recherche unerwünscht?!EDITORIALWir hatten es schwer mit dieserAusgabe. Das gewählte Thema, einWDR Dokumentarfilm über einerosa Salbe unter anderem gegenNeurodermitis, gesendet im Oktobervergangenen Jahres in derARD, erwies sich als harter Brocken.Weder Autor noch verantwortlicheRedaktion, weder Sender noch kundige,aber ansonsten unbeteiligteMitarbeiter desselben verspürtenirgendeine Lust, über diesen Filmetwas zu sagen. So bleiben wichtigeFragen ungeklärt: Wie konnte dieserFilm über den Sender gehen? Wiewird er beurteilt von jenen, die ihngemacht und verbreitet haben? Wasdenkt der Rundfunkrat über diesenFilm, über den mehrere Programmbeschwerdeneingegangen sind?Das nächste Mal wird sich das Gremiumam 19. Mai mit diesem Filmbeschäftigen. Bis dahin, verlauteteaus der Pressestelle des WDR, könneman nichts mitteilen. Kurz vorRedaktionsschluss wird nun dieseAusgabe durch neue Ereignisse eingeholt.Der WDR entlässt den Autorendes Films, Klaus Martens. Möglicherweisehofft der Sender, dadurchdie Diskussionen über diesen Filmim Rundfunkrat und anderswo zuersticken. Die eigentliche Frage, diedieser Film aufwirft, hat aber mit seinemAutor nur bedingt zu tun: Wasläuft in der Organisation WDR schief,die einen solchen Film nicht nurüber den Sender lässt, sondern ihnzu allem Überfluss auch noch in derSendung „Hart aber Fair“ zu einempräsentablen Beispiel öffentlichrechtlicherInvestigation erhebt?Wie ist es möglich, dass ein mitgroßen Ressourcen ausgestatteteröffentlich-rechtlicher Fernsehrieseso versagt? Man wüsste gerne, wasder WDR künftig besser machen will,um grundsätzliche Sorgfaltskriterienim Wissenschaftsjournalismus einzuhaltenund welche Sicherungen eretabliert hat, um solche Sendungenweniger wahrscheinlich zu machen.Der Film erzählt die Geschichteeiner rosa Salbe, die vor langer Zeitvon einem Medizinstudenten ausdem Vitamin B 12 und Avocadoölgerührt wurde, um damit seine damaligeFreundin zu behandeln. Sieerwies sich als wirksam, heißt es. DieSalbe wurde <strong>zum</strong> Gegenstand wissenschaftlicherStudien. Auch dort,glaubt man dem Film, zeigte sie Wirkung.Trotzdem fand sich niemand,der die Salbe auf den Markt bringenwollte. Warum? Dies bleibt unklar.Der Film suggeriert: Pharmakonzernewollen diese Salbe nicht, sie wollenkeine Heilung von annähernd 6Millionen Kranken: „Heilung unerwünscht!Wie Pharmakonzerne einMedikament verhindern“.Der Film enthalte zahlreiche Ungenauigkeiten,Weglassungen, Beschönigungenund Fehler schreibtder stern. Er ist damit einer von wenigenPrintmedien, die sich mit diesemFilm bislang intensiver auseinandergesetzt haben. Für andere warer kein Thema. Die intensive Diskussion,die wir gleichwohl feststellenkönnen, findet im Internet statt, inBlogs und Foren, dort also, wo manEinschätzungen, Bewertungen, Verrissegar unterbringen kann, ohnediese immer sorgfältig substantiierenzu müssen. Volker Stollorz undNicole Heißmann haben in diesemHeft ihre Kritik fachlich begründet.Entstanden ist ein in seinen Ausmaßenmonumentales Werk, dasjeder Botschaft dieses Films nachgehtund ihn als ein Produkt einesirregeleiteten Journalismus entarnt,der mit öffentlichem Geld subventioniertwird.Sie machen damit den erstenSchritt auf unserem Weg in die Untiefender Medienkritik, die bei diesemFilm ganz besonders offen zuTage treten, weil man ihn auch andersbeurteilen kann. Um was handeltes sich bei diesem Dokumentarfilm?Karl Renner, Professor fürFernsehjournalismus in Mainz, hältihn für eine Art Wirtschaftskrimi, eindurchaus gelungenes wirtschaftsjournalistischesProdukt, an dasKriterien der Wirtschaftspublizistikangelegt werden sollten, keine wissenschaftsjournalistischen.Wir stimmen ihm nicht zu: Wirhalten diesen Film für ein modernesVolksmärchen, wir zitieren Danteund nennen ihn ein „Trugbild, dasder Wahrheit Antlitz bietet“. DieWahrheit wurde der starken Geschichtegeopfert. Damit ist der Film


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>3mehr Fiction als Dokumentation. Erist für uns ein Beispiel, das deutlichmacht, was uns fehlt in Deutschland:Wissenschaftsjournalistische Kompetenzauch außerhalb der auf Wissenschaftspezialisierten Ressorts.Einen Schritt hin zu mehr Kompetenzbeim Umgang mit wissenschaftlichenErgebnissen machtdie dpa. Mit dem im Sommer anstehendenUmzug von Hamburgnach Berlin wertet die Agentur dieWissenschaft moderat auf. Bislangals Fachtisch im großen Vermischteneher am Rand der organisiertenNachrichtenproduktion angesiedelt,wird das neue „Ressort Wissen“künftig eigenständig. Die Wissenschaftredet in allen Konferenzenmit. Die neue Chefin des Ressorts,Silvia Kusidlo, will ihr stärker als bisherGehör verschaffen, sagt sie unsim Interview.Christian Eßer hat sich für dieseAusgabe ausgiebig mit den Möglichkeitenbeschäftigt, die sich deutschenWissenschaftsjournalisten imAusland bieten. Er hat festgestellt:Es gibt mittlerweile einen ganzenStrauß von Stipendien, um AuslandsaufenthalteunterschiedlicherLänge zu finanzieren. Außerdem berichtetSascha Karberg über seine Erfahrungenam MIT, an dem er mehrals ein Jahr lang einer der KnightFellows war. Glaubt man ihm, danngibt es noch so etwas wie Paradiesefür Wissenschaftsjournalisten aufdieser Welt.Das <strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong> versteht sichals Forum, das Diskussionen anregenwill, das Entwicklungen im Wissenschaftsjournalismusbeschreibenund reflektieren will. Wir hoffen wieimmer, dass uns das auch mit dieserAusgabe gelungen ist.]MarkusLehmkuhlist Projektleiter ander FU Berlin,ArbeitsstelleWissenschaftsjournalismus,und leitet die<strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>Redaktion.Markus LehmkuhlInhaltEditorialDie Salben-Saga des WDR:Ein Protokoll der Ver(w)irrungFakt? Fiktion? Fälschung?Der Film von Klaus Martens ist ein VolksmärchenInfokasten:Wunderpaste oder Quacksalbe?Die andere Sicht:Heilung erwünscht!Wie die Medienkritik einen engagierten Film verreißtInterview:Die dpa wertet die Wissenschaft aufWillkommen!Das Online-Experiment DRadio WissenService:Stipendien für Wissenschaftsjournalisten im AuslandInterview:Sascha Karberg erzählt über seine Zeit als Knight FellowDa scheiden sich die Geister:Der Klimawandel im Spiegel und der ZEITNeue MitgliederImpressum2416171821242528303334


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>4Die Salben-Saga des WDR:Ein Protokoll der Ver(w)irrungEine rosafarbene Vitamin-B12-Paste, wirksam gegen Neurodermitis und Psoriasis, wird vonPharmakonzernen nicht auf den Markt gelassen. Das ist in Kürze der Plot des ARD-Films,der im vergangenen Herbst unter Wissenschaftlern wie Journalisten viel Kritik auslöste.Am 19. Mai sollen nun mehrere Programmbeschwerden <strong>zum</strong> Film im WDR-Rundfunkratverhandelt werden. Die <strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>-Redaktion hat sich die Dokumentation („Heilung unerwünscht“von Klaus Martens, ARD die Story vom 19. Oktober 2009) noch einmal angesehen*und ein Drehbuch der wissenschaftsjournalistischen Ungereimtheiten geschrieben.*Zurückgegriffen wurde auf das Internetportal Youtube, da der Film in der ARD-Mediathek <strong>zum</strong> Zeitpunkt der Recherchennicht anzusehen war. Abweichungen <strong>zum</strong> Timecode der Originalversion sind daher unvermeidlich.Von Nicole Heißmann und Volker StollorzYoutube-Clip 01/05Heilung Unerwünscht00:10Ort: Fußgängerzone in Deutschland;Köln (???)Story: Eine blonde junge Frau,Kerstin Nitschke, wird als einer vonfünf Millionen Menschen in Deutschlandvorgestellt, die an Neurodermitisoder Schuppenflechte leiden.Sprecher: „Ihnen allen könnte mit einemMedikament geholfen werden,das schon vor 20 Jahren erfundenwurde. Doch das Medikament gibtes nicht zu kaufen“.Offene Fragen: Was ist das für einMittel? Ist eine derart absolute Aussageam Anfang des Films durch dieFakten gedeckt?Fakten: In Deutschland leben lautLeitlinie der Arbeitsgemeinschaftder Wissenschaftlichen MedizinischenFachgesellschaften 1,6 MillionenMenschen mit Schuppenflechte(Psoriasis) und laut Deutschem NeurodermitisBund zwischen 3,5 und5 Millionen Neurodermitiker. UnterSchulanfängern ist jedes 5. bis 10.Kind von Neurodermitis betroffen.Neurodermitis wie Psoriasis sindchronische Hautkrankheiten mitextrem hohem Leidensdruck durchständigen Juckreiz, entstellendeEntzündungen und schuppendePlaques auf der Haut. Therapieversuchemit Salben, Bestrahlungenoder Bädern schlagen oft fehl, unddie Verzweiflung vieler Krankerwächst über die Jahre. Es ist typischfür beide Krankheiten, dass nichtjedem Patienten mit der gleichenBehandlung geholfen werden kann.Wer eine hoffnungsfrohe Prognosewie „ihnen allen könnte (...) geholfenwerden“ an den Anfang seines Filmsstellt – und sei es im Konjunktiv –sollte sich sehr sicher sein, dass dasvon ihm vorgestellte Produkt dasauch kann. Bisher ist das weltweitmit keiner Art von Therapie gelungen.Ein „Medikament“ im Sinne einesArzneimittels war die Vitamin-B12-Salbe nie, von der im Film die Redesein wird. Dafür hätte sie ein Zulassungsverfahrenunter Einbeziehungdes Bundesinstituts für Arzneimittelund Medizinprodukte und/oder derEuropäischen ArzneimittelbehördeEMA durchlaufen müssen.Die Aussage „gibt es nicht zu kaufen“mag <strong>zum</strong> Zeitpunkt der Recherchevielleicht vorübergehend gestimmthaben. Dass es die Salbe nieauf dem deutschen Markt gegebenhat, ist aber falsch: Man konnte sieEnde der 1990er Jahre als "ATU RedCreme" für stolze 37,90 DM pro 50-Milliliter-Dose bestellen, zuzüglichNachnahmegebühr. Und zwar beieben der später im Film erwähntenRegeneratio Pharma AG, die angeblichohne Erfolg die Markteinführungversucht hat und damals eineAdresse auf der Werstener Dorfstraße9 in Düsseldorf hatte.01:00Ort: ein Krankenhaus, anscheinendfür HautkrankheitenStory: Ein Kleinkind mit mumienartigemSalben-Verband über dementzündeten Gesicht blickt hilflos indie Kamera. Zwei Frauen mit weißerSalbe im Gesicht gehen über einenKlinikgang, ein leerer Kinderwagensteht bereit für einen kleinen Patienten.Der Sprecher schweigt, traurigeMusik erklingt. Ein eingeblendeterSchriftzug verrät den Filmtitel„Heilung unerwünscht“, kurz darauferscheint die Zeile „Wie Pharmakonzerneein Medikament verhindern“.Offene Fragen: Was für eine Klinikist das? Sieht man hier Neurodermitis-Patienten?Fakten: Im späteren Filmverlaufwird klar, dass es sich um die SpezialklinikNeukirchen im BayerischenWald handelt (siehe unten). Lautihrem eigenen strukturierten Qualitätsberichtfür das Jahr 2008 hat dieKlinik einen dermatologischen Versorgungsschwerpunktund behandeltzu einem großen Teil Patientenmit Milchschorf/Neurodermitis undSchuppenflechte.01:50Ort: eine ArztpraxisStory: Neurodermitis-PatientinKerstin Nitschke im Gespräch mitdem Hautarzt Georg Reimann. Der,so der Sprecher, habe „an diesemTag ein Medikament, das es in keinerApotheke zu kaufen gibt. Mit dieserrosafarbigen Creme wird er seinePatientin in den nächsten Wochenbehandeln.“ Die Kamera schwenkt ineinen weißen Tiegel mit rosa Creme.Offene Fragen: Woher hat Reimanndieses „Medikament“? Hat erdie Creme geschenkt bekommen,selbst anmischen lassen, hat das Kamerateamsie mitgebracht?


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>503:50Ort: Wuppertal, ein kleines Laborin einem Mehrfamilien-HausStory: Der Sprecher erzählt die Geschichtezweier Studenten der Medizinund Chemie, die in den 1980erJahren in ihrem Labor unter anderemmit dem Vitamin-B12-Derivat Cyanocobalaminexperimentieren und esmit Avocadoöl zu einer Salbe verarbeiten.Der Chemiker Thomas Heintritt auf, ein traurig wirkender Mannim weißen Kittel. Er wohnt in demHaus, in dem sich das Labor anscheinendin einer Wohnung befindet,und erzählt von der großen Tragweiteder Erfindung, die er und der andereStudent in den 80ern machten.Hein redet von „zehn Prozent derWeltbevölkerung“, die an Hautproblemenleiden und stellt fest: „EinMedikament für zehn Prozent derWeltbevölkerung ist was gigantischGroßes.“ Befragt, warum die Cremeimmer noch nicht auf dem Marktsei, antwortet er etwas rätselhaft:„Ich als Naturwissenschaftler kanndas nicht verstehen“ und weiter: „Ichhabe keine Hoffnung mehr. Die Welt(?, schwer zu verstehender O-Ton) istfür mich zu Ende... Nein, kommt alsonicht auf den Markt.“Offene Fragen: Als was arbeitetThomas Hein heute? Lebt er in diesemkargen Heimlabor, wo aufgerisseneKartons in halbleeren Kellerregalenliegen und die Ausrüstung inder Tat an die 80er Jahre erinnert?Das Interview wirkt nachbearbeitet.Es enthält lange Pausen, in denenThomas Hein offensichtlich zuhört,leicht nickt, während jemand mitihm spricht, der Originalton scheintaber runtergepegelt und nachträglichdurch im Studio eingesprochenekürzere Fragen ersetzt worden zusein. Warum?Fakten: Die zwei Ex-Studenten mitder Salbe, die niemand wollte, gründetenspäter eine Firma, die RegeneratioPharma AG, und holten sichlaut Recherchen des stern mehrfachRisikokapitalgeber ins Boot, <strong>zum</strong> Teilsolche mit Sitz auf den BritischenJungferninseln. „In Erwartung späterenGewinns mit der Neurodermitis-Salbefuhr man bei Regeneratiobereits Anfang der 2000er Jahre Porscheund Mercedes als Firmenwagenund genehmigte allen BeschäftigtenMonatsgehälter von 10 000 Mark“, zitiertder stern in Anlehnung an dasBuch von Film-Autor Klaus Martens.Im Film kommt dieser Aspekt nichtvor. Von verantwortungsbewusstemGeschäftsgebaren zeugt das ehernicht.Thomas Hein war früher mal Mitarbeiteram Max-Planck-Institut fürKohlenforschung in Mülheim an derRuhr in einer Abteilung für TheoretischeChemie und Quantenchemie. Erscheint laut Telefonbuch tatsächlichin der Wuppertaler Eintrachtstraßezu leben.05:40Ort: ein See in der Schweiz, amUfer eine Klinik in einer Villa, drinnenauf dem Klinikflur ein dicker Mannmit rosafarbener KrawatteStory: Präsentiert wird KarstenKlingelhöller, der zweite Erfinderder B12-Salbe. Er sei ein „Freund“von Thomas Hein und „ehemaligerMedizinstudent“. Wir erfahren vonihm, dass er 2006 mit weit über 200Kilo in diese Klinik eingeliefert wurde:„Ich war völlig erschöpft, sowohlpsychisch als auch physisch“, offenbartKingelhöller. Es sei dann eine„Katastrophe“ in seinem Leben passiert.„Die Erfindung konnte so nichtweitergeführt werden.“Klingelhöller erzählt auch vonseiner Ex-Freundin, die eine „richtigschwere Ausprägung von Schuppenflechte“,also Psoriasis, gehabthabe und der er mit seiner Vitamin-B12-Salbe habe helfen können. Er erinnertsich mit leuchtenden Augen,wie ihm damals klar wurde, dass erseine Energie einsetzen müsse, umandere Menschen mit Hautproblemen„zu erlösen“. Für ihn sei das ein„echtes Riesen-Glücksgefühl“ gewesen,ein „Geschenk des Himmels“.Offene Fragen: Was ist das für eineKlinik in der Schweiz und warum lebtKarsten Klingelhöller dort? Ist er alsProtagonist des Films, als Entwicklerund Geschäftsmann glaubwürdig?Hat der „ehemalige Medizinstudent“sein Studium beendet und jemalsForschung oder Therapie außerhalbseines kleinen Labors in Wuppertalbetrieben? Welche Diagnose verbirgtsich hinter psychisch und physisch„erschöpft“? Ein Burnout-Syndrom?Welche „Katastrophe“ trat in sein Leben?Hatte die etwas mit der Salbezu tun oder war sie eher privater Natur?Fakten: Die Klinik ist im Film inzahlreichen Kamerafahrten eindeutigzu erkennen. Es handelt sich umdie Aeskulap-Klinik im schweizerischenBrunnen, die sich laut eigenerWebsite als „das Zentrum fürÄrztliche Ganzheitsmedizin in derSchweiz“ versteht und neben schulmedizinischenauch komplementäreVerfahren anbietet. Dort kann mansich unter anderem behandeln lassen,wenn man an Depression oderBurnout leidet. Übrigens hat dasKrankenhaus einen interessantenNachbarn: So gibt es auch im kleinenFerienort Brunnen eine Firma,die PSORIASUM Vital, welche eineVitamin-B12-Creme mit Avocadoölvertreibt. Die Firma, deren Inhaberder Deutsche Kurt Schäfer ist, hat ihrDomizil in der Gersauerstr. 10. DieKlinik, in der Karsten Klingelhöllerlebt, liegt in der Gersauerstr. 8.07:20Ort: eine WohnungStory: Klingelhöllers Ex-FreundinKerstin Surborg tritt auf. Sie scheintimmer noch mit Hautproblemen zukämpfen, man sieht entzündete Stellenan ihrem Arm. Sie erzählt, wie ihrEx-Freund damals mit einem „Topf“Salbe ankam und ihre Haut schnell„sehr schön glatt“ und geschmeidigerwurde und auch nicht mehr sostark schuppte. Anschließend erfährtder Zuschauer vom Sprecher, dassKarsten Klingelhöller „fasziniert“ vondiesem Behandlungserfolg war undahnte, „ein hoch wirksames Mittelgegen Neurodermitis“ entdeckt zuhaben.Offene Fragen: Wie lange hatKerstin Surborg die Salbe angewendet?War sie die einzige Testperson,an der Klingelhöller seine Salbe jemalserprobt hat, bevor er sich aufden Weg machte, um sie der Pharma-Industriezu verkaufen? Was sagtes über den Protagonisten Klingelhöller,wenn er nach dem Versuchan einer Person bereits von einemhoch wirksamen Mittel zu träumenbeginnt?


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>6Im Übrigen: Kerstin Surborg littund leidet laut Film an Psoriasis(Schuppenflechte). Wieso sollte derEffekt der Salbe auf ihrer Haut etwasüber Neurodermitis aussagen?Fakten: Die experimentelle Behandlungvon offensichtlich zunächstnur einer Person sagt praktisch nichtsüber die Wirksamkeit einer neuen Salbeaus. Weil viele Faktoren (Stress, Allergene,Ernährung, parallel benutztePflegeprodukte und andere Medikamente)ebenfalls zu Veränderungenim Hautzustand führen können, mussman möglichst viele Testpersonen behandelnund sie mit untherapiertenKontroll-Probanden vergleichen, bevorman irgendeine Aussage zur Wirksamkeiteiner Creme machen kann.08:50Ort: das Büro von Peter Altmeyer,Direktor der Klinik für Dermatologieund Allergologie der Ruhr-UniversitätBochumStory: Auch Peter Altmeyer hateinen weißen Tiegel mit rosa Salbein der Hand und erzählt, wie Klingelhöllerihn ansprach und er skeptischgewesen sei ob der Wunderwirkungder B12-Creme, die er als „rosa Hühnerkacke“bezeichnet habe.Schnitt, Klinik in der Schweiz: KarstenKlingelhöller berichtet von einem„Pakt“ mit Altmeyer: Sollte sich seineSalbe „gegen Goldstandard“ alsgleichwertig in der Wirksamkeit beigeringeren Nebenwirkungen erweisen,dann sei „die Studie gewonnen“.Ansonsten bleibe die Creme „rosaHühnerkacke“.Offene Fragen: Wer ist Peter Altmeyer?Was soll das für ein Pakt sein?Welches Interesse hatte Altmeyer,diese Salbe zu testen? Was für ein„Goldstandard“ soll das sein, von demKlingelhöller spricht?Fakten: Peter Altmeyer ist heuteDirektor der Dermatologischen Klinikan der Universität Bochum. Er ist anmehreren hundert Publikationen imBereich Dermatologie beteiligt, vieledavon befassen sich mit Grundlagenund Therapie von Schuppenflechteund Neurodermitis. Warum jemandmit solcher Reputation an seinenPatienten eine hoch experimentelleStudie mit dem Produkt eines WuppertalerHinterhoflabors durchführt,erscheint nicht ganz einsichtig. Hatihn die Idee einfach fasziniert? HatKlingelhöller ihn beauftragt, die Studiezu machen, sprich: dafür bezahlt?Zu der Art des „Paktes“ äußert sich Altmeyerim Film nicht.Welcher Goldstandard bei der Studie<strong>zum</strong> Einsatz kommen soll, ist nichtklar. Der Psoriasis-Bund verwehrtesich in einer Stellungnahme <strong>zum</strong>Film bereits gegen den Eindruck, esgebe einen „Goldstandard“ bei derSchuppenflechte-Therapie im Zusammenhangmit Cortison-Präparaten.Die Leitlinie der Deutschen DermatologischenGesellschaft zur Therapieder Psoriaisis vulgaris stellt fest: „Beider Lokaltherapie, insbesondere derErhaltungstherapie bei der leichtenbis mittelschweren Psoriasis vulgarissind die Vitamin D3-Derivate Mittelder ersten Wahl. (...) Aufgrund der umfangreicherenStudiendaten und derüberlegenen Wirksamkeit gilt dieseEmpfehlung vor allem für Calcipotriol.“„Erste Wahl“ entspräche begrifflichdem Goldstandard. Die Leitliniezur Neurodermitis-Therapie zählt„topische Glukokortikosteroide“ (alsoCortison-Cremes) „zu den wichtigstenantiinflammatorischen Substanzen,die bei der Neurodermitis eingesetztwerden“ – das geht <strong>zum</strong>indestin Richtung einer Art Goldstandard,entspricht der Definition aber nichtpräzise.Youtube-Clip 02/05Heilung unerwünscht00:00Ort: das Büro von Peter AltmeyerStory: Altmeyer berichtet von der„gut geordneten klinischen Prüfung“,bei der er und Kollegen herausfindenwollten: „Was macht Vitamin B12 (...)auf der Haut des Neurodermitis-Patienten?“Begründung für sein Interessean der neuen Salbe sei der Mangelan Therapieoptionen gewesen: „Dahaben wir nicht allzu viel.“ Er zählt auf,was bisher <strong>zum</strong> therapeutischen Instrumentariumgehört: „Pflegemittel“,„antientzündliche Präparate“ und vorallem „Cortison-Präparate“. Ein Präparat,das ohne große Nebenwirkungenantientzündliche Effekte hätte, wärelaut Altmeyer „der Clou“.Offene Fragen: Warum geht esjetzt nur noch um Neurodermitis,wenn der erste Versuch an KlingelhöllersFreundin auf die Linderungvon Psoriasis abzielte? Welche Art„klinischer Prüfung“ wurde an derUni Bochum vorgenommen: eineAuftragsstudie für Klingelhöllers„Regeneratio Pharma AG“ oder einerein experimentelle Untersuchungaus reinem Forscherinteresse einesProfessors?00:40Ort: ein Krankenhaus, mutmaßlichdie Bochumer Klinik von PeterAltmeyerStory: Der Sprecher berichtet, wieim Februar 2001 „die erste klinischeStudie“ an der Universität Bochumbeginnt. Peter Altmeyer und seinKollege Markus Stücker behandeln48 Patienten über 8 Wochen, Kranke,die entweder an Neurodermitis oderSchuppenflechte leiden.Offene Fragen: Um welche Studiehandelt es sich und ist sie wirklichdie erste mit der B12-Salbe der RegeneratioPharma AG?Fakten: Unter den wenigen veröffentlichtenStudien lässt sich die imFilm genannte Untersuchung nichtklar zuordnen. Möglicher Weise handeltes sich um Altmeyers Versuchan 49 Patienten, den er mit anderenAutoren im Jahr 2004 im British Journalof Dermatology publizierte (Beschreibungsiehe unten). Allerdingswurden dabei nur Neurodermitis-Kranke behandelt und es gab auchkeinen Vergleich der B12-Salbe mitirgendeinem „Goldstandard“ – sondernnur mit einer Placebo-Cremeohne Wirkstoff.Es ist falsch, dass Altmeyers ersteStudie mit der Vitamin B12 Creme imJahre 2001 gemacht wurde. Altmeyerund sein Kollege Markus Stückertesteten bereits vor 2001 die Crememit Vitamin B12 und Avocadoöl – damalsan 13 Kranken mit Schuppenflechteund zwar im Vergleich mitCalcipotriol – also einem Vitamin D3-verwandten Stoff, der <strong>zum</strong>indest lautLeitlinie eine Art „Goldstandard“ inder Psoriasis-Therapie darstellt. Vielleichtmeinte Klingelhöller diese Studie.Sie wurde immerhin unterstütztvon der „Regeneratio Pharma AG,


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>7Wuppertal“ und schon im November2000 bei der Fachzeitschrift Dermatologyeingereicht. Sie muss also vorder im Film erwähnten durchgeführtworden sein, und es handelt sich offenbarum eine bezahlte Auftragsstudie,die an der Uni Bochum fürKlingelhöllers Firma durchgeführtwurde. Regividerm schnitt in dieserStudie weder besser noch schlechterab als die Rezeptur mit dem VitaminD3-Analogon.01:15Story: Peter Altmeyer berichtetvon Halbseitenversuchen, in denendie Creme gegen „eine milde Cortisonsalbe“getestet wurde. „Die Ergebnissewaren erstaunlich gut“, soAltmeyer. Allerdings scheint die rosaSalbe zu Abstrichen beim Studiendesignzu zwingen: „Doppelblindkönnen sie das nicht machen, weildas rosa ist“, konstatiert der Professor.Offene Fragen: Von welcher Studieredet Altmeyer jetzt und wieaussagekräftig waren die Ergebnissewirklich? Kann man eine rosa Cremetatsächlich nicht doppelblind testen,also so, dass weder Arzt noch Patientwissen, welche Hautpartien mit Wirkstoffbehandelt wurden und welchemit Placebo?Fakten: Im Interview mit demstern wird Peter Altmeyer später dieErgebnisse seiner verschiedenenB12-Studien eher zurückhaltend beurteilen:"Das waren Pilotstudien mitinsgesamt 62 Probanden. Seriös imHinblick auf Wirkung und Nebenwirkungsrisikoist aber mindestenseine Doppeltblind-Folgestudie mit500 bis 600 Patienten, die auch multizentrisch,das heißt an verschiedenenKliniken, durchgeführt werdensollte." In der Summe könnte es sichbei 62 Probanden um die Studie an13 Schuppenflechte-Patienten plusdie an 49 Neurodermitis-Kranken(=62) handeln. Allerdings wurde beikeiner davon die B12-Salbe mit einer„milden Cortisonsalbe“ verglichenwie im Film beschrieben. Man darfalso weiter rätseln, von welchen Untersuchungenim Film eigentlich dieRede ist.Thema Doppelverblindung: Würdeman die echte und die Placebo-Creme rosa einfärben, nur eben nichtmit einem Farbstoff wie Vitamin B12,der mutmaßlich eine Wirkung aufden Hautzustand hat, könnte manauch eine rosa Creme theoretischdoppelt verblinden. Was wünschenswertwäre, um eine Verzerrung derErgebnisse durch eine nur subjektivwahrgenommene Verbesserung dertherapierten Hautpartien gering zuhalten.03:30Ort: die bekannte Klinik in derSchweizStory: Erfinder Karsten Klingelhöllererzählt: “Als wir damit angefangenhaben, war die Industrieinteressiert, die Patente zu kaufenund in die Schublade verschwindenzu lassen.“ „Dieses Angebot“ habeer mehrfach bekommen. Außerdemseien „Patentstreitigkeiten“ aufgetretenund „man“ habe versucht, „dieVernichtung zu betreiben“, „so dasswir damals bedroht wurden mit Klagenund mit Tätlichkeiten.“Offene Fragen: Was war denn dalos? Leider bekommt Karsten Klingelhöllerim Film keine Gelegenheitzu erklären, was in der Firmen-Historieder Regeneratio Pharma AGvorgefallen ist. Deshalb gerät diesePassage zur Räuberpistole voll vagerAndeutungen: Wer hat Klingelhöller„Angebote“ gemacht? Würde einePharmafirma, selbst wenn sie sichdie „Option Schublade“ vorbehielte,diese Absicht gleich im „Angebot“gegenüber dem Erfinder kundtun?Mit wem gab es Patentstreitigkeitenund warum? Und wer drohte mit Klagenoder gar mit Gewalt?Fakten: Patentanmeldungen fürdie B12-Salbe gab es: Karsten Klingelhöllerhat sie in den 1990er Jahrenangemeldet. Eins <strong>zum</strong> Beispielam 15.06.1994: „VERWENDUNG VONCORRINOIDEN ZUR TOPISCHEN AN-WENDUNG BEI HAUTERKRANKUN-GEN“.04:10Ort: die Firma Beiersdorf, Fassadesowie diverse LaborsStory: Der Zuschauer erfährt, dassim Mai 1994 ein Vertreter von Beiersdorf„in mehreren Telefongesprächenmit Klingelhöller“ verhandeltund für die Patentrechte an der Salbezehn Millionen Mark geboten habe,„allerdings ohne zu garantieren, dieCreme auch wirklich herzustellen“,so der Sprecher. Auf Anfrage der ARDhabe der Konzern erklärt, dass mansich an einem solchen Vorgang nichterinnern könne. Die Erklärung dafürliefert der Film gleich mit: „1994hat der Konzern gerade selbst eineLotion gegen Neurodermitis entwickelt.“Beim Zuschauer entsteht derEindruck, in einem abgekartetetenSpiel habe ein großer Player ein kleinesviel versprechendes Produkt unterdrückt.Klingelhöller habe in derFolge alle Angebote, die nur auf diePatentrechte abzielten, abgelehnt,so der Sprecher.Offene Fragen: Der Zuschauerdarf sich selbst zusammen reimen,ob es das 10-Millionen-Angebotwirklich gegeben hat und die Firmadas schlicht leugnet oder obKlingelhöller ein wenig übertriebenhat. Wird über den Verkauf von Patentrechtenim Wert von Millioneneigentlich üblicherweise am Telefongeplaudert?Fakten: Im Jahr 1994 lagen dieErgebnisse der Studien von PeterAltmeyer und Markus Stücker nochnicht vor. Es gab also offensichtlichkeine klinischen Wirksamkeitsnachweisefür die Vitamin-B12-Creme.Eine Pharmafirma wird nach dem Erwerbder Patentrechte also zunächstselbst Studien (zu Wirksamkeit, Sicherheit,Dosierung, Rezepturen...)durchführen wollen oder müssen(wenn eine Zulassung als Medikamentgeplant ist) und von derenErgebnissen abhängig machen, obein Produkt auf den Markt gebrachtwird. Am Ende entscheiden Behördenwie das Bundesinstitut für Arzneimittelund Medizinprodukte und/oder die Europäische Arzneimittelbehördein London über eine möglicheZulassung als Arzneimittel. Daherwird sich kaum ein Unternehmen aufden Deal „Patentrechte gegen Herstell-Garantie“einlassen. Die FirmaGalderma, Hersteller für Hautpflegeprodukteund Arzneimittel, scheintdas immerhin versucht zu haben:Sie schloss im Jahr 2003 mit der RegeneratioPharma AG einen Vertragab. Die Salbe brachte aber in Studien


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>8nicht die gewünschten Ergebnisse,so dass Galderma den Vertrag wiederstornierte.06:50Ort: eine Klinik, Kleinkinderweinenist zu hörenStory: Der Zuschauer sieht zu Herzengehende Bilder von Kindern mitentzündlichen Hauterkrankungen,die eingesalbt in Verbände verpacktwerden. Arme und Hände sind bandagiert,von den Gesichtern sindnur große Augen, Mund und Nasesichtbar. Der Sprecher klärt darüberauf, dass es sich hier um die Kinderabteilungeiner Spezialklinik im bayerischenNeukirchen handelt unddass Neurodermitis nicht heilbarist. Daher konzentriert man sich indiesem Krankenhaus darauf, die Ursachender Krankheit zu finden. „MitCortison behandelt man hier jedenfallsnicht“, so der Sprecher, um dieohnehin zarte Haut der jungen Patientennicht noch weiter zu verdünnen.Gleichzeitig erfährt man, dassPatienten der Klinik oft „Verzweifelte“sind und sich selbst als Cortison-Opfer bezeichnen.Offene Fragen: Welche Behandlungbekommen die Kinder auf denBildern? Handelt es sich um Fettverbände,die die geschundene Hautabheilen lassen sollen? Was ist dasfür eine Klinik, die offensichtlich dieganz schweren Fälle behandelt? Wiegefährlich ist Cortison, das man dortoffenbar niemals auf die Haut derKranken schmieren würde?Fakten: Immerhin wird im Filmendlich einmal eingeräumt, dassNeurodermitis keine heilbare Erkrankungist – dem Filmtitel „Heilungunerwünscht“ <strong>zum</strong> Trotz. DieSpezialklinik Neukirchen ist einkleineres Haus mit etwa 75 Vollzeitstellen,die meisten davon für Pflegepersonal.10,4 Arzt-Stellen sindlaut klinikeigenem Qualitätsberichtvon 2008 besetzt, davon nur 4,4mit Fachärzten, was bei einem sohoch spezialisierten Krankenhausmit Versorgungsschwerpunkt Dermatologieverwundert. Außerdemarbeiten dort anscheinend einigeÖkotrophologen, Psychologen undPädagogen. Laut Klinikwebsite verfolgtdas kleine Team ein „ganzheitsmedizinischesBehandlungskonzeptfür Patienten jeden Alters“ zu demein „aufwändiges komplexes Diagnoseprogramm“gehört inkl. z.B. umweltanalytischerTests und solcherauf Nahrungs- und Inhalationsallergene,Auswertung der zellulären Immunfunktionund Bestimmung desVitamin- und Spurenelementestatus.Die Therapiemaßnahmen werdenals „schadstoffausleitend, darmsanierend,diätetisch, immunregulierend,regenerierend und psychologischaufbauend“ beschrieben und sollen„auch bei chronischen Erkrankungeneine langfristige Beschwerdefreiheitgewähren“. Die Klinik hat anscheinendein alternatives Behandlungskonzeptgewählt, das in diversenPunkten abweicht von Leitlinienmedizinischer Fachgesellschaftenzur Therapie von Psoriasis und Neurodermitis.Unter anderem äußertman sich auf der Klinik-Homepagekritisch zur Therapie mit Cortison,also Glukokortikosteroiden, die abergehören laut Neurodermitis-Leitliniezu den wichtigsten Substanzen, diebei Neurodermitis eingesetzt werden.Der Klinikgründer und wissenschaftlicheLeiter, John Gruia Ionescu,geriet in den 1990ern in dieSchlagzeilen, als der Focus berichtete,die Staatsanwaltschaft Regensburgermittele wegen „mußmaßlicherKunstfehler, Betrugs bei derAbrechnung von Klinikleistungenund irreführender Werbung“ an denKliniken Rötz und Neukirchen. BeideHäuser gehörten damals zu einemUnternehmen von Herrn Ionescu,laut Focus promovierter Immunologeund Biochemiker. Und: „Am Endewurde ein Arzt wegen unerlaubterTitelführung und Körperverletzungverurteilt.“ Wer immer das war.John Ionescu distanzierte sichübrigens selbst von Teilen der ARD-Dokumentation: Auf der Webseiteder Klinik führt ein Link zu einer Pressemitteilung,die das Haus bereitsam 26. Oktober 2009 herausgab.Darin erklärt Ionescu: "Wir könnennach unseren langjährigen Erfahrungenbestätigen, dass Vitamin B12hochwirksam ist, um Symptome vonSchuppenflechte und Neurodermitiszu lindern. Bereits seit über 20 Jahrensetzen wir Cremes und Salben mitdiesem Inhaltsstoff ein. Diese lassenwir nach unseren Rezepturen in derApotheke anrühren.“ Er warnte abergleichzeitig davor, allzu große Hoffnungauf Heilung durch eine Salbezu setzen: "Es gibt leider kein Allheilmittelfür Neurodermitis oder Schuppenflechte.Eine einzelne lokale Therapie,die nur die Hautsymptomebehandelt, bietet kaum eine Chanceauf dauerhafte Beschwerdefreiheit.Zu zahlreich sind die Faktoren, die ander Entstehung der Erkrankung undihren Symptomen beteiligt sind."Damit steht Ionescu in mindestenszwei Punkten im Widerspruchzu zentralen Thesen des ARD-Films:Zum einen zu der im Filmtitel angedeutetenHoffnung auf mögliche„Heilung“ dieser Hauterkrankungen,<strong>zum</strong> anderen <strong>zum</strong> später im Filmentstehenden Eindruck, der ErfinderKarsten Klingelhöller habe miteiner Vitamin-B12-Salbe einen ganzeigenen, originären Therapieansatzentdeckt, auf den niemand vor undniemand nach ihm gekommen sei.Anscheinend sind Vitamin-B12-Cremes zur Linderung von Hautsymptomenauch anderswo schon in Gebrauchund praktisch jede Apothekekann eine solche Creme zusammenmischen.Die Filmpassage erweckt den Eindruck,Cortison sei gefährlich. In derTat haben Kortikosteroide, denn umdie handelt es sich bei „Cortison“,eine Reihe von Nebenwirkungen:Sie können <strong>zum</strong> Beispiel die Hautschichtenverdünnen und Kontaktallergienauslösen. Inzwischen gibtes allerdings etwa 50 verschiedeneWirkstoffe in vier verschieden starkenKlassen mit sehr unterschiedlichstarken Nebenwirkungen. Bei Neurodermitiswerden bei sachgerechterTherapie die beiden schwächer wirksamenKlassen verwendet, außer beiextremen Schüben. Außerdem gibtes Kortikosteroide, für die in Studiengezeigt wurde, dass ihr Nutzenden Schaden für die Patienten durchmögliche Nebenwirkungen deutlichüberwiegt: Hydrokortisonbutyrat, Mometasonfuroat,Methylprednisolonaceponatoder Prednicarbat07:50Ort: anscheinend die Spezialklinik,ein Behandlungszimmer


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>9Story: Die junge Mutter CindyFriedrich hat ihren kleinen Sohn aufdem Schoß, dessen Gesicht dick verbundenist. Sie beschreibt anrührendihre Hilflosigkeit, wenn ihrem Kindbeim Lachen die Haut der „Bäckchen“aufplatzt, es sich an Heizkörpernreibt, um seinen Juckreiz zu stillenund wie sie sich oft fragt: „Kind, wasmusst Du eigentlich aushalten?“Offene Fragen: Was soll diesePassage suggerieren? Dass man dashilflose Leiden dieses Kindes mit Hilfeeiner unterdrückten B12-Cremekünftig lindern könnte?Fakten: Das Kind heißt Bastian.Seine Mutter wird später gegenüberdem stern sagen, dass es BastiansHaut wieder besser gehe, ohne dasser dafür die B12-Creme gebrauchthätte. Als das ARD-Team mit KlausMartens in der Klinik drehte, wussteCindy Friedrich laut eigener Aussagenicht, dass Martens über eine Vitamin-Salbeberichten wollte. Sie gingdavon aus, dass es ein Film über cortisonfreieTherapie werden sollte.09:00Ort: leer stehende Büro- und Laborräumein Wuppertal (???)Story: 2001 zog die RegeneratioPharma AG in größere Räume, umsich der Aufgabe zu widmen, einePharmafirma für die Vermarktungder Vitamin-B12-Creme zu finden.Allerdings gestalteten sich die Verhandlungenmit den Konzernen„überraschend schwierig“ und: „AmEnde scheitern sie immer – obwohlkein Zweifel an der Wirksamkeit aufder Haut von Millionen Menschen mitNeurodermitis besteht“, so der Sprecher.Schnitt: Karsten Klingelhöllerin seinem Patientenzimmer. Er sagt:„Dort wird Geld verdient. Und Geldverdient man auch an chronischemLeid. Wenn das Leid erhalten bleibt,kann man damit ganz phantastischGeld verdienen.“Offene Fragen: Wieso zieht eineFirma, die seit Jahren keinen Erfolgmit der Vermarktung ihres Produkteshat, in Erwartung künftiger Gewinnein repräsentative Räume? Mit welchenpotenziellen Partnern wurdeverhandelt und warum scheitertendiese Gespräche wirklich? Ist der Nutzender Creme unzweifelhaft belegt?Fakten: Möglicherweise konntesich die Regeneratio Pharma AG ausganz anderen Gründen mit ihren Verhandlungspartnernnicht einigen.Das deutet ein stern-Bericht an: EinForscher berichtet dort von mittelständischendeutschen Firmen, diediese Salbe gern vertrieben hätten,angesichts der „völlig überzogenenPreisvorstellungen der Regeneratio-Leute“ aber davon Abstand nahmen.An der Wirksamkeit der Creme bestehenzu diesem Zeitpunkt selbstverständlichZweifel: 2001 wurden undwerden überhaupt erst kleinere klinischeStudien an ein paar DutzendPatienten mit der Creme gemacht.Keine davon doppelblind. Keine davonmit Kontrollpatienten, die nurmit Placebo behandelt wurden, umEffekte zwischen beiden Gruppenrealistisch vergleichen zu können.Die Suggestion im Filmausschnitt,die Pharmaindustrie erhalte bewusstdas Leid der Patienten, um lebenslangan ihnen verdienen zu können,ist eine Unterstellung von Herrn Klingelhöller.Einen Beleg für diese Thesebleibt der Film schuldig.Youtube-Clip 03/05Heilung unerwünscht00:20Ort: eine Novartis-Fassade inNürnbergStory: Bei Novartis kennt man dieCreme und weiß um ihre Wirkung, soder Sprecher, sei aber an ihrer Herstellung„nicht interessiert“. Stattdessenstellt Novartis die Creme Elidelher und verkauft sie als Alternativezu Cortison-Präparaten.Offene Fragen: Was hat die Produktionvon Elidel mit der Nicht-Herstellung der B12-Salbe durchNovartis zu tun? Was heißt es, dassNovartis die Creme „kennt“? Gab esVerhandlungen?Fakten: Elidel (Wirkstoff Pimecrolimus)ist ein das Immunsystemmodulierender Calcineurin-Hemmer,der von Novartis Pharma hergestelltwird. Der Film suggeriert, das Unternehmenhabe die rosa Salbe abgelehnt,um sein eigenes Produkt Elidelzu schützen. Elidel wurde am 27. 09.2002 in Deutschland zugelassen,und zwar als verschreibungspflichtigesArzneimittel. Es gilt wegenseines günstigen Nebenwirkungsprofils(keine Verdünnung der Haut,weniger Hautausschläge im Gesicht)als Therapiealternative für Neurodermitis-Patienten,die Kortikosteroidenicht vertragen, und wurde in umfangreichenStudien geprüft, unteranderem, weil Tierversuche mit Calcineurin-Hemmerneinen Krebsverdachtaufgeworfen hatten.Ob eine Salbe aus einem Heimlabor,die weder vorklinische (Zellkultur-und Tierversuche) noch aussagekräftigeklinische Prüfungendurchlaufen hat, von einem Pharmakonzernwirklich als bedrohlicheKonkurrenz eingestuft wird, darfhinterfragt werden. Laut Vierteljahresberichtder Intendantin über wesentlicheEingaben <strong>zum</strong> Programmgem. § 10 Abs. 4 WDR-Gesetz für dasQuartal 04/2009 liegen dem WDR insgesamt16 Schreiben von Pharmaunternehmenvor, „die die Produktionder Creme aus marktstrategischenGründen abgelehnt hatten“. Was dabeiim Einzelnen unter „ marktstrategischenGründen“ zu verstehen ist,würde man gern einmal lesen.01:00Ort: ein ICE-GroßraumwagenStory: Auftritt des DermatologenTorsten Zuberbier, Sprecher desAllergie-Centrums an der Charité inBerlin. Zuberbier wirkt irritiert, weiler vom Filmteam offenbar als Vertretervon Novartis befragt werden soll.Auf Elidel angesprochen, erklärt erdas Wirkprinzip der Salbe, nämlichdass sie bestimmte Immunzellen derHaut in ihrer Aktivität hemmt, so Entzündungenunterdrückt und dabeispezifischer wirkt als Cortison. Nachden Nebenwirkungen von Elidel befragt,verweist er auf einzelne Patientenin den USA, bei denen nach (abernicht zwingend durch) Anwendungvon Elidel Hautkrebs aufgetretensei.Offene Fragen: Was ist bei dieserARD-Anfrage gelaufen? In welcherRolle soll Zuberbier befragt werden?Was hat er mit Novartis zu tun? DiesesInterview erscheint merkwürdigkünstlich, ähnlich wie das mitThomas Hein (siehe oben) geführte.


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>10Wurden die Fragen des Interviewersim Zug weg geschnitten und im Studionachvertont, und wenn ja: warum?Was wurde Zuberbier im Originalgefragt?Fakten: Torsten Zuberbier hatverschiedene Studien mit dem Elidel-WirkstoffPimecrolimus durchgeführt,auch zusammen mit einemExperten von Novartis Pharma,Matthias Bräutigam. Mit Bräutigamzusammen hat übrigens auch PeterAltmeyer aus Bochum den WirkstoffPimecrolimus an Psoriasis-Patientengetestet – finanziert übrigens direktvon Novartis Pharma, was bei Auftragsstudiender Pharma Industriegängiges Procedere ist und normalerweisein den entsprechendenPublikationen (hier: Archives of Dermatology2006, 142: 1138-1143) vermerktwird. Es ist uneinsichtig, wiesoder Film suggeriert, Herr Zuberbierstünde auf der Seite der Pharma-Industrie und Herr Altmeyer sei einunabhängiger Forscher, der einfachInteresse an einer interessanten Vitamin-Cremehabe. Mit Unterstützungder Pharma-Konzerne forschen beide,und das mit gutem Recht, solangesie ihre Geldgeber offen legen.03:50Ort: eine Klinik in Spartanburg,USAStory: Ärzte in den USA meidenElidel und das ähnliche PräparatProtopic. Sogar die amerikanischeArzneimittelbehörde FDA warne ineiner „Black Box“ auf dem Beipackzettel„vor der Anwendung von Elidel,das als Immunsuppressivum dasAbwehrsystem der Haut unterdrückt.Gewarnt wird vor allem davor, diebehandelte Haut dem Sonnenlichtauszusetzen“, so der Film-Sprecher.Fakten: Die FDA warnt mitnichten„vor der Anwendung von Elidel“.In der „Black Box“ steht lediglich –optisch hervorgehoben durch eineUmrahmung („Box“) auf dem Beipackzettel– wie man sich verhaltensoll, wenn man die Creme anwendet:Man soll sie nicht dauerhaft anwenden,nur auf den Hautpartien mitEkzem und nicht bei Kindern unterzwei Jahren. Hintergrund der „BlackBox“ sind Einzelfallberichte in denUSA über Patienten mit Hautkrebsund Lymphomen nach Elidel-Anwendung.In Tierversuch an Rattenund Affen löste der Wirkstoff Pimecrolimusin hohen Dosen als Cremeoder im Futter verschiedene Tumorenaus, allerdings auch nicht in allenStudien. Ein ähnlicher Wirkstoff(Tacrolimus, in Protopic enthalten)verkürzte bei UV-bestrahlten Mäusenin hoher Dosis auf der Haut dieZeit bis <strong>zum</strong> Auftreten erster Hauttumoren.Epidemiologische Studien anMenschen wiederum deuteten aufein verringertes Krebsrisiko durchCalcineurin-Hemmer. Die Ergebnissescheinen insgesamt schwierig zu interpretieren.04:10Ort: der ICE Großraumwagen.Story: Über Torsten Zuberbierwird erzählt, er halte wenig von derSkepsis der Amerikaner in SachenElidel. Zuberbier selbst sagt: „DieseBlack Box Warning ist inzwischennicht mehr notwendig.“Fakten: Die FDA hat ihre „BlackBox Warning“ bislang nicht zurückgenommen. Umstritten war derHinweis allerdings von Anfang an:Unter anderem die American Academyof Dermatology und das AmericanCollege of Allergy, Asthma andImmunology protestierten heftigdagegen. Sie fanden die Belege fürdas Krebspotenzial der Calcineurin-Hemmer zu schwach und merktenan, dass man Fütterung von Tierenschwerlich mit Hautkontakt bei Menschenvergleichen kann. Ein Ausschuss(CHMP) der Europäischen Arzneimittelbehördekam 2006 zu demErgebnis, das sich nicht sagen lässt,ob Elidel Krebs beim Menschen verursachtoder nicht. Vorsichtshalberverfügte die Behörde, Elidel künftignur noch einzusetzen, wenn eine Anwendungvon Cortison nicht möglichist. Der Ausschuss schloss sich invielen Punkten der Argumentationder FDA an, ebenso die deutscheLeitlinie „Therapie des atopischenEkzems mit Calcineurin-Inhibitoren“.Man hat sich also auch in Europa aufWarnhinweise und Anwendungsbeschränkungengeeinigt – ohne dassCalcineurin-Hemmer grundsätzlichals Therapeutika in Frage stehen.Man hätte also im Film gern nocherfahren, warum Torsten Zuberbierdie FDA-Warnung für überflüssig erachtet.04:40Ort: eine ApothekeStory: Der Sprecher klärt auf, dassauch Kerstin Nitschke ihre Neurodermitisschon mit Elidel behandelt hat,aber: „Dass die Creme das Immunsystemder behandelten Hautflächenschwächt und bei Sonnenlichtdas Hautkrebsrisiko erhöht – davonhat sie bisher nichts gewusst.“ DerZuschauer begleitet Nitschke in eineApotheke, wo die Apothekerin erstin der Fachkreisen vorbehaltenenInformation angeblich Hinweise findet,warum man mit der Salbe nichtin die Sonne gehen darf. Die Apothekerinist schwer zu verstehen,aber anscheinend sagt sie: „Es ist haltbei Tieren nicht beobachtet worden,dass es karzinogen ist“. Der Sprechermacht daraus die Information (vonder der Patient angeblich nichts erfährt):„Bei Tierversuchen mit demWirkstoff Pimecrolimus – und dersteckt in Elidel – sind Krebserkrankungenaufgetreten.“ Das wäre dasGegenteil der Aussage der Apothekerin.Offene Fragen: Werden Patientenin Deutschland brisante Informationenüber Elidel vorenthalten? Wassteht in der „Fachinformation“?Fakten: In der Fachinfo zu Elidelsteht: „Elidel zeigt bei Tieren keinphotokarzinogenes Potenzial.“ Vorsichtshalberrät die Fachinformation:„Da die Relevanz dieser Datenfür den Menschen nicht bekannt ist,sollten während der Behandlung mitElidel ausgedehnte Bestrahlungender Haut durch ultraviolettes Licht(...) vermieden werden.“ Das entsprächeder Aussage der Apothekerin imFilm. In Fütterungsstudien an Tierentraten zwar lichtunabhängig Tumorenauf, aber erst bei Dosierungen,„die weit über der klinisch bedeutsamenExposition beim Menschenlagen und daher von vernachlässigbarerklinischer Signifikanz sind. Pimecrolimushat kein genotoxisches,antigenes, phototoxisches, photoallergenesoder photokanzerogenesPotenzial. Nach dermaler Applikationwaren Studien zur embryonalen/


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>11fetalen Entwicklung bei Ratten undKaninchen und Studien zur Kanzerogenitätan Mäusen und Ratten negativ.“Weil bisher keine Langzeitdatenvorliegen, gilt: „Ein Risiko für denMenschen kann nicht mit letzter Sicherheitausgeschlossen werden“.Die wirklich relevante Aussage (aufder im übrigen auch die Warnungder FDA im wesentlichen gründet)hat der Autor des Films in der Fachinformationübrigens übersehen. Sielautet: „Während der Anwendungvon Pimecrolimus-Creme wurde beiPatienten über Fälle von Malignitätberichtet, wie z. B. kutane und andereLymphome sowie Hautkrebs.“ DieFDA bezeichnet das als „most importantinformation“.06:50Ort: Praxis Dr. Ronald Januchowski,Spartanburg, South CarolinaStory: Der smarte Doktor Januchowskitritt im weißen Kittel auf.Man sieht einen jungen Allgemeinmediziner.Er berät eine schwarzeFrau. In der Hand hält sie ihr Babymit einem rosa Schnuller im Mund.Der Doktor erklärt vor der Kamerazu der Salbe, die der Autor offenbarimmer mit <strong>zum</strong> Dreh nimmt: „Esfunktionierte gut, vor allem die Elternhaben sich sehr gefreut. Es gabkeinerlei Nebenwirkungen währendder gesamten Phase. Am Ende hatteich die gleichen Ergebnisse wie Dr.Stücker in Deutschland. Ein exzellentesMittel gegen Neurodermitis undEkzeme.“Offene Fragen: Welche Reputationhat Dr. Januchowski? Kannes ein Beweis für die Wirksamkeiteiner Creme sein, wenn sich Elternsehr über die Salbe gefreut haben?Hat der Arzt Geld erhalten für dieDurchführung der klinischen Studie?Wurde die Studie überhaupt mit derRevigiderm-Salbe durchgeführt?Fakten: Die Freude der Eltern sagtleider wenig über die Wirkung derSalbe gegen Ekzeme aus, wie jedervon Schuppenflechte oder NeurodermitisBetroffener weiß. Das chronischeLeiden Neurodermitis verläuftin Schüben, mal bricht die Krankheitaus, mal ist die Haut ruhiger. Warumdas so ist, weiß in der Medizin letztlichbisher niemand. Der in der Sendungbefragte Doktor ist sicher keinausgewiesener Experte in der Dermatologie.Er hat zu dem Thema bishernur eine einzige Arbeit publiziert– 2009 im Journal of Alternative andComplementary Medicine. Das Fachblattaber ist keine erste Adresse fürsensationelle klinische Befunde ausder Dermatologie. Publiziert werdenin der Zeitschrift nach eigenen Angabenvielmehr „Beobachtungen undanalytische Berichte über Behandlungenaußerhalb der Schulmedizin,die Interesse wecken und Forschungrechtfertigen könnten, um deren therapeutischenWert zu ermitteln.“ EineBegutachtung der eingereichten Arbeitendurch unabhängige Gutachtervom Fach findet hier nicht statt,die Szene der Alternativmedizinerbleibt wohl unter sich. Die Aussagenzu der angeblichen nebenwirkungsfreienund wirksamen Salbe beruhenzudem auf einer dünnen Datenbasis.Von einer Heilwirkung kann keineRede sein, denn eine dauerhafteWirksamkeit der Salbe wurde in derStudie von Dr. Januchowski erst garnicht untersucht. Selbst der genaueAblauf der vierwöchigen Studiebleibt im Dunkeln. Bei der für einenWirksamkeitsnachweis viel zu kurzenStudie sollten ursprünglich 44Patienten zwischen 6 Monaten und18 Jahren mit einer Vitamin B12-haltigenCreme behandelt werden. Diegeplante Zahl halbierte der Arzt jedochnachträglich auf 21. Wie genauder Versuch tatsächlich ablief, welchePatienten wie oft und vor allemwelche Körperstellen genau behandeltwurden, wird in der Publikationnicht präzise beschrieben.Im Film erfährt der Zuschauerdurch den Erzähler, der Arzt Dr. Januchowskihabe die Creme vier Wochentäglich bei seinen Patienteneingerieben. Die eine Körperhälftemit der Vitamin-B12 Creme, die anderemit einer Creme, die keinenWirkstoff enthielt. Genau ein solchesVerfahren aber wird in dem Artikelnirgends beschrieben. Zu vermutenist, dass die Patienten nicht zweimalam Tag eigens für das Einreiben derSalbe in die Klinik gekommen sind,sondern sich vielmehr zu Hause eincremten.Damit aber fehlt die ärztlicheKontrolle, was zu Hause wirklichgeschah. Den Ansprüchen an eineordentliche klinische Studie genügteine solche Datenerhebung und-Auswertung nicht.Youtube-Clip 04/05Heilung unerwünscht00:00Ort: Wuppertal, die SchwebebahnStory: Dazu der Sprecher: Oktober2003. Weitere klinische Tests habendie Wirksamkeit von Regividerm erneutbestätigt. Kaufen kann man dieCreme aber immer noch nicht. DemErfinder geht das Geld aus. Alle Verhandlungenmit Pharmafirmen sindgescheitert. Die Firma hält sich mühsammit Krediten über Wasser.Offene Fragen: Um welche klinischenTests handelt es sich diesmal?Warum sind alle Verhandlungen mitden Pharmafirmen gescheitert?Fakten: Bei den weiteren klinischenTests dürfte es sich um eineVeröffentlichung handeln, die am30. August 2003 zur Publikation imBritish Journal of Dermatology akzeptiertwurde. Diesmal testeten 49Patienten mit atopischen Ekzem ander Universität Bochum die Salbein einer „prospektiven, randomisierten,Placebo-kontrollierten Studie“.Acht Wochen lang reibt jeder Patientbetroffene Hautstellen auf der einenKörperhälfte mit einer Placebo-Creme ohne Wirkstoff ein – morgensund abends. Auf der anderen Hälftetragen die Versuchspersonen die VitaminB 12 Salbe auf. Bei dieser Studiekommt eine subjektive Skala zu Anwendungum zu entscheiden, welcheVeränderungen auf der Haut sichtbarwerden. Im Grunde entscheidet alsodie Versuchsperson selbst, welcheSalbe auf welcher Seite besser abschneidet.Ob die Patienten zu Hausedie richtigen Stellen jeweils mit einerder beiden Cremes einreiben, bleibtoffen. Objektivierbare Kriterien derWirkung wie etwa der Cortison-Verbrauchoder Arztbesuche werdennicht erhoben. Schon das Design derStudie als „Befindlichkeits-Studie“ erlaubtwissenschaftlich keine triftigenAussagen über die angebliche Wirksamkeitder Vitamin-B12 Salbe.Alle bisher im Film angesprochenenStudien können die zentrale


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>12These des Filmes „Heilung unerwünscht“mitnichten belegen: inkeiner der vorliegenden Studienist von irgendeiner Art der Heilungdie Rede. Selbst über die angeblichkurzfristige Linderung der Beschwerdendurch die Salbe können die Studienkeine Aussage treffen, dennihr Design lässt Möglichkeiten derVerzerrung der Ergebnisse ebensooffen wie mögliche Placeboeffekte.Zu bedenken ist zudem, dass derHersteller die Studien vermutlichfinanziert hat. WissenschaftlicheDiskussionen über den angeblich„neuen Therapieansatz“ gibt es inder Fachliteratur bis heute keine. DieArbeit aus dem Jahr 2004 wurde inder Fachliteratur laut Google Scholarbisher 10-mal zitiert. Das ist für einewichtige Arbeit wenig und wahrlichkein Hinweis auf eine echte Sensation.Studienautor Dr. Markus Stückererklärte nach Ausstrahlung des Filmsgegenüber der Deutschen MedizinischenWochenschrift, er habe die Rezepturder Salbe nach dem Test „nieerhalten“. Bezüglich der „Wirkstärke“sei die „Datenlage noch nicht ausreichend,um beurteilen zu können, obdie Vitamin-B12-Salbe ähnlich wirksamist wie potente Therapien, etwahochwirksame Kortikosteroide.“01:50Ort: Köln, eine Sitzung im BankhausSal. OppenheimStory: Die Privatbank Sal. Oppenheimhofft offenbar auf zukünftigeMilliardengeschäfte der WuppertalerFirma. Die Banker von Sal. Oppenheimkennen die Studien zu derCreme und wissen um die Wirksamkeitder Creme.Offene Fragen: Warum der Erfindervon seinem Patent getrennt wird,bleibt für die Zuschauer im Dunkeln.Wieso alle Verhandlungen mit Pharmafirmennegativ ausgehen, erfährtder Zuschauer ebenfalls nochnicht. Stattdessen setzt der Film aufEminenz statt Evidenz. Sein Motto:Wenn sich eine Privatbank mächtigengagiert, kann die Salbe nicht ohneWirkung sein. Ein Vertreter der Bankkommt im Film leider nicht zu Wort.Der Zuschauer muss dem Autorschlicht glauben, was er erzählt.Fakten: Risikokapitalgeber sindin unserer Gesellschaft frei, für jedeErfindung Geld springen zu lassen,wenn sie davon warum auch immerüberzeugt sind. Das gilt für Salbenebenso wie für CDS (Credit DefaultSwaps) oder Investitionen in Biotechnologiefirmen,die Medikamenteentwickeln, die sich in der Regel alsNiete erweisen. Was immer aber dieBerater der Bank über die Wirksamkeitder Salbe zu wissen glaubten,ändert aus wissenschaftlicher Sichtnichts an der dünnen Datenlageüber die Salbe. Der Autor versuchthier gegenüber dem Zuschauer denEindruck zu erwecken, dass sich Sal.Oppenheim in seine Einschätzungnicht irren kann. Seit der Finanzkriseweiß jeder, dass dieser Eindrucktäuscht. Und es schlicht naivist, solchen Finanzexpertisen ohnewissenschaftliche Expertise blindzu vertrauen. Eine Gegenrecherchebei Unbeteiligten hat noch nie geschadet.Offenbar hatte speziell dieSal. Oppenheim-Bank noch ein paarandere Probleme. Sie ist inzwischenvon der Deutschen Bank übernommenworden.Story: Die Banker kennen die Zahlenvon PricewaterhouseCoopers, dieden Wert der Patentrechte der Salbeauf 936 Millionen Dollar geschätzthaben.Offene Fragen: Was machen Firmenwie PWC eigentlich? Wie kanneine rosa Salbe mit dem Vitamin B12und Avocadoöl zu einem Medikamentwerden, das eine Milliarde DollarUmsatz generieren soll?Fakten: Das Filmteam zeigt dieFassade von PricewaterhouseCoopers,in der angeblich die gigantischenUmsatzpotenziale errechnetwurden. Der Zuschauer erfährtnicht, wie solche Zahlen in Wahrheitzustande kommen in den Werbeprospektenvon Pharmafirmen, dieKapital suchen. Dabei ist der Trickeinfach: Man rechnet einfach diemutmaßliche Zahl der Patienten mitNeurodermitis und Schuppenflechtesowie weiterer mit der Salbe angeblichbehandelbarer Erkrankungenzu einem möglichen Jahresbedarfhoch. Genau das kann jeder mitseinem Taschenrechner auch: Setztman etwa fünf Millionen Patienten inDeutschland ein, die an diesen Hauterkrankungenleiden sollen und legtden Preis einer Salbentube für dreiMonate salben auf 25 Euro fest, dannlandet man bei einem sagenhaftenUmsatzpotential von 500 MillionenEuro pro Jahr. Allein für Deutschland.Solche Phantasiezahlen sagenüber die realen Umsatzaussichtenund deren Eintrittswahrscheinlichkeitkaum etwas aus. Gutachten wie dasvon PricewaterhouseCoopers kannsich jeder Auftraggeber gegen Geldanfertigen lassen. Über die Wirksamkeitder Creme können sie keine Aussagentreffen.02:20Ort: die Klinik in der SchweizStory: O-Ton Klingelhöller: „EineSituation, die mich fast in den Wahnsinngetrieben hat und finanziell völligruiniert hat...“Fakten: Diese Einschätzung könntestimmen. Warum Herr Klingelhöllerauf dem Dachboden eines SchweizerSpitals an einem schönen See haust,erfährt der Zuschauer nicht.03:10Ort: auf der Straße bei Wuppertal(???)Story: Ein neuer Mann tritt auf.Rüdiger Weiss joggt. Er kauft diePatentrechte aus der Insolvenzmasseund versucht nun endlich, dieSalbe auf den Markt zu bringen. O-Ton Weiss: „Bayer soll gesagt haben.Wenn das tatsächlich so ist wie siedas darstellen, dann haben sie ja dasAspirin für die Haut entwickelt. Wirhaben sehr viel mit vielen Pharmafirmendiskutiert, die gesagt haben,wenn es so einfach ist, was ihr dahabt, dann hätten wir es ja längst erfindenmüssen.“Offene Fragen: Wer ist RüdigerWeiss? Der Mann hat keinen Titel,keine erkennbare Expertise. Er istein joggender Geschäftsmann, dersein Glück versucht. Warum, wieso,weshalb? Hier schweigt sich derFilm aus. Er will ja den Kampf gegenWindmühlen inszenieren. Warumaber sollten Pharmafirmen wie Bayernicht einfach Recht haben mit ihrerEinschätzung, dass die Wundersalbeschlicht und einfach nicht das Aspirindes 21. Jahrhunderts ist?Fakten: Die Aussage von Herrn


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>13Weiss ist eine der wenigen in derDokumentation, die rein fachlichbetrachtet Sinn ergibt. Leider wirddieser O-Ton montiert, sodass derZuschauer annehmen muss, diePharmaindustrie wolle aus unlauterenMotiven auf die Vermarktung derSalbe verzichten. Im Folgenden versuchtder Filme den Beweis für einsolches Komplott anzutreten. Dochauch hier stolpert der Autor und mitihm leider auch der Zuschauer überzentrale Fallstricke der Recherche imundurchsichtigen Salbendschungel.03:40Ort: ???Story: Inzwischen hat auch HerrWeiss mit vielen Firmen über die Produktionder B12-Creme verhandelt.Ein Beispiel ist Thomas Schettler, derfreundlich in die Kamera blickt undlächelt. Ob er wohl ahnt, wie absurddas ganze Theater ist, in dem er mitspielt?Offene Fragen: Wieso will keinePharmafirma die angeblich tolleSalbe im Programm haben? Dasfragt sich der Zuschauer inzwischenungeduldig. Da endlich taucht dererste knallharte Pharmamanagerauf, <strong>zum</strong>indest sieht er wie einer aus.Aber ist er auch ein echter Pharmamanager,der über viel versprechendeneue Medikamente entscheidenkann?Fakten: Die Firma Wyeth Pharmawar in der Tat eine der zehn größtenPharmafirmen der Welt, bevor siekürzlich von der größten Pharmafirmader Welt, Pfizer, übernommenwurde. Was der Film dem Zuschaueran dieser Stelle verschweigt. Der interviewteThomas Schettler ist mitnichtenMedizinischer Direktor inder deutschen Niederlassung einesder weltweit größten Pharmakonzerne,sondern bei der Tochterfirma„Whitehall Much“, die zur WyethConsumer Healthcare Sparte gehört,nicht Wyeth-Pharma. Die abervertreibt allein „verschreibungsfreieArzneimittel“, etwa eine Vita-Sprint-B12 Lösung für Sportler. Schettler istnicht befugt, Entscheidungen überdie Entwicklung von Arzneimittelnbei Wyeth-Pharma zu treffen undwird somit irreführend eingeführtim Film. Der Witz ist, Schettler sagtdas im Grunde sogar selbst, nur textetder Film gegen die Fakten an, dienicht ins Bild passen.04:00Ort: im Büro von Thomas Schettler?Story: O-Ton Thomas Schettler:„Das wäre sicher auch etwas fürWyeth und ich habe das auch demKonzern vorgeschlagen, ja, ja, aberder Konzern möchte es nicht.“ FrageAutor: „Warum? Weil das nicht indas Konzept passt, was Sie machen?“Schettler: „Das kann ich jetzt nichtnäher erläutern, das ist kompliziert.“Auf eine weitere Nachfrage erklärtSchettler dann: „Ich persönlich würdedas sofort machen, weil ich dassehr interessant finde.“Fakten: Das Problem ist: Was HerrSchettler für eine interessante Ideehält, im Konzern angeblich ein kompliziertesProblem ist und der Autorder WDR-Dokumentation offenbarfür ein Komplott hält, lässt sich durcheinen Blick auf die Fakten leicht aufklären.Die Firma Wyeth erklärt öffentlich,das die Entscheidung gegendie obskure Salbe „auf den vorliegenden,nicht ausreichenden Studiendatenzu der Substanz“ basierte.„Im Rahmen der Prüfung habe sichheraus gestellt“, so das UnternehmenWyeth Pharma GmbH zu der Berichterstattungüber die Hautsalbe,„dass entscheidende Wirksamkeitsnachweisefehlten.“ Auch diese klareEinschätzung erfährt der Zuschauerleider nicht. Ebenso wenig von denAbsagen einer ganzen Reihe von Firmen,die kontaktiert wurden. NachLage der Dinge drängt sich schlichtder Eindruck auf. Die jeweiligen Expertenwaren von der Wirksamkeitder Salbe nicht überzeugt.05:10Ort: Büro von Herrn WeissStory: Diese Absagen will der Filmseinen Zuschauern nicht verraten.Stattdessen darf der PatentinhaberWeiss mit klarem Interessenkonflikterneut spekulieren: „Man hat dasGefühl, wenn man mit der großenPharmaindustrie über unser Produktverhandelt, dass man grundsätzlichauf ein hohes Maß an Zurückhaltungstößt, weil man vermeiden möchte,dass ein Medikament, das deutlichpreiswerter ist und das keine Nebenwirkungenhat außer der durch dasVitamin B12 und Avocadoöl gegebenen,das eine Kinderzulassung hat,dass dieses Produkt auf den Marktkommt, weil man die eigenen vielteueren Medikamente damit nichtgefährden möchte.“Offene Fragen: Hier wird eine Verschwörungstheorieformuliert voneiner journalistischen Quelle, die einEigeninteresse daran hat, an eineVerschwörung zu glauben, einfachweil sie ein Geschäft mit der Salbemachen will. Aber hat das Medikamentwirklich eine Zulassung fürKinder? Ist es überhaupt ein Medikamentmit einer Zulassung oder nichtvielmehr ein Medizinprodukt, für dasweniger strenge Auflagen in Bezugauf Wirksamkeitsnachweise erbrachtwerden müssen?Fakten: Den arzneirechtlichen Statusder Salbe erklärt der Kasten zudieser Geschichte. Auch diese Informationfehlt in dem Film.05.50Ort: ???Story: Auftritt eines weiterenPharmamanagers, Wolfgang Knirsch.Er ist 2002 bei Merck in Darmstadtbeschäftigt, als Manager im Lizenzgeschäft.Er sagt, die Erfinder hättenihr Produkt vorgestellt, die Gruppehabe ihre wissenschaftlichen Arbeitenvorgelegt. Diese seien in verschiedenenGremien bewertet worden.Man kam zu dem Schluss dassdas „Produkt nicht in das Portfoliopasst und wir haben es dann abgelehnt.“Wieder die scheinbar so einfacheFrage vor der Kamera: „Warum hatMerck abgelehnt?“ Knirsch verweistauf ein „schriftliches Statement vonMerck, dem ich mich nur anschließenkann.“ In dem Dokument behauptetder Merck-Konzern laut Film, manhabe Revigiderm abgelehnt, weilman sich vom Dermatologie-Geschäftgetrennt habe. Dann kommtder Clou. Manager Knirsch nutzt dasAngebot für sich privat sehr wohl.Denn der Vater hat einen Sohn, deroffenbar an Neurodermitis leidet. Daherzeigt er privates Interesse, einigeProben zu Hause auszuprobieren.


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>1407:30Ort: zu Hause bei Knirsch´s (???)Story: Der Sohn tritt auf. Er habedie Salbe „knapp ein Jahr benutztmit eigentlich sehr gutem Erfolg. Ichhabe die Cortisoncreme sehr weitabgesetzt gehabt damals, weil es mitder Regividerm sehr gut ging.“Offene Fragen: Donnerwetter,muss hier jeder Zuschauer denken.Die Salbe wirkt ja offenbar besser alsCortison. Kann das sein?Fakten: Ein einzelner Fall sagt leiderbei Medikamenten gegen einechronische Erkrankung wie Neurodermitisnichts aus. Vor allem dannnicht, wenn nicht kontrolliert wird,wie oft und wann der Sohn Cortisonin welcher Dosierung eingenommenhat. Es existiert zudem keine klinischeStudie, bei der die Vitamin-B12Salbe gegenüber einem Cortison-Präparat verglichen worden wäre.Einzelberichte wie dieser könnteschlicht Zufall sein.07:40Story: Der Vater und Managerdarf sich selbst loben: „Mein Sohnhat sich damit wohl gefühlt“. Die Salbescheint so gut anzukommen, dasser auf eigene Faust Kontakt <strong>zum</strong> Unternehmenaufnimmt, um weitereProben zu erhalten. Hier tritt im Filmeine neue Wendung auf. Weil es mitdem Verkauf der Salbe an Geschäftspartnernicht vorangeht, müssen diezufriedenen Ärzte und Patienten umNachschub der Salbe kämpfen.Offene Fragen: Warum kann eigentlichniemand die Salbe herstellen?08:20Ort: eine Praxis in KleveStory: Hautarzt Dr. Kroll hat mitProben aus klinischen Studien einpaar Patienten behandeln können.Jetzt hofft er auf Nachschub. „HabenSie noch Muster?“, fragt er einenMann im Auto, über den derZuschauer nichts erfährt. Der vertröstetden Arzt, man versuche, eineApothekenlösung zu schaffen, dasdauere. „Dann soll ich die Patientenalso vertrösten?“, sagt der Arzt insTelefon.Einem weiteren Patienten ist dieCreme ausgegangen. Man sieht zweirote flächige Stellen auf seinem Armund über dem Knie. Der Arzt sagt, dassei jetzt der Erfolg nach fünf TagenAnwendung. Der Patient ergänzt, leidersei der Rest der Creme nun aufgebraucht.„Nach einer guten WocheBehandlung habe ich nur noch eineRötung, sagt der Patient: „ich bin bisherimmer gut klar gekommen.“„Wie sieht es aus am restlichenKörper?“, will der Arzt wissen: „Dasgleiche wie am Arm. Weiße Schuppungfast vollständig weg!“Offene Fragen: Der Zorn bei denZuschauern steigt, weil der Arzt umdie rosa Wundersalbe betteln undseine Patienten warten müssen.Aber was belegen die immer neuenEinzelfälle?Fakten: Neurodermitis undSchuppenflechte sind Leiden, dieeinem Chamäleon ähneln. Die Hautder Betroffenen verändert ihre Farbeimmer wieder einmal, mit oder ohneCreme.Youtube-Clip 05/05Heilung Unerwünscht00:10Ort: ein HotelStory: Im November 2008 willKlingelhöller doch noch einmal umseine Erfindung kämpfen. Wiederbraucht er Geld von Investoren. Klingelhöllerfährt Auto. Er will erst seineSchulden zurückzahlen, dann die Patentezurückkaufen und dann dochnoch eine Firma finden, die seineErfindung vermarkten will. Diesmalgeht es um 30 Millionen Euro, Klingelhöllerverhandelt mit einem Bevollmächtigteneines unbekanntenInvestors. Gegenüber dem bringter einen Experten der Bundesärztekammer(BÄK) ins Spiel. „Ich habegestern noch mit Leuten aus der BÄKgesprochen, was passieren würde,wenn wir eine Behandlungsmethodehätten, die diese Erkrankungschnell behandeln würde. O-Ton Bevollmächtigter:Da wäre ein enormesEinsparungspotenzial innerhalb derKrankenkassen.Offene Fragen: Ein Erfinder ohnePatent verhandelt mit einem unbekanntenInvestor, ohne dass klarwird, warum der das tun sollte. Waswill dieser Einschub dem Zuschauersagen?Fakten: Eine Absichtserklärungist kein Vertrag. Und das erwähnteEinsparpotenzial wäre nur erreichbar,wenn die Salbe einen tauglichenWirksamkeitsnachweis erbrachthätte. Insofern verwundert es nicht,dass Klingelhöller auch diesmal leerausgeht. Der Autor aber raunt: „Bisheute hat er keine Zusage.“02:20Ort: Kleve (???)Story: Kerstin Nitschke hat dieCreme inzwischen 3 Monate getestet.Wieder ein Bild mit dem Arzt GeorgReimann vom Anfang des Films.Nitschke hat nicht alle Hautflächenbehandelt, dazu reichte die Mengenicht aus. „Die Haut ist super glattgeworden, sie juckt nicht mehr“,sagt sie: „Leider müssen wir Ihnen<strong>zum</strong> jetzigen Zeitpunkt sagen, dasswir Ihnen das nicht mehr zur Verfügungstellen können“, sagt der Arzt.Die Patientin trägt es mit Fassung,die Szene sieht ein bisschen gestelltaus. Dann ergänzt sie vor der Kamera:“Wenn man jetzt aufhören muss,wo man merkt, es wirkt immer mehrund ich auch an den Beinen anfangenwill, weil man dort sieht, dass dieHaut um einiges schlechter ist, daswäre für mich ein absoluter Rückschlag.“Offene Fragen: Ist es möglich,dass die Erkrankung von KerstinNitschke an verschiedenen Körperstellenmit unterschiedlicher Intensitätausbricht?Fakten: Die Haut von Patientenmit atopischen Ekzem ist besondersanfällig für äußere Reize, die zu Juckreizführen können. Typische Stellenfür die betroffene Haut sind insbesonderedie Armbeugen, die Kniekehlensowie die Hals- und Gesichtspartie.Mögliche Provokationsfaktoren sindbeispielsweise mechanische Reizeauf der Haut, Schwitzen, bestimmteNahrungsmittel, Alkohol und psychischerStress. Aus der Entfernung lässtsich kaum beurteilen, welche Erfolgeeine Therapie im Einzelfall hat. Ebendarum müssen Ärzte heute klinischeStudien durchführen, bei denen we-


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>15der der Arzt noch der Patient weiß,welche Salbe er etwa auf welcheStellen seines Körpers aufträgt. Nurso lässt sich objektiv beurteilen, wiewirksam etwa eine Salbe ist.02:50Ort: unter dem Dach der SchweizerKlinik...Story: Karsten Klingelhöller lebt inseinem kleinen Zimmer. Seine Erfindunghat ihn psychisch und physischruiniert. Aber noch hat er die Hoffnungnicht aufgegeben, dass es seineErfindung eines Tages zu kaufengibt. „Ein Medikament, das MillionenMenschen, die unter Psoriasis leiden,helfen kann“, sagt der Erzähler imFilm.Offene Fragen: Das Drama erreichtseinen Höhepunkt. Der Zuschauerist schockiert, dass so etwasmöglich sein soll. Der Film lässt keinerleiRaum für Zweifel. Aber stimmendie Beweise?Fakten: Die Grundthese des Filmserweckt den irreführenden Eindruck,dass die Salbe eine schwere Neurodermitisheilen oder <strong>zum</strong>indest lindernhelfen kann. Dieser Eindruck istdurch die vorliegenden Fakten nichtbelegt.03:10Ende: Die Spezialklinik in Neukirchen,Blende auf das Kind mit demvermummten Kopf. Die Hand derMutter streichelt das Kind zu Gitarrenmusik.FazitDer Film enthält aus unserer Sichtein Reihe von Suggestionen sowiehandwerkliche und inhaltliche Fehler,die einen Verstoß gegen dasGebot der journalistischen Sorgfaltspflichtnahe legen. Kurz gefasst konzentriertsich unsere Kritik auf vierPunkte:1. Umgang mit medizinischenWirksamkeitsnachweisenDas spärliche Studienmaterial zurWirksamkeit der Vitamin-B12-Salbewurde verschwenderisch über denFilm ausgebreitet. Mehrfach ist von„weiteren“ Studien und Belegen„ohne Zweifel“ die Rede. Man bekommtden Eindruck, die Creme seiexzellent untersucht. Das ist nichtder Fall. Es gibt ein paar Tests mit einpaar Dutzend Probanden, von denenein Teil noch nicht mal veröffentlichtund unabhängig beurteilt wurde. Eswird der Eindruck vermittelt, diesesStückwerk an Daten genüge, um inDeutschland ein „Medikament“ aufden Markt zu bringen. Dafür mussaber viel mehr Aufwand getriebenwerden, vom Tierversuch bis zu großenPhase III-Studien mit mehrerenHundert Testpersonen.2. Umgang mit Protagonistenund ExpertenDer Film differenziert nicht zwischenselbst ernannten und wirklichenExperten. Ist einem Mann wieKarsten Klingelhöller zu trauen, deranscheinend seit Jahren in einemKlinikzimmer in der Schweiz lebt,wo er von Erlöserträumen und Bedrohungsängstenberichtet? Derfasziniert war von seiner Erfindung,nachdem er sie anscheinend lediglichan seiner Freundin getestet hat?Im Gegenzug demontiert der Filmeinen angesehenen Dermatologenwie Torsten Zuberbier, weil er angeblichder Pharma-Industrie nahe steht.Damit wäre er nicht der einzige Dermatologein Deutschland. Nichtsdestotrotzforscht er seit vielen Jahrenzu dermatologischen Therapienund hat dazu zahlreiche Studien inexpertengeprüften Fachzeitschriftenpubliziert.3. Umgang mit O-TönenMehrere Interviews (Thomas Hein,Torsten Zuberbier) wirken, als wärensie nachträglich umgeschnitten unddie Fragen des Interviewers im Studionachvertont und dabei stark gekürztworden.4. Umgang mit NichtwissenAhnungslosigkeit gehört auf denTisch. Ein Journalist muss sagen, waser weiß und was nicht. Stattdessenlässt der Autor seine Protagonistenvage Andeutungen machen, die imKopf des Zuschauers zu Fragen undmöglicherweise falschen Schlüssenführen: Wollte Novartis die B12-Creme wegen der Konkurrenz zuElidel nicht auf den Markt bringen?Wurde Klingelhöller wirklich von derPharma-Industrie ausgebootet undvon Unbekannten tätlich bedroht?Hat ein Vertreter von Beiersdorf jemals10 Millionen Mark für die Vitaminsalben-Patentrechtegeboten?Werden Patienten in Deutschlandwirklich lebenswichtige Informationenüber Krebsrisiken eines zugelassenenMedikamentes vorenthalten?Ist Cortison so gefährlich, dass Ärzteeiner hoch spezialisierten Klinik esbei ihren Patienten nicht anwenden?SchlussbemerkungEine Stellungnahme des WDR zu„Heilung unerwünscht“ war auf Anfragedes <strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong> nicht zuerhalten und soll nach der Rundfunkratssitzungam 19. Mai nachgereichtwerden. Das <strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>freut sich darauf und dankt außerdemallen Bloggern, Journalistenund Wissenschaftlern, die in denvergangenen Monaten Fakten überden Film „Heilung unerwünscht“ zusammengetragen und damit unsereRecherchen sehr erleichtert haben. ]Volker Stollorzist freier Wissenschaftsjournalistund lebt in Köln.Nicole Heißmannarbeitet als Redakteurinbeim sternin Hamburg.


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>16Fakt? Fiktion? Fälschung?Von Markus LehmkuhlDem Film „Heilung unerwünscht.Wie die Pharmakonzerne ein Medikamentverhindern“ sind zahlreicheAttribute gegeben worden.Ein Satz, geschrieben von GeorgWedemeyer und Yamina Merabetim stern fasst ganz gut zusammen,worum es in den Diskussionengeht: Die beiden schreiben überden Film: „Es gibt da ein Salbe. DerRest sind Ungenauigkeiten, Weglassungen,Beschönigungen oderist schlicht falsch.“ Dieser Satzführt zunächst direkt in die Untiefender Medienkritik im Allgemeinen.Falsch sei es <strong>zum</strong> Beispiel,schreiben die beiden, diese Salbeals Medikament zu bezeichnen.„Zugelassen ist Regividerm lediglichals Medizinprodukt der KlasseIIa“.Wir befinden uns deshalb unmittelbarin den Untiefen, weil mandie korrekte Bezeichnung der Salbe,die jetzt unter dem Namen Mavenavertrieben wird (siehe Beitrag vonNicole Heißmann in diesem Heft),nur in unterschiedlichen Varianten inden Titel des Films einsetzen muss,um das Problem zu erkennen.Variante 1: „Wie Pharmakonzerneein Medizinprodukt der Klasse IIa verhindern.“Das geht nicht eben runterwie Öl, schon gar nicht in der ARD Primetimeum 21.Uhr, die ein Millionenpublikumerreichen will oder muss.Dieser Titel macht sich schlecht injeder Programmankündigung, darüberbraucht man kein weiteres Wortzu verlieren, es braucht eine irgendwieandere Umschreibung.Variante 2: „Wie Pharmakonzerneeine Hautcreme verhindern!“ Das,obwohl vielleicht angemessener,geht natürlich auch nicht. Das fügtsich nicht recht in den ersten Teil,„Heilung unerwünscht“. Außerdemkönnte man an Sonnencreme denken,was nun nicht besonders aufregendist. Und, was schwerer wiegt,liefert Klaus Martens im Film ja mindestensIndizien dafür, dass diesesMedizinprodukt der Klasse IIa, dassdiese Hautcreme irgendwie wirkenkönnte wie ein Arzneimittel, was uns<strong>zum</strong> eigentlichen Titel des Films zurückführtund uns fragen lässt: Ist diegewählte Bezeichnung Medikamentin diesem Zusammenhang falsch?Dass Kategorien wie richtig undfalsch bei der Kritik von Medienproduktenmindestens tückisch seinkönnen, wird zusätzlich illustriertdurch das, was aus dem Bundesinstitutfür Arzneimittel und Medizinprodukte(BfArM) verlautet. Das Institutschätzt, dass die Hauptwirkung derSalbe„pharmakologisch“ oder „metabolisch“sei, weswegen es mindestenswahrscheinlich scheint, dassdiese Salbe zukünftig nicht mehrvertrieben werden darf. Das wiederummacht eine 3. Variante der Titelgebungmöglich: „Wie eine Fachbehördeein Medikament verhindert!“.Dieses Spiel mit den Variantenzielt nicht darauf, den Film zu verteidigenoder die Kritik des stern zukritisieren. Sie zielt darauf zu zeigen,dass die Grenzen zwischen Wahrheitund Fälschung bei journalistischenProdukten sehr häufig nicht so klarzu ziehen sind wie es auf den erstenBlick erscheinen mag. Abhängig vonder Perspektive, kann man sicherlichvon sehr vielen Medienproduktensagen, dass sie fehlerhaft seien. Davonlegen <strong>zum</strong> Beispiel zahlreiche„Accuracy-Studies“ Zeugnis ab, indenen Fachleute die Faktentreueund Selektivität von Medienproduktenbewerten. Das Problem der zusammenfassendenBewertung desstern besteht deshalb darin, dasssie recht unspezifisch ist. Man darfdavon ausgehen, dass man – eineentsprechend eingehende Beschäftigungund eine bestimmte Perspektivevorausgesetzt – von nahezujedem Medienprodukt mindestenssagen kann, dass es Ungenauigkeiten,Weglassungen, Beschönigungenund/oder Fehler enthalte.Das Problem des Films von Martensbesteht daher aus meiner Sichtweniger darin, dass er all das genannteenthält. Die Frage, die mansich stellen muss, lautet, ab wanndie Zurichtung der Wirklichkeit fürdie Zwecke der Dramaturgie, zu derprinzipiell jedes massenmediale Produktgezwungen ist, eine bestimmteSchwelle überschreitet. Wo genauverläuft die Grenze zwischen mehroder minder erhellender journalistischerZuspitzung und reißerischerDesinformation?Es spricht eigentlich alles dafür,diesen Film für eine reißerische Desinformationzu halten! Nochmal:Nicht, weil er Fehler, Ungereimtheiten,Weglassungen oder/und Beschönigungenenthält. Das Problemdes Films von Martens ist, dass dieseUngereimtheiten, Weglassungenoder Fehler systematisch sind. DieserFilm bemisst seine realweltlichen Zutatenganz bewusst genau so, dassdaraus ein Brei wird, der nach Wahrheitschmecken soll, tatsächlich aberTrugbild ist, Fiktion. Er ist selbstverständlichkeine wahre Fiktion im SinneDantes, der in seiner Commediabehauptet, Fiktion sei jene Wahrheit,die des Truges Antlitz böte. Der Filmvon Martens ist ein Trugbild, das derWahrheit Antlitz bietet: In diesemSinne ist er einer Fälschung vergleichbar,weil er als wahr verkauft, wasgemessen an dem, was jedermannPharmakonzernen zutraut, allenfallswahr sein könnte. Weil es so gut zudem passt, was viele für wahr halten,hat dieses Trugbild gute Chancen,für wahr genommen zu werden.Erzählt wird eine Art Volksmärchen,in dem weithin geteilte Überzeugungeneiner Gesellschaft (Pharmakonzernesind übel!) in eine passendeDramaturgie gegossen werden: DasMärchen drückt aus, was sehr vieleMenschen denken. Es tritt auf dienicht eben schöne, aber edle Heldin,eine rosa Salbe, die trotz ihrer Häßlichkeitden edlen Prinzen zu gewinnensucht (6 Millionen Kranke), dafüraber Prüfungen zu bestehen hat (dieSalbe muss wirken) und mit bösenRiesen kämpfen muss, die alles zuhintertreiben suchen (die Pharmakonzerne).Im Verlauf der Handlungtreten Feen auf und Kobolde, die allesdaran setzen, die Heldin zu unterstützen– vergeblich. Die Riesen sindzu mächtig!Der Geschichte fehlt nur noch dieAuflösung. Der Heldin müsste es gelingen,trotz aller Widrigkeiten den


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>17Prinzen für sich einzunehmen. Esist witzig, dass sich das eigentlicheEnde des Märchens in der Realwelttatsächlich ereignet, und zwar weiles erzählt worden ist. Es ist dabei hiernicht von Belang, was <strong>zum</strong> Beispielder WDR über die bevorstehendeMarkteinführung der Salbe wusste.Ohne diesen Film hätte diese Salbedie Betroffenen wahrscheinlich nichterreicht, entweder weil sie niemandauf den Markt gebracht hätte oderweil Betroffene nicht so effektiv überdie Einführung informiert wordenwären. Störend ist nur, dass ausgerechneteiner der Riesen es ist, derdie Heldin <strong>zum</strong> Prinzen bringt.Dieser Film ist zweifellos ein Zeitzeugnis,eine Dokumentation vonetwas, man fragt sich allerdings, wovon.Es ist möglicherweise hilfreich,sich 200 Jahre in die Zukunft zu denkenund in die Rolle des Historikerszu schlüpfen, der die Welt im beginnenden21 Jahrhundert untersucht.Was könnte dieser Film wohl dokumentieren?Er könnte dokumentieren,welche Vorstellungen damalsallgemein geteilt wurden, was bereitwilligfür wahr gehalten wurde.Er könnte auch dokumentieren, welchenökonomischen Zwängen sichFernsehmacher damals gegenübersahen. Er könnte aber ähnlich einergefälschten Urkunde des Mittelaltersnicht dokumentieren, was er zu dokumentierenvorgibt, nämlich „WiePharmakonzerne ein Medikamentverhinderten“.Der Film ist sicher Einzelfall. Erveranschaulicht aber relativ deutlichdie Zwänge, denen sich Dokumentaristengegenüber sehen, soweitsie Filme in einem hochkompetitivenMarktumfeld erfolgreich sendenwollen. Dokumentationen sind inder Regel monothematisch, sie beanspruchenrelativ viel der knappenAufmerksamkeit des Fernsehpublikums,in Deutschland in der Regel45 Minuten. Obwohl sie so viel Aufmerksamkeitbrauchen, fehlt ihneneine überzeugende Antwort auf diefür die massenhafte Nutzungsneigungzunächst entscheidende Frage:Warum soll ich mich gerade jetztdiesem Thema so lange zuwenden?Es gibt keinen aktuellen Anlass, esgibt keine aktuelle gesellschaftlicheDiskussion. Eine Dokumentationmuss ganz aus sich selbst heraus soviel Interesse wecken, wie es ein Senderzur Erfüllung seiner Quotenzielebraucht.Dies verleitet Dokumentationendazu, eine möglichst steile These zuhaben oder ein möglichst gängigesThema, eines, wofür sich vermutlicheine sehr große Zahl von Menscheninteressiert, in der Wissenschaft istdas besonders die Archäologie, diePaläoanthropologie, auch Zeitgeschichte,Stoffe, die, soweit es diegroßen Sender betrifft, einen schmalenGrad beschreiten zwischenInszenierung und Dokumentation.Das ist in der Regel aber kein Grundfür tiefer gehende Diskussionen, esist möglicherweise tatsächlich auchnicht so bedeutsam, ob die Römer,Hunnen, Germanen, Berber, ob Ötzitatsächlich so ausgesehen und agierthaben, wie sie in Dokumentationenerscheinen?Klaus Martens Film gibt diesenökonomischen Zwängen auf beeindruckendeWeise nach. Es ist fastrührend, mit welcher Redundanz derWDR herausstellt, der Autor habeüber ein Jahr lang recherchiert. Eswird so getan, als sei die RecherchezeitIndiz für die Wahrheit der Produktion.Auch das Entwerfen vonTrugbildern braucht Zeit, vielleichtbesonders dann, wenn sie der WahrheitAntlitz bieten. ]Wunderpaste oder Quacksalbe?Seit einem halben Jahr tobt die Diskussion um die rosa Creme aus dem Fernsehen. Während kaufwilligeNeurodermitiker Apotheken überrannten, debattierten Wissenschaftsjournalisten, ob dieARD-Berichterstattung zu einseitig war. Der Rundfunkrat wird sich noch mit der Creme befassen,das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat es bereits getan. Was ist also dran ander rosafarbenen Sensationssalbe – und was ist drin?Seit einer Weile heißt sie anders:Statt Regividern muss sich die rosafarbenePaste inzwischen MavenaB12 Salbe nennen. Eine Kosmetikfirmamit ähnlich klingendemProduktnamen („Reviderm“) hattegeklagt und vor Gericht gewonnen.Die 100-Gramm-Mavena-Tube ist inApotheken zu kaufen und enthältlaut Packung Cyanocobalamin (synthetischesrotes Vitamin B12), Avocadoöl,Kalziumsorbat, Zitronensäure,Wasser, Methylglukose und Sesquistearat(Emulgator). Sie kostet 20 bis29 Euro, je nach Bezugsquelle.Die Patentrechte für die Salbe liegenbei der Remscheider Firma RegeneratioPharma GmbH, vertrieben wirddas Produkt von der Mavena HealthCare AG mit Sitz im schweizerischenBaden. Deutlich vorsichtiger beschreibtman dort inzwischen seinProdukt. Anders als in den ARD-Fernsehbeiträgen, wo noch Wortewie „Heilung“ und „Medikament“fallen durften, bietet Mavena dieSalbe inzwischen als „topische Zubereitungfür die Indikationen Psoriasisund Neurodermitis“ an.Das hat Gründe: Die Zubereitungist in Deutschland nämlich nicht alsArzneimittel oder Medikament zugelassen,sondern nur als Medizinproduktohne pharmakologischenWirkmechanismus zertifiziert, KlasseIIa. Produkte der IIa-Kategoriesind laut Medizinproduktegesetz„für eine ununterbrochene Anwendungüber einen Zeitraum von biszu 30 Tagen bestimmt“ – für eineSalbe zur Behandlung chronischerund im Prinzip nicht heilbarerHauterkrankungen wie Neurodermitisoder Schuppenflechte einungewöhnlich kurzer Zeitraum.Medizinprodukte müssen für IhreZertifizierung keine Wirksamkeitsnachweisewie ein Arzneimittelerbringen. Dass die Salbe als Medizinproduktzertifiziert ist, sagt alsonichts darüber aus, ob sie überhauptwirkt.»


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>18» Ob die B12-Salbe auch in Zukunftnoch zu kaufen sein wird, bleibtallerdings abzuwarten: Schon imHerbst 2009 hatte die zuständigeBezirksregierung Düsseldorfdas Bundesinstitut für Arzneimittelund Medizinprodukte (BfArM)nach §13 Abs. 3 Medizinproduktegeset<strong>zum</strong> Stellungnahme gebeten,ob es sich bei der rosa Pastenun um ein Arzneimittel oder umein Medizinprodukt handelt. Da esden „wirksamen Bestandteil“ VitaminB12 enthält, schien es <strong>zum</strong>indestnicht völlig abwegig, dass dervielleicht sogar arzneiliche Wirkungauf der Haut entfalten könnte.In der Tat gab das BfArM am 24.März <strong>2010</strong> eine Stellungnahme abund kommt darin zu dem Schluss,dass die Hauptwirkung der Salbe„pharmakologisch“ oder „metabolisch“sei. Damit wäre die SalbeArzneimittel und kein Medizinprodukt.Zurzeit prüft die Bezirksregierungin Düsseldorf, ob die Salbe weiterhinin Verkehr gebracht werdendarf. Das Unternehmern Mavenadarf in einem Anhörungsverfahrendazu Stellung nehmen. Zusätzlichhat die Bezirksregierung Düsseldorfbeim BfArM nach §21 Abs. 4Arzneimittelgesetz beantragt, dasBundesinstitut möge entscheiden,ob die Salbe eine Zulassung brauche.Sollte sich das BfArM balddafür ausprechen, wäre die Salbewohl erst einmal vom Markt, dennStudien, die eine Arzneimittelzulassungrechtfertigen würden,liegen bislang nicht vor: Als Medizinproduktmusste die Salbe einsimpleres Verfahren durchlaufen,als es bei einem Arzneimittel vorgeschriebengewesen wäre.Wo für die Vitamin-Paste ein TÜV-Gutachten und die Erlaubnis derLandesbehörde in Düsseldorf reichten,hätte der Hersteller eines ArzneimittelsSicherheit und Wirksamkeitin aufwendigen Studien über mehrerePhasen an gesunden wie krankenProbanden belegen müssen.Die Tests wären von Ethikkommissionengeprüft worden und ihnenwären Tierversuche vorausgegangen,bevor man das Mittel erstmalsan Menschen getestet hätte. Wünschenswertfür eine Zulassung sindklinische Arzneimittel-Studien anmehreren hundert Probanden und inverschiedenen Kliniken. In Phase IIIist es üblich, sogar an mehreren TausendFreiweilligen zu testen. Bis alleStudien vorliegen, können so zehnJahre Forschung ins Land gehen, oftkommen dabei Kosten in dreistelligerMillionenhöhe zusammen. Die Testseines Arzneimittels werden je nachZulassungsverfahren von verschiedenennstaatlichen Behörden und/ oder der europäischen AzneimittelagenturEMEA überprüft. Wichtigist, dass die Untersuchungen in ähnlicherWeise durchgeführt wurden,damit sie mit einander vergleichbarsind und erkennbar wird, ob die Datenin die gleiche Richtung weisen.Eine Zulassung wird nur erteilt, wennWirksamkeit und Unbedenklichkeitglaubhaft nachgewiesen sind.Von dazu geeigneten Studien ist dierosa Salbe weit entfernt. Es gibt etwaein Dutzend kleinerer Studien unterschiedlichsterMachart, von denenüberhaupt nur drei veröffentlichtwurden. Die restlichen wurden teilsvom Hersteller selbst in Auftrag gegeben,die Ergebnisse dann abernicht offengelegt. In den drei publiziertenUntersuchungen wurdeneinmal 13 Patienten mit Psoriasisüber 12 Wochen mit der Creme behandelt,einmal 49 Neurodermitikerüber acht Wochen und 21 Kinder(Alter 6 Monate bis 18 Jahre) mit„Ekzem“ über vier Wochen. Jede derdrei Studien kam zu dem Ergebnis,dass die Creme wirke – allerdingsan jeweils andersartigen Patientenmit anderer Erkrankung, verglichenmit unterschiedlichen Kontrollgruppen(oder gar keiner) und beurteiltanhand immer wieder anderer Fragebögen<strong>zum</strong> Hautzustand – dieohnehin anfällig sind für subjektiveBewertungen durch Ärzte wie Patienten.Unterm Strich sind die Ergebnissedieser dürftigen Untersuchungenkaum miteinander vergleichbar.Bei der Kinderstudie ist noch nichtmal klar, ob das Testprodukt der MavenaB12 Salbe entsprach.Da die Studien an vergleichsweisekleinen Probandenzahlen durchgeführtwurden, sind die Daten zudemkaum sinnvoll statistisch auszuwerten:Je kleiner die untersuchte Gruppe,desto schlechter lässt sich anhandder Zahlen abschätzen, ob ein„Effekt“ (Wirkung oder unerwünschteNebenwirkung) nun tatsächlichdem untersuchten Produkt zuzuschreibenist oder dem blanken Zufall.Von Effekten ganz zu schweigen,die in kleinen Gruppen gar nicht erstauftreten, weil sie dafür viel zu seltensind.Angesichts der dünnen Datenlagekann man sich nun aussuchen, obman die Finger von der Salbe lässtoder sich noch schnell mit Restbeständenaus der Apotheke eindeckt:Schon im Mai könnte das BfArM demCremen ein Ende bereiten.(nh)Heilung erwünscht!Wie die Medienkritik einen engagierten Film verreißtVon Karl N. RennerKeine andere Fernsehdokumentationhat in letzter Zeit derartheftige Reaktionen ausgelöst wieKlaus Martens’ Film „Heilung unerwünscht.Wie Pharmakonzerneein Medikament verhindern“,ausgestrahlt unter anderem imErsten am 19. Oktober 2009. DerFilm schildert den Fall des Erfin-


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>19ders Karsten Klingelhöller, dervor 20 Jahren seiner Freundin, diean Neurodermitis litt, mit einerCreme aus Avocadoöl und demVitamin B12 helfen konnte. ZweiStudien an der Ruhr-UniversitätBochum bestätigten die Wirksamkeitdieses Mittels, daher ließ esKlinghöller patentieren. Doch seineVersuche, das Patent in Zusammenarbeitmit einem der großenPharmakonzerne zu vermarkten,scheiterten. Er ging darüber Bankrott.Die Pharmaindustrie, so dieThese des Films, wollte dieses Mittelnicht auf den Markt bringen,obwohl es wirksam ist und deutlichweniger Nebenwirkungen besitztals die eingeführten Medikamente.Dass Industrieunternehmen keinausgeprägtes Interesse haben,fremde Erfindungen zu vermarkten,ist bekannt. Darüber beklagensich die Erfinder aus allen Branchen.Und irgendwie ist das Verhalten derIndustrie auch nachvollziehbar: Wergibt schon gerne Geld für fremdePatente aus, wenn man viel Geldin die eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilunggesteckt hat?Von der psychologischen Problematikganz abgesehen, dass einerkleinen Garagenfirma das gelingensollte, was man selbst nicht schafft.Insofern enthält die umstrittene Dokumentationnichts Neues.Genau diesen wirtschaftlichenZusammenhang rückt die SüddeutscheZeitung in den Mittelpunktihrer Programmankündigung vom19. Oktober: „Millionen von Neurodermitis-Krankenkönnte geholfenwerden – doch die Pharmaindustrieblockiert das Medikament. EineARD-Dokumentation über Profitgierund ihre Folgen.“ Da die Pharmaindustrieein bevorzugtes Objektder öffentlichen Schelte ist, gehtdas nicht ohne Polemik ab, und derFOCUS legt am 20. Oktober nach:„Die Pharmaindustrie hat sich, zusammenmit der Ärzteschaft, einenpathologisch schlechten Ruf hart erarbeitet.Der ARD-Film erweckt densolide fundierten Verdacht, dass dieseLobbygruppen sinnvolle Medikamentetorpedieren, die ihren Gewinninteressenzuwiderlaufen“Plötzlich diskutierenKritiker nicht mehrüber wirtschaftliche Motiveder Pharmaindustrie,sondern über die Aussagekraftmedizinischer StudienGut eine Woche später zählt diesesArgument nicht mehr. In derAusstrahlung von ZAPP am 28. Oktoberwird die Ankündigung derSüddeutschen als „völlig unkritisch“zerrissen. Der Beitrag von ZAPP istexemplarisch dafür, wie man denFilm inzwischen überall diskutiert. Esgeht nicht mehr um die wirtschaftlichenMotive der Pharmaindustrie,sondern um die wissenschaftlicheAussagekraft der medizinischenStudien, die Martens als Beleg inseinem Film verwendet. Diskutiertwird nicht mehr, inwieweit eineökonomisch verfasste Gesundheitsindustriedie ethischen Aspekte desHeilens berücksichtigt. Diskutiertwird, ob die statistische Signifikanzder zitierten empirischen Studienhinreichend ist, um die positiven Effektedieses Fallbeispiels zu belegen.Eine bemerkenswerte Themenverschiebungim öffentlichen Diskurs.Wie konnte es, trotz der eindeutigwirtschaftsjournalistischen Herangehensweisevon Martens zu diesemUmbruch der öffentlichen Wahrnehmungdes Filmes kommen?Sucht man nach einer Antwort,tut man gut daran, sich an die Situationim letzten Herbst zu erinnern.Die Schweinegrippe ist das Themadieser Tage. Die Schlagzeilen derBILD Zeitung verkünden Horrorszenarienmit Abertausenden vonToten. Öffentliche Gelder für Impfmittelin Millionenhöhe gehen andie Pharmaindustrie – doch kaumjemand will sich impfen lassen.„Testfall Schweinegrippe – Sind wirVersuchskaninchen der Pharmaindustrie?“,so nennt Frank Plassbergseine Sendung von „Hart aber Fair“am 21. Oktober, und da die Dokumentationdes WDR-Kollegen KlausMartens zwei Tage vorher lief, ist erals Gast mit eingeladen.Doch die Idee, die Kritik an derImpfaktion mit den Aussagen diesesFilms zu verbinden, funktioniert nichtsonderlich gut. Die Studiogäste kennenihn nicht. Bis auf einen: Prof. Dr.Beda Stadler. Chef der Immunologiean der Universität Bern, mit einer bemerkenswertenListe wissenschaftlicherPublikationen und einer ebensobemerkenswerten Anzahl vonMitgliedschaften in industrienahenBeiräten und Stiftungen, außerdemnoch bissiger Kolumnist in mehrerenSchweizer Zeitungen 1 . Er poltert los:„Herr Plassberg, was Sie hier abziehen,ist wirklich eine Schande. Wennman hier so etwas produziert undtut, wie wenn ein blödes Avocado-Öl mit etwas Vitamin B 12 drin, eineschwere Krankheit vom Erdbodenverschwinden lässt, dann ist dasBetrug.“ So eindrucksvoll diese Attackeist: Auch Penicillin war zunächsteinmal nichts anders als ein blöderSchimmelpilz, der Petrischalen verunreinigteund Bakterienkolonien<strong>zum</strong> Absterben brachte. Das besagtnoch nichts über das Avocado-Mittel,aber wegweisende Innovationenkönnen sehr trivial sein.Plassberg reagiert auf die Attackekonsterniert, er verweist auf die wissenschaftlichenStudien, die die Wirksamkeitder Creme bestätigen, undkündigt an, diese im Faktencheckvon „Hart aber Fair“ zu veröffentlichen.Damit ist Martens wirtschaftsjournalistischeHerangehensweiseaber passé. Ab diesem Zeitpunktdiskutiert man nur noch, ob die wissenschaftlichenUntersuchungender Creme ausreichen, ihre Wirksamkeitzu belegen oder nicht.Doch das ist noch nicht alles. DieFirma, die aus der Konkursmasse desErfinders das Patent für Regividerm,das ist der Markenname der VitaminB12-Salbe, erworben hat, kündigtan, dieses Mittel nicht wie zunächstgeplant erst nächstes Jahr, sondernin Kürze auf den Markt zu bringen.Auch wenn man beim WDR bedauert,davon habe man nichts gewusst:der Verdacht der Schleichwerbungsteht jetzt im Raum. Daher wird sehrschnell der Vorwurf laut, der Film seinichts anderes als eine unlautere Vermarktungsstrategiefür Regividerm.


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>20Die Kritik am Film gehtan seinem Thema vorbeiVersucht man die öffentliche Diskussion,die nun einsetzte, nachzuzeichnen,so dreht sie sich um zweizentrale Argumente. Das sind <strong>zum</strong>einem die Vorwürfe, der Film und dasBuch <strong>zum</strong> Film seien Bestandteil einerMarketing-Kampagne, und <strong>zum</strong>anderen sind das die Zweifel an derwissenschaftlichen Qualität der vorgelegtenStudien.Der Vorwurf, Martens habe mitseinen Publikationen Schleichwerbungfür ein Medikament machenwollen, erscheint wenig plausibel,wenn man weiß, dass er seit JahrenFilme über die Machenschaften desKölner Klüngels dreht. Journalisten,die über dieses Metier berichten,können sich keine Eskapaden leisten,sonst sind sie weg vom Fenster. Dennoch:Aufklären lässt sich ein derartigerVerdacht nur im Rahmen internerUntersuchungen der zuständigenRundfunkanstalt. Wie der WDR aufNachfrage bestätigte, kam die Sachedort im Februar vor den Rundfunkrat.Weitere Informationen waren nichterhältlich, da es sich um den nichtöffentlichenTeil der Sitzung handelte.Aber die Tatsache, dass Klaus Martensnach wie vor für den WDR tätigist, ist ein deutliches Indiz dafür, dassdieser Verdacht entkräftet wurde.Die Studien zu beurteilen, die zurWirksamkeit des Heilmittels durchgeführtwurden, setzt solide Fachkenntnissevoraus und ist daher zunächsteinmal eine Sache der Experten.Hier zitiert ZAPP den Pharmakologen,Prof. Schönhöfer, der sagt, dieProbandenzahl sei zu gering, um dieWirksamkeit des Mittels überzeugendnachzuweisen. Das muss manzunächst einmal akzeptieren. Dennochsind diese Studien damit nichtvom Tisch. Erinnert man sich nämlichdaran, dass dieser Film kein wissenschaftsjournalistischer,sondern einwirtschaftsjournalistischer Beitrag ist,dann ist die Tatsache, dass es sich beidiesen Untersuchungen um explorativeStudien handelt, ganz anders zubewerten. Denn die entscheidendeFrage lautet dann nicht mehr: Bele-gen diese Studien die Wirksamkeitdes umstrittenen Mittels? Sondern:Reichen die Ergebnisse dieser Studienaus, um weitere Untersuchungenzu rechtfertigen, die für eine wirtschaftlicheVerwertung des Mittelsnotwendig sind?Diese Frage lässt sich beantworten,ohne Spezialist zu sein. Mit eindeutigemErgebnis. So ziehen Stücker u.a., die an der Uni Bochum die erstenUntersuchungen durchführten, folgendesFazit: „The results of this clinicaltrial provide evidence that the recentlydeveloped vitamin B12 creamcontaining avocado oil has considerablepotential as a well-tolerated,long-term topical therapy of psoriasis.”.Veröffentlicht wurde das nichtirgendwo, sondern in der ZeitschriftDermatology (2001: 147). Einer internationalanerkannten Fachzeitschriftfür klinische Forschung und Grundlagenforschungin der Dermatologie.Noch bemerkenswerter ist, wie sichim Film verantwortliche Mitarbeitervon Pharmafirmen zur Qualität derSalbe äußerten. Dr. Schettler, vonWhyett Pharma in Münster sagt, erhabe das Mittel vorgeschlagen. DerKonzern wolle es nicht, weil es nichtins Konzept passe. Er würde es machen.Dr. Knirsch von Merck darfzu diesem Thema nichts sagen, derKonzern erlaubt es ihm nicht. Aber erhat die erhaltenen Proben an seinenSohn weitergegeben, der sie mit gutemErfolg benutzt, um seine Neurodermitiszu lindern.Doch seit dem denkwürdigenAuftritt von Prof. Stadler spielt dieseArgumentation in der öffentlichenDiskussion keine Rolle mehr. Warum?Fest steht: Wie bei der Schweinegrippegeht es auch hier um sehr viel Geld.Eine Studie, die PricewaterhouseCoopers<strong>zum</strong> erwartbaren wirtschaftlichenErtrag von Regividerm erstellthat, spricht von einem Marktvolumenvon knapp eine Milliarde Dollar. Dassin einem solchen Umfeld Lobbyistenam Werke sind, liegt auf der Hand.Doch all den Verschwörungstheorien,die zu Regividerm inzwischen imNetz grassieren, soll hier keine weiterehinzugefügt werden. Viel wahrscheinlicherist, dass Prof. Stadler dieGunst der Stunde gekonnt genutzthat, um mit einem Red Herring vonder Schweinegrippe abzulenken.Dass damit auch die Diskussion umdie Verwendung von Vitamin B12 zurBehandlung von Neurodermitis vomTisch war, war vermutlich nur ein angenehmerNebeneffekt.Es ist peinlich,wie die Medienkritikelementare RechercheregelnmissachtetPeinlich allerdings, wie die Avantgardeder deutschen Medienjournalistenin ihren Beiträgen <strong>zum</strong> Filmvon Martens auf diese PR-Aktion abgefahrenist und wie sie dabei die elementarstenjournalistischen Regelnmissachtet hat. Dass man Quellenauf ihre Glaubwürdigkeit überprüfensollte, scheint hier überflüssig zu sein– und das in diesem Umfeld.So beruft sich Stefan Niggemeyerin seinem Blog <strong>zum</strong>„Wundersalbenmassaker“ 2 zunächstauf den „anonymen (sic!) Pharma-Blogger „Hockeystick” und dann aufden Blog „Principien“ von DavidBeck wer mert, der seine Stellungnahmezu Martens Film folgendermaßenbeginnt: „Ich habe den Beitrag nichtgesehen […] würde dazu aber dochganz gerne mal etwas schreiben.“ 3ZAPP 4 vergisst beim Filmausschnittmit dem denkwürdigen Auftritt vonBeda Stadler einen Hinweis auf dessenNebentätigkeiten und überlässtdas letzte Wort der Sendung ThomasSchwennesen, der hier als Vertreterdes Deutschen Neurodermitis Bundesfirmiert. Darüber hinaus ist er abernoch Vorsitzender von zwei weiterenSelbsthilfeorganisationen und Inhaberdes Projekt Media Verlags 5 . Dassauf der Homepage des DeutschenNeurodermitis Bundes eine eindeutigeEmpfehlung des Neurodermitis-Mittels Elidel zu finden ist, das vonNovartis auf den Markt gebracht wurde,kann da nicht mehr überraschen. 6Dabei wäre ZAPP auf diesen Patientenfunktionärgar nicht angewiesengewesen, denn bereits vier Tage vorder Sendung war die nüchtern argumentierendeErklärung der „PsoriasisSelbsthilfe Arbeitsgemeinschaft“ im


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>21Netz, die mit der Kritik an Martensnicht zurückhält, aber dennoch <strong>zum</strong>Ergebnis kommt: „Man merkt, dassder Autor mit viel Engagement undHerzblut einen Fall darstellt, den erselbst unerträglich findet. Der Beitragengagiert sich für die Sache derPatienten und klärt auf.“ 7]1 http://www.immunology.unibe.ch/wiki/Files/cv_beda_stadler_2008.pdf2 http://www.stefan-niggemeier.de/blog/das-wundersalbenmassaker/3 http://principien.de/2009/10/21/die-supersalbe-regividerm/4 http://www3.ndr.de/sendungen/zapp/archiv/medien_wirtschaft/salbe102.html5 http://www.schwennesen.de/6 http://www.neurodermitis-bund.de/im_fokus.php7 http:// www.psoriasis-selbsthilfe.org/component/content/article/36/68.htmlProf. Dr. Karl N.Rennerist seit 1995 Professorfür FernsehjournalismusamJournalistischenSeminar der UniversitätMainz. Erhat zuvor als freierFilmautor und Fernsehjournalist für denBayerischen Rundfunk und das MagazinEINS PLUS WISSENSCHAFT vonARD EINS PLUS gearbeitet.Die dpa wertet die Wissenschaft aufMit dem Umzug nach Berlin reorganisiert sich die größte deutschePresseagentur grundlegend. Das hat Folgen, auch für die Wissenschaft.Das <strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong> sprach mit der neuen Chefin der künftigeigenständigen „Redaktion Wissen“, Silvia Kusidlo.Was verändert sich bei der dpamit dem Umzug nach Berlin?Die Veränderungen sind <strong>zum</strong> Teilgrundsätzlicher Art. Beispielsweisein der Politik: Es gibt heute ein Ressortfür internationale Politik undein Ressort Politik Deutschland.Das wird künftig gebündelt in einergroßen Redaktion. Es wird in Berlinauch eine Art Task Force geben.Dabei kommen bei großen ThemenFachkräfte aus mehreren Redaktionenan einem Sondertisch zusammen.Ein Topthema wie die Schweinegrippekönnte künftig von einersolchen Task Force bearbeitet werden.Da sitzt dann jemand von derWissenschaft, da hilft ein Redakteur,der sehr versiert ist auf demFeld der Gesundheitspolitik, undda könnte auch ein guter Reportageschreibersitzen. Es wird dannsehr enge Absprachen mit Grafikund Foto geben. Das Team kannsomit ein veredeltes, noch besseresProdukt als heute anbieten. Ebenfallsneu ist unter anderem ein internesNachrichtenportal, das denKunden die Topthemen präsentiertsamt Fotos und Grafiken. Einer derwichtigen Punkte dabei ist, dassdie Kunden ihre Anregungen oderKritik dort in einem Kommentarfeldhineinschreiben können und direktauch eine Antwort bekommen vonder entsprechenden Redaktion.Heute ist es manchmal schwierig,gleich den richtigen Ansprechpartnerbei der dpa zu finden. Dassoll in Zukunft alles ein bisschengeschmeidiger gemacht werden –und kundenfreundlicher.Silvia Kusidlo wird künftig die neueWissens-Redaktion der dpa leiten.Welche Veränderungen kommendenn auf die Wissenschaftsredaktionzu?Es war lange Zeit so, dass dieWissenschaft mit zwei Redakteurenbesetzt war und dann um eine Personaufgestockt worden ist. Heutebesteht das Team aus SimoneHumml, Till Mundzeck sowie ThiloResenhoeft für das Dossier Wissenschaft.Künftig wird eine Stellehinzukommen, nämlich meine. DieWissenschaft ist derzeit ein Teilbereichdes Ressorts Vermischtes,d.h. wir haben das Kernvermischteund drumherum wie Satelliten dreiFachtische: die Kultur, die Medienund eben die Wissenschaft. Daswird in Berlin anders sein. Die Wissenschaftsredaktionwird dann eigenständigund künftig „RedaktionWissen” heißen.Wir werden ein etwas anderesKonzept in Berlin verfolgen, alleRedaktionen sollen flexibler undbesser vernetzt arbeiten. Einenbestimmten Prozentsatz unsererArbeit stellen wir auch anderen Redaktionenzur Verfügung, nach demMotto: Immer da, wo es brennt, istauch Unterstützung willkommen.Umgekehrt natürlich auch: Wennes in der Wissenschaftsredaktionbrennt, dann bekommen wir auchHilfe. Unterm Strich bedeutet das,dass wir nicht mehr an reiner Arbeitszeithaben werden. Wir könnenalso nicht die Quantität steigernund mehr Texte anbieten. Aber wirerwarten andere positive Effekte.Das betrifft die Redaktion Wissenebenso wie andere Teams.Und was genau versprechen siesich?Eine stärkere Vernetzung fördertfrühzeitige Planungen, bündelt Expertenwissenund kann somit die


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>22Qualität steigern. Also im Momentmuss man sich das so vorstellen:dpa hat drei Haupt-Standorte. Dassind die Bildredaktion in Frankfurt,die Zentrale des Basisdienstes inHamburg und das Ressort PolitikDeutschland in Berlin. Zusätzlichhaben wir noch Tochterunternehmen,<strong>zum</strong> Beispiel die Grafiker oderden Themendienst für Ratgeberstücke.Sie sitzen in Hamburg, aberin anderen Gebäuden als die Basisredaktionen.Kur<strong>zum</strong>: Derzeit sindwir relativ verstreut.Das Ziel besteht nun darin, allean einem Standort in einem Newsroomin Berlin zu vereinen. Alsokonkret für die Wissenschaft bedeutetdas, dass die Zusammenarbeitmit der Politik beispielsweiseintensiviert werden kann. Das geschiehtjetzt telefonisch, aber mankann sich ja vorstellen: Wenn manin einem großen Raum gemeinsamarbeitet und es geht um die Klimakonferenzoder die Stammzellforschung,das dann Kurzkonferenzenund Absprachen mit Kollegen vielbesser zu bewältigen sind als überden umständlichen Dienstmeldungswegoder das Telefon. Mankann schneller auf Themen reagierenund besser crossmedial zusammenarbeiten.Dann sind auch dieAbsprachen etwa mit Grafik, Fotooder Audio- und Video einfacher.Das alles lässt sich besser bewerkstelligen,wenn man in einem großenNewsroom direkten Kontakthat.Wenn ich Sie richtig verstehe,wird die Wissenschaft innerhalbder dpa also moderat aufgewertet.Wie wirkt sich das praktischaus?Die Wissenschaft ist künftigselbstständig, was den positivenEffekt hat, dass wir <strong>zum</strong> Beispielauf allen Konferenzen eigenständigvertreten sind. Ich erhoffe mirdavon, dass wir unsere Anliegenbesser als bisher einbringen können.Und auch die Wissenschaftwird von der stärkeren Vernetzungprofitieren, beispielsweise bei Forschungsthemenan der Nahtstellezur Politik. Thematisch wird dieRedaktion Wissen übrigens künftigauch den Bereich Raumfahrt komplettbearbeiten und möchte diesesThemenfeld qualitativ aufwerten.Was sind denn Ihre Anliegen?Mein Anliegen besteht im Wesentlichenaus zwei Punkten: Zumeinen dürfen wir kein „Elfenbeinturm-Dasein“führen. Das ist zwarderzeit auch nicht der Fall, aber wirmüssen noch präsenter sein. Sobaldes im weitesten Sinne um Wissensthemengeht, dann wollen wirgehört werden. Wir möchten keinEigenleben führen.Mein zweites Anliegen ist die Förderungdes journalistischen Nachwuchsesbei der dpa. Wie sicherlichauch in anderen Häusern, beobachtenwir immer wieder eine Scheuvor Wissenschaftsthemen. Viele Volontäreund Redakteure wagen sichan solche Themen nicht heran. Ichfände es schön, wenn man stärkerauch den journalistischen Nachwuchsan die Wissenschaftsberichterstattungheranführt. MeinerAnsicht nach sollte jeder Redakteurin der Lage sein, <strong>zum</strong> Beispiel überneue AIDS- oder Grippezahlen zuberichten. Deshalb ist es mir wichtig,dass die Redaktion Wissen eineeigenständige Volontärstation beidpa wird. Jetzt kommen zwar auchschon einige Volontäre in die Wissenschaft,aber meist nur kurz undviele kommen gar nicht.Außerdem wünsche ich mir wiedermehr Praktikanten im Wissenschaftsbereich.Früher gab es regelmäßigPraktikanten, von denenheute viele gestandene Wissenschaftsredakteuresind. Das stärktnatürlich die Kundenbindung. Dieswill ich gern wieder aufleben lassen.Daher möchte ich Werbungmachen! Wer bereits praktische Erfahrungenim Wissenschaftsjournalismusgesammelt hat und das nochausbauen möchte, der kann sicherlichvon einem dpa-Praktikum profitieren.Mit Hilfe der Volontärsausbildungbei Ihnen dürfte sich die Scheu derRedaktion vor der Wissenschaftaber nur langfristig vermindern.Ist es denn zukünftig geplant,dass über den Tisch der RedaktionWissen alles geht, was von Redakteurenanderer Ressorts gemachtwird und Wissenschaftsbezug aufweist,etwa so wie bei der New YorkTimes?Nein, das ist bei der dpa so nichtgeplant. Es gibt ja viele Themen, diefür den Basisdienst nicht interessantsind, weil sie zu regional angelegtsind. Und ich muss einräumen,dass wir personell überfordert wären,würden wir auch solche Themenmit betreuen. Das, was für denBasisdienst in irgendeiner Form relevantist, das geht immer über unserenTisch. Aber eine Hochschul-Pressemitteilung, die nur für einenLandesdienst von Interesse ist, könnenwir nicht bearbeiten.Gut, aber bleiben wir mal beimBasisdienst: Die Korrespondenten,die <strong>zum</strong> Beispiel aus demBundestag berichten über einThema mit Wissenschaftsbezug,geht das automatisch über IhrenTisch oder sind die Redakteurelediglich gehalten, sie einzubinden,wenn Sie unsicher sind oderdergleichen?Das ist unterschiedlich. In derRegel werden die Wissenschaftskollegenbei Fachfragen oder Abspracheneingebunden, manchesThema läuft aber auch komplettüber die Wissenschaft. Das war <strong>zum</strong>Beispiel bei der Schweinegrippeoft der Fall. Bei diesem komplexenThema war die Fachkompetenz derWissenschaftskollegen gefragt, diezudem einen riesigen Meldungsstromaus aller Welt kanalisierenund zusammenfassen mussten. InBerlin wird es aber leichter sein,wenn ein Kollege etwa bei einembundespolitischen Thema mit Wissenschaftsbezugsagt: „Kannst dumir bitte mal über die Schulterschauen, ob die Erklärung hier imText fachlich korrekt ist.“Ich möchte noch mal zurückkommenauf das, was sie über denElfenbeinturm gesagt haben. Sieselbst sagen, dass sie noch nieElfenbeinturmthemen gemachthaben. Aber sie suchten ja schonnach Nachrichten in Science, Natureoder anderen Fachpublikationen.Das Dossier von dpa hatja diesen Charakter, das zielt jaauch primär auf Wissenschafts-


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>23ressortseiten ihrer Kunden. Sollsich daran etwas ändern?Nein, „Nature“ oder „Science“werden ja nicht nur für das DossierWissenschaft, sondern auch für denBasisdienst ausgewertet. Da müssenwir gar nichts verändern! Da machenwir ein sehr gutes Angebot und dieMischung stimmt. Diese Meldungenhaben sehr gute Abdruckerfolge. Dahaben die Kollegen – ob im aktuellenDienst oder im Dossier – ein exzellentesHändchen.Das Dossier Wissenschaft hat 80Kunden und erscheint wöchentlich.Die wöchentliche Erscheinungsweiseist, wenn man ehrlich ist, einbisschen veraltet. Deshalb ist geradeeine Online-Variante in der Testphase,bei der Meldungen gesendetwerden, sobald sie fertig sind.Das neue Domizil der dpa im Herzen Berlins. Hier wird Deutschlands größteNachrichtenagentur künftig ihre Ressourcen konzentrieren.Wenn ich das, was sie über dieVernetzung mit anderen gesagthaben, richtig deute, wollen sieaber künftig schon Themen, diegar nicht primär der Wissenschaftentstammen, aber Wissenschaftsbezugaufweisen, durch wissenschaftlicheExpertise aufwerten.Das ist ja eine ziemlich weitreichendeSache, weil es ja nichtsweniger erfordert als einen Perspektivenwechsel.Sie wollen jazusätzlich stärker an Themen ran,die nicht originär aus der Wissenschaftkommen. Wie wollen Siedas denn konkret machen?Ich muss sagen, dass das prinzipiellkeine Entwicklung ist, die wirfür die Zukunft anpeilen. Das machenwir jetzt auch schon. Ich hoffeaber, dass wir das noch etwas ausbauenkönnen – in einem gewissenRahmen. Das fängt schon bei Planungskonferenzenan, auf denenwir vielleicht etwas mehr zu demeinen oder anderen Thema aus wissenschaftlicherSicht beisteuernkönnen.Ich möchte noch mal nachhakenund etwas provozierend nachdem Konzept dieser Art von Berichterstattungfragen, die Sieda allgemein entworfen habenund die in dieser Allgemeinheitauch sehr plausibel klingt. Aberwenn ich das ernst nehme undetwas konkreter werde, dannwürde ich es als erstrebenswertansehen, wenn die Wissenschaftaufschreit, sobald in Berlin wiederirgendeine Sau durchs Dorfgetrieben werden soll, obwohles wissenschaftliche Expertisegibt, die, um im Bild zu bleiben,diese Sau als solche entlarvt, weilein Vorschlag, gemessen an dem,was an wissenschaflicher Expertisevorliegt, am Kern der Sachevorbeigeht oder schlicht unrealistischist oder dergleichen. DasProblem mit dieser Expertise bestehtaber darin, dass Sie nichtauf der Straße liegt. Sie müsstenaktiv Informationen beschaffen,die niemand von sich aus publikgemacht hat. Ich möchte mal etwasprovozierend fragen, ob soetwas die dpa nicht überfordert,deren Tätigkeit aus meiner Sichtvor allem darin besteht, aus einemPool verfügbarer PR-Mitteilungenjene auszuwählen, die<strong>zum</strong> Zeitpunkt x relevant sind?Wenn ich sie richtig verstehe,meinen Sie so eine Art investigativenJournalismus.Ja, wenn sie so wollen. Das hatetwas Investigatives. Aber ichscheue vor diesem Begriff zurück,weil da jeder gleich an Watergatedenkt und an Informationen, diegeheim sind. Und das genau istbei dieser Art von Expertise, dieich meine, nicht der Fall. Aber esist schon investigativ in dem Sinne,dass hier Journalisten Informationenbeschaffen, von denenkein Mensch wollte, dass sie publikwerden, weil keine organisiertenInteressen dahinter stehen.Das sind deshalb keine Geheimnisse.Sie lassen sich aber ebennicht mit den gängigen dpa-Routinen– „Pressemitteilung kommtrein, nehme ich oder nehme ichnicht“ – bearbeiten.Was die Wissenschaft betrifft,wäre das eine Überforderung. Damüsste man wirklich so viel Manpowerhaben und so viel Recherchekapazitäten,das sprengt unserenRahmen. Ich sehe dpa in Ihremskizzierten Bild aber eher in derMitte: dpa schlägt keinesfalls nurPressemitteilungen um, sondernwir schieben sehr viele Themenan und haben etliche Exklusivmeldungenquer durch alle Ressorts.Aber wir werden mit unserem Wissenschaftsteamvermutlich keinenForscherskandal aufdecken oderextrem aufwendige Recherchenbetreiben und dabei unsere täglicheBerichterstattung <strong>zum</strong> Unmutvieler Kunden vernachlässigen. Wirsind eine Nachrichtenagentur mitbegrenzten Bordmitteln, aber einerhoch motivierten Mannschaft, dieihr Bestes gibt.]Mit Silvia Kusidlosprach Markus Lehmkuhl


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>24Das Online-ExperimentDRadio WissenSeit Januar <strong>2010</strong> ist der dritte Ableger des Deutschlandradiosauf Sendung: Der Kanal spricht auf sämtlichendigitalen Verbreitungswegen vor allem Studenten unddie Generation Internet an.Von Christian EßerSo hört es sich also im digitalenGeburtskanal an: Es scheppert metallisch,dazu ein verzerrtes Geräusch,als würde ein Tonband inder falschen Geschwindigkeit abgespult,eine Frau, wie von fern,haucht: „Deutschlandradio Wissen“.Ein letzter elektronischerTusch, dann – nach einer winzigenPause – ertönt glasklar eine andereweibliche Stimme: „Ja, da sind wir,liebe Freunde der niveauvollen Radiounterhaltung!“Geburtstag: 18.Januar <strong>2010</strong>, 6 Uhr morgens.In den ersten zehn Sekunden desneuen Senders klingt schon an, wasDRadio Wissen ist, was es will undwen es anspricht: Ein digitales Radiolabor,in dem auf unterhaltsame, aberniveauvolle Art und Weise einem jungenPublikum Informationen dargebotenwerden sollen. Entsprechendsind die Musikfetzen, die Stefan Kozallaalias „DJ Koze“ entwickelt hat:Da wird noch geklöppelt und mitTönen experimentiert, daselektronische Zwischenergebnisverkraften dieam besten, die mit einemComputer groß gewordensind. Die weibliche Stimmestammt von Rebecca Link,eine von mehreren Moderatorinnenund Moderatoren,die auch schon für dasJugendradio EINSLIVE aufSendung gegangen sind.Sie duzt die Hörer, die lockereAnsprache klingt sogar nicht nach Deutschlandradio.„Lebendig, spielerisch und nichtzu jeder Tageszeit todernst“ soll derSenderstil nach Willen des Deutschlandradio-ProgrammchefsGünterMüchler sein. Redaktionsleiter RalfMüller-Schmid wünscht sich „ein heiteresHerangehen an die Dinge, auchan die Wissenschaft“. Vom leichten,charmanten und teilweise ironischenStil angelsächsischer und amerikanischerProgramme könne man inDeutschland noch einiges lernen.Allerdings ging gleich am ersten Sendetagein wohl ironisch gemeinterSchuss nach hinten los. Unter demTitel „Was hält die Zukunft für DRadioWissen bereit?“ darf der „geprüfteAstrologe des deutschen Astrologenverbandes“Jan Reimer einen Blick indie Sterne wagen und „ein richtigesHoroskop“ erstellen. Nach längererInterviewzeit dann das wenig überraschendeErgebnis: „Bildung, Wissenund Horizonterweiterung“ lasse sichaus dem Horoskop ablesen, verkündetder Astrologe. Enttäuscht undverständnislos wandten sich einigeHörer ab, in den Blogs machte schondas böse Wort „Fehlstart“ die Runde.Sollte das Astrologiethema mit einemAugenzwinkern zu verstehengewesen sein? „Das war nicht nur einAugenzwinkern, das war schon einheftiges Klappern mit den Lidern“,sagt Ralf Müller-Schmid. Er nehmedie Kritik aber gerne an. Sie spiegeleeine hohe Erwartungshaltung, diean den neuen Sender herangetragenwird, und helfe beim ständigen Entwicklungsprozessweiter.Wer hinter DRadio Wissen ein Sammelsuriumaus Beiträgen á la „ForschungAktuell“, „Wissenschaft imBrennpunkt“ und „Campus & Karriere“vermutet hatte, hört sich getäuscht.Auch wenn immer mal wieder Beiträgedieser Formate eingebaut werden,bleibt die grundsätzliche Ausrichtungeine andere. Das hat mit einem weitergefassten Wissensbegriff zu tun,der auf der Homepage folgendermaßenbeschrieben wird: „Wissen, das istnicht nur Wissenschaft. Wir senden,was hilft, die Welt in ihrer Vielfalt zuverstehen.“Neben Wissenschaft finden auchPolitik, Kultur, Medien und Vermischtesein Plätzchen im Programmschemades Senders. Zwischen sechs Uhr morgensund sechs Uhr abends geben dieviertelstündlichen Nachrichten (WeltundWissensnachrichten wechselnsich ab) den Takt vor. Sie unterteilendie Stunden in thematisch getrennteQuadranten: „Agenda“, „Natur“, „Medien“,„Globus“, „Kultur“ etc. Das ThemaInternet nimmt eine dominante Rolleein. Da gibt es den „Netzreporter“, die„Webschau“ und auch durch alle anderenQuadranten spinnt das weltweiteNetz seine Fäden. Das ist nicht weiterverwunderlich, schließlich richtet sichdas Programm an eine Generation, fürdie das Internet <strong>zum</strong> Über-Mediumgeworden ist. Das World Wide Webist für DRadio Wissen Hauptverbreitungsweg,Thema und– über den eigenen Blogsowie Foren – Empfangsstationzugleich.Werktags zwischen 18.30und 20 Uhr wagt DRadioWissen ein interessantesExperiment. In der„Redaktionskonferenz“plaudern einige der gutein Dutzend Redakteure– die meisten zwischen25 und 35 Jahre – überdie Themen der vergangenenund der nächstenSendungen. Was war gut,was ist verbesserungswürdig? Hörerkommen zu Wort und Gäste häufigzu Gesang. Ein Experiment, das oftfunktioniert und Spaß macht, hin undwieder aber auch daneben geht undsich dann anhört wie belangloser Bür-


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>25gerfunk. So ist das mit Experimenten.Im „Radiolabor der Zukunft“ (Müchler)sind Vorführeffekte eingeplant.Der Quadrant mit dem Titel „MeineZukunft“ richtet sich an junge Menschen,die vor der Berufswahl stehenund an Studenten, die sich mitveränderten Bildungsbedingungenauseinandersetzen müssen. WahreUniversitätsatmosphäre kommt wochentagszwischen 20 Uhr und 21 Uhrin der Sendung „Hörsaal“ auf. Hier findenalso Vorlesungen statt, meist zuden Themen Philosophie, Psychologieund Rechtswissenschaften. Das istauch etwas für die „älteren Semester“und wie im echten (Studenten)Leben:Mal gähnend langweilig, mal geht dieZeit ganz schnell rum.Das Budget von DRadio Wissenfällt vergleichsweise gering aus: 6,9Millionen Euro pro Jahr stehen fürdas Online-Experiment zur Verfügung.Bei einem Deutschlandradio-Gesamthaushalt von knapp 203 MillionenEuro (Stand 2008) macht daseinen Anteil von nur drei Prozent.Im Vergleich zu den beiden VollprogrammenDeutschlandfunk undDeutschlandradio Kultur brauchtDRadio Wissen aber auch nicht viel.Aus der Not, ein 24-Stunden-Programmfüllen zu müssen, versuchtDRadio Wissen eine Tugend zu machen,indem es Eigenproduktionenaus dem schier unerschöpflichenFundus der Deutschlandradiofamiliemit Sendungen anderer Programmemischt: Hier etwa „Forschung aktuell“,da eine halbe Stunde „IQ“ vom BayrischenRundfunk und auch ein paarexotischere Zutaten wie Programmteiledes Schweizer Radios DRS, RadioFrance und BBC Radio 4 (mit denSendungen „Thinking Allowed“ und„Material World“) sind dabei. „Wir behauptenja gar nicht, dass die bestenWissenssendungen ausschließlich inden Köpfen unserer Redakteurinnenund Redakteure entstehen“, erklärtGünter Müchler, „sondern ein Wissensprogrammmuss offen sein, offen fürdas beste aus der Welt des Wissens“.Ein Experiment. Den Programmverantwortlichenist klar, dass ihnendie ganze Chose um die Ohren fliegenkann – <strong>zum</strong>indest theoretisch.Denn die Quote ist zwar wichtig, abernicht die Hauptsache. Ebenso wichtigist es, Erfahrungen mit einem neuenFormat zu machen, selbst zu lernen,um zukunftsfähig zu bleiben. Ein Experiment– bei dem alle hoffen, dassder Radiofunke überspringt. ]Christian Eßerist Wissenschaftsjournalistundarbeitet in der<strong>WPK</strong> Geschäftsstellein Bonn.Stipendien für Wissenschaftsjournalisten im AuslandWarum in der Nähe bleiben, wenn das Gute liegt so fern? Im Ausland können WissenschaftsjournalistenGeschichten finden, Kontakte knüpfen – und auch mal abschalten.Von Christian Eßerte aus dem Berufsalltag ausklinkenmöchte oder kann, hat – vor allemin den USA – einige andere Möglichkeiten.Da gibt es <strong>zum</strong> Beispiel die sogenannten Bootcamps am MIT, dieebenfalls von der Knight Foundationfinanziert werden. 15-20 Wissenschaftsjournalistendiskutieren eineWoche lang intensiv mit Professorenund Fachjournalisten zu wechselndenThemen wie Nanotechnologieoder Hirnforschung. Nicht weit wegvon Cambridge – in Woods Hole –bieten zwei verschiedene Meeresforschungseinrichtungen(s. Kasten)jeweils ein- bis zweiwöchige Intensivkursefür Wissenschaftsjournalistenan, um einmal in die Arbeitswelteines Meeresforschers abzutauchen.Es existieren viele Namen für Programme,die im Prinzip für die gleicheSache stehen: Bei „Hands-on labexperiences“ oder bei der „journalistin-residence“werden Journalistenvon Universitäten oder ForschungsmiertenForschern Stammzellenanalysieren und sich mit Journalistenkollegenaus anderen Ländernaustauschen. Zwei Jahre später reisteder freie Wissenschaftsjournalist SaschaKarberg als Knight-Fellow an dieamerikanische Ostküste – und nahmseine Frau sowie seine drei Kindergleich mit (siehe Interview in dieserAusgabe).Allerdings ist es für deutscheWissenschaftsjournalisten nicht ganzleicht, einen der begehrten Knight-Fellowships zu bekommen. DieHälfte der zehn bis zwölf Plätzewird an US-amerikanische Staatsbürgervergeben. Neben der allgemeinenQualifikation (drei Jahrewissenschaftsjournalistische Berufserfahrung)muss der Bewerber zudemeine gehörige Portion Glückhaben, denn die Gutachter wählendie Fellows auch danach aus,ob er oder sie in die Gruppe passt.Wer sich nicht gleich neun Mona-Im Paradies für Wissenschaftsjournalistengibt es keine Deadlines, keinenneuen „Durchbruch“, der schnellzu Papier gebracht werden müsste.Stattdessen: Offene Labortüren, Gesprächemit den klügsten Köpfen derwissenschaftlichen Welt, ein reichhaltigesStudienangebot und vor allemviel Zeit. Es ist verboten zu arbeitenund bekommt dafür noch Geld.„Das waren wirklich paradiesischeZustände“, erinnert sich RichardFriebe. 2006 war er „Knight-Fellow“am MIT in Cambridge. Jedes Jahr ermöglichtdie Knight Foundation biszu zwölf Wissenschaftsjournalisteneinen neunmonatigen Aufenthalt.Sämtliche Angebote des MIT undder Harvard University stehen denKnight-Fellows offen. Bis auf einenPflichtkurs konnte Richard Friebewährend seines Sabbaticals tun undlassen, was er wollte: Sich mal in dieWissenschaftsgeschichte vertiefen,Sprachkurse belegen, mit renom-


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>26einrichtungen dazu eingeladen, eineZeitlang vor Ort zu verbringen, umzu einem bestimmten Forschungsthemaden Wissenschaftlern überdie Schulter zu schauen und mit ihnenzu diskutieren. Auch ausländischeJournalisten, die die jeweiligeSprache gut beherrschen, sind gernegesehen. Und nicht nur die Journalistenkönnen von diesen Programmenprofitieren. In vielen Fällen lernenauch die Wissenschaftler einiges imUmgang mit Medien, weil die Journalistenim Gegenzug ein kleinesTraining abhalten.„Probleme beim Umgang zwischenJournalisten und Wissenschaftlern“heißt der Vortrag, denBrigitte Röthlein am Kavli Institutefor Theoretical Physics (KITP) haltenwird. Für zwei Monate ist die MünchenerWissenschaftsjournalistin amKITP im kalifornischen Santa Barbara„journalist-in-residence“. Nach eigenenAngaben ist sie ist die ersteDeutsche, die an dem Programmteilnimmt. Die regelmäßig dort stattfindendenWorkshops mit renommiertenForschern aus aller Welt hattesie ursprünglich motiviert, einmal„über den Tellerrand“ zu schauenund sich ins Ausland zu begeben. Inden nächsten Wochen darf sie sich –ganz ohne Produktionsstress – quasiin einer anderen Welt aufhalten undExperten zu ihrem Recherchethema„Exoplaneten“ befragen. Natürlichwürde das Institut es gerne sehen,wenn es bei der Berichterstattungvon Röthlein wohlwollende Erwähnungfindet – Voraussetzung für dasProgramm ist es aber nicht. Den Stipendiatenwerden die Reisekostenerstattet und für bis zu fünf MonateUnterkunft sowie ein Taschengeldgewährt.Während einige Stiftungen mehrereJahre an Berufserfahrung voraussetzen,richten sich andere vor alleman junge Journalisten. Das „AmericanCouncil on Germany“ (ACG) unterstütztmit dem McCloy-FellowshipJournalisten, die noch am Anfang ihrerKarriere stehen. McCloy-Fellowskönnen bis zu drei Wochen durchEuropa oder die USA reisen, um zueigenen Themen zu recherchieren.Ralf Krauter hat Ende 2008 mit Hilfedes Stipendiums die Protagonistendes Cleantech-Booms im Silicon Valleybesucht. Die Reise hat sich für ihngleich mehrfach bezahlt gemacht:Neben dem Flug in die USA gab esein Tagesgeld von heute 200 Dollar.„Und nach der Rückkehr hatte ichDutzende spannende Geschichtenim Gepäck“, erzählt Ralf Krauter. ImVorfeld steht allerdings eine MengeArbeit an: Die Stiftung verlangt einemehrseitige Projektskizze, ein Motivationsschreiben,einen Lebenslaufund zwei Empfehlungsschreiben.Wer überzeugt, bekommt seinenTerminkalender richtig vollgepackt:„Zwei Interviews oder Hintergrundgesprächepro Tag werden schonerwartet“, warnt Krauter. „Und umvor der Abreise alle Termine zu organisierenund zu koordinieren, gehenschon einige Wochen drauf“.Einen etwas anderen Fokus habendie Fellowships, die der Verein „InternationaleJournalisten-Programmee.V.“ (IJP) jungen Journalisten anbietet.Die IJP-Stipendien fördernden interkul turellen journalistischenAustausch. Die deutschen Stipendiatenerfahren als Gastredakteurewährend eines mehrmonatigen Aufenthalts,wie die Berichterstattungetwa in Polen, Mexiko oder Chinafunktioniert. Im Gegenzug erhält diejeweils gleiche Anzahl ausländischerJournalisten Einblicke in deutscheRedaktionen. Die freie WissenschaftsjournalistinCornelia Stolze hat mitdem Arthur Burns Fellowship des IJPvor einigen Jahren die Arbeitsweisedes New Yorker Time Magazins kennengelernt.Sie fand es spannend,zu erfahren, wie wissenschaftlicheThemen dort umgesetzt werden. Einpaar Jahre später ging es mit einemweiteren Stipendium an die amerikanischeWestküste, <strong>zum</strong> San FranciscoChronicle. Die Erfahrungen, die CorneliaStolze in den USA gemacht hat,möchte sie keinesfalls missen. Sehrwertvoll seien vor allem die vielenKontakte zu Kollegen und Forscherngewesen.Wer nicht nur Gastredakteur beieiner Zeitung oder Gasthörer an einerUniversität sein möchte, kannnatürlich auch „richtig“ studierenund das Beste aus „beiden Welten“mitnehmen. Stern-Redakteurin AstridViciano <strong>zum</strong> Beispiel hat sichentschieden, an der AnnenbergSchool of Journalism der Universityof Southern California (USC) einenMaster in „Specialized Journalism“zu absolvieren. Der begehrte Studiengangrichtet sich an Journalistenaus aller Welt, die schon etwaslänger im Berufsleben stehen undsich in einem spezialisierten Bereichweiterbilden wollen. Bei AstridViciano sind es die Bereiche Neurowissenschaftenund Global Health.Sie fühlt sich an der USC bestensaufgehoben, denn dort forschenweltweit führende Epidemiologenund Neuro wissenschaftler. Der Kurs„Multimedia Skills“ rundet den Studiengangab. Auch ihre Redaktionin der Heimat profitiert von demAuslandsaufenthalt, denn AstridViciano findet noch Zeit regelmäßigals Korrespondentin für das RessortWissenschaft und Medizin des sternzu berichten.Wissenschaftsjournalisten, die indie Ferne schweifen wollen, um fürein bestimmtes Thema zu recherchieren,sind oft gerade in Deutschlanderst einmal an der richtigenAdresse. Die Robert-Bosch-Stiftungunterstützt „Journalisten in derForschung“ und vergibt Reisezuschüssefür junge Journalisten, die<strong>zum</strong> ESOF oder zur AAAS nach SanDiego wollen. Außerdem bietet dieStiftung im Rahmen der „InitiativeWissenschaftsjournalismus“ ab sofortso genannte „ad-hoc-Recherchestipendien“an. Das Fördergeldin Höhe von maximal 10.000 € kannauch für selbst organisierte Forschungs-und Studienaufenthalteoder Studienreisen in wissenschaftlicheForschungs einrichtungen weltweiteingesetzt werden. Allerdingsmuss der Auslandsaufenthalt einen„konkreten wissenschaftsjournalistischenErkenntniszweck“ verfolgen.Eine letzte Möglichkeit, in der Ferneohne viel Mehraufwand zu recherchierenoder den Horizont zu erweitern,liegt manchmal so nah, dass siegerne übersehen wird: Der Urlaub.Gerade Jour na lis ten, die sich einenlängeren Urlaub in exotischeren Gefildengönnen, können eine Safari inSüd afrika oder den Besuch eines indonesischenOrang-Utan-Auffanglagersals Basis für eine Story nutzen– und so letztlich einen Teil desUrlaubs finanzieren. Denn wer eineReise tut, der kann was erzählen. ]


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>27Stipendien fur Wissenschaftsjournalisten im AuslandWoods Hole OceanographicInstitute: Ocean Science JournalismFellowshipNational Center for AtmosphericResearch (NCAR) JournalismFellowshipRobert Bosch Stiftung /Initiative WissenschaftsjournalismusTU DortmundWo? Woods Hole Oceanographic Institute,MassachusettsWie viele? n.a.Wie lange? 7-14 TageUnterstützung? Unterkunft, Verpflegung,ReisekostenVoraussetzungen? Mindestens zweiJahre BerufserfahrungBewerbungsfrist? 15. MaiWeb: http://www.whoi.edu/page.do?pid=8887Kavli Institute of Theoretical Physics(KITP): Journalist-in-residenceWo? KITP in Santa Barbara, University ofCalifornia (USC)Wie viele? Meist zwei pro JahrWie lange? Bis zu fünf Monate, meistsind es zwei bis dreiUnterstützung? Reisekosten, Unterkunft,3000 $ StipendiumVoraussetzung? Erfahrene Journalisten,VortragBewerbungsfrist? JederzeitWeb: http://www.kitp.ucsb.edu/outreach/journalist-in-residenceNiemann Foundation: NiemannFellowship in Global Health ReportingWo? Harvard University, später einEntwicklungsland nach WahlWie viele? Ein US-Journalist und einJournalist, der nicht US-Bürger istWie lange? Ein akademisches Jahr(neun Monate), anschließend dreibis vier Monate Aufenthalt in einemEntwicklungsland, um von dort über dieGesundheitslage zu berichten.Unterstützung? 60.000 $ plus Wohngeldje nach Familienstatus, Krankenversicherung,6.000 $ pro Monat währenddes Aufenthalts im EntwicklungslandVoraussetzungen? Medizinjournalistenmit sehr guten EnglischkenntnissenBewerbungsfrist? 31. JanuarWeb: http://www.nieman.harvard.edu/Wo(für)? Fellows können in Seminaren,Laboren zu verschiedenen aktuellenklimatischen, ökologischen undmaterialwissenschaftlichen ThemenrecherchierenWie viele? Bis zu zehn Journalisten,davon meist zwei Nicht-US-JournalistenWie lange? Fünf TageUnterstützung? Flug- und Hotelkostensowie die Verpflegung wirdübernommenVoraussetzungen? Der idealeKandidat hat mindestens fünf Jahrejournalistische BerufserfahrungBewerbungsfrist? Mitte AprilWeb: http://www.ncar.ucar.edu/resrel/jfellowshipKnight Foundation: Knight-Science FellowshipAd-hoc-Stipendien für wissenschaftsjournalistischeRechercheprojekteWo(für)? Klar umrissenes Rechercheprojektim In- oder AuslandWie viele? n.a.Wie lange? Bis zu drei MonateUnterstützung? Bis zu 10.000 €Voraussetzung? Journalisten inDeutschland mit mindestens zweijährigerBerufserfahrung, die wissenschaftsjournalistischesThema bearbeitenwollen; Gruppen/Redaktionen könnensich auch gemeinsam bewerbenBewerbungsfrist? KeineWeb: http://www.initiativewissenschaftsjournalismus.de/Wo? Massachusetts Institute of Technology und Harvard UniversityWie viele? Jährlich bis zu zwölf Journalisten, die Hälfte aus den USA, die andere internationalWie lange? Ein akademisches Jahr (Mitte August bis Mitte Mai)Unterstützung? 60.000 $, evtl. 2.000 $ Exkursionsreisegeld, Krankenversicherung, Konferenzzuschuss(AAAS oder NASW), Zugang zu allen Kursen am MIT und HarvardVoraussetzungen? Mindestens drei Jahre Berufserfahrung als Wissenschaftsjournalist(oder fünf Jahre Berufserfahrung in anderen journalistischen Bereichen), fließendesEnglisch (TOEFL oder IELTS empfohlen). Während des Sabbaticals dürfen Fellows keineBerichterstattung machenBewerbungsfrist? 1. MärzUnd sonst? Einwöchige Bootcamps bieten journalistisches Intensivtraining zu unterschiedlichenwissenschaftlichen ThemenWeb: http://web.mit.edu/knight-science/Internationale Journalisten-Programme e.V.: Arthur Burns Fellowship,George Weidenfeld Journalistenstipendium, Marion-Gräfin-Dönhoff-Journalistenstipendium u.a.Wo(für)? Arbeitsstipendium, Gastredakteur in ausländischer RedaktionWie viele? Fünf bis 20 (Arthur Burns Fellowship) deutsche Journalisten und Journalistenaus dem jeweiligen AustauschlandWie lange? Acht WochenUnterstützung? 3.000 – 4.000 € als Zuschuss für Reise, Verpflegung und Unterkunft, eingewisser Eigenbeitrag wird meist erwartet; je Land zusätzlich SprachkursVoraussetzungen? Journalisten in der Alter zwischen 23 und 39 Jahren, je nach Landwerden Sprachkenntnisse erwartetBewerbungsfrist? UnterschiedlichWeb: http://www.ijp.org/stipendien.html


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>28American Council on Germany:McCloy FellowshipWo(für)? Zuschuss für Reise und Recherchein den USA oder EuropaWie viele? Vier bis fünf US-Journalisten,vier bis fünf deutsche JournalistenWie lange? 21 TageUnterstützung? Kostenübernahmedes Transatlantikfluges, 200 $ pro Tag fürUnterkunft, Verpflegung und VerkehrsmittelVoraussetzungen? Junge Journalisten,die am Anfang ihrer Karriere stehenBewerbungsfrist? 30. AprilWeb: http://www.acgusa.org/about2.php?pagename=FellowshipsLogan Science Program: BiomedicalHands-On Laboratory / PolarHands-On LaboratoryWo? Marine Biological Laboratory,Woods Hole, MassachusettsWie viele? n.a.Wie lange? 8 TageUnterstützung? Unterkunft, Verpflegung,ReisekostenVoraussetzungen? Sehr gute EnglischkenntnisseBewerbungsfrist? 1. MärzWeb: http://www.mbl.edu/sjp/Robert Bosch-StiftungWo(für)? „Journalisten in der Forschung“Wie viele? n.a.Wie lange? Unterschiedlich je nach ForschungsprojektUnterstützung? Zuschüsse für Reise- und Aufenthaltskosten; für fest angestellte JournalistenKostenübernahme eines ErsatzredakteursVoraussetzungen? Konzentration auf ein spezielles ForschungsvorhabenBewerbungsfrist? KeineUnd sonst? Reisezuschüsse für junge Journalisten, die das ESOF oder die AAAS besuchenWeb: http://www.bosch-stiftung.de/content/language2/html/1483.aspDr. Alexander und Rita Besser-StiftungWo(für)? Praktika, Volontariate, Ausbildungszeiten an Journalistenschulen. Im Sinne derStiftung liegt auch die Förderung der Begegnung zwischen Deutschland und IsraelWie lange? Mindestens neun MonateUnterstützung? Individuell, Höchstgrenze für ein Jahresstipendium liegt bei 12.000 €Voraussetzungen? Höchstalter 35 Jahre, mindestens „guter“ StudienabschlussBewerbungsfrist? 31. MärzWeb: http://www.studienstiftung.de/journalismus.htmlStudiengänge / Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten in der EUEuropean Guide to Science Journalism Training:Nicht mehr ganz aktuell (Stand Ende 2008), aber ein guter Überblick über wissenschaftsjournalistischeAus- und Fortbildungsmöglichkeiten aller EU-Staaten.Web: http://ec.europa.eu/research/conferences/2007/bcn2007/guide_to_science_journalism_en.pdf"Überall Stories!"Sascha Karberg, Diplom-Biologe und freier Wissenschaftsjournalist in Berlin, hat die Zeit zwischen November2008 und Juli 2009 als Knight Science Journalism Fellow am Massachusetts Institute of Technology(MIT) in Cambridge verbracht. In Deutschland schreibt er für große Tageszeitungen und Printmagazine,vor allem über Themen aus dem Bereich Life Sciences.Was hat Sie nach Cambridge gelockt?Ich wollte dahin, wo ein Zentrumdes Wissens ist. MIT, Harvard, vieleUniversitäten auf engstem Raum – dakonnte ich zwei Semester lang Leutetreffen, die ich nur aus dem Textbookkannte, und studieren, wie ich wollte– ohne Zwang, ohne Vorgaben, miteiner Ausnahme: Ich musste einenWissenschaftskurs pro Semester belegen.Ansonsten hatte ich eher dieQual der Wahl, welchen Kurs ich zuerstbelegen sollte.Haben Sie auch im Labor gearbeitet?Ich weniger, aber ein paar Kollegen,die viel über Molekularbiologiegeschrieben haben, aber selbst nochnie im Labor gestanden hatten. Einerhat ein Semester lang einen Genetikkursabsolviert, jeden Tag im Laborgestanden und gelernt, wie man Gelegießt, DNA auftrennt oder kloniert.Wie wird man denn Knight Fellow?Jedes Jahr wählt das MIT unterden Bewerbern 10-12 Wissenschaftsjournalistenaus, die nach Cambridgekommen und dort 2 Semester in residencyverbringen dürfen. Es sindmid-career und late-career journalists.Das Programm ist nichts fürjunge Journalisten, bisher jedenfallsnicht, vielleicht wird der neue Direktordas ändern. Die Gruppe wird nachProporz zusammengesetzt: fünf Männer,fünf Frauen, ein paar Freelancer,ein paar angestellte Redakteure, dannLeute auf dem Höhepunkt ihrer Karriereund andere, die auf gutem Wegedahin sind. Das Verfahren hat leidereinen Nachteil: Ein Bewerber kanndurchfallen, nur weil er oder sie nichtin die Gruppe passt. Deshalb macht esdurchaus Sinn, sich auch zwei- oderdreimal zu bewerben, jedes Jahr neu.Nun kann sich aber nicht jederneun Monate Auszeit leisten.


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>29Deshalb gibt es noch andere Fellowships:die Bootcamps. Die sindsehr intensiv, dauern eine Woche undbringen ziemlich viel. Wie leicht manda hineinkommt, hängt vom Themaab. Es gibt z.B. das Medical EvidenceBootcamp, da geht es um den richtigenUmgang mit wissenschaftlichenStudien. Oder das Thema heißt Nanotechnologyoder Food oder Brain Science.15-20 Journalisten sitzen eineWoche lang im MIT und diskutiertmit Professoren oder Fachjournalistenüber ein bestimmtes Thema.Wie war es in Ihrem Jahr?Dieses Jahr hieß das Thema Food.Das Camp war sehr nachgefragt, eswaren mehr Freelancer als angestellteRedakteure da, was wohl mit derKrise zusammenhängt: Viele hattenAngst, ihren Arbeitsplatz zu verlassen,er könnte ja weg sein, wenn siezurückkommen. Das ist auch tatsächlichzwei Fellows so gegangen, vomBoston Globe und vom San FranciscoChronicle. Man muss sich halt überlegen:Ein Jahr weg, kann ich mir daserlauben? Das sollte man auch beider Bewerbung deutlichmachen:dass der eigene Job so sicher ist, dassman nach dem USA-Aufenthalt nichtvor einem Scherbenhaufen sitzt.War das für Sie auch ein Thema?Glücklicherweise stehe ich nichtalleine da: Ich habe ein Netzwerk vonfreien Wissenschaftsjournalisten gegründet:das Netzwerk "Schnittstelle".Wir sitzen in Deutschland und denUSA und helfen uns gegenseitig beider Arbeit, besorgen Aufträge oderarbeiten bei größeren Projekten zusammen.Deshalb hatte ich das Vertrauen,dass ich in das selbst gebautesoziale Netz wieder zurückfinde.Warum wollten Sie denn diese Auszeitnehmen?Ich wollte wissen, wo es für michin Zukunft hingehen soll. Ich schreibeviel über Pharma und Biotechund wollte mehr von der Business-Seite erfahren. Das habe ich auchgeschafft: Ich habe am MIT zwar keinBWL-Studium absolviert, aber Management-Kursebelegt, z.B. bei MarkFishman, dem Forschungschef vonNovartis. Da gab sich die Crème de laCrème der Biotech- und Pharmaszenedie Tür in die Hand, und das warspannend, weil sie aus dem Nähkästchengeplaudert haben, wie Biotechfunktioniert und wie nicht.Wie war es finanziell?Ich habe 55.000 Dollar für die zweiSemester bekommen. Als Singlekommt man da fantastisch mit aus,aber wir sind eine 5köpfige Familie,für uns war es knapp. Wenn nichtnoch die FAZIT-Stiftung der FAZ geholfenhätte, dann hätte ich es nichtmachen können.Und wie war es für die Familie?Es ist schon eine tiefgreifende Entscheidung,die Kinder für ein Jahr ausder Schule in Deutschland zu nehmen.Aber es lief gut: Unsere Kinderkonnten vorher kein Wort Englisch,jetzt spricht die Älteste fließend unddeutlich besser als ich. Es hat unsfantastisch gefallen, vor allem dieArt und Weise, wie man dort aufgenommenwird, und die alltäglicheFreundlichkeit, die alles andere alsoberflächlich ist.Sascha Karberg war einer der KnightFellows am MIT und verbrachteseine Zeit dort gemeinsam mit seinerganzen Familie.Was halten denn die Wissenschaftlerdort von den Journalisten?Jeder bei Harvard und MIT kenntdie Knight Fellows und weiß, dass essich langfristig auszahlen kann, mitihnen zu reden, weil sie die eigeneForschung publik machen. Deshalbkonnte ich mit ihnen gute Hinter-grundgespräche führen: Wo geht esmit Deiner Forschungsrichtung hin?So bekommt man neue Ideen für dieeigene journalistische Zukunft. Mandenkt voraus und kann sich neu orientieren.Ich hoffe, dass ich das fürmich umsetzen kann.Hat sich Ihr Verhältnis zur Wissenschaftdurch das Jahr verändert?Nicht wirklich, aber ich bin auchnicht typisch. Anders als viele Wissenschaftsjournalistenhabe ich früherschon im Wissenschaftsbetriebgearbeitet. Ich muss keinen Genetikkursmehr belegen. Deshalb habeich im ersten Semester den absolutenGegenentwurf gemacht undArchäologie-Kurse besucht. Ich findedas Thema spannend, hatte aber niedie Gelegenheit, mich tiefer damit zubefassen. Und dann habe ich meinerstes Semester damit verbracht,Steinwerkzeuge herzustellen undLow Tech zu produzieren, ganz imGegensatz zu meiner Schreibarbeit,in der ich mich eher mit High Techoder Future Tech beschäftige. Irgendwiekann man sein Journalistenhirnnicht wirklich abschalten. Man siehthalt überall Stories.Haben Sie die dann auch umgesetzt,haben Sie geschrieben?Nein, es gibt eine wichtige Vorschrift:In diesem Jahr wird nichtgeschrieben. Diese Regel soll verhindern,dass die Fellows als billigeUS-Korrespondenten für ihre Zeitungausgenutzt werden. Außerdembrauchst Du Deine Zeit <strong>zum</strong> Studieren.Das ist ja gerade das Gute, dassman mal die Fragen stellen kann, fürdie man nie Zeit hatte.Wie sieht es mit dem Wissenschaftsjournalismusin den USA aus?Ich denke, er ist weiter entwickeltals bei uns, er ist kritischer. InDeutschland vertreten die Wissenschaftsmagazinenicht immer denWissenschaftsjournalismus, wie ichihn persönlich verstehe und wie erauch in den USA verstanden wird:Nicht nur das Erklären ist wichtig,sondern auch die gesellschaftlicheEinordnung. Das findet man z.B. beider New York Times: Da geht es nichtnur erklärerisch zu, da ist der Schwerpunktjournalistisch gesetzt. Ich glau-


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>30be, das interessiert die Leser mehr:nicht nur erklärt zu bekommen, wieeine Stammzelle funktioniert, sondernauch, ob es wirklich Sinn macht,mit Stammzellen zu arbeiten, oderob es andere Methoden gibt, dienicht mit solchen ethischen Problemenverbunden sind.Sehen das die Wissenschaftlerauch so?Die Wissenschaftler haben natürlichgefordert, wir Journalisten müsstenüber ihre tolle Forschung berichten:Wir sollten abbilden, was in derWissenschaft stattfindet. Das siehtman aber bei den Knight Fellowsnicht so, da ist eher kritischer Wissenschaftsjournalismusgefragt.Sollten sich deutsche Wissenschaftsjournalistendaran orientieren?Wir alle sollten sehen, dass wir unserejournalistische Seite stärker betonen.Wir haben meist keine Probleme,die Wissenschaft gut zu erklären. Aberwir sollten mehr darüber nachdenken,wie wir den Menschen die Bedeutungwissenschaftlicher Erkenntnissevermitteln. Im Übrigen müssen wiruns in Deutschland mit der Qualitätdes Wissenschaftsjournalismus nichtverstecken. Die Möglichkeiten hiersind durchaus gut, weil die journalistischeQualität hoch gehalten wird.In den USA hat der Qualitätsjournalismusgroße Probleme, das ist hierin Deutschland noch nicht so der Fall.Ich glaube, dass die Menschen hierimmer noch eher bereit sind, für guteInformationen Geld auszugeben. Außerdemgibt der öffentlich-rechtlicheRundfunk auch für die anderen Medieneinen gewissen Qualitätsstandardvor. Wir haben da in Deutschland einSystem, das wir unbedingt erhaltensollten. So ein gebührenfinanziertesModell, davon kann man in den USAnur träumen.Und was war der Höhepunkt derReise?Die Wahl von Obama. Das war einemotional ähnlich starkes Erlebniswie der Mauerfall, den wir damalsin Berlin erlebt haben. In Cambridgehat man <strong>zum</strong> ersten Mal seit langemwieder Menschen in Massen auf derStraße gesehen, die sich über die politischeWende gefreut haben. Daswar schon ein Gänsehaut-Erlebnis.Wir haben diese Nacht in einem irischenRestaurant verbracht, die gesamteFamilie, obwohl sich eigentlichKinder nicht in Kneipen aufhaltendürfen. Aber an dem Abend war allesanders... .]Mit Sascha Karbergsprach Klaus DartmannKlaus Dartmannist Redakteur bei der Deutschen Welleund lebt in BerlinDa scheiden sich die GeisterDer Klimawandel im SPIEGEL und der ZEIT könnte unterschiedlicherkaum erscheinen. Warum nur?Von Robin AvramWas für ein Niedergang: Nur dreiJahre, nachdem der WeltklimaratIPCC den Friedensnobelpreis erhielt,steckt er nun in einer tiefenVertrauenskrise. Immer neue Fehler,Schlampereien und Übertreibungentauchen im aktuellen Berichtdes IPCC auf. Uno-GeneralsekretärBan Ki Moon „zieht die Notbremse“und lässt die Arbeit des IPCC voneinem „Aufpasser“-Gremium überprüfen.Der Präsident der deutschenLeibnitz-Gemeinschaft fordert denRücktritt des IPCC-Chefs. Und wiedereinmal sieht sich der KlimatologeHans von Storch bestätigt, derschon seit Jahren als „besonnenerGeist“ in der Gemeinde der Klimaforschermahnt: „Wir Klimaforscherkönnen nur mögliche Zukünftebeschreiben. Es kann auch ganz anderskommen.“ So nachzulesen imzehnseitigen Artikel „Die Wolkenschieber“in der SPIEGEL-Ausgabevom 29. März <strong>2010</strong>.Auch andere seriöse Medien berichtetenüber die Fehler im letztenIPCC-Bericht – doch kaum eines ziehtsolch drastische Schlussfolgerungen:Denn nach Ansicht der SPIEGEL-Autoren sind die Fehler im letztenIPCC-Report so gravierend, dass, soder Tenor, nun auch das weltpolitischso bedeutsame „Zwei-Grad-Ziel“ aufden Prüfstand müsse. Aber lässt sichdieser Minimal-Konsens der weltweitenKlimapolitik tatsächlich „wissenschaftlichnur schwer begründen“,wie der Wissenschafts-RessortleiterOlaf Stampf in den Hausmitteilungendes SPIEGEL schreibt?Zwei Wochen später widersprechenKlimaforscher Hans-JoachimSchellnhuber, KulturwissenschaftlerClaus Leggewie und Umweltentscheidungs-ForscherinRenate Schubertenergisch. Sie kritisieren, derSPIEGEL habe mit dem Artikel einenBeitrag zu einer breiten Kampagnegegen das Zwei-Grad-Ziel geleistet.Diese laufe darauf hinaus, das Vorsorgeprinzipüber Bord zu werfen.Der SPIEGEL liefere zudem keine belastbarenArgumente dafür, dass dieAnpassung an einen ungebremstenKlimawandel gar nicht so schwierigsei. Der Gastbeitrag erscheint nicht ineinem wissenschaftlichen Fachjournal.Er erscheint im Wirtschaftsteilder ZEIT. Und es ist nicht das ersteMal, dass die Klimawandel-Berichterstattungder beiden Print-Leitmedienauseinanderklafft.Auch bei der Berichterstattungüber den Kopenhagener Weltklimagipfelim Dezember letzten Jahreszeigten sich große Unterschiede: Aufder einen Seite die ZEIT: sie färbte dieTitelseite grün, analysierte in vielenBeiträgen Ausgangslage und Erfolgschancenund nahm den Gipfel <strong>zum</strong>Anlass, eine „grüne Serie“ zu starten,in der die Redakteure ihre Anstrengungenschilderten, ihren Lebensstilklimafreundlicher zu gestalten. DerTenor: „Für uns ist es jetzt Zeit zu handeln.“Ganz anders der SPIEGEL: Im zweitenTeil einer dreiteiligen Serie <strong>zum</strong>


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>31Klimawandel wurde die deutscheKlimapolitik weitgehend kritischbeurteilt, insbesondere die Solarförderungwurde heftig kritisiert.Im Wissenschafts-Ressort durfte derdänische Klimaskeptiker Björn Lomborgin einem Gastbeitrag auf zweiSeiten gar dafür plädieren, den Gipfelscheitern zu lassen und den Klimaschutzzu vertagen.Bezeichnend für die Unterschiede:Der Klimaleugner Björn Lomborgtauchte zwar auch in der ZEITauf. Allerdings in einem etwas anderenKontext: In dem „Musterlandvon gestern“ überschriebenen Artikelwird beschrieben, dass vomGastgeber und VerhandlungsführerDänemarks auf dem Weltklimagipfelkeine großen Impulse zu erwartenseien. Denn nach der Regierungsübernahme2001 habe der konservativePremier Rasmussen die Klimaschutz-Anstrengungendrastischzurück gefahren – was nicht zuletztdurch die massive mediale Präsenzvon Björn Lomborg legitimiert wurde.Lomborg meint: Dänemark habeein paar Fehler weniger gemacht alsandere, weil Investitionen in die Zukunftverschoben wurden.Die Ozeonographie-ProfessorinKatherine Richardson macht indemselben Artikel die Themensetzungder Medien mitverantwortlichfür den Schwenk in der dänischenKlimapolitik: "Das Fernsehen interviewtfünf weltweit anerkannteExperten <strong>zum</strong> Klimathema undsetzt jedes Mal als Gegenpart BjörnLomborg ein. Ich selbst werde fürBeiträge <strong>zum</strong> Klima in den Medienmassiv angegriffen." Richardson istdeshalb nicht überrascht, dass sichdie Dänen wenig Sorgen um den Klimawandelmachen: Laut dem Eurobarometerrangiert das Land unter27 EU-Ländern auf Platz 20 bei derEinschätzung, wie ernst der Klimawandelsei.Es stellt sich somit in Bezug auf dieSPIEGEL-Berichterstattung die Frage:Füllt der SPIEGEL lediglich seine Rolleals „Sturmgeschütz der Demokratie“aus, wenn er die vorhandenen Unsicherheitenin der Klimaforschungdeutlich benennt? Oder hilft er miteinigen übertriebenen Schlussfolgerungenden Klimaskeptiker, dassKind mit dem Bade auszuschütten –und Klimaschutz zu verhindern?Andreas Sentker, Leiter des Wissen-Ressortsder ZEIT, sieht auch diemögliche Gefahr, dass angesichtseines Tenors wie in der SPIEGEL-Berichterstattung–„Es kann auch ganzanders kommen“ – die Akzeptanzvon Klimaschutz-Maßnahmen in derBevölkerung schwinden könnte. Dasmüsse man aber in Kauf nehmen. „Esist die Aufgabe von Wissenschafts-Journalisten, die ganze Bandbreiteeiner wissenschaftlichen Debatteabzubilden.“ Wissenschaftsjournalistenhätten dabei naturgemäßeine größere Skepsis gegenüberpolitischen Aussagen von Wissenschaftlernals ihre Kollegen aus demPolitik-Ressort. Allerdings hättenWissenschafts-Journalisten die klareVerantwortung, zwischen Klimaskeptikernund Klimaleugnern klarzu unterscheiden. Während Klimaskeptikerauch in der Wissenschaftler-Gemeindeernst genommenwerden und z.B. peer-reviewte Veröffentlichungenvorzuweisen haben,wollen Klimaleugner in ersterLinie Klimaschutz verhindern. BjörnLomborg zählt Sentker dabei zur KategorieKlimaleugner.Grundsätzlichere Kritik am SPIE-GEL übt ZEIT-WirtschaftsredakteurFritz Vorholz. Selbst wenn im IPCC-Bericht Fehler passiert sind – dieseIrrtümer sind seiner Ansicht nach„Irrtümer am Rande des Kernthemas.“An den grundsätzlichen Erkenntnissensei nicht gerütteltworden. Vorholz sieht es daher alsAufgabe auch seiner Kollegen ausdem ZEIT-Wissens-Ressort an, sichnoch stärker mit den Argumentender Klimaskeptiker auseinander zusetzen. Als Vorbild benennt er den„Economist“, der sich Mitte März ineinem Leitartikel intensiv mit denIrrtümern im IPCC-Bericht auseinandergesetzt hat und zu dem Schlusskam: Ernsthafter Klimaschutz bleibtweiter richtig und wichtig.Wie kommt es also, dass der SPIE-GEL solche grundlegend anderenSchlüsse zieht?Zwischen Alarmismusund Skepsis –ein medialer Selbstläufer?Im Lichte der sozialwissenschaftlichenBefunde über die Klimawandel-Berichterstattungsind die großenUnterschiede zunächst keineÜberraschung. Die bislang umfassendsteStudie zur Klimawandel-Berichterstattung„Von der Hypothesezur Katastrophe“ (Weingart, Engels,Pansegrau, 2002) kam zu dem Ergebnis,dass es in der Funktionsweiseder Medien selbst angelegtsei, dass sie in Sachen Klimawandelzwischen den DeutungsmusternWeltuntergang und Öko-Verschwörung,Klima-Alarmismus und Klima-Skepsis wechseln. Diese Schemataseien durch eine medienimmanenteDynamik zu erklären. Denn um größereVerständlichkeit und Zugkraftbemüht, verstärken die Medien dieWarnungen der Wissenschaftler undebnen vorhandene Unsicherheitenein: sie berichten im Schema der Klimakatastrophe.Dieses Schema rufe – geradezu reflexhaft– jene Berichterstattung hervor,die Gegen-Thesen zur gängigenMeinung in den Vordergrund stellt.„Je intensiver die Berichterstattungüber den anthropogenen Klimawandel,je eindeutiger die Warnungenvor der Katastrophe, desto interessanterwerden die von den Medienrepräsentierten „skeptischen Positionen“<strong>zum</strong> Klimawandel“ , schreibtdie Sozialwissenschaftlerin AnitaEngels 2007 in einem aktualisiertenVorwort zur Studie. Engels bezeichnetdiesen Mechanismus als Resonanzspirale.Dass diese medialenMechanismen existieren und wie siesich in der Berufspraxis auswirken,weiß jeder, der über längere Zeit alsJournalist gearbeitet hat.Bei diesem grobkörnigen Deutungsschemableibt allerdings einwichtiger Aspekt außen vor: dasses große Unterschiede <strong>zum</strong> Beispielzwischen Boulevardmedien undQualitätsmedien gibt – und dass die


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>32redaktionelle Linie eines Mediumsin Bezug auf den Klimawandel in Zusammenhangmit der redaktionellenBewertung der Klimapolitik und eines„grüneren“ Lebensstils steht. Diesist das zentrale Ergebnis meiner Diplomarbeit„Der Klimawandel im SPIE-GEL der ZEIT“. Ich hatte mich damalsselbst über den SPIEGEL gewundert,weil er noch im November 2006auf dem Titel eindringlich vor dem„Weltuntergang“ warnte, um sechsMonate später die Katastrophenwarnungauf dem Titel lächerlich <strong>zum</strong>achen und eine „Klima-Hysterie“zu brandmarken. Wie kommt dieserSinneswandel des Prestigemediums,mit dem die Sozialwissenschaftlerihre These von der Beliebigkeit derKlima-Berichterstattung vortrefflichuntermauern konnten? Die Analyseder Klimawandel-Berichterstattungvon SPIEGEL und ZEIT im ZeitraumNovember 2006 bis August 2007 gabdetaillierte Aufschlüsse.Erste Erkenntnis: Die ZEIT räumtedem Thema Klimawandel deutlichmehr Platz ein: 153 Artikeln in derZEIT standen nur 103 Artikel im SPIE-GEL gegenüber. Auch bei näheremBetrachten der Themenbereiche Klimawissenschaft,Klimapolitik, Energieund Lebenswandel zeigten sichdeutliche Unterschiede in der Gewichtung.Bei der Berichterstattungüber die Klimawissenschaft zeigtesich, dass der SPIEGEL intensiver überdie Ursachen des Klimawandels, dieZEIT dafür stärker über die Auswirkungendes Klimawandels berichtete:Sie veröffentlicht 22 Berichte auszwölf Ländern, in denen die schonheute spürbaren Auswirkungen derglobalen Erwärmung geschildertwurden. Der SPIEGEL berichtete trotzseines für deutsche Medien einmaligenKorrespondentennetzes nurzwölfmal aus fünf Ländern.Sehr auffällige Unterschiede gabes auch bei der Berichterstattungüber den durch den Klimawandelnotwendigen Umbau der Energieversorgung.Die ZEIT berichtete fastfünfmal intensiver über erneuerbareEnergien als über fossile Energien.Beim SPIEGEL zeigte sich ein völliganderes Bild: Er berichtete rund doppeltso intensiv über fossile Energienals über erneuerbare Energien. Beider Berichterstattung über Änderungendes Lebensstils in den BereichenWohnen, Mobilität und Konsum zeigtensich schließlich ebenfalls großeUnterschiede: die ZEIT berichteterund doppelt so intensiv <strong>zum</strong> Beispielüber Energiesparhäuser, Elektro-Autosund grüne Geldanlage alsder SPIEGEL.Auffällig war zudem: Bei der SPIE-GEL-Berichterstattung ließen sichgleich zwei Brüche ausmachen: VonNovember 2006 (Titel: Achtung,Weltuntergang!) bis März 2007 berichteteer tendenziell alarmierendüber den Klimawandel und stelltedie Klimapolitik als zu wenig ambitioniertdar. Just als sich die EU-Staatenam 9. März 2007 dann auf bindendeKlimaschutzziele einigten, schwenkteder SPIEGEL um: Nun erschiender „Klimahysterie-Titel“ und in dessenFolge viele weitere Berichte mitentwarnendem Tenor über den Klimawandel.Parallel dazu wurde nunauch die deutsche Klimapolitik vielfachals zu überzogen dargestellt. Siegefährde die Konkurrenzfähigkeit derdeutschen Industrie und belaste dieVerbraucher über die Maßen. Der Tenorder Berichterstattung drehte sichdann ein zweites Mal, als auf dem G8-Gipfel in Heiligendamm auch die USAdas Zwei-Grad-Ziel anerkannten.Bei der ZEIT hingegen blieben sowohldie Bewertung des Klimawandelals auch der Klimapolitik über diedrei Phasen der Berichterstattungkonstant: Der Klimawandel wurdeals Überlebensfrage für die Menschheitund die weltpolitische Stabilitätdargestellt. Fast durchweg in allenBeiträgen zur Klimapolitik wurde einentschlosseneres Vorgehen eingefordert,der Lobbyeinfluss der deutschenIndustrie kritisch beurteilt. Wielassen sich diese großen Unterschiedein der Berichterstattung erklären?Die Innere Pressefreitunterdrückt,die WindenergieverteufeltDie wichtigste Erklärung hat einenbekannten Namen: Stefan Aust.Denn der SPIEGEL-Chefredakteurhatte bis zu seiner vorzeitigen Vertragsauflösungim November 2007einen großen Anteil daran, wie sowohlder Klimawandel als auch dieKlimapolitik im Nachrichtenmagazinbeurteilt wurden. Im Jahr 2003machte ein spiegelinterner Streitüber die redaktionelle Ausrichtungin Energiefragen sogar Schlagzeilen.Die Umwelt-Fachredakteure inder Politredaktion des SPIEGEL hießendamals Harald Schumann undGerd Rosenkranz. Sie schriebeneine lange Titelgeschichte darüber,wie die großen EnergieversorgerE.on, RWE, Vattenfall und EnbWversuchten, nach der Liberalisierungdes Strommarktes andere Anbieteraus dem Markt zu drängenund die rot-grünen Fördergesetzefür erneuerbare Energien zu verhindern.Aber: die bereits fertig geschriebeneGeschichte über die Machenschaftender Stromkonzerne wurdenie gedruckt. Stefan Aust persönlichließ sie in der Schublade verschwinden.Stattdessen gab er imFrühjahr 2004 eine Titelgeschichteüber den „Windmühlenwahn“ inAuftrag. Zentrale These: Die Windenergiesei nicht wirtschaftlich undverspargele die Landschaft.Harald Schumann tobte: Er bezeichnetedie Geschichte als „Desinformationund Propaganda“ undkündigte. In der netzeitung warf erAust vor, beim SPIEGEL die innerePressefreiheit zu unterdrücken unddie Themenvielfalt einzugrenzen.Das unveröffentlichte Stück überdie Energieversorger gab er dernetzeitung <strong>zum</strong> Abdruck frei. DieBerliner Zeitung kommentierte,dass sich die Titelgeschichte überdie Windenergie so lese, als hättejemand den ungedruckten Artikelüber den Strommarkt „bewusst insein Gegenteil verkehrt“.Spielte bei der Entscheidung vonAust eine Rolle, dass er ein Pferdegestütin Verden besitzt, in dessenNähe ein Windpark gebaut werdensollte? Sorgte sich Aust, dass


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>33die Windräder seine Pferde störenkönnten, hatte er einem benachbartenGestüts-Besitzer wirklichversprochen, sich „um dieses Problemzu kümmern“? Und hatte erden mit dem Windenergie-Stückbeauftragten SPIEGEL-RedakteurenUnterlagen einer Bürgerinitiative,die sich gegründet hatte, umden Windpark zu verhindern, indie Hand gedrückt? Das berichtete<strong>zum</strong>indest die journalistische Fachzeitschrift„Message“. Aust wies alleVorwürfe empört von sich.Fakt ist: Wenig später verließauch der mit dem Kisch-Preis ausgezeichneteGerd Rosenkranz denSPIEGEL. Ausschlaggebend wareine weitere interne Auseinandersetzungüber Energiepolitik. EinStück über die Ölpreiserhöhungund die Weltkonferenz für ErneuerbareEnergien sei auf persönlicheIntervention von Aust kurzvor Erscheinen des Heftes umredigiert,auf zwei Seiten gekürzt undim Heft nach hinten verschobenworden, bestätigt Rosenkranz, derheute bei der Deutschen Umwelthilfearbeitet. Insbesondere seienPassagen gestrichen worden, diein den Augen des ChefredakteursStefan Aust zu aufgeschlossen gegenübererneuerbaren Energiengewirkt hätten.Stefan Aust war es auch, der dendamals für diesen Posten noch ungewöhnlichjungen Olaf Stampf<strong>zum</strong> Leiter der Wissenschaftsredaktiondes SPIEGEL beförderte.Laut Gerd Rosenkranz seien Austund Stampf durch den Reitsportfreundschaftlich miteinander verbundengewesen. Geteilt hättensie auch eine sehr skeptische Haltunggegenüber der Tatsache desKlimawandels, der Verantwortlichkeitdes Menschen und den mutmaßlichkatastrophalen Folgen,berichtet Rosenkranz.Dies bestätigt auch ein andererSPIEGEL-Mitarbeiter, der mit Stampfzusammen arbeitete. Stampf hieltdie gesamte Klimadiskussion für„relativ überzogen“; er glaube nichtdaran, dass der Klimawandel eingroßes Problem sei. Öfters habeer flapsig geäußert: „Na und, dannwird’s eben wärmer, das schadet janicht.“Interne Kritik an„immergleichenLosungen“Wie hatte Hans von Storch EndeMärz <strong>2010</strong> im SPIEGEL geschlussfolgert?„Wir Klimaforscher können nurmögliche Zukünfte beschreiben. Eskann auch ganz anders kommen.“Sätze, die langjährigen SPIEGEL-Lesernbekannt vorkommen dürften.Zum Beispiel aus dem Jahr 2003.Damals erschien ein langes Interviewvon Gerald Traufetter und OlafStampf mit Hans von Storch anlässlichder Elbflut (Heft 34/2003). VonStorch plädierte dafür, sich stärkeran die unvermeidlichen Folgendes Klimawandels anzupassen. DieMenschen hätten aber noch genugZeit, zu reagieren. Denn die Klimawissenschaftlerböten nur möglicheSzenarien – „es könne auch ganzanders kommen“. Ein zweites Malkonnten die Leser im Rahmen des„Klima-Hysterie“-Titels (Heft 11/07)Bekanntschaft mit von Storchs Thesenmachen: Ein weiteres langesInterview, ein weiteres Mal mit denThesen: Der Mensch könne sich gutan den Klimawandel anpassen, esgäbe auch positive Folgen, manmüsse den Menschen die Angstvor der Klimaveränderung nehmen.Und: Es könne schließlich auch ganzanders kommen.Mittlerweile gibt es beim SPIE-GEL zwei neue Chefredakteure:Georg Mascolo und Mathias Müllervon Blumencrohn. Doch währendAust abweichende Meinungen <strong>zum</strong>Klimawandel oft nicht akzeptierenwollte, lässt das neue Führungsduodem Wissenschaftsressort nachMeinung eines langjähriger Politik-Redakteurs viel zu sehr freie Hand:„Es gibt nicht wenige SPIEGEL-Kollegen,die machen sich alles andereals gemein mit den immergleichenLosungen, die das Wissenschafts-Ressort produziert. Ich weiß selbstgut genug, dass wir in der Klimaschutz-und Klimawandel-Gemeindeüberhaupt nicht mehr ernstgenommen werden. Und ich kenneeine Reihe von Kollegen, denen dieHaare zu Berge stehen ob unsererDiskussionsbeiträge.“Die „Klimawandel-Gemeinde“geht momentan tatsächlich amStock. Denn erstens ist der Klimagipfelin Kopenhagen, Fluchtpunktjahrelanger Klimapolitik, gescheitert.Zweitens ist es unsicher, obes überhaupt ein Post-Kyoto-Abkommengeben wird. Und drittenswird sich der IPCC tatsächlich tiefgreifendreformieren müssen. Welchedieser drei Tatsachen für Olaf ]Stampf, Ressortleiter Wissenschaftbeim SPIEGEL, Anlass zu Genugtuungsind, behält er für sich. EineInterview-Anfrage zu dem Themaließ er unbeantwortet.]Neue MitgliederDennis BallwieserUnterschleißheimRobin Avramstudierte Fachjournalistikander HochschuleBremen.Anschließend volontierteer an derElectronic MediaSchool. Seit Oktober 2009 ist er Autorfür das rbb-Politikmagazin Klartext undReporter für Brandenburg aktuell.Bis heute will ich mich nicht zwischenMedizin und Journalismus entscheiden.Was dazu führt, dass ich alsArzt und als freier Journalist arbeite.Das Medizinstudium habe ich 2003für meine Ausbildung an der DeutschenJournalistenschule unterbrochen.Seitdem arbeite ich frei für verschiedenePrint- und Onlinetitel undfür den Hörfunk. Nach mehreren Jahrendes freien Arbeitens wächst beimir das Interesse, mich mit Kollegenauszutauschen, die ähnliche Themengebietebearbeiten wie ich. ]


I / <strong>2010</strong><strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>34ImpressumRedaktionMarkus Lehmkuhl (V.i.s.d.P.), Antje Findeklee, Volker Stollorz, Claudia Ruby, Nicole Heißmann,Björn Schwentker und Christian EßerAutorenNicole Heißmann, Volker Stollorz, Markus Lehmkuhl, Karl N. Renner, Christian Eßer,Klaus Dartmann und Robin AvramLayout, Design und TitelbildKatja Lösche, www.gestaltika.deBildnachweisSeite 25, © Deutschlandradio - Norman WollmacherAdresse<strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong>Wissenschafts- Pressekonferenz e.V.Ahrstraße 45D-53175 BonnTelefon & FaxTel ++49-(0)228-95 79 840, Fax ++49-(0)228- 95 79 841E-Mail & Webwpk@wpk.org, www.wpk.orgDAS <strong>WPK</strong>-QUARTERLY - DIE QUARTALSZEITSCHRIFTDER WISSENSCHAFTS-PRESSEKONFERENZ e.V.Das <strong>WPK</strong>-<strong>Quarterly</strong> wird untertützt von der Klaus Tschira Stiftung.

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