Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit - Löcker Verlag
Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit - Löcker Verlag
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<strong>Aktuelle</strong> <strong>Leitbegriffe</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>
Josef Bakic, Marc Diebäcker,<br />
Elisabeth Hammer (Hg.)<br />
<strong>Aktuelle</strong> <strong>Leitbegriffe</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
Ein kritisches Handbuch<br />
<strong>Löcker</strong>
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums<br />
für Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie des Magistrats<br />
<strong>der</strong> Stadt Wien, MA 7, Wissenschafts- und Forschungsför<strong>der</strong>ung.<br />
© Erhard <strong>Löcker</strong> GesmbH, Wien 2008<br />
Herstellung: Gemi S.R.O., Prag<br />
ISBN 3-85409-477-7
Inhalt<br />
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />
Aktivierung und soziale Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
Christine Stelzer-Orthofer<br />
Auftrag und Mandat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />
Frank Bettinger<br />
Biografie und Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />
Rudolf Egger<br />
Case Management und Clearing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56<br />
Roland Fürst<br />
Diagnose und Sozialtechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />
Michael Galuske, Nicole Rosenbauer<br />
Diversity und Ausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />
Samira Baig<br />
Ideologiekritik und Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . 106<br />
Albert Scherr<br />
Management und Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120<br />
Michael Winkler<br />
Neue Unterschicht und soziale Sicherung . . . . . . . . . . . 137<br />
Elisabeth Hammer<br />
Norm und Abweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154<br />
Franz Kolland<br />
Prävention und Disziplinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170<br />
Agnieszka Dzierzbicka<br />
Profession und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185<br />
Margrit Brückner<br />
Qualität und Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200<br />
Josef Bakic
Recht und Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217<br />
Nikolaus Dimmel<br />
Sozialraum und Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233<br />
Marc Diebäcker<br />
System und Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250<br />
Fabian Kessel<br />
Vorsorge und Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271<br />
Michael Opielka<br />
AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
<strong>Aktuelle</strong> <strong>Leitbegriffe</strong> <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
Ein kritisches Handbuch<br />
Vorwort<br />
»Das Verzweifelte, daß die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist,<br />
gewährt paradox die Atempause zum Denken,<br />
die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre«<br />
(Theodor W. Adorno 1975 [1966], 243)<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> ist eng an gesellschaftliche, ökonomische und<br />
staatliche Bedingungen gekoppelt und hat sich im Laufe <strong>der</strong><br />
Geschichte zu einem vielschichtigen Feld sozialer Praxis entwickelt.<br />
Die gegenwärtigen Transformationsprozesse sind von<br />
einer ökonomisierenden Logik gekennzeichnet, die Ungleichheiten<br />
und Marginalisierungsprozesse verschärfen. Über den<br />
Staat, <strong>der</strong> einer neoliberalen Regierungsrationalität folgt, wird<br />
auch das Feld <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> geprägt und verfremdet. Vor<br />
dem Hintergrund des Abbaus staatlicher Unterstützungssysteme<br />
und <strong>der</strong> Kürzung bzw. Nichtanpassung sozialer<br />
Ausgaben verän<strong>der</strong>n sich Inhalte und Formen sozialarbeiterischer<br />
Handlungsbezüge u.a. im Sinne ökonomisierter und ordnungs-<br />
bzw. sicherheitspolitischer Logiken.<br />
Wir – die HerausgeberInnen – haben uns die letzten Jahre intensiv<br />
mit diesen Transformationsprozessen auseinan<strong>der</strong>gesetzt<br />
und unter an<strong>der</strong>em die »Wiener Erklärung zur Ökonomisierung<br />
und Fachlichkeit in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>« (Bakic/Diebäcker/<br />
Hammer 2007) in die Diskussion eingebracht. Wir sind angesichts<br />
<strong>der</strong> aktuellen Bedingungen <strong>der</strong> Überzeugung, dass sich<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> mit ihren gesellschaftlichen Aufträgen bzw.<br />
Aufgaben in ihrer politischen Bedeutung kritisch auseinan<strong>der</strong>setzen<br />
und eine selbstbestimmte kritisch-reflexive Theorie und<br />
Praxis entwickeln muss, die ihr eigenes Verwobensein in neoliberale<br />
Politiken erkennt. Dann wird Soziale <strong>Arbeit</strong> dazu beitra-
8<br />
Vorwort<br />
gen können, gesellschaftliche Wi<strong>der</strong>sprüche und Interessenskonflikte<br />
sowie soziale Ungleichheiten und Ausschließungsprozesse<br />
aufzudecken und das Soziale auch im Sinne von<br />
KlientInnen mitzugestalten. Diese politische Dimension ist<br />
unseres Erachtens untrennbarer Teil eines fachlichen Selbstverständnisses<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong>, die sich <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
menschlichen Entwicklung verpflichtet fühlt, sich schwerpunktmäßig<br />
mit individuellen Krisen und sozialen Problemlagen<br />
beschäftigt, sie sichert und soziale Bedingungen dort<br />
strukturiert, wo die Anfor<strong>der</strong>ungen gesellschaftlichen Lebens<br />
die Möglichkeiten <strong>der</strong> Selbstbehauptung von Einzelnen o<strong>der</strong><br />
Gruppen übersteigen.<br />
In diesem Kontext war es für uns logische Folge, dass es mehr<br />
denn je notwendig ist, jene Begrifflichkeiten kritisch zu analysieren,<br />
die in Theorie und Praxis Sozialer <strong>Arbeit</strong> Konjunktur<br />
haben. Denn angesichts einer Hegemonie neoliberalen Regierens<br />
werden fachliche Konzepte o<strong>der</strong> Diskurse von einer,<br />
auf den ersten Blick nicht wahrnehmbaren, ideologischen<br />
Folie eingehüllt. Der Anspruch <strong>der</strong> vorliegenden Sammlung<br />
ist es daher, ausgewählte Diskurse o<strong>der</strong> Konzepte kritisch auf<br />
ihr theoretisches wie ideologisches Fundament hin zu analysieren<br />
sowie ihre gesellschaftspolitische Bedeutsamkeit mit<br />
Bezügen zu den <strong>Arbeit</strong>sbereichen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zu veranschaulichen.<br />
Die Integration von unterschiedlichen wissenschaftlichen<br />
Perspektiven und Expertisen aus Fel<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> war hierfür nötig und soll dazu beitragen, eine<br />
Lücke in <strong>der</strong> deutschsprachigen Auseinan<strong>der</strong>setzung zu<br />
schließen.<br />
Angeregt durch aktuelle Glossarabhandlungen in den Sozialwissenschaften<br />
wie dem 2004 erschienenen Band »Glossar <strong>der</strong><br />
Gegenwart«, herausgegeben von Ulrich Bröckling, Susanne<br />
Krasmann und Thomas Lemke bzw. <strong>der</strong> z.T. direkten<br />
Mitwirkung beim bildungswissenschaftlichen Pendant »Pädagogisches<br />
Glossar <strong>der</strong> Gegenwart«, herausgegeben von<br />
Agnieszka Dzierzbicka und Alfred Schirlbauer 2006, lag eine
Vorwort 9<br />
Strukturierung durch <strong>Leitbegriffe</strong> auf <strong>der</strong> Hand. Bei <strong>der</strong><br />
Auswahl <strong>der</strong> Begriffe war es uns aber ein Anliegen – Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> als junge Disziplin muss ›innovativ‹ sein –, diese nicht<br />
nur aneinan<strong>der</strong>zureihen, son<strong>der</strong>n in einem Spannungsfeld<br />
zweier Begrifflichkeiten abbilden und aufarbeiten zu lassen.<br />
Die AutorInnen wurden von uns also zur Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
genötigt, immer zwei aktuell wirkmächtige, sich aufeinan<strong>der</strong><br />
beziehende Begriffe parallel zu analysieren und ihre Verflechtung<br />
aufzuzeigen. In jedem Fall sind die ausgewählten Begrifflichkeiten,<br />
angesichts ihrer <strong>der</strong>zeitigen ideologischen<br />
Bedeutungszuweisung und Verwendung, als hybrid zu bezeichnen.<br />
Eine erste Sondierung in Frage kommen<strong>der</strong> Begrifflichkeiten<br />
brachte eine erschreckend große Zahl zu Tage. Aufgrund <strong>der</strong><br />
Zielsetzung ein handliches Buch zu machen, musste jedoch<br />
eine Fokussierung und Einschränkung vorgenommen werden –<br />
die vorliegende Sammlung ist insofern als exemplarische zu<br />
verstehen.<br />
Wir wollten dem Gegenstand Soziale <strong>Arbeit</strong> entsprechend eine<br />
multiperspektivische Behandlung <strong>der</strong> ausgewählten Begriffe<br />
erreichen, und freuen uns sehr, dass es uns gelungen ist, namhafte<br />
TheoretikerInnen und ExpertInnen in einem Band zu vereinen.<br />
Die AutorInnen wurden eingeladen, in kurzer Form in<br />
die Terminologie einzuführen, ihre Verwendung in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> zu skizzieren und auf ihre ideologischen Ansprüche hin<br />
kritisch zu prüfen.<br />
Dieses Handbuch möchte anhand einer Analyse von <strong>Leitbegriffe</strong>n<br />
<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zu einem kritischen, theoriebezogenen<br />
Selbstverständnis <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> beitragen, das sich<br />
auch angesichts gegenwärtiger Rahmenbedingungen bewähren<br />
kann. ProfessionistInnen, Studierenden und Lehrenden im Feld<br />
<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> soll es als kritische Einführung in jene zentralen<br />
Diskurse <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> dienen, die gegenwärtig als<br />
Mainstream in <strong>der</strong> konkreten Praxis Bedeutung und Umsetzung<br />
finden. Allen Akteuren des <strong>Sozialen</strong> soll mit dieser Publikation
10<br />
die Möglichkeit eröffnet werden, politische Prozesse aus einer<br />
aufgeklärten Haltung heraus mitzugestalten.<br />
Das Schreiben ist getan, nun frisch und flink ans Lesewerk.<br />
Wien, Jänner 2008<br />
Josef Bakic, Marc Diebäcker und Elisabeth Hammer<br />
Literatur<br />
Vorwort<br />
Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2007): Wiener<br />
Erklärung zur Ökonomisierung und Fachlichkeit in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong>. Wien. Online unter: www.sozialearbeit.at/petition.php<br />
[06.01.2008]<br />
Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.) (2004):<br />
Glossar <strong>der</strong> Gegenwart. Frankfurt am Main<br />
Dzierzbicka, Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (Hg.) (2006): Pädagogisches<br />
Glossar <strong>der</strong> Gegenwart. Wien
Aktivierung und soziale Kontrolle<br />
Christine Stelzer-Orthofer<br />
Die Begriffe Aktivierung und aktivieren<strong>der</strong> Staat finden seit<br />
mehr als zehn Jahren immer häufiger Eingang in die politische<br />
und sozialwissenschaftliche Diskussion. Sie stehen als Symbol<br />
und Leitbild für einen Paradigmenwechsel zur Gestaltung sozialstaatlicher<br />
Sicherung. Sie sind Schlüsselbegriffe für ein neues<br />
Sozialmodell, für eine neue Balance von Rechten und Pflichten<br />
und signalisieren Mo<strong>der</strong>nisierung, Verän<strong>der</strong>ung und Erneuerung<br />
(vgl. Dahme et al. 2003, 9).<br />
Gemeint ist damit zum einen, dass Politik sich nicht damit<br />
begnügen kann, soziale Leistungen in Form von monetären<br />
Transfers zur Verfügung zu stellen, son<strong>der</strong>n aufgefor<strong>der</strong>t ist,<br />
Instrumente, Programme und Maßnahmen für eine erfolgreiche<br />
Sozial- und <strong>Arbeit</strong>smarktintegration von gesellschaftlich ausgegrenzten<br />
Gruppen zu entwickeln. Zum an<strong>der</strong>en geht es dabei<br />
aber auch um die Neujustierung <strong>der</strong> Frage, unter welchen<br />
Bedingungen arbeitsfähige Menschen sozialstaatliches Einkommen<br />
beziehen dürfen. Es wird dabei ein wohlfahrtsstaatlicher<br />
Grundkonflikt thematisiert, <strong>der</strong> auf die Organisation und<br />
das Verhältnis von <strong>Arbeit</strong>smarkt und Sozialstaat abzielt (vgl.<br />
Vobruba 2000, 5). Es geht um das Verhältnis <strong>der</strong> Einzelnen zur<br />
Gesellschaft, es geht um <strong>der</strong>en Rechte, aber auch <strong>der</strong>en<br />
Pflichten; »For<strong>der</strong>n und För<strong>der</strong>n« sowie »Hilfe zur Selbsthilfe«<br />
stehen auf dem Programm.<br />
Ein aktivieren<strong>der</strong> Staat wird von vielen als <strong>der</strong> »dritte« Weg<br />
eines neuen Sozialstaatsmodells beschrieben, <strong>der</strong> zwischen<br />
einer minimalen und einer umfassendem Absicherung liegt. Es<br />
soll daher nachfolgend dargelegt und den Fragen nachgegangen<br />
werden, welche konträren Zielsetzungen mit Aktivierung verbunden<br />
sind, ob und wie sich soziale Kontrolle und Aktivierung<br />
in idealtypischen wohlfahrtsstaatlichen Konzepten verorten las-
12<br />
Aktivierung und soziale Kontrolle<br />
sen und ob ein aktivieren<strong>der</strong> Staat als Wohlfahrtsstaat Modell<br />
sein kann.<br />
Dabei sollte deutlich werden, dass Aktivierung kein neutrales<br />
wohlfahrtsstaatliches Instrument ist, son<strong>der</strong>n sowohl »als<br />
repressives und autoritäres« (Hammer 2006) als auch als emanzipatorisches<br />
Element in <strong>der</strong> sozialer Sicherungslandschaft und<br />
in den Handlungsfel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> fungieren kann.<br />
Aktivierung – ein ambivalenter Begriff<br />
Aktivierung ist ein Sammelbegriff für eine sozialstaatliche<br />
Strategie, die verschiedene Ebenen verfolgt. Aktivierung kann<br />
helfen, Marginalisierung, Wohlfahrtsabhängigkeit und Ausgrenzung<br />
zu verhin<strong>der</strong>n sowie Armut zu bekämpfen; sie soll die<br />
gesellschaftliche Einbindung för<strong>der</strong>n und somit die soziale<br />
Position <strong>der</strong> Einzelnen verbessern. Die (Wie<strong>der</strong>-)Entdeckung des<br />
aus <strong>der</strong> Sozialpädagogik bekannten Prinzips Empowerment, <strong>der</strong><br />
Stärkung von Selbstkompetenz und Eigeninitiative, als sozialstaatliche<br />
Strategie fällt nicht zufällig in jene Phase, in <strong>der</strong> eine<br />
steigende Anzahl von SozialtransfersbezieherInnen und überlastete<br />
Sozialbudgets beklagt werden. Aktivierung muss daher<br />
auch als ökonomische Strategie angesehen werden, die darauf<br />
abzielt, öffentliche Budgets durch die Reduzierung von KlientInnen<br />
und Sozialleistungen zu entlasten. Wenn aktivierende<br />
Maßnahmen – wie die Praxis in den europäischen Sozialstaaten<br />
zeigt (vgl. z.B. Heikkilä/Keskitalo 2001) – so angelegt sind, dass<br />
<strong>der</strong> Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen erschwert o<strong>der</strong> verweigert<br />
wird, tragen sie zu einer gesellschaftlichen Polarisierung<br />
und individuellen Ausgrenzung bei. Aktivierung ist demnach ein<br />
ambivalenter Begriff, <strong>der</strong> kontrovers diskutiert wird. Aktivierung<br />
wird daher von den einen als Mittel zur gerechten Verteilung von<br />
Chancen und zur Armutsbekämpfung angesehen, für an<strong>der</strong>e<br />
wie<strong>der</strong>um steht er als Synonym für Sanktion, Zwang, <strong>Arbeit</strong>spflicht<br />
und verstärkte soziale Kontrolle.
Aktivierung und soziale Kontrolle 13<br />
Wohlfahrtsstaat und soziale Kontrolle<br />
Während dem Begriff <strong>der</strong> Aktivierung zumindest dem Grunde<br />
nach eine positive Konnotation innewohnt, da er den Gegenpol<br />
zu Lethargie und Passivität impliziert, sind mit dem Begriff<br />
Kontrolle, unabhängig davon, ob auf individueller o<strong>der</strong> gesellschaftlicher<br />
Ebene, eher negative Assoziationen verbunden.<br />
Dennoch ist auch <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> sozialen Kontrolle mehrdeutig.<br />
Soziale Kontrolle subsumiert die Gesamtheit aller<br />
Mechanismen, Prozesse und Strukturen, »mit <strong>der</strong>en Hilfe eine<br />
Gesellschaft versucht, ihre Mitglie<strong>der</strong> zu Verhaltensweisen zu<br />
bringen, die im Rahmen dieser Gesellschaft positiv bewertet<br />
werden.« (Fuchs-Heinritz et al. 1995, 368). Soziale Kontrolle<br />
steht daher in einem engen Zusammenhang mit <strong>der</strong><br />
Durchsetzung von gesellschaftlichen und sozialen Normen. Sie<br />
för<strong>der</strong>t durch die Internalisierung gewünschter Verhaltensweisen<br />
die gesellschaftliche Integration und wirkt zugleich disziplinierend:<br />
Für jene, die sich diesen Werten und gewünschten<br />
Verhaltensweisen entziehen, diese verletzen o<strong>der</strong> sie nicht<br />
beachten und sich dementsprechend »abweichend« verhalten,<br />
entsteht in Form von negativen Sanktionen zum Teil enormer<br />
Druck, <strong>der</strong> zu Stigmatisierung und sozialer Ausschließung führen<br />
kann.<br />
Nicht nur die Familie als primäre Sozialisationsinstanz, son<strong>der</strong>n<br />
auch Schule, Peer-Gruppen etc. wirken auf soziale<br />
Normen und sozial akzeptiertes Verhalten prägend. Lange Zeit<br />
nicht beachtet, hat im Beson<strong>der</strong>en die kritische Sozialstaatsforschung<br />
<strong>der</strong> 1970er Jahre darauf hingewiesen, wie z.B.<br />
im Band »Sozialpolitik als soziale Kontrolle« <strong>der</strong> Starnberger<br />
Studien (1978), dass Sozialpolitik »niemals nur soziale Hilfe<br />
ist, son<strong>der</strong>n ihr immer auch ein Moment sozialer Kontrolle und<br />
Disziplinierung inne wohnt« (Mohr 2007, 57). Neben <strong>der</strong><br />
Kompensations- und Konstitutionsfunktion, die zu Stabilisierung,<br />
Legitimierung, Umverteilung und Integration <strong>der</strong><br />
Gesellschaft beitragen, wird sozialstaatlichem Wirken daher
14<br />
Aktivierung und soziale Kontrolle<br />
auch eine Kontroll- und Disziplinierungsfunktion zugeschrieben.<br />
Sozialpolitik dient dazu Klassenkonflikte zu entschärfen, da<br />
durch kompensatorische Sozialtransfers Lohnarbeit gegen spezifische<br />
Risiken abgesichert wird. Sie trägt somit auch zur politischen<br />
Stabilität sowie zur sozialen Integration bei. Die<br />
Konstitutionsfunktion betont, dass erst durch sozialpolitische<br />
Maßnahmen, wie z.B. durch Ausbildung und Qualifizierung<br />
von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen und Maßnahmen <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>smarktpolitik,<br />
»die Voraussetzung für die Nutzung von <strong>Arbeit</strong>skräften<br />
in einzelkapitalistischen Produktionsprozessen« hergestellt<br />
wird (Rödel/Guldimann 1978, 22). Die <strong>der</strong> Organisation sozialer<br />
Sicherheit zugeschriebene disziplinierende und kontrollierende<br />
Funktion bezieht sich auf »die Zurichtung <strong>der</strong> Individuen<br />
auf die Erfor<strong>der</strong>nisse <strong>der</strong> Marktgesellschaft« (Mohr 2007, 16)<br />
durch die Verfestigung und Durchsetzung von Wert- und<br />
Handlungsprinzipien (z.B. Motivation und Leistungsorientierung),<br />
die, so Rödel und Guldimann (1978, 27f), »erstens<br />
sicherstellen, dass die Lohnarbeiter regelmäßig als individuelle<br />
Anbieter ihrer <strong>Arbeit</strong>skraft auf dem <strong>Arbeit</strong>smarkt auftreten, und<br />
zweitens gewährleisten, dass die <strong>Arbeit</strong>er die Disziplinierungen,<br />
Belastungen und Risiken des <strong>Arbeit</strong>s- und Produktionsprozesses<br />
als normal hinnehmen.« Ähnlich argumentieren Sachße<br />
und Tennstedt (1986, 12), die »disziplinierende Verhaltenszumutungen<br />
(als) notwendige Begleiterscheinungen bzw.<br />
Voraussetzungen einer spezifischen Form sozialer Sicherheit«<br />
betrachten.<br />
Piven und Cloward (1977 zit. nach Mohr 2007, 58ff) analysieren<br />
am Beispiel <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Sozialhilfepolitik <strong>der</strong> USA<br />
wechselnde Phasen <strong>der</strong> Ausweitung bzw. Einschränkung sozialer<br />
Leistungen, die sie mit <strong>der</strong> systemimmanenten Notwendigkeit<br />
<strong>der</strong> Aufrechterhaltung <strong>der</strong> kapitalistischen Sozial- und<br />
Wirtschaftsordnung in Zusammenhang bringen. Zum einen<br />
wird durch die Verteilung von Sozialleistungen eine politische<br />
Stabilisierung erzeugt, zum an<strong>der</strong>en wird bei <strong>der</strong> Organisation
Aktivierung und soziale Kontrolle 15<br />
und Ausgestaltung des sozialen Systems darauf Bedacht<br />
genommen, dass trotz sozialer Hilfe <strong>der</strong> Druck zum Verkauf <strong>der</strong><br />
<strong>Arbeit</strong>skraft am <strong>Arbeit</strong>smarkt aufrecht bleibt, meist durch<br />
Zugangsbarrieren, niedrige Leistungen, die Bereitschaft und<br />
die Pflicht zur Erwerbstätigkeit sowie gegebenenfalls durch<br />
Androhen o<strong>der</strong> Verhängen von Sanktionen (vgl. Mohr 2007,<br />
58f). Als ein sozialstaatliches Paradoxon ist hier jenes<br />
Phänomen zu verorten, dass es gerade in Zeiten wirtschaftlichen<br />
Aufschwungs und zunehmenden Wohlstands eher zum<br />
Ausbau sozialer Leistungen kommt, aber »(i)n <strong>der</strong> Krise, dann<br />
wenn sie am nötigsten sind, werden soziale Leistungen abgebaut.«<br />
(Sachße/Tennstedt 1986, 12).<br />
Eine abgeschwächte und modifizierte Version <strong>der</strong> sozialstaatlichen<br />
Kontroll- und Disziplinierungsfunktion wird auch durch<br />
jene Ansätze deutlich, die <strong>der</strong> Sozialpolitik »einen formenden<br />
Zugriff auf die zeitliche Ordnung des Lebens« bescheinigen<br />
(Leibfried et al. 1995, 24). Sozialpolitik und Sozialrecht sind<br />
Struktur gebende Komponenten im individuellen Lebenslauf,<br />
von <strong>der</strong> Wiege bis ins Grab. Sie beeinflussen explizit o<strong>der</strong><br />
implizit private Lebensformen, Entscheidungen, wie z.B.<br />
Heirat, Scheidung o<strong>der</strong> Kündigung, werden auch im Hinblick<br />
auf die damit verbundenen Rechtsfolgen getroffen (vgl. u.a.<br />
Kaufmann 1997). Unbestritten eröffnen sie Handlungsmöglichkeiten,<br />
schaffen zugleich aber auch Zwänge. Sie wirken rechtlich<br />
normierend und somit Lebenslauf bestimmend, da sie beispielsweise<br />
vorgeben, ab welchem Alter und nach wie vielen<br />
Jahren <strong>der</strong> Erwerbstätigkeit wir in Pension gehen können o<strong>der</strong><br />
müssen, in welchen Phasen unseres Lebens wir uns – staatlich<br />
unterstützt – ausbilden können o<strong>der</strong> ob bzw. welche Sozialleistungen<br />
bei einer längerer Phase <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>smarktabstinenz<br />
mittels welcher Vorleistungen zu gewähren sind.<br />
Wiewohl normierende und disziplinierende Funktionen jedem<br />
staatlichen Wirken immanent ist, sind Art, Ausmaß und Folgen<br />
sozialer Kontrolle in nicht unmaßgeblicher Weise davon beeinflusst,<br />
von welcher Staatskonzeption ausgegangen wird.
16<br />
Aktivierung und soziale Kontrolle<br />
Aktivierung und soziale Kontrolle<br />
in wohlfahrtsstaatlichen Konzepten<br />
Das angeführte Beispiel, welche Leistungen im Falle <strong>der</strong><br />
<strong>Arbeit</strong>smarktabsenz zur Verfügung gestellt werden, schließt<br />
unmittelbar an die Begriffe Aktivierung und soziale Kontrolle<br />
an. Es stellt sich daher die Frage, ob und wie diese sich in unterschiedlichen<br />
wohlfahrtsstaatlichen Konzepten finden und welche<br />
(sozial-)politischen Maßnahmen sich daraus ableiten lassen.<br />
Sind Aktivierungskonzepte unterstützende Maßnahmen,<br />
Qualifizierung und Empowerment für jene, die den gegenwärtigen<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen einer immer flexibleren und entgrenzten<br />
<strong>Arbeit</strong>swelt wenig o<strong>der</strong> gar nicht gerecht werden? Sind sie ein<br />
legitimes Mittel gegen Müßiggang und Missbrauch sozialer<br />
Unterstützung? O<strong>der</strong> sind sie »disziplinierende Verhaltenszumutungen«<br />
und »arbeitsmarktpolitische Herrschaftsinstrumente<br />
in einer flexibilisierten Wirtschaft« (Zilian 2000, 567ff),<br />
primär darauf gerichtet, sozialstaatliche Leistungen zu reduzieren,<br />
Kontrollmechanismen zu installieren und <strong>Arbeit</strong>sbereitschaft<br />
aufrecht zu erhalten?<br />
Entsprechend <strong>der</strong> Krisendiagnostik eines neoliberalen Staatsmodells<br />
wird <strong>Arbeit</strong>slosigkeit als Individualschuld interpretiert,<br />
die sich aus fehlen<strong>der</strong> Marktfähigkeit, unredlichem Verhalten<br />
und mangeln<strong>der</strong> Motivation ergibt. <strong>Arbeit</strong>slosigkeit ist – ausgehend<br />
vom Menschenbild des »homo oeconomicus« und dem<br />
Prinzip <strong>der</strong> Vertragsfreiheit – freiwillig gewählt. Mangelnde<br />
Motivation und mangelnde <strong>Arbeit</strong>sanreize führen zu einem<br />
weiteren Erklärungsansatz von Nicht-Erwerbstätigkeit, <strong>der</strong> im<br />
Versagen wohlfahrtsstaatlicher Politik liegt: Zu großzügige und<br />
im Sinne <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>smarktintegration kontraproduktive Sozialleistungen<br />
<strong>der</strong> europäischen Wohlfahrtsstaaten stünden einer<br />
<strong>Arbeit</strong>saufnahme im Wege. Gerade im Niedriglohnbereich<br />
rechne sich das aus legaler Erwerbsarbeit zu erzielende und mit<br />
Abgaben belastete Einkommen nicht. Viel eher würden soziale<br />
Leistungen in Anspruch genommen, die allenfalls mit Einkom-
Aktivierung und soziale Kontrolle 17<br />
men aus Schwarzarbeit aufgebessert würden. <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />
bleibe daher auf einem hohen Niveau, so die Argumentationslinie,<br />
da durch zu hohe Sozialunterstützungen die Aufnahme<br />
von Erwerbstätigkeit nicht geför<strong>der</strong>t, son<strong>der</strong>n im Gegenteil verhin<strong>der</strong>t<br />
werde. Wohlfahrtsstaatlich bedingte, nicht vorhandene<br />
Lohnflexibilität nach unten führe zu zusätzlicher <strong>Arbeit</strong>slosigkeit.<br />
<strong>Arbeit</strong>slosigkeit wird demnach als Produkt des Versagens<br />
wohlfahrtsstaatlicher Politik, individueller Antriebslosigkeit<br />
und Motivation interpretiert: Der »Wohlfahrtsstaat wird als<br />
För<strong>der</strong>er von Unmoral, Missbrauch und sozialer Devianz«<br />
gebrandmarkt und mit ihm werden arbeitslose TransfersbezieherInnen<br />
als SozialschmarotzerInnen stigmatisiert (vgl.<br />
Butterwege 2005,104f).<br />
Konsequenterweise wird aus dieser Sicht im Konzept des aktivierenden<br />
Staates ein »Weniger« an sozialstaatlichem<br />
Engagement und ein »Mehr« des/<strong>der</strong> Einzelnen favorisiert. Ziel<br />
ist es, Eigeninitiative zu för<strong>der</strong>n, Selbstverantwortung zu steigern,<br />
Selbsthilfe anzuregen. Kurzum, am Programm eines aus<br />
<strong>der</strong> neoliberalen Kritik konzipierten aktivierenden Staates stehen<br />
die Rücknahme gesamtgesellschaftlicher Verantwortung<br />
durch Privatisierung und Entstaatlichung und die individuelle<br />
Verantwortungssteigerung durch For<strong>der</strong>n und För<strong>der</strong>n, durch<br />
Leistung und Gegenleistung, wobei die Akzentuierung auf <strong>der</strong><br />
Gegenleistung liegt. Der Begriff <strong>der</strong> Aktivierung zielt hier primär<br />
auf den <strong>Arbeit</strong>smarkt ab, es gilt, <strong>Arbeit</strong>sanreize und<br />
<strong>Arbeit</strong>smotivation zu erhöhen, sei es durch Sanktionen, reduzierte<br />
Sozialtransfers, <strong>Arbeit</strong>szwang und zunehmen<strong>der</strong> sozialer<br />
Kontrolle. Betont werden dabei nicht die Rechte <strong>der</strong> Einzelnen,<br />
son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>en Pflichten dem Gemeinwesen gegenüber.<br />
Kollektive Lebensrisiken werden individualisiert, Aktivierung<br />
zu »einer neo-liberalen Verpflichtungserklärung des Einzelnen<br />
gegenüber <strong>der</strong> Gesellschaft« (Dahme et al. 2003, 10), die<br />
zudem verdecken hilft, dass es dabei um einen massiven Abbau<br />
sozialer Absicherung geht.
18<br />
Aktivierung und soziale Kontrolle<br />
Abbildung 1: Aktivierung und wohlfahrtsstaatliche<br />
Konzeptionen<br />
Am an<strong>der</strong>en Pol wohlfahrtsstaatlicher Konzeptionen steht <strong>der</strong><br />
universalistische Sozialstaat. <strong>Arbeit</strong>slosigkeit wird als Produkt<br />
des ökonomischen Wandels wahrgenommen, bedingt durch<br />
strukturelle Verän<strong>der</strong>ungen des Wirtschaftens unter globalisierten<br />
Bedingungen. Diese erhöhen das Risiko, aus dem <strong>Arbeit</strong>smarkt<br />
heraus zu fallen, ebenso wie diskontinuierliche<br />
Beschäftigungskarrieren und die im Vormarsch befindlichen<br />
atypischen Beschäftigungsformen zu Prekarisierung und<br />
Ausgrenzung beitragen. Gesellschaftliche Verantwortung für<br />
Menschen mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten und in ihrer<br />
gesellschaftlichen Einbettung stehen hier im Vor<strong>der</strong>grund. Ziel<br />
ist es, gesellschaftliche Teilhabe für alle zu ermöglichen, und<br />
diese wird noch immer, o<strong>der</strong> besser gesagt, immer mehr über<br />
Erwerbsarbeit erreicht. Anstelle des »homo oeconomicus« tritt<br />
in Anlehnung an Hannah Arendt <strong>der</strong>»homo activus«, <strong>der</strong> tätige<br />
Mensch, als engagiert partizipativer Akteur, dem Solidarität ein<br />
maßgebliches Handlungsprinzip ist. Beson<strong>der</strong>e Unterstützung
Aktivierung und soziale Kontrolle 19<br />
zu einer verbesserten Sozial- und <strong>Arbeit</strong>smarktintegration ist<br />
daher für Benachteiligte vorzusehen, um eine Einbindung an<br />
soziale Sicherungssysteme und in den <strong>Arbeit</strong>smarkt zu erreichen.<br />
Es geht um eine Verbesserung <strong>der</strong> sozialen Partizipation<br />
und um die Erhöhung <strong>der</strong> Chancen am <strong>Arbeit</strong>smarkt durch die<br />
Erhöhung <strong>der</strong> Beschäftigungsfähigkeit (Qualifizierung,<br />
<strong>Arbeit</strong>straining etc.). Sozial- und <strong>Arbeit</strong>smarktintegration stellen<br />
gleichberechtigte Ziele von sozialer Aktivierung dar. Nicht<br />
Pflicht, son<strong>der</strong>n gesellschaftliche, sprich staatliche Verantwortung<br />
und Recht werden hier betont.<br />
Folgt man diesen idealtypischen Konzeptionen, ist das Leitbild<br />
des aktivierenden Staats als Konsens o<strong>der</strong> als »dritter« Weg<br />
zwischen dem marktliberalen und dem universalistischen<br />
Modell nicht aufrecht zu erhalten. Es kann nicht gleichzeitig<br />
ein »Mehr« und ein »Weniger« an gesamtgesellschaftlicher<br />
Verantwortung umgesetzt werden. Es ist demnach bei <strong>der</strong><br />
Bewertung des Begriffs <strong>der</strong> Aktivierung sowie des aktivierenden<br />
Staats sowie <strong>der</strong> damit verbundenen Strategien zu klären,<br />
welche Probleme – und wie diese – wahrgenommen werden<br />
und von welcher wohlfahrtsstaatlichen Konzeption und dem<br />
damit zugrunde liegendem Menschenbild Aktivierungsmaßnahmen<br />
ihren Ausgangspunkt nehmen. Hält man an bisherigen<br />
wohlfahrtsstaatlichen Prinzipien und Leistungen fest o<strong>der</strong> ist<br />
das Menschenbild durch einen faulen, Nutzen maximierenden<br />
homo oeconomicus geprägt, den es durch »negative<br />
Aktivierung« zu bestrafen gilt? Sozialpolitische Strategien können<br />
daher nicht isoliert betrachtet werden, son<strong>der</strong>n verkörpern<br />
bestimmte Welt- und Menschbil<strong>der</strong>.<br />
Der politische Diskurs und die Praxis von Aktivierungsmaßnahmen<br />
orientieren sich in <strong>der</strong> Regel nicht an Wohlfahrtsstaatskonzeptionen.<br />
Übereinstimmung herrscht im Allgemeinen<br />
weitgehend darin, soziale Ausgrenzung und Armut zu<br />
verhin<strong>der</strong>n, während sich die Ziele und Instrumente, um dies zu<br />
erreichen, deutlich unterscheiden. Dem eines minimalistischen,<br />
neoliberalen Staates und dessen zugrunde liegendem
20<br />
Aktivierung und soziale Kontrolle<br />
Menschenbild stehen Umverteilungs- und Inklusionsdiskurse<br />
und <strong>der</strong>en Ansätze zur Aktivierung gegenüber (vgl. Aust/Arriba<br />
2004, 19ff). Im letztgenannten wird sowohl die gesellschaftliche<br />
als auch die individuelle Verantwortung angesprochen.<br />
Kritisiert wird, dass wohlfahrtsstaatliches Engagement durch<br />
Sozialtransfers (auch) zu negativen Anreizen, Wohlfahrtsabhängigkeit<br />
und Armutsfallen führen kann.<br />
Ich gehe davon aus, dass, solange es nicht zu einer Präzisierung<br />
des Begriffs Aktivierung sowie des ebenso ambivalenten<br />
Leitbildes eines aktivierenden Staats kommt, eine analytische<br />
Interpretation notwendig und eine normative Abgrenzung in<br />
»positive« und »negative« Aktivierung unumgänglich ist.<br />
Möglicherweise wäre eine Unterscheidung in suppressive und<br />
emanzipatorische Aktivierung hilfreich.<br />
Unter den Begriff suppressiver Aktivierung subsumiere ich alle<br />
jene Maßnahmen, die in <strong>der</strong> Ideologie eines minimalistischen<br />
Staates mit <strong>der</strong> primären Zielsetzung Sozialbudgets zu senken<br />
durch die Einschränkung von Sozialleistungen, durch<br />
Repression, Sanktion, Zwang und Druck, soziale Normen für<br />
alle gleichermaßen, wie z.B. den Zwang zur Verwertung <strong>der</strong><br />
<strong>Arbeit</strong>skraft, durchzusetzen versuchen, ohne Berücksichtigung<br />
<strong>der</strong> individuellen noch <strong>der</strong> strukturelle Lage. Legistische<br />
Maßnahmen, wie beispielsweise die restriktiven Novellierungen<br />
im österreichischen <strong>Arbeit</strong>slosenversicherungsgesetz in<br />
den letzten zehn Jahren, gekennzeichnet durch einen erschwerten<br />
Leistungszugang und die Senkung des Niveaus <strong>der</strong> Leistung<br />
(vgl. Artner 2001), zählen ebenso dazu wie Androhung von<br />
Sperren <strong>der</strong> Geldleistung sowie ganz generell eine Politik, die<br />
gesamtgesellschaftliche Ursachen bestimmter Problemlagen<br />
negiert und die Verantwortung auf bestimmtes individuelles<br />
Verhalten reduziert und damit delegiert (vgl. Stelzer-Orthofer<br />
2001).<br />
Demgegenüber steht meiner Ansicht nach die emanzipatorische<br />
Aktivierung, die in <strong>der</strong> Tradition eines umfassenden Wohlfahrtsstaats<br />
Zugänge eröffnen hilft, die sowohl auf <strong>der</strong> indivi-
Aktivierung und soziale Kontrolle 21<br />
duellen Ebene als auch auf <strong>der</strong> strukturellen Ebene ansetzen.<br />
Zugänge eröffnen bedeutet gesellschaftliche Teilhabechancen<br />
erhöhen. Dies kann durch den Zutritt in den ersten o<strong>der</strong> zweiten<br />
<strong>Arbeit</strong>smarkt, durch Möglichkeiten Kompetenzen und neue<br />
Qualifikationen zu erwerben erfolgen o<strong>der</strong> aber auch durch<br />
finanzielle Absicherung und die Anbindung an soziale<br />
Sicherheit, die als Minimalziel soziale Teilhabe ermöglicht.<br />
Aktivierende Soziale <strong>Arbeit</strong> zwischen Kontrolle<br />
und Empowerment<br />
Ein aktivieren<strong>der</strong> Staat – unabhängig davon, ob in neoliberaler<br />
o<strong>der</strong> universalistischer Tradition – bleibt nicht ohne Folgen für<br />
die Positionierung von Sozialer <strong>Arbeit</strong>, da sie hinsichtlich ihrer<br />
Funktionen eng mit Sozialpolitik, demnach wohlfahrtsstaatlichen<br />
Konzeptionen, verknüpft ist (vgl. Hammer 2006). Das<br />
Handlungsfeld ist zumindest im letzten Jahrzehnt durch eine<br />
zunehmende Ökonomisierung geprägt. Die Ausglie<strong>der</strong>ung von<br />
sozialen Dienstleistungen aus <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltung, <strong>der</strong><br />
Druck, Dienstleistungen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> verkaufen zu müssen,<br />
führen zu einem »Wandel <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> Organisation und<br />
Kontrolle von Leistungserbringungen in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>«<br />
(Spatschek 2007, 53). Durch administrative Vorgaben und<br />
zunehmende finanzielle Restriktionen wird die Zeit für die<br />
KlientInnen knapper, <strong>der</strong> Handlungsspielraum enger. Dokumentationspflichten<br />
für Auftraggeber und Finanziers erschweren<br />
die tägliche Praxis. Ein Interessenskonflikt entsteht dann,<br />
wenn »die legitimen Interessen <strong>der</strong> Zielgruppen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> den Interessen <strong>der</strong> öffentlichen Anbieter entgegenstehen«<br />
(Spatschek 2007, 54).<br />
Wenn sozialstaatlichem Wirken eine disziplinierende und kontrollierende<br />
Funktion zukommt, gilt dies erst recht für Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong>. Soziale <strong>Arbeit</strong> war schon bisher gefor<strong>der</strong>t, mit dem ihr<br />
immanenten – und mit dem Begriff des »doppelten Mandats«
22<br />
Aktivierung und soziale Kontrolle<br />
umschriebenen – teils wi<strong>der</strong>sprüchlichen Verhältnis von sozialarbeiterischer<br />
Hilfe und Unterstützung für den und die Einzelne<br />
einerseits sowie dem mehr o<strong>der</strong> weniger expliziten gesellschaftlichen<br />
Auftrag <strong>der</strong> sozialer Normierung, Disziplinierung<br />
und Kontrolle an<strong>der</strong>erseits (vgl. Hammer 2006) zurechtzukommen,<br />
demnach den Spagat zwischen Hilfe und sozialer<br />
Kontrolle zu meistern. In einem neoliberalen Konstrukt eines<br />
aktivierenden Staats neigt sich »die Waage (...) wie<strong>der</strong> deutlicher<br />
und stärker zur Kontrollseite« (Galuske 2007, 25). Somit<br />
erhöht sich die Gefahr <strong>der</strong> Instrumentalisierung <strong>der</strong> sozialen<br />
<strong>Arbeit</strong>, die als »eine Art Trojanisches Pferd« eingesetzt wird:<br />
»Professionelle Sozialarbeit wird in Anspruch genommen, um<br />
professionsfremde Ziele zu verfolgen: Kostenersparnis statt<br />
bedarfsgerechter Hilfe zur Führung eines menschwürdigen<br />
Lebens.« (Stark 2007, 404). Aktivierende soziale <strong>Arbeit</strong>, im<br />
Sinne einer suppressiven Aktivierung, wird hier zum<br />
Erfüllungsgehilfen für die Rücknahme sozialstaatlicher<br />
Leistungen und den Abbau von Sozialtransfers.<br />
Demgegenüber steht <strong>der</strong> eingangs erwähnte Empowerment-<br />
Ansatz, <strong>der</strong> sofern er nicht als Deckmantel <strong>der</strong> suppressiven<br />
Aktivierung dient, einer emanzipatorischen Aktivierung entspricht.<br />
Ziel hierbei es ist, »die Menschen zur Entdeckung ihrer<br />
eigenen (vielfach verschütteten) Stärken zu ermutigen, ihre<br />
Fähigkeiten zu Selbstbestimmung und Selbstverän<strong>der</strong>ung zu<br />
stärken und sie bei <strong>der</strong> Suche nach Lebensräumen und<br />
Lebenszukünften zu unterstützen, die einen Zugewinn von<br />
Autonomie, sozialer Teilhabe und eigenbestimmter Lebensregie<br />
versprechen.« (Herringer 1997, 7). Kritische Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> hat hier zum einen auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Individuen<br />
Möglichkeiten auszuloten und motivierend auf die KlientInnen<br />
einzuwirken. Zum an<strong>der</strong>en ist sie auf <strong>der</strong> Ebene des Politischen<br />
gefor<strong>der</strong>t, sich aktiv in eine demokratische und gerechte<br />
Ausgestaltung <strong>der</strong> sozialen Sicherheit einzubringen.
Aktivierung und soziale Kontrolle 23<br />
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Auftrag und Mandat<br />
Frank Bettinger<br />
Überlegungen bezüglich – <strong>der</strong> im weiteren Verlauf synonym<br />
verwendeten Begriffe – »Auftrag« bzw. »Mandat« Sozialer<br />
<strong>Arbeit</strong> gestalten sich schwierig. Ein eindeutiger, expliziter<br />
Auftrag »<strong>der</strong>« <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ist ohne weiteres nicht identifizierbar,<br />
son<strong>der</strong>n variiert räumlich und historisch, aber auch je<br />
nach <strong>Arbeit</strong>sfeld, nach ideologischen, partei- und ordnungspolitischen<br />
Präferenzen von EntscheidungsträgerInnen, nach<br />
(wissenschafts-)theoretischer Ausrichtung <strong>der</strong> SozialarbeiterInnen<br />
und SozialpädagogInnen usw. Im Folgenden wird <strong>der</strong><br />
Versuch unternommen, mit Blick insbeson<strong>der</strong>e auf das sozialpädagogische<br />
<strong>Arbeit</strong>sfeld <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit,<br />
Möglichkeiten und Notwendigkeiten autonomerer Gegenstands-<br />
und Funktionsbestimmung als Voraussetzung selbstbestimmterer<br />
sozialpädagogischer Praxis zu skizzieren.<br />
Der Staat, das Recht und die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
Die gesellschaftliche Funktion Sozialer <strong>Arbeit</strong> ist nach wie vor<br />
umstritten. Grundsätzlich lassen sich Soziale <strong>Arbeit</strong> bzw. die an<br />
sie gerichteten Aufgaben und Aufträge nur verstehen, wenn<br />
zugleich die historische Entwicklung sowie die gesellschaftlichen,<br />
politischen, rechtlichen und ökonomischen Bedingungen<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> rekonstruiert werden – was nur vereinzelt<br />
hier geleistet werden kann. So entwickelte sich Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
»als tragendes Element eines ambivalenten wohlfahrtsstaatlichen<br />
Auftrags. Sie verdankt ihre Entstehung den Ligaturen<br />
jener Rationalisierungs-, Säkularisierungs- und Bürokratisierungsprozesse,<br />
die Habermas formschön als Kolonialisierung<br />
<strong>der</strong> Lebenswelt beschrieben hat« (Dimmel, 2005, 65).
26<br />
Auftrag und Mandat<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> war in ihrem Handeln von Beginn an orientiert<br />
an ihr vorgegebene gesellschaftliche Ordnungsmodelle, an<br />
Vorstellungen von »Normalität«, »Devianz« und »sozialen<br />
Problemen«, also Gegenständen, die als Bezugsrahmen bis zum<br />
heutigen Tage Bestand haben. Spätestens mit <strong>der</strong><br />
Verberuflichung Sozialer <strong>Arbeit</strong> entwickelten sich die neuen<br />
Professionellen »zu Sachwaltern für richtig erfolgte Erziehung,<br />
für korrekte Haushalts- und Lebensführung, kurz: zu Experten<br />
und Garanten für Normalität« (Merten/Olk, 1999, 966), in<br />
<strong>der</strong>en beruflichem Handeln sich eine Orientierung an vermeintlich<br />
fachlichem, häufig jedoch alltagstheoretischem Wissen und<br />
berufspraktischem Können mit <strong>der</strong> Orientierung an gesellschaftlichen<br />
Normalitätsstandards verschränken, die in <strong>der</strong><br />
Struktur <strong>der</strong> Institutionen wie ihren Aufgabendefinitionen eingelassen<br />
sind (vgl. Dewe/Ferchhoff/Scherr/Stüwe, 1995, 20).<br />
Hier kommt eine Asymmetrie (vgl. Gängler 2001) zum<br />
Ausdruck: eine doppelte Verpflichtung sowohl gegenüber den<br />
Ansprüchen gesellschaftlicher bzw. staatlicher Vorgaben, als<br />
auch gegenüber einem eigenen professionellen und gegenstandsbezogenen<br />
Selbstverständnis; eine Asymmetrie, die – als<br />
»doppeltes Mandat« begrifflich gefasst – in allen <strong>Arbeit</strong>sfel<strong>der</strong>n<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> bezüglich <strong>der</strong> jeweiligen Dominanz einer <strong>der</strong><br />
beiden Verpflichtungen zu reflektieren und gegebenenfalls<br />
zugunsten fachlicher Ansprüche zu verän<strong>der</strong>n ist.<br />
Es ist einerseits <strong>der</strong> Staat, <strong>der</strong> seine Macht <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
delegiert und dessen normativer, sozialrechtlicher Rahmen den<br />
Handlungsspielraum <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> begrenzt, was an<strong>der</strong>erseits<br />
dazu führt, dass Soziale <strong>Arbeit</strong> häufig Verwaltungshandeln<br />
ist, also Vollzug von Recht; gleichwohl Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
(zumindest grundsätzlich) trotz weitgehen<strong>der</strong> rechtlicher<br />
Verregelung, deutlich mehr als das Kodifizierte umfasst,<br />
umfassen sollte: und zwar ein professionelles, auf einen<br />
Gegenstand bezogenes Selbstverständnis, das den rechtlich<br />
vorgegebenen Rahmen sehr wohl zu ergänzen, gar zu verän<strong>der</strong>n<br />
vermag (vgl. Dimmel, 2005, 70; Hammerschmidt 2005). Die
Auftrag und Mandat 27<br />
Sozialgesetzgebung generiert zwar einen konstitutiven Rahmen<br />
<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, for<strong>der</strong>t aber an<strong>der</strong>erseits – so die optimistische<br />
Formulierung von Gedrath und Schröer – einen kontroversen<br />
Diskurs in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> heraus und ist in Bezug<br />
auf Reformperspektiven von diesem selbst abhängig. Gerade<br />
die Entwicklung des Rechts und <strong>der</strong> relevanten Gegenstände<br />
dokumentiert, dass insbeson<strong>der</strong>e »die Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe<br />
ohne Bezug auf die kontroversen Sozialdiskurse um die<br />
Vergesellschaftung von Kindheit und Jugend in <strong>der</strong> industriekapitalistischen<br />
Mo<strong>der</strong>ne kaum zu begreifen ist. Nur wenn die<br />
rechtlichen Vorgaben – als ein Kernbestandteil <strong>der</strong> sozialstaatlichen<br />
Vergesellschaftung von Kindheit und Jugend – zu einem<br />
diskursiven Brennpunkt <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfediskussion<br />
werden, kann die Soziale <strong>Arbeit</strong> eine eigenständige Position in<br />
Bezug auf die sozialpädagogischen Herausfor<strong>der</strong>ungen von<br />
Kindheit und Jugend im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t finden«<br />
(Gedrath/Schröer, 2002, 663).<br />
Die Produktion von Wissen, Wahrheit<br />
und Gegenstand<br />
Allerdings würde es zu kurz greifen, ausschließlich die rechtlichen<br />
Vorgaben in den Blick zu nehmen. Für ein weiteres<br />
Verständnis <strong>der</strong> Aufgaben und Funktionen Sozialer <strong>Arbeit</strong> bedarf<br />
viel mehr <strong>der</strong> Gegenstand und in <strong>der</strong> Folge die Funktion Sozialer<br />
<strong>Arbeit</strong>, somit die Produktion von Wissen und Wahrheit gerade<br />
auch in <strong>Arbeit</strong>sfel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe, in denen das<br />
sozialpädagogische Bemühen jungen Menschen gilt, mehr<br />
Aufmerksamkeit. Dies in dem Bemühen, sich von einem naiven,<br />
objektivistischen Verständnis von »Gegenstand«, »Funktion«,<br />
»Auftrag« zu verabschieden, das seit jeher Wegbegleiter Sozialer<br />
<strong>Arbeit</strong> war und wesentlich dazu beigetragen hat, Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
als das zu konturieren, was sie nach wie vor ist: untertänige<br />
Handlangerin und Bearbeiterin ihr vorgegebener »Probleme«.
28<br />
Auftrag und Mandat<br />
So ist davon auszugehen, dass die Kategorie »Jugend« eine<br />
soziokulturelle Konstruktion ist, die unter ganz bestimmten<br />
gesellschaftlichen Bedingungen – nämlich im Zuge <strong>der</strong><br />
Industrialisierung im späten 19. und frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>t –<br />
entstanden ist, und darüber hinaus einem historischen Wandel<br />
unterliegt. M.a.W., Jugend als eigene Lebensphase zwischen<br />
Kindheit und Erwachsensein ist ein Produkt und Projekt <strong>der</strong><br />
europäischen Mo<strong>der</strong>ne (vgl. Münchmeier 2001), und als »soziales<br />
Problem« seit jeher Gegenstand sozialpädagogischen<br />
Bemühens <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe.<br />
Anhorn skizziert die Entstehungsbedingungen von Jugend als<br />
ein normatives Konstrukt in <strong>der</strong> Weise, dass die »Erfindung des<br />
Jugendlichen« (Roth) als dem An<strong>der</strong>en, Defizitären,<br />
Gefährdeten und Gefährlichen, zugleich <strong>der</strong> Entmachtung und<br />
Ausgrenzung von Jugendlichen dient, da es die Voraussetzungen<br />
und Legitimationen für eine (sozial- und kriminal-)<br />
politische und sozialpädagogische Intensivierung und Ausweitung<br />
<strong>der</strong> Kontrolle und Disziplinierung von Jugendlichen<br />
schafft (vgl. Anhorn 2002, S. 48). Mit den im Zuge <strong>der</strong><br />
Industrialisierung stetig steigenden Qualifikationserfor<strong>der</strong>nissen,<br />
dehnte sich die Lebensphase Jugend als eigenständige<br />
Übergangs- und Entwicklungsphase zwischen Kindheit und<br />
Erwachsenenstatus tendenziell auf alle sozialen Klassen und<br />
Schichten aus. Der Begriff »Jugendlicher« löste sich nach und<br />
nach aus dem sozialen Bedeutungshorizont von proletarischen,<br />
verwahrlosten und kriminellen jungen Menschen, insbeson<strong>der</strong>e<br />
im Zuge <strong>der</strong> Institutionalisierung von Jugendhilfe und<br />
Jugendarbeit. »Am Ende dieser Entwicklung stand nicht nur ein<br />
Konzept, das die Jugend im politisch-wissenschaftlich-massenmedialen<br />
Diskurs als eigenständige und einer eigenen<br />
Entwicklungslogik mit jugendspezifischen Beson<strong>der</strong>heiten<br />
gehorchenden Lebensphase etablierte, und die Jugendlichen –<br />
ungeachtet aller sozioökonomischen und geschlechtsspezifischen<br />
Unterschiede – zu einer deutlich eingrenzbaren, homogenen<br />
sozialen Gruppe stilisierte; darüber hinaus resultierte aus
Auftrag und Mandat 29<br />
<strong>der</strong> Verschmelzung dieser beiden Entwicklungslinien bereits in<br />
<strong>der</strong> Konstitutionsphase des mo<strong>der</strong>nen Konzepts Jugend jenes<br />
wi<strong>der</strong>sprüchliche Konglomerat aus positiven wie negativen<br />
Bedeutungselementen, das bis auf den heutigen Tag seinen<br />
Ausdruck in einer tief greifenden Ambivalenz, in <strong>der</strong><br />
Typisierung und den gesellschaftlichen Reaktionen auf<br />
Jugend/Jugendliche findet« (Anhorn 2002, S. 50).<br />
Mit <strong>der</strong> Produktion des Gegenstandes »Jugend« und in <strong>der</strong><br />
Folge »Jugend als problematische Lebensphase« gehen bis zum<br />
heutigen Tage negative Konnotationen einher, die einen grundsätzlichen<br />
Zusammenhang von Jugend mit Phänomenen wie<br />
Gefährlichkeit, Gefährdung, Abweichung unterstellen, die<br />
wie<strong>der</strong>um präventives o<strong>der</strong> reaktives, regelmäßig jedoch (sozial)pädagogisches<br />
Eingreifen zu erfor<strong>der</strong>n und zu legitimieren<br />
scheinen. Dieser, seit Jahrzehnten reproduzierte negative<br />
Konnex von »Jugend als Problem« liegt – darauf weist Hartmut<br />
Griese hin – nicht zuletzt darin begründet, »dass <strong>der</strong><br />
Mainstream <strong>der</strong> Jugendforschung seit ihren Anfängen bis in<br />
unsere Gegenwart hinein die Beschreibung und Erklärung ihres<br />
Gegenstandes (Jugend) primär in den Kategorien von (biologischen,<br />
entwicklungspsychologischen, sozialisatorischen …)<br />
Defiziten und Störungen konzipiert hat und damit im wesentlichen<br />
Problemforschung geblieben ist« (Griese 1999, S. 463).<br />
Mit <strong>der</strong> diskursiven Produktion des Gegenstandes Jugend wird<br />
eine kategoriale Differenz zwischen Jugendlichen und<br />
Erwachsenen konstituiert; und die Etablierung dieser Differenz,<br />
bzw. des Wissens um diese Differenz, bietet die Legitimation,<br />
Jugend als soziale Gruppe zum Gegenstand ordnungs- und<br />
sozialpolitischen Bemühens sowie insbeson<strong>der</strong>e sozialpädagogischer<br />
Intervention und Kontrolle zu machen. Sämtliche politischen<br />
und (sozial)pädagogischen Anstrengungen und<br />
Maßnahmen finden ihre Rechtfertigung in <strong>der</strong> Anpassung<br />
Jugendlicher an die normativen Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />
Erwachsenenrolle und die Integration <strong>der</strong> Jugend in die<br />
Gesellschaft (Sozialintegration). Der Jugenddiskurs ist seit
30<br />
Auftrag und Mandat<br />
jeher ein Diskurs über Moral und Abweichung. Die in Politik,<br />
Medien, Öffentlichkeit immer wie<strong>der</strong> kehrenden Debatten über<br />
gefährliche und gefährdete Jugendliche greifen auf solche<br />
historisch-kulturell und gesellschaftlich verankerten Vorstellungen<br />
von Jugend zurück. Die in den Diskursen generierten<br />
Deutungen dienen als kollektive Erklärung für soziale<br />
Phänomene bzw. Probleme und werden von den Akteuren zur<br />
Herstellung von Sinn und Begründung ihrer Handlungen subjektiv<br />
aufgegriffen und reproduziert (vgl. Althoff 2002;<br />
Bettinger 2002; Anhorn/Bettinger 2002).<br />
Damit soll vereinzelt erlebbares, häufig aber doch nur rhetorisches<br />
sozialpädagogisches Bemühen um eine emanzipatorische,<br />
an den Bedürfnissen <strong>der</strong> Subjekte ansetzende Jugendarbeit<br />
nicht geleugnet werden. Allerdings »(ist) die Ambivalenz<br />
zwischen den Autonomie-, Selbstvertretungs- und Partizipationsansprüchen<br />
von Heranwachsenden und dem gesellschaftlichen<br />
Auftrag <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit, die soziale<br />
Integration <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen zu för<strong>der</strong>n und im<br />
Konfliktfall auch mit massiven Interventionen einzuklagen, im<br />
Kern auch heute noch aktuell« (Thole, 2000, 32), zumal<br />
Studierende und PraktikerInnen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> sich nach<br />
wie vor an altruistischen und technologischen Konzepten und<br />
Methoden orientieren, und versuchen so den gesellschaftlichen<br />
Erwartungen, die an die Soziale <strong>Arbeit</strong> in Form von Aufgaben<br />
und Aufträgen herangetragen werden, gerecht zu werden;<br />
Erwartungen bezüglich <strong>der</strong> Identifizierung und in <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong><br />
Bewältigung «sozialer Probleme«. Das Interesse gilt regelmäßig<br />
<strong>der</strong> Bewältigung einer konkreten, bearbeitbaren Praxis,<br />
unter Bezugnahme auf alltagstheoretisches Wissen und<br />
Erfahrungen, unter Ausschluss wissenschaftlicher Wissensbestände.
Auftrag und Mandat 31<br />
Beschränkungen traditioneller Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />
Die hier zum Ausdruck kommende fehlende fachliche<br />
Autonomie resultiert ohne Zweifel auch aus dem Eingebundensein<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> in rechtliche und bürokratische<br />
Entscheidungs- und Handlungszusammenhänge. D.h. nach wie<br />
vor dominieren und strukturieren rechtliche, gesellschaftliche,<br />
politische, ökonomische Vorgaben und Funktionszuweisungen<br />
die Praxis <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>; an<strong>der</strong>erseits nehmen sozialpädagogische<br />
PraktikerInnen nahezu ausschließlich das Wissen<br />
bzw. die Wahrheiten zur Kenntnis und somit zur Grundlage<br />
ihres Handelns, die mit den tradierten Evidenzen und vor allem<br />
den Erwartungen politischer EntscheidungsträgerInnen und<br />
GeldgeberInnen kompatibel erscheinen. – Solchermaßen<br />
»funktioniert« Soziale <strong>Arbeit</strong> also, orientiert an einer Ordnung<br />
des <strong>Sozialen</strong>, <strong>der</strong> sie sich in gleichem Maße unterwirft, wie sie<br />
jene als objektiv gegeben voraussetzt. Eine solche, von uns als<br />
»traditionelle« (vgl. Anhorn/Bettinger 2005; Anhorn/Bettinger/<br />
Stehr 2008) bezeichnete Soziale <strong>Arbeit</strong> funktioniert somit im<br />
Kontext neoliberaler, ordnungspolitischer Rahmungen,<br />
• weil sie sich in den Beschränkungen eines objektivistischen<br />
Wissenschaftsverständnisses eingenistet hat,<br />
• weil sie ihren Gegenstand nicht selbst bestimmt, son<strong>der</strong>n<br />
• theorielos, offizielle Definitionen «sozialer Probleme« zu<br />
bearbeiten sucht und<br />
• sich fremde Kategorien und Begrifflichkeiten zu Eigen<br />
macht, ferner<br />
• weil sie in Prozesse <strong>der</strong> Kriminalisierung und Stigmatisierung<br />
involviert ist,<br />
• weil sie strukturelle Faktoren in individuelle Defizite und<br />
Schwächen transformiert und diese individualisierend zu<br />
kompensieren sucht sowie<br />
• eigene Formen <strong>der</strong> sozialen Ausschließung erzeugt und<br />
reproduziert und
32<br />
Auftrag und Mandat<br />
• weil sie – trotz aller Partizipations-Rhetorik – ihren<br />
AdressatInnen regelmäßig lediglich einen Objektstatus<br />
zugesteht.<br />
Die im »doppelten Mandat« zum Ausdruck kommende<br />
Asymmetrie durch das Eingebundensein in rechtliche und<br />
bürokratische Kontexte sowie den daraus resultierenden<br />
Aufträgen einerseits, dem fachlichen Selbstverständnis an<strong>der</strong>erseits,<br />
scheint zunächst nicht auflösbar, denn »jede<br />
Profession ist in den staatlichen Macht- und Herrschaftsapparat<br />
und sein hoheitsstaatliches Verwaltungshandeln in<br />
erheblichem Umfang einbezogen. Sie vollzieht selbst Verwaltungshandlungen<br />
im Auftrag des Staates (…), muss sich an<br />
den Vorgaben <strong>der</strong> staatlichen Verwaltung abarbeiten (…) [und]<br />
ist über ihre staatlichen Auftragshandlungen auch in die globale<br />
Kontrollfunktion, die globale Selektionsfunktion, die globale<br />
Sanktionsfunktion und die globale Ausgrenzungsfunktion<br />
staatlichen Handelns eingebunden« (Schütze, 1997, 243).<br />
Möglichkeitsräume selbstbestimmten Handelns<br />
Und dennoch gibt es Möglichkeiten, die Dominanz staatlicher<br />
und rechtlicher Vorgaben zurück zu drängen und die Anteile<br />
selbst bestimmten Handelns zu erweitern. So gilt es zunächst<br />
zu klären, »über welche Möglichkeitsräume professionellen<br />
Handelns Sozialarbeiter und Sozialpädagogen in den unterschiedlichen<br />
<strong>Arbeit</strong>sfel<strong>der</strong>n und Organisationsstrukturen<br />
sowie in jeweiligen lokalen Kontexten trotz hoheitsstaatlicher<br />
Kontroll- und Sanktionsvorgaben verfügen, sowie ob und ggf.<br />
wie diese von Professionellen auch tatsächlich genutzt werden«<br />
(Scherr, 2006, 142). Dass diese Möglichkeitsräume von<br />
<strong>Arbeit</strong>sfeld zu <strong>Arbeit</strong>sfeld nicht unerheblich variieren ist evident.<br />
Optionen selbstbestimmten Handelns sind in stark reglementierten<br />
Bereichen wie <strong>der</strong> Jugendgerichtshilfe, <strong>der</strong>
Auftrag und Mandat 33<br />
Sozialarbeit im Strafvollzug o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Psychiatrie reduzierter,<br />
als in wenig reglementierten Bereichen, wie <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>und<br />
Jugendarbeit. Dennoch lassen sich grundsätzlich und in<br />
jedem Bereich Möglichkeitsräume erweitern: »Sozialarbeiterinnen<br />
würden den Zugzwängen und dem vielfältigen<br />
Druck des hoheitsstaatlichen Verwaltungs- und Herrschaftsapparates<br />
weniger schutzlos ausgeliefert sein, wenn sie ihre<br />
unabweislichen hoheitsstaatlichen Verwaltungs- und Herrschaftsaufgaben<br />
aktiv und beherzt, mit Augenmaß, staatskritisch,<br />
organisationskritisch und selbstkritisch angehen und<br />
gestalten würden« (Schütze, 1997, 247). Hierzu bedarf es<br />
allerdings eines Bezugssystems, einer wissenschaftlichen<br />
Theorie als Basis <strong>der</strong> Reflexion, <strong>der</strong> Kritik und des selbstbestimmten<br />
Handelns. Solche wissenschaftlichen Bezugssysteme,<br />
die insbeson<strong>der</strong>e die gesellschaftlichen und strukturellen<br />
Bedingungen sozialarbeiterischer und sozialpädagogischer<br />
Praxis reflektieren, liegen für die Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit<br />
seit den 1960er Jahren vor; allerdings ohne Chance Einlass in<br />
die Praxen traditioneller Sozialer <strong>Arbeit</strong> gewährt zu bekommen.(vgl.<br />
zur Theorieresistenz sozialpädagogischer PraktikerInnen<br />
Ackermann/Seeck (2000) und Thole/Küster-Schapfl<br />
(1997).Gerade in formell weniger reglementierten <strong>Arbeit</strong>sfel<strong>der</strong>n<br />
wie <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit provoziert die regelmäßig<br />
zu konstatierende Theorie- aber auch Konzeptionslosigkeit<br />
und in <strong>der</strong> Folge die Bereitschaft zu vorauseilendem<br />
Gehorsam bezüglich <strong>der</strong> Bearbeitung »sozialer Probleme«<br />
bzw. <strong>der</strong> sozialpädagogischen Beglückung von »Problem-<br />
Jugendlichen«, Fassungslosigkeit; insbeson<strong>der</strong>e auch dann,<br />
wenn zumindest die Möglichkeitsräume, die <strong>der</strong> (sozial-<br />
)rechtliche Rahmen offeriert zur fachlichen Ausgestaltung<br />
sozialpädagogischer Praxis nicht genutzt werden. Zwar sind<br />
Normen und Gesetze grundsätzlich zu reflektieren und zu kritisieren<br />
und nicht vorbehaltlos zur Grundlage eigenen<br />
Handelns zu machen; an<strong>der</strong>erseits ist immer wie<strong>der</strong> daran zu<br />
erinnern, dass Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe – und somit auch
34<br />
Auftrag und Mandat<br />
Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit – dazu beizutragen haben,<br />
Benachteiligungen zu vermeiden o<strong>der</strong> abzubauen sowie positive<br />
Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre<br />
Familien sowie eine kin<strong>der</strong>- und familienfreundliche Umwelt<br />
zu erhalten o<strong>der</strong> zu schaffen (§ 1 Abs. 3 SGB VIII). Hier wird<br />
Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe explizit dazu aufgefor<strong>der</strong>t, sich aktiv<br />
an <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> Lebensbedingungen junger Menschen –<br />
also offensiv (als Querschnittspolitik) – zu beteiligen. Trotz<br />
immer wie<strong>der</strong> artikulierter Bedenken gibt es sehr wohl<br />
Ansatzpunkte <strong>der</strong> Bearbeitung gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen,<br />
gibt es Möglichkeiten auch im Rahmen von<br />
Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit, am Ziel, Benachteiligungen zu vermeiden<br />
o<strong>der</strong> abzubauen und positive Lebensbedingungen für<br />
junge Menschen und ihre Familien sowie eine kin<strong>der</strong>- und<br />
familienfreundliche Umwelt zu erhalten o<strong>der</strong> zu schaffen, festzuhalten.<br />
So kann Soziale <strong>Arbeit</strong> zumindest partiell auf die<br />
sozialen, kulturellen und individuellen Bedingungen <strong>der</strong><br />
Möglichkeiten und Fähigkeiten ihrer Adressaten Einfluss nehmen<br />
(Otto/Ziegler 2005) und sich als (sozial-)politische<br />
Akteurin in <strong>der</strong> Arena des Staates verstehen und dabei politisch<br />
werden (Schaarschuch 1999). Letztlich – und dies kann<br />
als bedeuten<strong>der</strong>, wenn auch mittelbarer Ansatzpunkt sozialpädagogischer<br />
Praxis verstanden werden – ist die Frage zu stellen,<br />
so Heinz Sünker, nach den Bedingungen <strong>der</strong> Möglichkeit<br />
von sozialen und kollektiven Lernprozessen zum Zwecke <strong>der</strong><br />
Verän<strong>der</strong>ung gesellschaftlicher Verhältnisse und <strong>der</strong> Beför<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Selbsttätigkeit <strong>der</strong> Subjekte. Grundsätzlich ist<br />
eine Soziale <strong>Arbeit</strong> gefor<strong>der</strong>t, »die sich in Theorie, Praxis und<br />
analytischer Kompetenz ihrer gesellschaftstheoretischen und<br />
ihrer gesellschaftspolitischen Kontexte wie ihrer professionellen<br />
Perspektiven bewusst ist, um substantielle gesellschaftliche<br />
Verän<strong>der</strong>ungsprozesse erneut zu ihrem Thema zu machen«<br />
(Sünker 2000, S. 217), und zwar gerade in Anbetracht eines<br />
tief greifenden Strukturwandels, neoliberaler Zumutungen,<br />
systematischer Reproduktion von Ungleichheit, sich verschär-
Auftrag und Mandat 35<br />
fen<strong>der</strong> Ausgrenzungsverhältnisse, Subjektivierungspraxen in<br />
Bildungsinstitutionen, die sich als solche <strong>der</strong> Untertanenproduktion<br />
bezeichnen lassen.<br />
Perspektiven kritischer Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />
Was aber sind die Bedingungen einer autonomeren, einer<br />
selbstbestimmteren und politischen Praxis Sozialer <strong>Arbeit</strong>, die<br />
bemüht ist, sich von den Funktions- und Auftragszuschreibungen<br />
durch Staat, Recht, Politik und Kapital zu emanzipieren?<br />
Wir haben – in Distanzierung von <strong>der</strong> Praxis traditioneller<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> – einige Bausteine einer Theorie und<br />
Praxis kritischer Sozialer <strong>Arbeit</strong> benannt, die einer reflexiven,<br />
selbstbestimmteren Praxis Sozialer <strong>Arbeit</strong> den Weg ebnen<br />
könnten. In Anlehnung an unsere Überlegungen zeichnet sich<br />
eine kritische Soziale <strong>Arbeit</strong> dadurch aus, dass sie ihren<br />
Gegenstand eigenständig benennt und sich auf diesen im<br />
Kontext <strong>der</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> sozialpädagogischen Praxis<br />
auch tatsächlich bezieht. Gegenstand Sozialer <strong>Arbeit</strong> sind u.E.<br />
Prozesse und Auswirkungen sozialer Ausschließung. Bezug<br />
nehmend auf diesen Gegenstand können als Aufgaben Sozialer<br />
<strong>Arbeit</strong> u.a. benannt werden die Realisierung gesellschaftlicher<br />
Teilhabe und Chancengleichheit sowie die Ermöglichung sozialer,<br />
ökonomischer, kultureller und politischer Partizipation<br />
(vgl. Anhorn/Bettinger 2005 und Anhorn/Bettinger/Stehr<br />
2008). Darüber hinaus und Bezug nehmend auf ihren Gegenstand<br />
zeichnet sich eine kritische Soziale <strong>Arbeit</strong> dadurch aus,<br />
• dass sie in einer kritisch-reflexiven Grundhaltung über<br />
strukturelle Zusammenhänge und Folgen – bezogen beispielsweise<br />
auf soziale Ungleichheit o<strong>der</strong> Prozesse <strong>der</strong><br />
sozialen Ausschließung – aufklärt und auf das eigene<br />
Selbstverständnis und die angetragenen Erwartungen von<br />
Politik und Gesellschaft bezieht;
36<br />
Auftrag und Mandat<br />
• dass sie die Verfestigung und Legitimation von sozialer<br />
Ungleichheit (auch durch Kriminalisierungen und an<strong>der</strong>e<br />
personalisierende Negativzuschreibungen) deutlich macht<br />
und damit gesellschaftliche Interessenkonflikte und<br />
Machtunterschiede – nicht zuletzt bezogen auf die<br />
Kategorie Geschlecht – aufdeckt;<br />
• dass sie sich nicht als Lösung o<strong>der</strong> Bearbeitung von<br />
Devianz, Kriminalität, Gewalt o<strong>der</strong> sonstigen »sozialen<br />
Problemen« anbietet,<br />
• sie zeichnet sich ferner dadurch aus, dass sie sich von den<br />
Zumutungen ordnungspolitischer Problemlösungen distanziert<br />
und sich über die Thematisierung und politisierende<br />
Bearbeitung von sozialer Ungleichheit, sozialem<br />
Ausschluss, Unterdrückung und Diskriminierung zu<br />
begründen versucht;<br />
• sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Macht- und<br />
Herrschaftsstrukturen (entlang <strong>der</strong> Trennlinie von Klasse,<br />
Geschlecht, Rasse, Ethnizität und Alter) analysiert und<br />
kritisiert;<br />
• sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Diskurse als herrschaftslegitimierende<br />
Techniken <strong>der</strong> Wirklichkeitsproduktion<br />
und somit von gesellschaftlichen Ordnungen in<br />
<strong>der</strong> bürgerlich-kapitalistischen mo<strong>der</strong>nen Industriegesellschaft<br />
erkennt und diese analysiert,<br />
• und letztlich zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie –<br />
orientiert an den Prinzipien <strong>der</strong> Aufklärung und<br />
Emanzipation – Bildungsprozesse in Richtung auf eine<br />
selbstbewusstere und selbstbestimmtere Lebenspraxis,<br />
letztlich in Richtung <strong>der</strong> (politischen) Mündigkeit <strong>der</strong><br />
Subjekte ermöglicht.
Auftrag und Mandat 37<br />
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Biografie und Lebenswelt<br />
Möglichkeiten und Grenzen <strong>der</strong> Biografie- und<br />
Lebensweltorientierung in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
Rudolf Egger<br />
»Und mache ihn wie<strong>der</strong> / normal / damit er / zu dieser / Welt passt«<br />
Wie elend dieser Auftrag ist / das hängt davon ab / wie blutig<br />
die Welt ist /und wie menschenfeindlich /die Norm<br />
Denn keiner soll passen / zu dieser Welt /<br />
wie das Brennholz / zur Flamme<br />
Son<strong>der</strong>n nur / wie <strong>der</strong> / <strong>der</strong> ihn löscht / zum Brand.<br />
(Erich Fried: Heilungsvollzug)<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> zwischen Normalisierung<br />
und Emanzipation<br />
Eine Beschreibung <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen gesellschaftlichen Vorgänge<br />
könnte an zwei Stichworten festgemacht werden: Beschleunigung<br />
und Entgrenzung. Wo und wie Menschen leben, war<br />
noch nie etwas Statisches, aber die heutigen verschärften sozialen,<br />
kulturellen o<strong>der</strong> religiösen Än<strong>der</strong>ungsimpulse haben vieles<br />
davon, was uns Orientierung zu geben vermag, gleichzeitig<br />
erfasst: Menschen und ihre Beziehungen, Waren und ihre<br />
Distributionsmöglichkeiten, Dienstleistungen und ihre sozialen<br />
Bezüge, Grundbedürfnisse und ihre Absicherungen. Alle diese<br />
Umgestaltungen in <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>swelt, <strong>der</strong> Familie, den Institutionen<br />
und auch in den kulturellen Leitbil<strong>der</strong>n und den sozialen<br />
Bezugsgrößen erzeugen dabei permanent neue Zonen <strong>der</strong><br />
In- und Exklusion. Immer mehr Menschen kämpfen hier<br />
darum, sich in diesen großflächigen Prozessen <strong>der</strong> Entbettung<br />
(vgl. Giddens 1995) eine würdige Lebensgeschichte zu erschaf-
Biografie und Lebenswelt 41<br />
fen, die ihnen in ihrem Streben Orientierung und Sinn geben<br />
kann. Von diesen Prozessen <strong>der</strong> hier unablässig zu verhandelnden<br />
Teilhabe und des Ausschlusses von Individuen wird auch<br />
das Bezugssystem <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> stark beeinflusst. Dies<br />
betrifft dabei sowohl die konkreten Tätigkeiten, als auch den<br />
gesellschaftlich-normativen Bezugsrahmen <strong>der</strong> »Wie<strong>der</strong>-<br />
Herstellung von Normalität« durch die Sozialarbeit. Abseits <strong>der</strong><br />
privaten, lebensweltlichen Unterstützungsformen <strong>der</strong> Familienverbände<br />
und Formen <strong>der</strong> informellen Solidarität haben sich in<br />
den letzten Jahrzehnten diesbezüglich die wohlfahrtsstaatlichen<br />
Interventionen in allen Ebenen unseres Lebens drastisch<br />
erweitert. Der Zunahme <strong>der</strong> »Phänomene <strong>der</strong> Rätselhaftigkeit<br />
und Verschlossenheit <strong>der</strong> Lebensrealität« (Schütze 1994, S.<br />
193) sollte vor allem die Soziale <strong>Arbeit</strong> mit ihren lebensnahen<br />
Interventionen entgegenwirken. Eine gesellschaftlich verantwortungsvolle<br />
und emanzipatorisch ausgerichtete Sozialarbeit<br />
sollte hier vor allem auch durch eine biografie- und lebensweltorientierte<br />
Zuwendung zum prekären Subjekt etabliert werden.<br />
Disziplingeschichtlich ist die Nähe <strong>der</strong> Fel<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> zu biografischen und lebensweltlichen Ansätzen groß.<br />
Die <strong>Arbeit</strong> an »Fällen«, anhand <strong>der</strong>er die Bedingungsstrukturen<br />
von Lebenswelten und KlientInnen analysiert und mit<br />
Interventionsmöglichkeiten verbunden werden können, sind<br />
kein neues Phänomen. In <strong>der</strong> Sozialarbeit wurde schon sehr<br />
früh mit (auto-)biografischem, lebensweltbezogenem Material<br />
gearbeitet. Die Erstellung von Fallbeschreibungen gehört solcherart<br />
zum unabdingbaren Repertoire dieser Zunft. Die<br />
Versuche, <strong>der</strong> fallorientierten <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> eine wissenschaftliche<br />
Orientierung und Fundierung zu geben, setzten in<br />
den 30er Jahren des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts an (vgl. Müller 1993). In<br />
<strong>der</strong> psychoanalytischen Sozialpädagogik wurde z. B. die<br />
Aufmerksamkeit schon recht zeitig auf die biografischen<br />
Dimensionen von Erziehungsprozessen gelenkt und machte so<br />
auch versteckte und unbewusste Faktoren des Erziehungsgeschehens<br />
zum erforschbaren und handlungsunterstützenden
42<br />
Biografie und Lebenswelt<br />
Bestandteil <strong>der</strong> sozialarbeiterischen Wirklichkeit (vgl. dazu u.<br />
a. Körner/Ludwig-Körner 1997, Rauchfleisch 1996). Wichtige<br />
Impulse gingen auch von <strong>der</strong> Chicago School of Sociology aus<br />
(vgl. Bulmer 1984), indem sie den Fokus auf krisenhafte und<br />
verinstitutionalisierte Lebensläufe richtete. Die daraus sich bis<br />
heute entwickelnden Ansätze eröffnen diesbezüglich ein breites<br />
Feld an Zugängen. Einmal geht es vorwiegend um biographische<br />
Fallanalysen (vgl. Schütze 1993) o<strong>der</strong> um Fallrekonstruktion<br />
(vgl. Kraimer 2000), bzw. um eine vorwiegend sozialpädagogische<br />
(vgl. Uhlendorf 1997) o<strong>der</strong> eine biografische<br />
Diagnostik (vgl. Hanses 2004). Darüber hinaus sind auch ethnographische<br />
Aspekte (vgl. Schütze 1994) in <strong>der</strong> sozialarbeiterischen<br />
Praxis von Interesse. Der zentrale gemeinsame Nenner<br />
liegt dabei in einem stark adressatenorientierten und rekonstruktiven<br />
konzeptionellen Umgang mit den jeweiligen Fällen<br />
in <strong>der</strong> Praxis. In den hier entwickelten Konzeptionen zur<br />
Analyse von biografisch erhobenen krisenhaften Phänomenen<br />
von Personen und Gruppen sollte die Dynamik zwischen sozialer<br />
Umwelt und individueller Entwicklung besser nachvollziehbar<br />
gemacht werden. Grundlegend für die Analyse des<br />
»<strong>Sozialen</strong>« sind dabei die Fragen, welche Interpretationsleistungen<br />
Subjekte zur Herstellung ihrer Welt erbringen müssen.<br />
Dazu wird vor allem an <strong>der</strong> Alltagswelt <strong>der</strong> Betroffenen<br />
angesetzt, denn dieses Handeln ist zentral für die Herstellung<br />
von Sinn und Bedeutung. Menschen verleihen ihren<br />
Wahrnehmungen in Prozessen <strong>der</strong> immer schon ablaufenden<br />
Interpretation und Selektion die für sie relevante Bedeutung.<br />
Neben die Kategorien Ursache und Wirkung wird dabei <strong>der</strong><br />
Begriff Sinnhaftigkeit für das Verständnis von sozialem<br />
Handeln wesentlich. Die Intention dabei ist, gesellschaftliche<br />
Tatsachen über die Bedeutungszuschreibung und die Wirklichkeitskonzeption<br />
<strong>der</strong> Handelnden zu erschließen.<br />
Viele dieser Versuche blieben aber entwe<strong>der</strong> zu stark an einer<br />
Idee <strong>der</strong> »Kunstlehre« zur richtigen Auslegung von Fällen<br />
orientiert, o<strong>der</strong> fußten auf einer zu expertokratischen Per-
Biografie und Lebenswelt 43<br />
spektive innerhalb eines zu kontrollierenden Interaktionsverhältnisses.<br />
Mit <strong>der</strong> in den 70er Jahren verstärkt einsetzenden<br />
biografietheoretischen und -praktischen Perspektive wurden<br />
diese Prozesse <strong>der</strong> Subjektbildung und des Mitgliedwerdens in<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft wie<strong>der</strong> an eine emanzipatorische<br />
Interessenslage angebunden (vgl. Egger 1995). Grundlegende<br />
Aspekte <strong>der</strong> Aneignung und <strong>der</strong> Konstruktion, <strong>der</strong> Temporalität,<br />
<strong>der</strong> (Selbst-)Reflexivität und Strukturbildung sollten<br />
hier sowohl für die Sozialarbeitswissenschaft als auch für <strong>der</strong>en<br />
Praxis systematisch Berücksichtigung finden. In diesem Sinne<br />
wurde die lebensweltorientierte Soziale <strong>Arbeit</strong> von <strong>der</strong><br />
»Tübinger Schule« um Hans Thiersch entwickelt. Durch die<br />
Hinwendung zu den konkreten Lebensverhältnissen und den<br />
alltägliche Erfahrungen <strong>der</strong> Menschen sollte hier disziplinkritisch<br />
zu <strong>der</strong> fortwährenden Spezialisierung <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
und <strong>der</strong> Arroganz <strong>der</strong> »Expertokratie« ein Gegengewicht aufgebaut<br />
werden (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, S. 14). Vor dem<br />
Hintergrund gesellschaftlicher Tendenzen <strong>der</strong> Individualisierung<br />
und Pluralisierung von Lebenslagen und <strong>der</strong> zunehmenden<br />
Erosion bestehen<strong>der</strong> Lebensstrukturen wurde dabei<br />
eine neue gesellschaftspolitisch anspruchsvolle Perspektive<br />
entwickelt, die den Klientels <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zu einem<br />
»gelingen<strong>der</strong>en Alltag« (ebd., S 23) verhelfen sollte.<br />
Der entscheidende Ausgangspunkt all dieser Bestrebungen<br />
einer alltagsorientierten <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ist dabei die<br />
Rekonstruktion <strong>der</strong> Lebenswelt, <strong>der</strong>en Routinen und Typisierungen,<br />
die den Alltag als feines Gewebe durchziehen, und<br />
die es Menschen ermöglicht, die eigenen Lebensverhältnisse zu<br />
bewältigen. Dabei soll <strong>der</strong> normative Aspekt erst einmal ausgeklammert<br />
werden, denn auch abweichendes Verhalten hat hier<br />
seine erfahrbare Wirklichkeit, indem es z. B. als Versuch<br />
bewertet wird, mit den konkreten Lebensverhältnissen zurecht<br />
zu kommen. Dieser Nachvollzug <strong>der</strong> Bewältigungsleistungen<br />
im Alltag wird innerhalb von drei großen Phasen mit dem<br />
Helfersystem verknüpft. Ausgehend von <strong>der</strong> Situationsanalyse
44<br />
Biografie und Lebenswelt<br />
und einer darauf aufbauenden Diagnose wird ein Lösungsentwurf<br />
mit den AdressatInnen erarbeitet und dessen schrittweise<br />
Realisierung und Überprüfung eingeleitet. Die hier<br />
lebensnah und biografisch sensibel entwickelten Erkenntnisse<br />
und die daraus abgeleiteten Handlungsschritte haben in diesem<br />
Konzept auch auf die Selbstinterpretation und die daraus resultierenden<br />
Deutungs- und Handlungskonsequenzen <strong>der</strong> Betroffenen<br />
große Auswirkung. Da hier nichts »von außen darübergestülpt«<br />
wird, soll Soziale <strong>Arbeit</strong> demnach als Hilfe zur<br />
Selbsthilfe, als Empowerment-Strategie, wirken. Das Helfersystem<br />
beschränkt sich darauf, vor allem auf die Strukturen und<br />
Dimensionen <strong>der</strong> Zeit (die Bedeutung <strong>der</strong> Gegenwart im<br />
»Horizont <strong>der</strong> offenen, immer riskanten Zukunft«), des Raumes<br />
(die Lebensverhältnisse <strong>der</strong> AdressatInnen) und <strong>der</strong> sozialen<br />
Bezüge (dem Aufbau von verlässlichen und belastbaren<br />
Beziehungen) zu achten (vgl. ebd., S. 28 – 36).<br />
So ansprechend und wichtig die Ideen <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong> mit lebensnahen<br />
Geschichten von KlientInnen im Sinne partizipieren<strong>der</strong><br />
und »empowerter« Konzepte auch sind, so voraussetzungsreich<br />
sind sie aber in <strong>der</strong> konkreten <strong>Arbeit</strong>. Bei vielen Ausführungen<br />
zu einer solchen Biografie- und Lebensweltorientierung hat es<br />
den Anschein, dass die Sozialarbeit durch ihre vor<strong>der</strong>gründige<br />
»Interventionsaskese« einen »beson<strong>der</strong>en« Bezug zur konkreten<br />
Alltagswelt <strong>der</strong> Betroffenen per se hat, und dass sich<br />
Probleme, sofern sie nur lebensnah »angepackt« werden, schon<br />
»lösen« lassen. Dass dies ein Wunschbild ist, und dass auch die<br />
konsequenteste Hinwendung zur Lebenswelt z. B. die Härten<br />
<strong>der</strong> freien Marktwirtschaft und <strong>der</strong> Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft<br />
keineswegs außer Kraft setzen kann, ist evident.<br />
Es ist danach zu fragen, wie die hier Tätigen sich jenes<br />
idiographische Wissen über die Lebenswelt ihrer KlientInnen<br />
aneignen können, das sie in die Lage versetzt, ihrer Aufgabe <strong>der</strong><br />
Stabilisierung und Integration nachzukommen, und welche spezifischen<br />
Risiken hier auftreten. Es muss auch darüber diskutiert<br />
werden, welche Bedingungen in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> gege-
Biografie und Lebenswelt 45<br />
ben sein müssen, damit die biographische Hinwendung zum<br />
Subjekt nicht dazu führt, dass die gesellschaftliche Relevanz in<br />
einer rein lebensweltorientierten Individualhilfe aufgeht. Die<br />
Fragen die es dabei zu stellen gilt sind: Wie gehen<br />
SozialarbeiterInnen mit lebensnahem, »biographischem<br />
Material« um, wie fließt dieses in die alltägliche <strong>Arbeit</strong> ein,<br />
bzw., welche »Verwendungskompetenzen« sind hier daran<br />
gebunden? Was geschieht bei <strong>der</strong> Entwicklung lebensgeschichtlich<br />
relevanter Perspektiven und Handlungsoptionen in<br />
<strong>der</strong> Sozialarbeit? Wie werden die hier in den Interaktionsprozessen<br />
erschlossenen biographischen Wissensbestände und<br />
Sinnhorizonte an die institutionellen Angebote <strong>der</strong> Sozialarbeit<br />
angekoppelt? Wie und wodurch kann es zu einer Passung zwischen<br />
dem Bedarf, den Sinnhorizonten und den Erfahrungen<br />
<strong>der</strong> AkteurInnen und den Auffor<strong>der</strong>ungsstrukturen <strong>der</strong> Institutionen<br />
kommen, damit die KlientInnen überhaupt »ProduzentInnen<br />
personenbezogener Dienstleistungen« werden können?<br />
Wie begegnet man <strong>der</strong> Gefahr, dass sich »passgenaue<br />
Hilfsangebote« als Sparpaket entpuppen, und die Maxime <strong>der</strong><br />
»Alltagsnähe« zur Vermeidung aufwändiger sozialpolitischer<br />
Maßnahmen vorgeschoben wird? Und letztlich stellt sich die<br />
einleitend zitierte Frage von Erich Fried, wie »elend dieser<br />
Auftrag ist«, wenn die Integration nur als Anpassung an die<br />
herrschenden Normen zu sehen ist. Erst wenn diese<br />
Fragestellungen bearbeitet sind, wenn sichergestellt ist, wie die<br />
Aushandlung <strong>der</strong> Geschichten und die daraus folgenden<br />
Angebote biographisch angeeignet werden können, haben die<br />
AdressatInnen Sozialer <strong>Arbeit</strong> auch tatsächlich die Chance, zu<br />
NutzerInnen <strong>der</strong> professionellen Angebotsstrukturen (und dies<br />
nicht nur per Definition, son<strong>der</strong>n auch konkret in ihren<br />
Handlungen) zu werden.
46<br />
Biografie und Lebenswelt<br />
Lebensweltlich wirkende Ordnungsverfahren<br />
Es spricht vieles dafür, dass biografie- und lebensweltorientierte<br />
Ansätze wichtige Beiträge zu einer klientInnenzentrierten,<br />
milieusensiblen und ressourcenorientierten <strong>Arbeit</strong> betragen<br />
können. Dennoch bleibt hier zu klären, wie mit Hilfe von<br />
Biographen eine dem »Fall« zugrundeliegende »Logik« aufgespürt<br />
werden kann, die nicht nur eine strategische Rechtfertigungs-Erzählung<br />
(für Professionelle und AdressatInnen)<br />
ist. Es gilt weiters zu bedenken, welche Rolle die Kontextbedingungen<br />
dieser Prozesse bei <strong>der</strong> »Erhebung <strong>der</strong> tatsächlich<br />
erlebten Lebensgeschichte« spielen, und es bleibt abzuwägen,<br />
wie dabei mit dem gesellschaftlichen und institutionellen<br />
Auftrag <strong>der</strong> Sozialarbeit umgegangen wird? Gerade hier ist die<br />
Biografieorientierung in den <strong>Sozialen</strong> Berufen und den<br />
Sozialwissenschaften kritisch zu beleuchten, sollen nicht die<br />
Fehler <strong>der</strong> Ethnomethodologie des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts wie<strong>der</strong>holt<br />
werden. Auch damals wurde viel erwartet und noch mehr<br />
versprochen. Was dann allerdings bald sichtbar wurde, kann<br />
durchaus als ein subjektivistisches Desaster bezeichnet werden.<br />
Die situativen Kontextualisierungen konnten kaum durchgehalten<br />
werden, zu oft wurden die hier auftauchenden Leerstellen<br />
beinahe beliebig mit eigenen Überlegungen, Ideen, Thesen und<br />
fertigen Deutungen überdeckt, statt diese sorgfältig zu reflektieren<br />
und als Lernfel<strong>der</strong> in den Prozess zurückzuführen. Diese<br />
Gefahr besteht auch in den biografieorientierten Diskursen <strong>der</strong><br />
Sozialarbeit. Zu schnell werden auch hier unter dem Praxisdruck<br />
Interpretate verabsolutiert, ohne dass <strong>der</strong>en Zustandekommen<br />
und ihre Implikationen ausreichend berücksichtigt<br />
werden. Ausgehend von einem meist fiktiv angenommenen<br />
narrativen Bündnis zwischen den an <strong>der</strong> Biografie<br />
Interessierten und den BiografieträgerInnen, wird hier ein<br />
gemeinsames Interesse an und auch eine gemeinsame<br />
Gewissheit über die erlebte und nun zu erzählende Lebensgeschichte<br />
vorausgesetzt. In <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong> mit Biografien ist ein
Biografie und Lebenswelt 47<br />
solches narratives Bündnis aber keineswegs neutral zu denken,<br />
denn dabei finden permanent (bewusst und unbewusst)<br />
Prozesse des Aushandelns statt. Hier werden quasi andauernd<br />
(und von allen Beteiligten) das Programm und die Perspektiven<br />
verhandelt, die jene Form <strong>der</strong> Konsistenz <strong>der</strong> Geschichte<br />
sicherstellen müssen, die tragfähig für die weitere <strong>Arbeit</strong> sein<br />
sollen. Die hier »produzierten« Lebensgeschichten sind als solche<br />
nicht voraussetzungslos, denn jede im Erkundungs- o<strong>der</strong><br />
Interventionsprozess erzählte Lebensgeschichte repräsentiert<br />
auch die wirkungsvollen sozialen Prozesse und <strong>der</strong>en<br />
Entstehung. SozialarbeiterInnen und KlientInnen, Fragende<br />
und Befragte, produzieren hier gleichsam gemeinsam das, was<br />
als Biografie schließlich zur »Anwendung« kommt. In solchen,<br />
nach den sozialen Regeln des Alltags hergestellten Lebensgeschichten<br />
spielen natürlich auch Fragen von Macht und<br />
Hierarchie eine große Rolle. Der Großteil dieser Implikationen<br />
wird dabei aber (sowohl in den Interventions- und auch den<br />
Erkundungsstrategien) beiseite geschoben, um den festen<br />
Boden in <strong>der</strong> konkreten Handlungsabsicht nicht zu verlieren.<br />
Diese Geschichten sind dabei ein umstrittenes Terrain, da hierin<br />
die Wege und die Dimensionen <strong>der</strong> »inneren Landkarte« von<br />
Individuen (bzw. <strong>der</strong>en individuelle und gesellschaftliche<br />
Bedeutungszuschreibung <strong>der</strong> Realität) festgelegt werden. Der<br />
hier ausverhandelte Erfahrungs- und Erinnerungsraum bestimmt<br />
die Zuschreibungen von Relevanz, innerhalb <strong>der</strong>er einem<br />
Ereignis Bedeutung beigemessen wird. Auch hier zeigt sich wie<strong>der</strong>,<br />
dass in diesem Aushandlungs- und Strukturierungsprozess<br />
von Lebensgeschichten, unterschiedliche Macht- und Durchsetzungsmodi<br />
herrschen. Gerade Institutionen (wie z. B. die<br />
Sozialarbeit o<strong>der</strong> das Gericht) werden für die KlientInnen zu<br />
einem <strong>der</strong> wichtigsten Kontrollinstanzen <strong>der</strong> von ihnen gefor<strong>der</strong>ten<br />
Vergesellschaftung. Die hier eingebrachten und bearbeiteten<br />
Biografien sind deshalb immer im Referenzrahmen von<br />
institutionalisierten Interaktionserfahrungen, in denen spezifische<br />
Ordnungen und Rahmen wirken, zu verstehen.
48<br />
Biografie und Lebenswelt<br />
Bei den in <strong>der</strong> alltäglichen sozialarbeiterischen Praxis präsentierten<br />
Erzählungen und biographischen Details handelt es sich<br />
deshalb stets um Konstruktionsleistungen auf mehreren<br />
Ebenen. Einmal geht es um die Legitimation von als bedeutungsvoll<br />
erachteten Aspekten und <strong>der</strong>en Absicherung durch<br />
Erzählungen. Wie das relevante Geschehen hier erzählt, hergeleitet<br />
und abgesichert wird, gibt den Interventionen (sozialarbeiterisch,<br />
richterlich, etc.) ihre Perspektive. Manchmal genügt<br />
es, einen Fall nur an<strong>der</strong>s zu erzählen, das heißt, an<strong>der</strong>e<br />
Umstände heraus- und an<strong>der</strong>e Beziehungen herzustellen, o<strong>der</strong><br />
den Zeithorizont, also das Vorher und Nachher, enger o<strong>der</strong> weiter<br />
zu fassen, um die Erfahrung zu machen, dass »die Sache in<br />
einem neuen Licht« erscheint. Das bedeutet nicht, dass die<br />
Geschichte willkürlich erzählt werden könnte, um die<br />
gewünschte Entscheidung herbeizuführen, denn die hier<br />
zugrundeliegenden Normen sind ihrerseits wie<strong>der</strong>um in<br />
Erzählungen eingebettet. Nicht jede Erzählung passt demnach<br />
gleichermaßen gut zu einer zugrundeliegenden Norm.<br />
Erzählungen besitzen zudem selbst eine innere Struktur, die den<br />
Variationsspielraum des Erzählbaren einschränkt (vgl. Egger<br />
1995). Schließlich erregt eine Geschichte nur dann Aufmerksamkeit,<br />
wenn sie »passend« erzählt wird, wenn sie den<br />
gefor<strong>der</strong>ten Mustern und Typen grundsätzlich entspricht. Aus<br />
all diesen Schritten wird in <strong>der</strong> Folge von den damit betrauten<br />
professionellen SozialarbeiterInnen o<strong>der</strong> RichterInnen aus<br />
einer Menge von alternativen Fallgeschichten <strong>der</strong> »Fall« hergestellt.<br />
Dieser Prozess, in dem manche Umstände relevant, an<strong>der</strong>e<br />
dagegen irrelevant werden, lässt sich nicht trennen von <strong>der</strong><br />
(impliziten o<strong>der</strong> expliziten) Norm, nach <strong>der</strong> die Entscheidung<br />
des Falles gewichtet wird. Dabei ist die Wahl <strong>der</strong> Normen<br />
bestimmt von den erlernten und habitualisierten Vorstellungen<br />
möglicher Fälle, auf die sie anwendbar sind.<br />
Darüber hinaus ist aber auch eine stringent erzählte<br />
Lebensgeschichte selbst nicht das »Geschehene« an sich, son<strong>der</strong>n<br />
nur ein retrospektiver Entwurf, <strong>der</strong> sich dem Augenblick
Biografie und Lebenswelt 49<br />
<strong>der</strong> Entstehung dieses Entwurfs verdankt. Das, was in den<br />
Geschichten dabei zum Vorschein kommt, ist eine aktuelle<br />
Konstruktion, die die subjektiv erlebte und gesellschaftlich verortete<br />
Vergangenheit im Erzählen entwirft (vgl. Alheit 2003).<br />
Die Erzählenden vergewissern sich hierin gewissermaßen <strong>der</strong><br />
Vergangenheit um die Gegenwart zu erklären und die Zukunft<br />
zu perspektivieren. Solche Vorgänge sind immer durch<br />
Kommunikation und Interaktion geprägt. Sinn entsteht dabei<br />
durch einen permanenten Differenzierungsprozess, <strong>der</strong> sowohl<br />
durch die »Erschaffung« <strong>der</strong> Erzählung, als auch durch <strong>der</strong>en<br />
Rezeption und den hier eingelagerten Erwartungsraum geprägt<br />
wird. In den Praxen und Theoriefel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Humanwissenschaften<br />
wandelt sich dabei <strong>der</strong> Gegenstand kommunikativ.<br />
Was hierbei gut erfasst werden kann, sind jene von den<br />
Beteiligten verwendeten Diskurse zur Ordnung <strong>der</strong> je spezifischen<br />
Lebenssituationen. Das »Hineinschauen« von SozialarbeiterInnen<br />
(o<strong>der</strong> auch von ForscherInnen) in die hier biografisch<br />
wirkenden Ordnungsverfahren geschieht demnach immer<br />
dadurch, dass man selbst an ihnen aktiv teilnimmt. Hier ist <strong>der</strong><br />
Topos des »doing biography« in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> (und auch<br />
<strong>der</strong> Sozialforschung) den Bedingungen <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne unterworfen.<br />
Glückt dieses narrative Bündnis (und dies kann es nur,<br />
wenn es innerhalb eines konkreten abgesicherten Lebensbezugs<br />
stattfindet), wird die biografische (Un)Ordnung in ihrer konkreten<br />
Situiertheit erkennbar. Es kann dann einsichtig werden,<br />
wie die Vorstellungen von z. B. Normalität von einem vielschichtigen<br />
Geflecht aus biografischen, kulturellen, sozialen<br />
o<strong>der</strong> sozialpsychologischen Bezügen durchwoben sind. Der<br />
Vorgang <strong>der</strong> Problembearbeitung, <strong>der</strong> Normalisierung,<br />
beschreibt dabei den Prozess <strong>der</strong> Aufnahmebereitschaft, des<br />
Findens, Begründens und Reflektierens von Bezugspunkten <strong>der</strong><br />
Interpretation von KlientInnen. Soziale <strong>Arbeit</strong> erzeugt hier<br />
quasi gemeinsam erst jenen Diskurs und jene biografischen<br />
Folien, in <strong>der</strong> die als relevant eingeschätzten problembehafteten<br />
Aspekte <strong>der</strong> Vergangenheit vergegenwärtigt und reorganisiert
50<br />
Biografie und Lebenswelt<br />
werden. Die hier ausgehandelte(n) Geschichte(n), die biografisch<br />
sichtbar werdende Realität, ist also ein Resultat dieses<br />
ordnenden Rahmens. In <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> werden dabei die<br />
Ordnungstendenzen stärker als z. B. in <strong>der</strong> Forschung sichtbar,<br />
da die Sozialarbeit auftragsgemäß zur Lösung eines virulenten<br />
Konflikts herangezogen wird. Sowohl die Sozialforschung als<br />
auch die Soziale <strong>Arbeit</strong> sind aber unabwendbar verwoben in<br />
diesen Aushandlungs- und Ordnungsprozesses. Innerhalb dieser<br />
Kontextualisierungsverfahren hängt es von einem spezifischen<br />
Anlass, einem gemeinsamen Interesse ab, ob und wie<br />
lebensgeschichtliche Bausteine und Kontexte in die<br />
Deutungsarbeit gelangen. Es ist hier von eminenter Bedeutung,<br />
innerhalb welcher Bedingungen die Lebensgeschichte<br />
»entsteht« (ob im Rahmen von Bewerbungen, <strong>der</strong> Forschung<br />
o<strong>der</strong> einer Gerichtsverhandlung), denn die in diesem Kontext<br />
geltenden (o<strong>der</strong> antizipierten) Vorstellungen und Erwartungen<br />
generieren das Bezugssystem, das die entsprechenden<br />
Reaktionen auslöst (vgl. dazu Bukow et al. 2001). Sowohl<br />
SozialforscherInnen als auch SozialarbeiterInnen sollten sich<br />
hier bewusst machen, dass sie zwar Personen mit beson<strong>der</strong>en<br />
Gestaltungsbefugnissen <strong>der</strong> Vergangenheit und <strong>der</strong> Gegenwart<br />
ihrer KlientInnen sind, dass das Balancieren und Kontextualisieren<br />
dieser Biografien aber auf beiden Seiten Teile von<br />
Selbstvergewisserungs- und Ordnungsverfahren sind. Hier<br />
zeigt sich, dass Geschichte, die eigene und die an<strong>der</strong>e, niemals<br />
neutral ist, son<strong>der</strong>n stets innerhalb von Großgeschichten und<br />
den hier eingeschriebenen Strukturen ihre Gestalt erhält. Die<br />
Geschichten, die Menschen über ihre <strong>Arbeit</strong>, o<strong>der</strong> über die Orte<br />
an denen sie leben erzählen, sind vieldeutig und wir sollten das<br />
soziale Moment <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> Erkenntnis nicht außer<br />
Acht lassen.
Biografie und Lebenswelt 51<br />
Biografie und Lebensweltbezug:<br />
Mehr als ein neues Label?<br />
Es ist offensichtlich, dass die Idee einer professionalisierten<br />
Alltagspraxis nicht ohne den Lebensweltbezug auskommt. Die<br />
Selbstdefinitionen <strong>der</strong> beteiligten Personen sind von wesentlicher<br />
Bedeutung, denn auch gesellschaftliche Bezüge erlangen<br />
erst im alltäglichen Handeln ihre Gestalt und Wirksamkeit.<br />
Eine Missachtung biographischer und sozialer Sinnhorizonte<br />
kann z. B. die psychosoziale und gesundheitliche Destabilisierung<br />
von KlientInnen weitertreiben. Eine Folge davon sind<br />
die gut bekannten institutionellen Drehtürsituationen (vgl.<br />
Hanses/Börgartz 2001). Biografie- und subjektorientierte<br />
Sozialarbeit kann also durchaus helfen, zwischen <strong>der</strong> Scylla <strong>der</strong><br />
Objektivität und <strong>der</strong> Charybdis des Relativismus hindurchzusteuern.<br />
Sie lässt uns jene Prozesse nachvollziehen, wie<br />
Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> ihre Welt als real erleben, während sie<br />
diese selbst interpretativ mitbauen. Sie lässt uns hinter den<br />
»harten Strukturen«, den Daten und Statistiken, in denen wir<br />
unsere Gesellschaft und die Subjekte wahrnehmen, lebendige<br />
Menschen mit ihren vielfältigen Geschichten begreifen. Die<br />
Hinwendung zum »Fall«, zur Lebensgeschichte darf aber niemals<br />
die gesellschaftlichen Dimensionen vergessen. Lebensgeschichten,<br />
<strong>der</strong>en Konstruktionen und Rekonstruktionen sind<br />
immer auch verdeckte Referenzen an die strukturellen<br />
Bedingungen, in denen wir leben. Darauf hinzuweisen scheint<br />
umso wichtiger, als mit <strong>der</strong> biographischen Wende gleichzeitig<br />
eine Perspektive etabliert wurde, <strong>der</strong>en Auswüchse zu oft dazu<br />
dienen, die Welt mit Betroffenheitsprosa zu »heilen« und zu<br />
verkitschen. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass es so etwas<br />
wie eine kohärente Lebensgeschichte in allen Phasen tatsächlich<br />
gibt (vgl. Bourdieu 1990), und es ist auch unkritisch anzunehmen,<br />
dass jede/r sich nur ausgiebig bemühen müsste, um<br />
eine stringente Lebenserfolgsgeschichte zu kreieren, um den<br />
Platz in <strong>der</strong> Gesellschaft zu erreichen, <strong>der</strong> ihr/ihm zustehe.
52<br />
Biografie und Lebenswelt<br />
Auch die Wunschvorstellung, dass es genügt, sich »die Sache«<br />
einmal aus <strong>der</strong> Nähe anzusehen, ist eine trügerische, denn das<br />
Wesentliche des vor Ort zu Erlebenden und zu Sehenden hat<br />
seinen Kern oft ganz woan<strong>der</strong>s. Der Weg über die Biografie<br />
führt dabei immer wie<strong>der</strong> auf den Umweg des Staates, <strong>der</strong><br />
Politik, um die Wechselbeziehungen zwischen den Strukturen<br />
des Sozialraums und jenen des physischen Raums sichtbar zu<br />
machen. Der sozialarbeiterische Traum von <strong>der</strong> perfekten<br />
lebensweltlich-abgesicherten Intervention ist auch mit einer<br />
verstärkten Biografieorientierung nicht zu retten. Eine weitere<br />
Gefahr besteht darin, dass mit dieser praktischen Zugriffsweise<br />
zum »echten, wirklichen gelebten Leben« nur noch Wissen<br />
generiert wird, das lediglich dazu dient, den betreffenden<br />
Menschen besser »helfen« zu können. Gerade aber aus dem<br />
Kontrast des Einzelschicksals mit dem es umgebenden<br />
Gesellschaftssystem entsteht erst ein unsentimentales, professionelles<br />
Verständnis von Sozialarbeit.<br />
Noch einmal sei deshalb auf die institutionelle Verankerung <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> hingewiesen, die die im Helfersystem Tätigen<br />
bestimmt. Alltägliches Leben erfolgt inmitten eines steten<br />
Stroms von Handlungen in spezifischen Situationen, die den<br />
Einzelpersonen ein je spezifisches Feedback geben. Die Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> gibt hier auch ständig Rückmeldung darüber, wie das<br />
Verhalten <strong>der</strong> jeweiligen KlientInnen innerhalb gesellschaftlich<br />
erwünschter Bahnen aussehen soll. Auch die noch so sensibelste<br />
Bezugnahme auf die »Realität« von gelebtem Leben muss<br />
anerkennen, dass es einerseits für jede biografische Facette<br />
mehrere Interpretationsmöglichkeiten gibt, und dass alle diese<br />
Interpretationen auch stets im Modus <strong>der</strong> Ausübung von sozialer<br />
Kontrolle gesehen werden müssen. Das sozialarbeiterische<br />
Wirken kann nicht per Definition von den es umgebenden<br />
Institutionen und den hier wirkenden Normalitätsstandards<br />
abgelöst werden. Eine Profession, die sich dieses Umstands<br />
durch ein vermeintliches Aufgehen in den je individuellen<br />
Problemlagen <strong>der</strong> AdressatInnen zu entledigen versucht, hat ein
Biografie und Lebenswelt 53<br />
großes legitimatorisches Problem. Die Idee <strong>der</strong> »Herstellung«<br />
einer passgenauen Handlungsfähigkeit von KlientInnen durch<br />
die verstärkte Hinwendung zu einer umfassenden Biografiearbeit<br />
ist in diesem Sinne genauso einfältig, wie Münchhausens<br />
Versuch, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.<br />
Das Erzeugen eines Passungsverhältnisses zwischen Professionellen<br />
und NutzerInnen ist ein störrischer und von unterschiedlichen<br />
gesellschaftlichen Diskursen imprägnierter Raum.<br />
Die hier geschil<strong>der</strong>ten Gesichtspunkte einer verstärkten<br />
Orientierung an den lebensgeschichtlichen Bedeutungszuweisungen<br />
<strong>der</strong> AdressatInnen von Sozialer <strong>Arbeit</strong> sollten deutlich<br />
machen, dass sich diese immer innerhalb des Kräftefeldes<br />
von individuellen und institutionellen Interpretations- und<br />
Entscheidungsschemata bewegen. Biografische Bezüge sind<br />
dabei wesentlich, um die gemeinsamen und wechselseitigen<br />
Handlungen begreifbar zu machen. Die hierbei entwickelten<br />
nutzbringenden Perspektiven werden dabei im Alltagshandeln<br />
<strong>der</strong> Professionellen in ihren Institutionen o<strong>der</strong> im Austausch mit<br />
den KlientInnen erzeugt und als Wirklichkeitsordnungen aufrechterhalten.<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> operiert hier auch in einem biografie-<br />
und lebensweltrelevanten Bezug in den Funktion des<br />
Helfens und des Kontrollierens. Wenn sie tatsächlich emanzipatorisch<br />
greifen soll, dann ist es wesentlich, dass es den<br />
Professionellen hier ermöglicht wird, die eigenen diesbezüglichen<br />
Rollenbil<strong>der</strong> in ihren institutionellen und gesellschaftlichen<br />
Bezügen zu hinterfragen und dadurch die eigene Praxis<br />
einer selbstkritischen Kontrolle zu unterziehen. Dabei geht es<br />
vorrangig um die Befähigung, individuelle Strategien und<br />
gesellschaftlich vorgegebene Sozialstrukturen aufeinan<strong>der</strong> zu<br />
beziehen, um das Handeln in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> auch gesellschaftlich<br />
zu legitimieren.
54<br />
Literatur<br />
Biografie und Lebenswelt<br />
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Biografie und Lebenswelt 55<br />
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Schütze, F. (1993). Die Fallanalyse. Zur wissenschaftlichen Fundierung<br />
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Thiersch, H. (2005): Lebensweltorientierte Soziale <strong>Arbeit</strong>. Aufgaben <strong>der</strong><br />
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Uhlendorff, U. (1997): Sozialpädagogische Diagnosen III. Ein sozialpädagogischhermeneutisches<br />
Diagnoseverfahren für die Hilfeplanung.<br />
Weinheim/München
Case Management und Clearing<br />
Roland Fürst<br />
Die Soziale <strong>Arbeit</strong> ist mit <strong>der</strong> Entwicklung einer neuen<br />
Sozialstaatlichkeit einem politisch wie ökonomisch verursachten<br />
Verän<strong>der</strong>ungsdruck unterworfen und durchläuft einen<br />
Transformationsprozess (vgl. z.B. Ziegler 2003, 101ff.), sie ist<br />
sozialstaatlich als mitkonstituierte Profession vom neo-liberalen<br />
Mainstream unmittelbar betroffen und soll helfen, dementsprechende<br />
Normen in die Gesellschaft zu implementieren (vgl.<br />
Kleve 2006, 14). Effektivität und Effizienz sind die neuen<br />
Instanzen, die nicht nur die Organisation, son<strong>der</strong>n auch die<br />
Durchführung und Methoden Sozialer <strong>Arbeit</strong> beeinflussen.<br />
Damit dieser bittere Befund keine allzu große Unruhe in <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> verursacht, bedient man sich mo<strong>der</strong>ner<br />
Methoden, Modelle und Fachbegriffe, die den »missing link«<br />
zwischen ideologischem Überbau (Stichwort: Neue Steuerung)<br />
und den AkteurInnen Sozialer <strong>Arbeit</strong> herstellen sollen. Die für<br />
diese Entwicklung stehenden Schlagwörter werden aus <strong>der</strong><br />
Sicht von ProfessionistInnen nicht unbedingt sofort negativ<br />
konnotiert, son<strong>der</strong>n ihnen wird zunächst eine Vereinbarkeit mit<br />
professioneller und qualitätsvoller Sozialarbeit zugeschrieben<br />
(vgl. Schöppl 2006, 107).<br />
Das in diesem Beitrag zu bearbeitende Begriffspaar Clearing<br />
und Case Management steht nach sorgfältiger Diagnose des<br />
aktuellen Ist-Zustandes unter »dringendem Tatverdacht«, als<br />
ein Diener dieser neuen neoliberalen Programmatik zu fungieren<br />
o<strong>der</strong> zumindest als solcher missbraucht zu werden.<br />
Nachdem es sich um ein kritisches Handbuch handelt, verzichtet<br />
dieser Beitrag bewusst auf die nützlichen Aspekte von Case<br />
Management und dem Clearing-Modell, die bei gutem Willen<br />
sicherlich zu nennen wären (z.B. durchgängige Fallverantwortung).
Case Management und Clearing 57<br />
Bei <strong>der</strong> Bearbeitung dieser beiden Methoden/Konzepte kristallisierte<br />
sich <strong>der</strong> Clearing-Begriff als sehr diffus heraus, da wohl<br />
etliche zentrale Aspekte <strong>der</strong> Clearing-Intention im umfassen<strong>der</strong>en<br />
Konzept des Case Managements aufgehen (z.B. im Intake<br />
o<strong>der</strong> im Assessment; vgl. Neuffer 2005, 51 ff.). So wird im<br />
ersten Teil <strong>der</strong> Versuch unternommen, den Clearing-Begriff zu<br />
klären und zu verorten, danach erfolgt eine kritische<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Case Management. Der Fokus in<br />
<strong>der</strong> zusammenfassenden Analyse wird auf die Auswirkungen<br />
dieser sozialtechnischen Methoden auf die Profession gelegt.<br />
Mit dem Einzug des Sozialmanagements als zusätzlicher<br />
Facette in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> Mitte <strong>der</strong> 80er Jahre (vgl.<br />
Galuske 2003, 313), brach nicht nur das Zeitalter <strong>der</strong> »Ökonomisierung«<br />
in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> an, son<strong>der</strong>n es schwappte<br />
auch eine Welle von neuen Begrifflichkeiten, Methoden,<br />
Techniken und Konzepten auf die Profession nie<strong>der</strong>. Auf einmal<br />
wurde <strong>der</strong> Begriff »Management« vielfach als »Wun<strong>der</strong>terminus«<br />
gebraucht: Qualitätsmanagement, Unterstützungsmanagement,<br />
Kontraktmanagement, Netzwerkmanagement<br />
und ähnliches mehr. Diese Managementphase hält bis dato an<br />
und »tritt prononciert unter <strong>der</strong> gesellschaftlichen Bedingung<br />
neo-liberaler Markt-Orientierung und <strong>der</strong> schärfer werdenden<br />
Verteilungskämpfe auf.« (Karlusch 2005, 12). Die Vermittlung<br />
von Kompetenzen des Sozialmanagements zur Steuerung und<br />
Führung sozialer Einrichtungen wurde Bestandteil von Aus-,<br />
Fort – und Weiterbildung. Mystisch klingende Anglizismen wie<br />
Evaluation, Controlling, Sponsoring, Output-Steuerung,<br />
Controlling, usw. bestimmten ab nun auch den <strong>Arbeit</strong>salltag in<br />
den Führungsebenen von sozialen Organisationen. Der Bezug<br />
auf die »neuen« Ansätze von Clearing sowie Case Management<br />
entspringt ebenfalls dieser Phase, wobei folgend <strong>der</strong> Versuch<br />
unternommen wird, den Wirkungsgrad dieser Begrifflichkeit<br />
und den dahinter liegenden Inhalt kritisch auszuleuchten und zu<br />
verorten.
58<br />
Case Management und Clearing<br />
Ungeklärter »Clearing-Begriff« in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> – nun vor einer Klärung?<br />
Der Begriff »Clearing« ist in <strong>der</strong> Praxis Sozialer <strong>Arbeit</strong> ein<br />
geläufiger und man möchte meinen, dass die AkteurInnen<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> unter diesem Terminus etwas Ähnliches assoziieren,<br />
vermutlich Abklärung bzw. Klärung von Klienteninteressen<br />
o<strong>der</strong> -ansprüchen. Die Abklärung – bzw. die »Ermittlungstätigkeiten«<br />
(vgl. Müller 1991, 115) wie es zu Mary<br />
Richmonds Zeiten hieß – <strong>der</strong> jeweiligen Problemsituation war<br />
schon immer Bestandteil Sozialer <strong>Arbeit</strong>. Eine eingehende<br />
Beschäftigung mit diesem Begriff ergibt allerdings kein klares<br />
Bild, eine ausführliche Differenzierung und Verortung des<br />
Begriffs bzw. <strong>der</strong> jeweiligen Intention wurde bis dato nicht vorgenommen.<br />
Für eine anschlussfähige Auseinan<strong>der</strong>setzung wäre<br />
dies allerdings durchaus dienlich, kann in diesem Rahmen<br />
allerdings nur in Form einer Skizze geleistet werden.<br />
Ohne etymologisch ins Detail gehen zu wollen, überrascht es<br />
im Ökonomisierungs-Kontext nicht, dass <strong>der</strong> Begriff<br />
»Clearing« über die Betriebswirtschaft (Wertpapier- und<br />
Cashclearing als Wertpapier- bzw. Cashabrechnung) den<br />
Einzug in die Soziale <strong>Arbeit</strong> gefunden hat. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit<br />
etablierte sich <strong>der</strong> Begriff in den unterschiedlichsten<br />
Handlungsfel<strong>der</strong>n (für Österreich: Jugendwohlfahrt, materielle<br />
Grundsicherung, Straffälligenhilfe, <strong>Arbeit</strong>, usw.) und unterlag<br />
den jeweilig unterschiedlichen Rezeptionen. So verwun<strong>der</strong>t es<br />
nicht, dass sich hinter diesem »Clearing-Begriff« differenzierte<br />
Konzeptionen und Intentionen verbergen. Im Folgenden wird<br />
<strong>der</strong> Versuch unternommen, diese unterschiedlichen ideologischen<br />
Zugänge zu identifizieren und in drei Kategorien zu glie<strong>der</strong>n<br />
1. Organisatorisches Clearing<br />
2. Psychosoziales Clearing<br />
3. Clearing zur Abklärung materieller Ansprüche
Case Management und Clearing 59<br />
Ad 1: In dieser Kategorie könnten alle organisatorischen<br />
Vorgänge und Handlungen subsumiert werden, die rasch und<br />
fachlich klären, welche soziale Institution o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />
Ressource sich für die präsentierte Problemstellung <strong>der</strong><br />
KlientInnen als adäquat erweist. Als ein Beispiel für das »organisatorische<br />
Clearing« kann das Clearing-Team in österreichischen<br />
Justizanstalten 1 angeführt werden. Das Team besteht aus<br />
VertreterInnen des <strong>Sozialen</strong> Dienstes <strong>der</strong> jeweiligen<br />
Justizanstalt, VertreterInnen <strong>der</strong> Straffälligenhilfe wie z.B.<br />
BewährungshelferInnen, dem/<strong>der</strong> zuständigen JustizwachebamtIn<br />
für Entlassungen und diversen an<strong>der</strong>en Betreuungseinrichtungen<br />
(Suchthilfe, Auslän<strong>der</strong>Innenhilfe etc.). Ziel dieses<br />
Clearing-Teams ist die Abklärung, welche Ressourcen bzw.<br />
Organisationen und Institutionen den KlientInnen, die zur<br />
Entlassung anstehen, vermittelt werden können.<br />
Ad 2: Das psychosoziale Clearing ist überall dort zu verorten,<br />
wo aufgrund einer längeren zeitlichen Einschätzung <strong>der</strong><br />
Problemsituation eine Abklärungsphase festzulegen ist. Hier<br />
kann es zum Aufbau eines KlientInnen-SozialarbeiterInnen-<br />
Interaktionssystems ähnlich wie in <strong>der</strong> lebensweltorientierten<br />
Individualhilfe (Phase als sog. »Intake« 2 ) kommen. Dieses<br />
Modell findet sich vor allem dort wie<strong>der</strong>, wo es um längerfristige<br />
Betreuungsphasen geht, wie zum Beispiel im Verein<br />
NEUSTART (Straffälligenhilfeorganisation). Eine <strong>der</strong>artige<br />
Umsetzung von Clearing ist nach wie vor Bestandteil im<br />
Rahmen <strong>der</strong> fachlichen Standards bei NEUSTART, was auch<br />
die Beschreibung von »neueren« sozialarbeiterischen<br />
Leistungen wie beispielsweise die Vermittlung von diversionellen<br />
Maßnahmen zeigt (vgl. Neustart 2007, 1 ff).<br />
Ad 3: Mit dem »Clearing zur Abklärung materieller Ansprüche«<br />
müssen sich SozialarbeiterInnen auseinan<strong>der</strong>setzen,<br />
die vorwiegend im Bereich <strong>der</strong> Hoheits-Verwaltung wie <strong>der</strong><br />
Jugendwohlfahrt o<strong>der</strong> <strong>der</strong> materiellen Grundsicherung tätig<br />
sind. So werden in den Wiener Sozialzentren Clearinggespräche<br />
von SozialarbeiterInnen durchgeführt, die neben <strong>der</strong>
60<br />
Case Management und Clearing<br />
Beratung und Information vorrangig <strong>der</strong> Anspruchsprüfung<br />
bzw. Bedarfsabklärung dienen (vgl. Emprechtinger et al. 2007,<br />
23). »In einem Erstgespräch gilt es dabei, eine umfassende<br />
Sozialanamnese durchzuführen, die Situation zu erfassen und<br />
den Anspruch auf eine Geldleistung zu prüfen« (Emprechtinger<br />
et al. 2007, 22). Hinter dem Clearing zur Abklärung materieller<br />
Ansprüche, wo eindeutig <strong>der</strong> sozio-ökonomische Aspekt im<br />
Vor<strong>der</strong>grund steht, liegt ganz klar das Konzept des New Public<br />
Managements, welches nach betriebswirtschaftlicher Prägung<br />
ausgerichtet ist: »Mit <strong>der</strong> Umstrukturierung des Sozialhilfevollzuges,<br />
<strong>der</strong> (sic!) am Konzept des New Public Management<br />
(NPM) orientiert ist, mag eine Optimierung im Sinne von<br />
KundInnenorientierung, Effektivierung und Leistungen und des<br />
Leistungsspektrums intendiert gewesen sein.« (Emprechtinger<br />
et al. 2007, 11).<br />
Mit diesen Aufgaben (Sozialanamnese, Anspruchsprüfung)<br />
sind somit auch Grundfunktionen des Case Managements thematisiert,<br />
die einen gezielten Wandel zur Aktivierung anstreben.<br />
Entscheidend ist das Junktim, das zwischen <strong>der</strong> Dienstleistung,<br />
d.h. dem Case- o<strong>der</strong> Kontraktmanagement einerseits<br />
und an<strong>der</strong>erseits dem Erhalt <strong>der</strong> Transferleistung formuliert<br />
wird (vgl. Trube 2005, 5).<br />
Von den Geistern, die die Soziale <strong>Arbeit</strong> rief,<br />
für die Zukunft lernen<br />
Je nach inhaltlicher Umsetzung und gutem Willen des/<strong>der</strong><br />
BetrachterIn, kann hinter den beschriebenen Modellen des<br />
organisatorischen und psychosozialen Clearings die Handlungsmaxime<br />
<strong>der</strong> lebensweltorientierten <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> verortet<br />
werden, also ein sozialarbeiterisches Agieren nach den allgemeinen<br />
Prinzipien <strong>der</strong> Prävention, Alltagsnähe, <strong>der</strong><br />
Integration, <strong>der</strong> Partizipation und <strong>der</strong> Dezentralisierung/<br />
Regionalisierung bzw. Vernetzung (vgl. Thiersch 1992). Hinter
Case Management und Clearing 61<br />
dem Clearing-Modell zur Abklärung materieller Ansprüche<br />
steht eindeutig das Konzept des aktivierenden Changemanagements,<br />
dessen Basis die Verän<strong>der</strong>ung sozialpolitischer<br />
Logiken darstellt. Diese Verän<strong>der</strong>ung erzeugt allerdings nicht<br />
Integration, son<strong>der</strong>n vielmehr Exklusion und Marginalisierung<br />
(vgl. Trube 2005, 7).<br />
Die Philosophie des Clearings wurde vielfach in ein schönes<br />
Konzept verpackt – die Implementierung des Clearinggespräches<br />
in den Wiener Sozialzentren wurde ursprünglich von<br />
den SozialarbeiterInnen begrüßt 3 . Man sah darin einen großen<br />
Vorteil, weil sich diese SozialarbeiterInnen von <strong>der</strong> Problemlage<br />
<strong>der</strong> jeweiligen Person selbst ein Urteil bilden konnten und<br />
eine weitere Betreuung nach eigenen Kriterien angedacht werden<br />
konnte o<strong>der</strong> auch nicht. (vgl. Emprechtinger et al. 2007,<br />
23). Inzwischen ist die Situation so, dass sich einzelne<br />
SozialarbeiterInnen wünschen, die Anspruchsprüfung nicht<br />
mehr durchführen zu müssen, weil es aufgrund <strong>der</strong> verwaltungsrechtlichen<br />
Mehrbelastung immer schwieriger wird, den<br />
professionellen Anspruch in <strong>der</strong> täglichen <strong>Arbeit</strong> umzusetzen<br />
(vgl. ebenda, 21). Dies erinnert entfernt an den berühmten<br />
Zauberlehrling, <strong>der</strong> nicht mehr in <strong>der</strong> Lage ist, jene Geister (in<br />
diesem Fall die »sozialarbeiterischen« Methoden des<br />
Managements) wie<strong>der</strong> einzufangen, die er gerufen hat, weil die<br />
Regie des wohlfahrtsstaatlichen Changemanagements in an<strong>der</strong>en<br />
Händen liegt (vgl. Trube 2005, 10). Diese Metapher gilt im<br />
Beson<strong>der</strong>en auch für das Case Management.<br />
Was ist drin, wenn Case Management drauf steht?<br />
Analog zur Rezeption des »Clearing-Begriffes« verhält es sich<br />
mit dem Case Management, mit dem sich <strong>der</strong>zeit auch die<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> in Österreich 4 auseinan<strong>der</strong>setzt, wohingegen <strong>der</strong><br />
Diskurs über Case o<strong>der</strong> Care Management in Deutschland seit<br />
nunmehr über 12 Jahren geführt wird. In Deutschland wie in
62<br />
Case Management und Clearing<br />
Österreich internalisieren VertreterInnen von Profession und<br />
Disziplin, sowie Politik und Verwaltung schon aufgrund ihrer<br />
eigenen berufsspezifischen Intention und Sprachcodes unterschiedliche<br />
Zuschreibungen, was genau unter Case Management<br />
zu verstehen ist. »In vielen Konzepten, Veröffentlichungen<br />
und Institutionen ist zu lesen und zu hören:<br />
›Wir arbeiten jetzt mit Case Management.‹ Eine Nachfrage<br />
o<strong>der</strong> genauere Überprüfung zeigt z.B. in Krankenhaussozialdiensten,<br />
dass damit nur eine Art Lotsenfunktion für weitere<br />
Maßnahmen innerhalb und außerhalb <strong>der</strong> stationären<br />
Behandlung gemeint ist. Diese wird zwar systematisch und<br />
damit besser gesteuert, endet aber in <strong>der</strong> Regel beim Verlassen<br />
des Krankenhauses nach dem Assessment o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Serviceplanung« (Remmel-Faßben<strong>der</strong> 2005, 80). Wendt (2005,<br />
14) konstatiert zu diesem Thema: »Aber oft ist dort, wo Case<br />
Management drauf steht, Case Management nicht drin. Seine<br />
Einführung bedeutet und verlangt Systemverän<strong>der</strong>ung; erfolgt<br />
sie nicht, setzt sich das Case Management nicht durch.« Bei<br />
Kenntnis <strong>der</strong> österreichischen Situation kann durchaus Skepsis<br />
angebracht werden, ob <strong>der</strong> »von oben diktierte große Wurf«<br />
(Neuffer 2005, 46) überhaupt gelingt. Möglichweise führt eine<br />
schleichende Übernahme von im Case Management-Konzept<br />
vorgeschlagenen <strong>Arbeit</strong>sweisen schneller zu kleineren strukturellen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen (ebenda, 46).<br />
Case Management: Ein Export aus den USA<br />
Das Case Management als Methode von Sozialdiensten wurde<br />
Ende <strong>der</strong> 70er Jahre in den USA entwickelt (Galuske 2003,<br />
201) und begann mit <strong>der</strong> Reorganisation <strong>der</strong> sozialen und<br />
gesundheitlichen Versorgung. Aufgrund <strong>der</strong> Deinstitutionalisierung<br />
in den USA, aber auch in an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n entließ man<br />
chronisch psychisch kranke, geistig behin<strong>der</strong>te und pflegebedürftige<br />
Menschen in großer Zahl aus <strong>der</strong> stationären<br />
Unterbringung, was nun die Notwendigkeit mit sich brachte,<br />
für die Entlassenen eine hinreichende ambulante Betreuung
Case Management und Clearing 63<br />
durch soziale und medizinische Dienste zu organisieren. Im<br />
darauf folgenden unkoordinierten Nebeneinan<strong>der</strong> von Hilfeangeboten<br />
beispielsweise bei behin<strong>der</strong>ten Menschen wurde mit<br />
dem Case Management ein Dienst eingesetzt, <strong>der</strong> die notwendigen<br />
sozialen, medizinischen und erzieherischen Unterstützungen<br />
organisiert und diese dann koordiniert (vgl. Wendt<br />
2001, 14ff.). Ende <strong>der</strong> 80er Jahre wurde Case Management in<br />
Deutschland rezipiert, wobei Wendt die zunehmende<br />
Differenzierung und Spezialisierung <strong>der</strong> Dienstleistungen, die<br />
eine Kooperation <strong>der</strong> Angebote notwendig machen, als Gründe<br />
für die Rezeption des Case Managements anführt (vgl. Wendt<br />
1991, 11). Bisher hat sich diese methodische <strong>Arbeit</strong>sform in<br />
Deutschland als erweiterte, ressourcen- und sozialräumlich<br />
orientierte Einzelfallhilfe in vielen <strong>Arbeit</strong>sbereichen als<br />
Neuorientierung (z.B.: Altenarbeit, Pflege und Gesundheit,<br />
Kin<strong>der</strong>-, Jugend- Familienhilfe, Straffälligenhilfe, chronische<br />
Suchtkranke etc.) etabliert (vgl. Remmel-Faßben<strong>der</strong> 2005, 67;<br />
ausführlich Wendt 2005, 24 ff).<br />
Begriffe und Merkmale von Case Management<br />
Der aus dem US-amerikanischen Sprachraum übernommene<br />
Begriff »Case Management« (Fallmanagement) wirkt nicht nur<br />
in <strong>der</strong> deutschen Konnotation missverständlich (vgl. Hansen<br />
2005, 107). »Seine problematische Auslegung trägt dazu bei,<br />
die ohnehin nicht präzise zu fassende konzeptionelle und<br />
methodische Rahmung <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>sweise weiter verschwimmen<br />
zu lassen« (Ewers 2000, 53). »Case« steht hier nicht für den<br />
Menschen, son<strong>der</strong>n für eine problematische Situation, die es zu<br />
bewältigen gilt. Sie ist <strong>der</strong> Fall und Gegenstand <strong>der</strong> sozialarbeiterischen<br />
ziel- und lösungsorientierten professionellen<br />
Bemühungen (vgl. Wendt 2005, 15). Dieses Problem einer<br />
direkten Übernahme von US-amerikanischen Terminologien in<br />
einen an<strong>der</strong>en nationalen und kulturellen Kontext wurde unter<br />
britischen Verhältnissen rechtzeitig erkannt. Vom britischen<br />
Gesundheitsministerium wurde bereits 1991 darauf hingewie-
64<br />
Case Management und Clearing<br />
sen, dass die Verwendung des Begriffs »Case Management« für<br />
NutzerInnen personenbezogener Sozialer Dienstleistungen<br />
erniedrigend wirken kann (vgl. Hansen 2005, 107), in<br />
Großbritannien spricht man in <strong>der</strong> Folge von »Care<br />
Management«. Auch Wendt (2005, 15) sieht im »Fallmanagement«<br />
im Gesundheitsbereich ein »Care Management«,<br />
welches für die überindividuelle Versorgungssteuerung und -<br />
gestaltung als administrative Aufgabenstellung steht. Überdies<br />
hat sich für die Steuerung <strong>der</strong> Gesundheitsversorgung <strong>der</strong> amerikanische<br />
Begriff »Managed Care« etabliert. Dieser kurze<br />
Auszug zeigt deutlich, dass für die zukünftige Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit dem »Case Management« im Gesundheits- und<br />
Sozialalbereich eine begriffliche Klarheit geschaffen werden<br />
muss. Auch in Österreich stößt das Case Management-Konzept<br />
bei vielen Dienstleistungsorganisationen des Sozial- und<br />
Gesundheitswesens auf zunehmendes Interesse und eine jeweilige<br />
Klärung <strong>der</strong> Intention wäre den PerzipientInnen dringend<br />
anzuraten.<br />
Unabhängig von den begrifflichen Wirrungen offenbart sich <strong>der</strong><br />
Wesenskern von Case Management in »beeindrucken<strong>der</strong><br />
Schlichtheit« (Ewers 2000, 54). Der Kernprozess des Unterstützungsmanagements<br />
besteht aus verschiedenen Phasen,<br />
wobei sich in <strong>der</strong> Literatur zum Case Management unterschiedliche<br />
Phasierungsmodelle finden, die den Hilfeprozess in eine<br />
sinnvolle Abfolge von Handlungsschritten zu bringen versuchen<br />
(vgl. Galuske 2003, 204). Ohne auf die einzelnen Phasen<br />
und <strong>der</strong>en Umsetzungsprobleme (ausführlich dazu Hansen<br />
2005, 112ff) an dieser Stelle ausführlicher eingehen zu können,<br />
seien sie doch kurz skizziert: Im (1) Assessment sind die diversen<br />
Bedarfslagen zu identifizieren, darauf aufbauend werden<br />
(2) Hilfe- und Leistungspläne erstellt (planning), danach werden<br />
die (3) Dienstleistungen organisiert (intervention/brokering),<br />
in <strong>der</strong> Folge wird <strong>der</strong> Leistungs- und Unterstützungsprozess<br />
von dem/<strong>der</strong> Case ManagerIn (4) kontrolliert<br />
(Controlling/Monitoring) und schließlich auch (5) evaluiert
Case Management und Clearing 65<br />
(Evaluation) (vgl. Neuffer 2002, 51ff; Moxley 1989, 18). Dem<br />
Anspruch nach ist das Case Management längerfristig angelegt<br />
und behält den gesamten Betreuungsverlauf im Blick.<br />
Case Management pur – o<strong>der</strong> aber mit<br />
Beziehungsarbeit?<br />
Case Management wird von vielen VertreterInnen als eine<br />
Weiterentwicklung o<strong>der</strong> »qualifizierte Fortschreibung«<br />
(Neuffer 2005, 19) <strong>der</strong> Einzelfallhilfe verstanden. Allerdings<br />
verlagert sich damit das Aufgabenspektrum des Helfers von <strong>der</strong><br />
psychosozialen Beziehungsarbeit zur organisierenden, planenden,<br />
koordinierenden und kontrollierenden Abstimmung von<br />
Angebot und Nachfrage nach Unterstützung (vgl. Wendt 1991,<br />
11). Unter den Case Management-Lobbyisten gibt es durchaus<br />
unterschiedliche Vorstellungen, inwieweit die psycho-soziale<br />
Beziehungsarbeit im Case Management eine Rolle spielt bzw.<br />
ist dies Gegenstand kritischer Erörterungen (vgl. Remmel-<br />
Faßben<strong>der</strong> 2005, 71 ff.; Löcherbach 2000, 104). Während für<br />
Wendt (2001, 9) die helfende Beziehung im Case Management<br />
»keine Vorbedingung für ein erfolgsversprechendes berufliches<br />
Handeln« ist, sieht Neuffer diese Beziehungsarbeit auch nicht<br />
in Konkurrenz zu effektiver und effizienter Fallarbeit. Er wi<strong>der</strong>spricht<br />
Wendt m.E. zu Recht, wenn er meint, »dass eine durchgehende<br />
Fallverantwortung Beziehungsarbeit erfor<strong>der</strong>t, um das<br />
Vertrauen <strong>der</strong> KlientInnen zu erreichen (…)« (Neuffer 2005,<br />
43). Egal, welcher ideologische Zugang im Case Management<br />
als sozialarbeiterische Methode vorzufinden ist, eint nach meiner<br />
Einschätzung die Case Management-Lobbyisten <strong>der</strong><br />
Wunsch, die Soziale <strong>Arbeit</strong> endlich auf Augenhöhe zu an<strong>der</strong>en<br />
Vollprofessionen betreiben zu können. Effektivität und<br />
Effizienz sind die – aus <strong>der</strong> Ökonomie bekannten –<br />
Wun<strong>der</strong>begrifflichkeiten, die offenbar diese gewünschte<br />
»Professionalität« signalisieren sollen.
66<br />
Case Management und Clearing<br />
Case Management als Instrument des Neoliberalismus<br />
Mit näherem Blick auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem<br />
Case Management etabliert wurde, muss Case Management als<br />
ein Instrument neoliberal orientierter Wohlfahrtsstaaten identifiziert<br />
werden (vgl. Hansen 2005, 108). Auch wenn die heutige<br />
Situation in Deutschland mehr als in Österreich <strong>der</strong> US-amerikanischen<br />
Entwicklung in einigen Aspekten gleicht (vgl. Kleve<br />
2006, 15) – und allerdings auch Österreich im Sinne einer neoliberalen-neokonservativen<br />
Wende diesem Entwicklungsmuster<br />
folgt (vgl. Talos/Fink 2001, 21) – darf nicht vergessen werden,<br />
dass <strong>der</strong> österreichische Sozialstaat konservativ-korporatistischer<br />
Prägung mit einem sozialstaatlichen Charakter auf einem<br />
völlig an<strong>der</strong>en Prinzip aufgebaut ist als die USA o<strong>der</strong> auch<br />
Großbritannien (vgl. Beriè/Fink 2000, 50). Im Kern zielt das<br />
neo-sozialstaatliche Modell des aktivierenden Sozialstaates, <strong>der</strong><br />
sich in Deutschland idealtypisch mit den Hartz-Gesetzen manifestiert<br />
hat, auf mehr Markt und weniger Staat. Für die Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> ist das Beispiel <strong>der</strong> Hartz-Reformen hüben wie drüben<br />
insofern bedeutsam, »als dass sich im Fallmanagement <strong>der</strong><br />
<strong>Arbeit</strong>s- und Sozialverwaltung modellhaft nachlesen lässt, wie<br />
sich <strong>der</strong> aktivierende Sozialstaat »seine Soziale <strong>Arbeit</strong>« vorstellt:<br />
Als strengen, mit Sanktionsmacht ausgestatteten Berater,<br />
Begleiter, Kontrolleur und »Richter« auf dem Weg in einen<br />
<strong>Arbeit</strong>smarkt mit schwinden<strong>der</strong> Absorbtionsfähigkeit, »workfare<br />
statt welfare«, mit Zielvorgabe und Zwangsberatung.«<br />
(Galuske 2006, 14). Auch an<strong>der</strong>e Autoren können sich dieser<br />
Kritik anschließen: So identifiziert Achim Trube (2005, 43 ff.)<br />
das »aktivierende Casemanagement als ein Instrument des<br />
Changemanagements, ein Angebot, das <strong>der</strong> Adressat schlichtweg<br />
nicht ablehnen kann, da es nicht freiwillig auf Mitwirkung<br />
beruht.« Und mit Blick auf die Profession sind Dahme/<br />
Wohlfahrt (o.J., 11) <strong>der</strong> Meinung, dass durch den aktivierende<br />
Staat – und gerade eben auch mittels jener Konzepte, »die<br />
Fachlichkeit und die durch Expertise begründete Autonomie<br />
<strong>der</strong> Fallbearbeitung […] in Frage gestellt [wird].« Ziel ist dabei
Case Management und Clearing 67<br />
ein stärkeren Einfluss auf »Handlungsvollzüge in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> […], um letztlich die Fallbearbeitung optimaler steuern<br />
und reglementieren zu können.« (Dahme/Wohlfahrt o.J., 11).<br />
Im krassen Gegensatz dazu stehen die verlockenden Ausführungen<br />
vieler Case Management TheoretikerInnen, die mit<br />
Partizipation und Empowerment den Anschein von Handlungsmacht<br />
für die KlientInnen erwecken (vgl. Neuffer 2005, 22ff.)<br />
und es auch als professionelle Weiterentwicklung verstehen<br />
wollen. Unter den beschriebenen Umständen kann es sich nur<br />
um eine paternalistische Form von Partizipation handeln:<br />
»Ihrer kritischen Inhalte beraubt (Anm. Inhalte <strong>der</strong> Partizipation),<br />
degeneriert Partizipation so zu einer beson<strong>der</strong>es subtilen<br />
Form politischer Apathie (als wi<strong>der</strong>spruchslose Fügung in<br />
institutionellen Gegebenheiten)« (Gronemeyer 1973, 28).<br />
Case Management:<br />
Ein Glaubwürdigkeitsproblem für die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
Gegenwärtig findet nach meiner Einschätzung we<strong>der</strong> ein kritisches<br />
Hinterfragen, noch ein völliger Boykott des Case<br />
Management-Konzeptes statt. Dieser Umstand öffnet natürlich<br />
jenen Tür und Tor, die SozialarbeiterInnen – vielleicht auch nur<br />
implizit – mit <strong>der</strong> Gleichung »Case Management = mehr<br />
Professionalität = mehr Anerkennung« für dieses Konzept<br />
begeistern wollen. Wie oben allerdings ausgeführt wurde, vertraut<br />
und baut das Case Management-Konzept zu einseitig auf<br />
den vom Neoliberalismus angenommenen, vernunftbetonten,<br />
rational agierenden »homo oeconomicus«, <strong>der</strong> als<br />
Menschenbild quasi auf alle übertragen werden kann (ausführlich<br />
dazu Staub-Bernasconi 2005, 1ff.).<br />
Die Soziale <strong>Arbeit</strong> insgesamt hat ein Glaubwürdigkeitsproblem,<br />
wenn sie einerseits neoliberale Tendenzen in <strong>der</strong><br />
Sozialpolitik kategorisch als Beiträge zur Demontage des<br />
Sozialstaates wertet, sich an<strong>der</strong>erseits aber neoliberaler
68<br />
Case Management und Clearing<br />
Instrumente wie des Case/Care Managements (vgl. Hansen,<br />
120) und diverser Clearing Modelle bedient sowie diese auch in<br />
ihre Professionalisierungsstrategien einbaut. Dieses Glaubwürdigkeitsproblem<br />
wird sich noch erhöhen, wenn sich die<br />
Profession und die Disziplin angesichts <strong>der</strong> teils dramatischen<br />
sozialpolitischen Verän<strong>der</strong>ungen in Europa nicht ausreichend<br />
positionieren und einen an<strong>der</strong>en Weg <strong>der</strong> Professionalisierung<br />
einschlagen, <strong>der</strong> dem Proprium Sozialer <strong>Arbeit</strong> a la Silvia<br />
Staub-Bernasconi (vgl. Engelke 2002, 362 ff) näher ist.<br />
Die gegenwärtigen Entwicklungen haben für die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
weit reichende Folgen. Das »Feld« wird für die praktische<br />
<strong>Arbeit</strong> zur vernachlässigenden Größe, aber auch <strong>der</strong> »Fall«<br />
bleibt nicht, was er einmal war, denn Ursachensuche, hermeneutisches<br />
Fallverstehen und Lebensweltorientierung kommen<br />
abhanden. Mit je<strong>der</strong> bewussten und unbewussten Übernahme<br />
von klientInnenfeindlichen Aspekten in <strong>der</strong> Fallbearbeitung<br />
wird die fachliche Autonomie schrittweise eingeschränkt und<br />
führt auf absehbare Zeit möglicherweise zu einer grundsätzlich<br />
verän<strong>der</strong>ten Professionalität in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>.<br />
Verlockende Vokabeln wie Beteiligung, Autonomie, Selbststeuerung,<br />
Selbstverantwortung, Befähigen und Ermöglichen<br />
sind kennzeichnend für eine neosoziale Politik und sollen die<br />
Kunst effektiver Verhaltensbeeinflussung bei optimalem<br />
Ressourceneinsatz beför<strong>der</strong>n helfen (vgl. Dahme/Wohlfahrt<br />
o.J., 14). »Für eine professionelle, gesellschaftlich und politisch<br />
aufgeklärte Soziale <strong>Arbeit</strong> ist in diesem Szenario nur noch<br />
wenig Spielraum enthalten.« (ebenda, 15).<br />
Für alle VertreterInnen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> in Österreich, die<br />
sich pro futura mit <strong>der</strong> Implementierung von Case Management<br />
befassen o<strong>der</strong> weitere Clearing-Modelle umsetzen müssen bzw.<br />
wollen, wird es eine Gewissensentscheidung und Nagelprobe<br />
sein, diese Konzepte mit kritisch-reflexivem Blick in das eigene<br />
Methodenrepertoire zu übernehmen. Formalisierungen wie<br />
das Case Management müssen m.E. gestaltend angenommen<br />
werden, sie erduldend hinzunehmen, ist ein Akt <strong>der</strong> Selbst-
Case Management und Clearing 69<br />
aufgabe (vgl. Hansen 2005, 123). Wesentlich ist dabei allerdings<br />
die kritische inhaltliche Auseinan<strong>der</strong>setzung mit diesen<br />
Konzepten, denn »wer mit <strong>der</strong> Methode nicht vertraut ist, wird<br />
<strong>der</strong>en Missbrauch nicht erkennen können.« (Hansen 2005,<br />
122).<br />
Anmerkungen<br />
1 http://www.neustart.at/jasicher/?cmd=ja_item&ja_id=17&item=<br />
Freizeit<br />
2 Das Intake ist die erste systematische Beratung und Bestandsaufnahme<br />
<strong>der</strong> Problemsituation (Pantucek 1998, 130)<br />
3 Die Idee des Clearings entstand in einem <strong>Arbeit</strong>skreis aus<br />
SozialarbeiterInnen und Verwaltungsbediensteten im Jahr 1999/2000<br />
(vgl. Emprechtinger et al. 2007)<br />
4 Siehe Schwerpunktnummer <strong>der</strong> Zeitschrift SIÖ (Sozialarbeit in Österreich)<br />
»Was kann Case Management?«, Ausgabe 1/06<br />
Literatur<br />
Beriè, Hermann/Fink, Ulf (2000): Europas Sozialmodell – Die europäischen<br />
Sozialsysteme im<br />
Vergleich. Eine volkswirtschaftliche Analyse. Institut für Wirtschaft &<br />
Soziales GmbH. Berlin<br />
Dahme, Heinz-Jürgen/Wohlfahrt, Norbert (o.J.): Entwicklungstendenzen<br />
zu neuer Sozialstaatlichkeit in Europa und ihre Konsequenzen für die<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong>. Online unter: (Stand 17.1.2008)<br />
Eisenriegler, Adalbert (1993): Das 6-Varianten-Modell zur Durchführung<br />
<strong>der</strong> Bewährungshilfe. In: Sozialarbeit und Bewährungshilfe (SUB)<br />
1993, 21 – 30.<br />
Emprechtinger, Julia/Jöbst-<strong>Arbeit</strong>er, Maria/Hammer, Elisabeth/Krieger,<br />
Maria (2007): Sozialhilfe und Sozialarbeit zwischen öffentlichem<br />
Auftrag und professionellem Anspruch.
70<br />
Case Management und Clearing<br />
Die MA 15 <strong>der</strong> Stadt Wien. Fallbeispiel erstellt im Rahmen des<br />
Workpackage 3 des Projektmoduls 4 »Fachliche Standards in <strong>der</strong><br />
Sozialwirtschaft: gestern – heute – morgen« <strong>der</strong> EQUAL<br />
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Case Management und Clearing<br />
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Diagnose und Sozialtechnologie<br />
Michael Galuske<br />
Nicole Rosenbauer<br />
Ein konstitutiver, nicht hintergehbarer Bestandteil <strong>der</strong> alltäglichen<br />
Handlungsvollzüge von SozialpädagogInnen und<br />
SozialarbeiterInnen ist die Fähigkeit, sozialpädagogische<br />
Handlungssituationen in ihrer Komplexität zu ›entschlüsseln‹,<br />
sie zu ›lesen‹, zu verstehen und zu deuten. Eine fragende und<br />
›forschende‹ Haltung, die organisatorische, institutionelle und<br />
gesellschaftliche Rahmenbedingungen ebenso einbezieht wie<br />
Hypothesen über lebensgeschichtliche und situative Befindlichkeiten<br />
und <strong>der</strong>en kommunikative Validierung, ist die Basis<br />
einer reflexiven sozialpädagogischen Professionalität, wie es<br />
<strong>der</strong> Fachdiskurs als tragfähiges Leitbild fachlichen Handelns in<br />
<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit und Komplexität sozialpädagogischen<br />
Handelns am Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts entwickelt hat. Deren<br />
eigene Typik, ein ›sozialpädagogischer Blick‹ entfaltet sich in<br />
<strong>der</strong> Vermittlung von Subjekt- und Strukturperspektive, von<br />
institutionellen und individuellen Aspekten sowie eines Feldund<br />
Bildungsbezugs (vgl. Thole 2002, 37). Entsprechend<br />
begleitete die Soziale <strong>Arbeit</strong> immer schon die Frage, wie die<br />
»Fähigkeit zu schöpferischer Einsicht« (Salomon 1925, 44) und<br />
eine adäquate Erkenntnisgewinnung über Lebenssituationen<br />
methodisch unterstützt werden könne. Zwar wurden schon früh<br />
differenzierte Modelle einer ›<strong>Sozialen</strong> Diagnose‹ für das Feld<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> entwickelt, die auch bereits Fallstricke thematisierten<br />
– die Praxis jedoch schien weitestgehend beherrscht von<br />
Vorgehensweisen, die sich am medizinisch-klinischen Diagnostikmodell<br />
und Vokabular orientierten, die geprägt waren<br />
von Defizit-, Zuständigkeits- und Ausgrenzungsrhetorik.<br />
Der gegenwärtige diagnostische Boom in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ist<br />
insofern umso überraschen<strong>der</strong>, als entsprechende Verfahren im
74<br />
Diagnose und Sozialtechnologie<br />
Fahrwasser <strong>der</strong> Methodenkritik <strong>der</strong> 1970er-Jahre als »eine Kunst<br />
des Regierens« (vgl. Langhanky 2005) und Element zur Aufrechterhaltung<br />
gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse identifiziert<br />
und kritisiert wurden (vgl. Kunstreich 2003). Die Frage<br />
nach einer potentiellen ›Diagnostik‹ Sozialer <strong>Arbeit</strong> verschwand<br />
nach einer systematischen Diskussion <strong>der</strong> zugrundeliegenden<br />
Problematik schließlich in den 1980er-Jahren von <strong>der</strong> disziplinären<br />
Agenda. Heute erleben Erhebungs- und Klassifizierungsinstrumente,<br />
Testverfahren und Fragebögen in unterschiedlichsten<br />
Fel<strong>der</strong>n Sozialer <strong>Arbeit</strong> eine ungeahnte Konjunktur. Dem<br />
›Imperativ des Testens‹ unterliegen längst nicht mehr nur<br />
Individuen, son<strong>der</strong>n auch Sozial- und Bildungseinrichtungen wie<br />
Schulen und Universitäten in den diversen Ranking- o<strong>der</strong><br />
Evaluationsverfahren (vgl. Liessmann 2006, 74f.). Das<br />
»Paradigma <strong>der</strong> (Über-) Prüfung« hat den gesamten sozialen und<br />
kulturellen Raum ergriffen: »Es gibt heute nichts mehr, das nicht<br />
getestet werden o<strong>der</strong> Gegenstand von Testparametern sein könnte.<br />
(…) Wir sind umgeben von Diagnosemethoden, Nachweisverfahren,<br />
Untersuchungstechniken und Prüfapparaten, die<br />
uns mitteilen, über welche Kompetenzen wir verfügen, welchen<br />
Risiken wir ins Auge sehen müssen und welcher Gruppe wir<br />
zugehören« (Lemke 2004, 264). 1 Im Folgenden gehen wir dieser<br />
Entwicklung nach, indem zunächst strukturelle Merkmale von<br />
diagnostischen Verfahren nachgezeichnet werden. Der neuerliche<br />
Boom wird vor dem Hintergrund des aktuellen Effizienzdiskurses<br />
in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> diskutiert, und einige Hinweise<br />
auf potentielle Folgen bilden den Abschluss.<br />
Der gegenwärtige diagnostische Boom<br />
in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
Wer sich dem disziplinären Diskurs um ›Diagnostik‹ in <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> anhand <strong>der</strong> seit Beginn <strong>der</strong> 1990er-Jahre zahlreichen,<br />
neu erschienenen Lehr- und Handbücher nähert, stößt
Diagnose und Sozialtechnologie 75<br />
zunächst auf einen ›Streit um die Begrifflichkeit‹. Die<br />
BefürworterInnen eines Begriffsimports und einer Adaption<br />
medizinischen und psychologischen Vokabulars verbinden<br />
hiermit die Hoffnung, dass ein wichtiger Beitrag zur<br />
Professionalisierung und zur Anerkennung Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />
durch an<strong>der</strong>e Professionen geleistet werde. KritikerInnen betonen<br />
hingegen die den medizinisch-klinischen Diagnostikmodellen<br />
inhärenten Degradierungs- und Etikettierungspotentiale,<br />
KlientInnen werde im Rahmen expertokratischer<br />
und defizitorientierter Diagnoseverfahren lediglich <strong>der</strong> Status<br />
passiver Objekte zugebilligt.<br />
Die Anfang <strong>der</strong> 1990er-Jahre entstandenen neuerlichen<br />
Versuche einer sozialpädagogischen Diagnostik nahmen diese<br />
Kritik auf. 2 Sie orientierten sich zwar weiterhin am klinischen<br />
Begriffsinventar, versuchten dieses allerdings neu zu füllen, so<br />
beispielsweise Burkhard Müller (1993) in seinem Entwurf<br />
einer multiperspektivischen Fallarbeit. Dieser Entwurf ist<br />
geprägt von dem Bestreben, die lebensweltliche und biographische<br />
Komplexität <strong>der</strong> Genese sozialpädagogischer Bedarfslagen<br />
zu erschließen, den sozialpädagogischen Blick zu schärfen<br />
und die SozialarbeiterInnen in die Lage zu versetzen, mit<br />
<strong>der</strong> Komplexität <strong>der</strong> Interaktion adäquat umzugehen. An hermeneutische<br />
Denktraditionen anschließend finden sich des<br />
Weiteren eine Reihe von Konzepten, die für ganzheitliche,<br />
rekonstruktive, biografisch und/o<strong>der</strong> narrative sowie inszenierende,<br />
gruppen- o<strong>der</strong> beziehungsanalytische Zugänge des (Fall-<br />
) Verstehens in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> votieren (vgl. Schrapper<br />
2005, 192f.). Diese Konzepte stellen die Selbstdeutungen und<br />
Selbstäußerungen <strong>der</strong> Menschen in den Mittelpunkt und gewinnen<br />
hieraus Material für Falldarstellungen und -analysen.<br />
Neuere <strong>Arbeit</strong>en betonen insbeson<strong>der</strong>e die Potentiale biografischer<br />
Verfahren für die Ausgestaltung einer adressatInnenorientierten<br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. 3<br />
Zwar wich das ›alte‹, simple klinische Dreischrittmodell<br />
Anamnese, Diagnose und Behandlung als eine Vorstellung line-
76<br />
Diagnose und Sozialtechnologie<br />
ar geordneter Abfolgen zunehmend zirkulären Modellen mit<br />
ineinan<strong>der</strong> verschränkten Phasen 4 , und ohne Zweifel haben<br />
sich auch medizinische und psychologische Verfahren weiterentwickelt,<br />
dennoch ist die Methodenentwicklung <strong>der</strong> letzten<br />
Jahre in weiten Teilen als Sozialtechnologisierung <strong>der</strong> sozialpädagogischen<br />
Praxis angelegt. Das heißt, »dass Instrumente und<br />
Modelle aus dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich<br />
herangezogen und zum Zwecke <strong>der</strong> Zielerreichung eingesetzt<br />
werden« (Knoblauch 2006, 1), dass ›das Soziale‹ durch den<br />
zunehmenden Einsatz sozialwissenschaftlichen Wissens bearbeitet<br />
und gestaltet wird und wir die »Integration sozialpädagogischer<br />
Definitions- und Handlungsvollzüge in ökonomischtechnologisch<br />
dominierte Zugänge« beobachten (Böhnisch et<br />
al. 2005, 236). Während die oben genannten Konzepte zunächst<br />
offene Erkenntnisprozesse anstreben, in denen es um die<br />
Gewinnung von »Wissen aus <strong>der</strong> ›Innenperspektive‹ <strong>der</strong><br />
Subjekte – über <strong>der</strong>en Selbstsichten, über Ressourcen und<br />
Schwierigkeiten zur Bewältigung und über die subjektiven<br />
Aneignungsprozesse angebotener Hilfen« geht (Bitzan et al.<br />
2006, 7), verfolgt die Wissensgenerierung in sozialtechnologisch<br />
angelegten Verfahren dezidiert einen Zweck im Rahmen<br />
einer Systemfunktion (vgl. Knoblauch 2006, 2): Im Kontext<br />
verrechtlichter Prozeduren und administrativer Formen <strong>der</strong><br />
wohlfahrtsstaatlich organisierten Hilfe werden in <strong>der</strong> Regel solche<br />
Verfahren favorisiert, die Wissen auf Basis systematischer<br />
Informationssammlung, Beobachtung und Befragung generieren,<br />
und dieses anhand von Konzepten <strong>der</strong> psychischen und<br />
sozialen Normalität analysieren. Die Prozesse <strong>der</strong><br />
Wissensgenerierung sind hierbei nicht offen angelegt, son<strong>der</strong>n<br />
durch den Verwendungszweck <strong>der</strong> Erkenntnisse gesteuert, die<br />
als ExpertInnen-Deutungen im Kontext sozialrechtlicher<br />
Entscheidungsfindung und Intervention instrumentalisiert werden<br />
(vgl. Cremer-Schäfer 2003, 57, Schrapper 2005, 191).<br />
Die in den 1980er-Jahren gehegte Hoffnung, dass diagnostische<br />
(Test-)Verfahren im Alltagsgeschäft Sozialer <strong>Arbeit</strong> im Zeichen
Diagnose und Sozialtechnologie 77<br />
von Lebenswelt- und Dienstleistungsorientierung zugunsten<br />
strukturierter, dialogischer Verständigungsprozesse sukzessive<br />
an Boden verlieren, scheint angesichts <strong>der</strong> aktuellen<br />
Renaissance standardisierter Test- und Diagnoseinstrumente<br />
enttäuscht: Neuere Ansätze wie etwa die Diagnosetabellen des<br />
bayrischen Landesjugendamtes (vgl. Hillmeier 2004),<br />
Indikatorenlisten zur Erfassung des (potentiell gefährdeten)<br />
Kindeswohls o<strong>der</strong> Screening-Instrumente, flächige Sprachtests<br />
(wie z.B. Delfin 4 in Nordrhein-Westfalen) 5 , internationale<br />
Bildungsrankings (wie PISA o<strong>der</strong> IGLU) und IT-gestütztes<br />
Profiling o<strong>der</strong> Assessment im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>svermittlung<br />
und –för<strong>der</strong>ung (vgl. Schumak 2003) zielen in allen Fel<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> von den Erziehungshilfen bis zur<br />
<strong>Arbeit</strong>sför<strong>der</strong>ung, von <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>tagesbetreuung bis zur<br />
Universität zuvör<strong>der</strong>st auf die Reduktion von Komplexität.<br />
Mithilfe von Fragebögen, Diagnosetabellen, Merk- und<br />
Indikatorenlisten sowie Testverfahren werden diffuse und<br />
unbestimmte Phänomene wie z.B. Kindeswohl, employability<br />
o<strong>der</strong> Sprachfähigkeit operationalisiert, in Faktoren zerlegt,<br />
anhand von Parametern und Kategorien bestimmt und gewichtet<br />
(vgl. Lemke 2004, 267).<br />
Dieser Diagnostikboom ist eine logische Folge <strong>der</strong><br />
Verbetriebswirtschaftlichung von Denkformen, Instrumenten<br />
und Strukturen des Alltags <strong>der</strong> Organisationen des<br />
Sozialsektors: Indem SozialarbeiterInnen anhand solcher<br />
Instrumente systematisch ›Material‹ erfassen sowie detailliertes<br />
und individualisiertes Wissen erheben, wird ein zielgenau(er)es<br />
Urteil über den ›Fall‹ ermöglicht und eine Grundlage geschaffen<br />
für eine qualitativ ›hochwertige‹, passgenaue Hilfeleistung,<br />
so die Ideologie <strong>der</strong> betriebswirtschaftlichen Reorganisation<br />
des <strong>Sozialen</strong> Sektors. In <strong>der</strong> Logik neuer Steuerungsmodelle<br />
kommt <strong>der</strong> genauen Analyse des Einzelfalls (Diagnostik) und<br />
<strong>der</strong> spezifischen Wirksamkeit unterschiedlicher Hilfen eine<br />
Schlüsselrolle zu, denn nur mit genügend entsprechendem<br />
Wissen kann die anvisierte Kalkulier- und Beherrschbarkeit
78<br />
Diagnose und Sozialtechnologie<br />
gesichert werden: Eine (zertifizierte) Qualität soll diejenige<br />
Transparenz <strong>der</strong> Leistungen herstellen, auf <strong>der</strong>en Basis erst<br />
AnbieterInnen in Konkurrenz zueinan<strong>der</strong> treten können, um im<br />
inszenierten Wettbewerb Effizienz, Innovation und<br />
Kundenorientierung zu steigern. Um Leistungen kalkulierbar<br />
und berechenbar zu machen, müssen die Wirkungen von<br />
Leistungen evaluiert (Ergebnisqualität) und Instrumente zur<br />
Einhaltung bestimmter Verfahrensstandards und -schritte<br />
installiert werden (Prozessqualität).<br />
Damit angesprochen ist eine qualitative Verän<strong>der</strong>ung von<br />
Technologien, die immer weniger auf Ergebnisprüfungen, son<strong>der</strong>n<br />
vielmehr auf Verlaufskontrollen abzielen (vgl. Lemke<br />
2004, 264). Doch solche Testverfahren operieren in einem<br />
Paradox, indem sie zwar Unterschiede und Differenzen voraussetzen,<br />
gleichsam jedoch Homogenität und Konformität produzieren<br />
(die vielbeschworene ›Vergleichbarkeit‹ von Leistungen)<br />
und mithin einer Standardisierung des Hilfeprozesses und gerade<br />
<strong>der</strong> Missachtung von Individualität Vorschub leisten. Denn<br />
die »Repräsentation des Selbst auf <strong>der</strong> Grundlage von standardisierten<br />
Testverfahren und dessen Einordnung in normierte<br />
Testparameter verdunkelt eben jene Realität, die sie erhellen<br />
soll. Denn es ist genau die Individualität, die Einmaligkeit und<br />
Unverwechselbarkeit <strong>der</strong> Einzelnen, die in diesem<br />
Testuniversum zugleich permanent beschworen und systematisch<br />
verworfen wird« (ebd., 269). Standardisierte Analyseinstrumente<br />
mit vorab festgelegten, als relevant erachteten<br />
Dimensionen im Sinne von subsumptionslogischen Vorentscheidungen<br />
beinhalten immer die Gefahr, »mitunter eine<br />
Verfahrensmechanik zu begründen, die für die Spezifik und<br />
Individualität des Einzelfalls blind ist« (Höpfner et al. 1999,<br />
202).<br />
Im Diskurs um ›Anwendbarkeit‹ wird kaum thematisiert, auf<br />
welches Wissen und welche Prämissen (z.B. erkenntnistheoretische<br />
Annahmen über Realität und Objektivität) bei <strong>der</strong><br />
Konstruktion von Instrumenten explizit wie implizit zurückge-
Diagnose und Sozialtechnologie 79<br />
griffen wird (vgl. Höhne 2006, 197) und dass jedes Raster und<br />
Kategoriensystem bereits Ergebnis eines Entscheidungsprozesses<br />
ist, dessen Übernahme immer auch eine Übernahme <strong>der</strong><br />
vorangegangenen Selektion impliziert, d.h. aktuelle Entscheidungen<br />
werden von vorher getroffenen Entscheidungen beeinflusst<br />
(vgl. BOAG 2000, 5). Damit erfüllen solche Instrumente<br />
für die Anwen<strong>der</strong>Innen zwar eine Entlastungsfunktion, da<br />
Handlungen standardisiert werden (›das Instrument sagt ja, was<br />
und was weiter getan werden soll‹). Sie sind jedoch immer auch<br />
mit spezifischen Mechanismen <strong>der</strong> Selektion verbunden, da sie<br />
Informationen für die Auswahl – und den Ausschluss – von präventiven,<br />
therapeutischen o<strong>der</strong> pädagogischen Interventionen<br />
liefern, obwohl in <strong>der</strong> Regel immer mehrere brauchbare und<br />
vertretbare Lösungen bei Entscheidungen vorhanden sind.<br />
Da die gängigen Instrumente Neutralität und Objektivität suggerieren,<br />
indem Phänomene und Merkmale scheinbar sachlich<br />
registriert und dargelegt werden, geraten ethische und normative<br />
Dimensionen des Handelns aus dem Blickfeld. Indem bereits<br />
stattgefundene Entscheidungsprozesse <strong>der</strong> Festlegung, was<br />
erhoben und ermittelt werden soll und was worauf hin folgt,<br />
durch den Rückgriff auf Instrumente übernommen werden, vollzieht<br />
sich gleichsam eine (unbemerkte) Reproduktion gesellschaftlicher<br />
Wertvorstellungen. 6 Diagnostische Verfahren operieren<br />
notwendigerweise an <strong>der</strong> Grenze zwischen Norm und<br />
Abweichung, denn als ›Normalisierungstechnologien‹ sind sie<br />
»konstitutives Element in <strong>der</strong> Herstellung des Normalen. Ihre<br />
Leistung besteht darin … zu entscheiden« (Lemke 2004, 267).<br />
Dies ist jedoch im gegenwärtigen ›Klassifizierungs-Hype‹ kaum<br />
kritisierbar. Bei unerwünschten Effekten wird in <strong>der</strong> Regel dem<br />
›Prinzip des Mehrdesselben‹ gefolgt, das heißt dem Glauben,<br />
die Instrumente seien schlichtweg noch zu undifferenziert, die<br />
Items noch zu ungenau usw. (vgl. Kunstreich 1995, 8) – die<br />
Angemessenheit an sich wird kaum in Frage gestellt. »Kritik<br />
darf geübt werden an den konkreten Maßstäben eines Tests,<br />
nicht an <strong>der</strong> Praxis des Testens selbst« (Lemke 2004, 268). 7
80<br />
Diagnose und Sozialtechnologie<br />
Die Suggestion von Neutralität und Objektivität etabliert eine<br />
Sozialtechnologie auf ›höherer Ebene‹: Da die Instrumente von<br />
konflikthaften und damit politisierbaren Zusammenhängen entkleidet<br />
sind (vgl. Kunstreich 1995, 9), werden soziale, ökonomische<br />
und gesellschaftliche Bedingungsfaktoren und Prozesse<br />
nicht wahrgenommen, »die als Entstehungs- und Verlaufskontext<br />
den Rahmen darstellen, in dem <strong>der</strong> Einzelfall als<br />
Einzelfall seine Beson<strong>der</strong>ung erfährt« (Höpfner et al. 1999,<br />
202). Dass alle kategorisierenden Verfahren »zwangsläufig<br />
unflexibel im Hinblick auf Neues und hoffnungslos unterkomplex<br />
im Hinblick auf Reales« (ebd. 203) sind, interessiert evidenzbasiert<br />
vorgehende SozialarbeiterInnen nicht, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
Fall wird nach erfolgreicher ›objektiver‹ Diagnose »dem profilspezifisch<br />
erwiesenermaßen effektivsten bzw. effizientesten<br />
Programm« zugeführt (Ziegler 2006, 265) – womit die<br />
›Steuerungsfantasien‹ des neuen manageriellen Denkens<br />
schließlich auch in den Organisationen des Sozialsektors ihre<br />
Vollendung finden.<br />
Die sozialtechnologische Umstrukturierung<br />
sozialer Organisationen<br />
Im Zuge <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong> öffentlichen Haushalte im Gefolge <strong>der</strong><br />
Verteilungskrise <strong>der</strong> flexiblen <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft (vgl. Galuske<br />
2002) ist <strong>der</strong> Rationalisierungsdruck auf Institutionen des<br />
öffentlichen Sektors gestiegen, bei weiterhin zunehmen<strong>der</strong><br />
Tendenz. Insofern ist <strong>der</strong> Neodiagnostik-Boom in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> keineswegs überraschend, da ohne eine Technisierung<br />
des Hilfeprozesses schon an dieser Schwelle die Logik <strong>der</strong><br />
Rationalisierung nicht aufrecht zu erhalten ist. Doch spätestens<br />
seit <strong>der</strong> Formel des ›strukturellen Technologiedefizits‹ wissen<br />
wir um die nicht aufhebbare Unsicherheit (sozial-) pädagogischen<br />
Handelns aufgrund seiner Komplexität und die<br />
Unmöglichkeit, funktionierende Technologien in diesem Feld
Diagnose und Sozialtechnologie 81<br />
zu entwickeln, da es keine eindeutigen Kenntnisse <strong>der</strong> Ursache-<br />
Wirkungs-Zusammenhänge (sozial-) pädagogischer Interventionen<br />
geben kann (vgl. Luhmann/Schorr 1979). Zwar zielen<br />
neuere Rationalisierungspraktiken insbeson<strong>der</strong>e auf die<br />
Ökonomisierung des ›menschlichen‹ Faktors, allerdings können<br />
sozialpädagogische Tätigkeiten und people processing<br />
organizations nicht zweckprogrammiert, d.h. in Rekurs auf<br />
Wenn-dann-Kausalitäten ausgestaltet werden – jedenfalls nicht<br />
ohne gravierende Nebenfolgen und Deformationen. Angesichts<br />
dieser Unsicherheit stellt sich das Problem potentieller<br />
Rationalität, das im hier diskutierten Zusammenhang schlicht<br />
»in ein Problem <strong>der</strong> Validität von Tests o<strong>der</strong> sonstigen diagnostischen<br />
Instrumenten umformuliert« wird (ebd., 330), umso<br />
deutlicher.<br />
In diesem Zusammenhang erfüllt nun die Installation diagnostischer<br />
Instrumente in den Organisation des Sozialsektors gerade<br />
als sozialer Mechanismus eine spezifische Funktion, nämlich<br />
die Beschaffung von ›Legitimation über Verfahren‹ (vgl.<br />
Luhmann 1975). Organisationen implementieren – unabhängig<br />
von einer spezifischen Wirksamkeit – generell verbreitete und<br />
wissenschaftlich legitimierte Verfahren, um durch die<br />
Befolgung gesellschaftlich verankerter Rationalitätsnormen die<br />
Unterstützung aus <strong>der</strong> Umwelt und die Zufuhr von Ressourcen<br />
(z.B. durch hohe Belegungszahlen) sicherzustellen (vgl. Kieser<br />
1997, 87). Dass die Implementierung diagnostischer Verfahren<br />
in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> nicht jenseits organisatorischer<br />
Relevanzen zu begreifen ist, zeigt bspw. <strong>der</strong> Umstand, dass<br />
gerade hermeneutische Verfahren häufig als zu aufwändig, zu<br />
zeitintensiv, zu langwierig, zu kompliziert, zu umständlich usw.<br />
– kurz: als ›nicht praxistauglich‹, und das heißt in diesem Fall<br />
als nicht organisationskonform verworfen werden. Nicht die<br />
grundsätzliche Sinnhaftigkeit <strong>der</strong> Verfahren, son<strong>der</strong>n ihre institutionelle<br />
Passung wird in Frage gestellt. Durch den starken<br />
Bezug zu den kulturellen Mythen <strong>der</strong> Wahrheit und<br />
Erkennbarkeit 8 trägt eine ›tickbox culture‹ – eine ›Kästchen-
82<br />
Diagnose und Sozialtechnologie<br />
Kultur‹ – in sehr viel höherem Maße zur Legitimitätssicherung<br />
bei, sie ist jedoch gleichsam manifester Ausdruck einer instrumentell-strategischen<br />
Rationalisierung und Technologisierung<br />
in den Organisationen Sozialer <strong>Arbeit</strong>. 9<br />
Der Siegeszug <strong>der</strong> Ökonomisierung und Rationalisierung<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> seit den 1990er-Jahren hat auch den Diskurs<br />
verän<strong>der</strong>t. War Sozialtechnologie in den Fachdiskussionen <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> in den 1970er- und 1980er-Jahren eine kritische<br />
Chiffre, um auf die Gefahr einer entpolitisierten, weitgehend<br />
auf positivistischen Verhaltenstechnologien reduzierten<br />
›Fachlichkeit‹ und instrumenteller Modelle des Handelns aufmerksam<br />
zu machen, scheint die Zeit des sensiblen Umgangs<br />
mit Begrifflichkeiten und <strong>der</strong> Ablehnung von Termini wie ›Fall‹<br />
(aufgrund <strong>der</strong> inhärenten Klientifizierung) o<strong>der</strong> ›Diagnose‹ zur<br />
bewussten Abgrenzung von an<strong>der</strong>en Professionen und<br />
Distanzierung von den technokratischen und expertokratischen<br />
psychiatrischen und behavioristischen Konzepten vorbei. Die<br />
›SozialtechnikerIn‹ o<strong>der</strong> ›SozialingenieurIn‹ (vgl. Meerkamp<br />
2007) scheint heute als Professionalisierungshabitus Sozialer<br />
<strong>Arbeit</strong> überaus attraktiv. Anhand <strong>der</strong> zeitgeistigen Effizienzund<br />
Effektivitätsrhetorik können nun Leistungsfähigkeit, ›professional<br />
skills‹, anerkanntes Problemlösungswissen, Verlaufskontrolle<br />
und Prozessbeherrschung inszeniert werden. Der<br />
zugrundeliegende Utilitarismus – also die Orientierung an<br />
›nützlichen‹ Handlungen und Sozialitäten – und die Reduktion<br />
von Rationalität auf eine bloße instrumentelle Rationalität bilden<br />
die Basis dafür, dass soziale in technische Probleme umdefiniert,<br />
einer öffentlichen Diskussion und Politisierung des<br />
Bestehenden entzogen und institutionelle und gesellschaftliche<br />
Dimensionen des ›Falls‹ ausgeblendet werden (können).<br />
Diagnostische Ansätze sind in <strong>der</strong> Regel personenorientiert,<br />
und – darauf weisen selbst die VertreterInnen entsprechen<strong>der</strong><br />
Verfahren hin – gerade nicht milieu- und sozialraumorientiert,<br />
eine reflexive Orientierung ist in <strong>der</strong> Regel unzureichend formalisiert<br />
und institutionalisiert (vgl. Heiner 2001, 264). Die
Diagnose und Sozialtechnologie 83<br />
ganz reale Gefahr dieser »Trivialisierung des Helfens«<br />
(Meerkamp 2007, 14), dieses auf Schematisierungsdenken, alltagstheoretischen<br />
Vorstellungen von Ursache-Wirkungszusammenhängen<br />
und einem auf affirmativ-unkritischer Rhetorik<br />
basierenden Habitus liegt in <strong>der</strong> Favorisierung von direktiven<br />
Interventionsstrategien und asymmetrischen Kommunikationsstrukturen:<br />
»Zur Missachtung <strong>der</strong> lebensweltlichen Autonomie<br />
<strong>der</strong> KlientInnen und zur Blindheit für die Ausübung von<br />
Definitions-, Normalisierungs- und, um mit M. Foucault zu<br />
sprechen, ›Disziplinarmacht‹ durch SozialarbeiterInnen ist es<br />
dann kein allzu weiter Schritt« (Ney 2006, 37).<br />
Sozialtechnologische Vorstellungen waren immer schon eng<br />
mit Vorstellungen von Beherrschbarkeit und (sozialer)<br />
Kontrolle verwoben. So verstand bspw. Paul Natorp unter<br />
›sozialen Techniken‹ die kausale (äußere und innere)<br />
Beherrschung <strong>der</strong> lebendigen Triebkräfte des Menschen zum<br />
Zwecke <strong>der</strong> Menschenbildung, und für Karl Mannheim sind sie<br />
Methoden zur Beeinflussung menschlichen Verhaltens und ein<br />
potentiell beson<strong>der</strong>s machtvolles Instrument sozialer Kontrolle<br />
(vgl. Knoblauch 2006, 5). Doch da »es keine für soziale<br />
Systeme ausreichende Kausalgesetzlichkeit, da es mit an<strong>der</strong>en<br />
Worten keine Kausalpläne <strong>der</strong> Natur gibt, gibt es auch keine<br />
objektiv richtige Technologie, die man nur erkennen und dann<br />
anwenden müsste. Es gibt lediglich operativ eingesetzte<br />
Komplexitätsreduktionen, verkürzte, eigentlich ›falsche‹<br />
Kausalpläne« (Luhmann/Schorr 1982, 19). Das Bemühen, sozialpolitisch<br />
und normativ gerahmte belastete und belastende<br />
Lebenssituationen und Lebenslagen mithilfe von Listen und<br />
Fragebögen in Kausalattributionen und den Nimbus <strong>der</strong> (Quasi-<br />
) Objektivität zu überführen, muss mithin als theoretisch verbrämte<br />
Ideologieproduktion und als (unreflektierte) Reproduktion<br />
eines Mythos <strong>der</strong> Beherrschbarkeit verstanden werden.<br />
10
84<br />
Diagnose und Sozialtechnologie<br />
Ein professionelles Abstiegsprojekt?<br />
Das technische Arsenal <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> hat sich im letzten<br />
Jahrzehnt zweifelsohne erweitert, ob damit allerdings lebensweltliche<br />
Verständigungsprozesse nachhaltig beför<strong>der</strong>t werden<br />
konnten, ob die neue, sozialtechnologisch gewandete Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> ihre Qualität gesteigert hat, zu einem ›gelingen<strong>der</strong>en‹<br />
Leben ihrer AdressatInnen beizutragen, darf angesichts <strong>der</strong><br />
skizzierten Zusammenhänge angezweifelt werden. Die gegebenen<br />
Verfahren mögen zwar den Anschein <strong>der</strong> Professionalisierung<br />
erzeugen, allerdings legen standardisierte Handlungsprogramme<br />
und die Eliminierung des subjektiven Faktors – im<br />
Sinne einer Verringerung <strong>der</strong> Spielräume eines professionellen<br />
›Ermessens‹ bzw. von professionell begründeten Entscheidungen<br />
– dann auch die Frage nahe, wofür man eigentlich noch<br />
Fachkräfte braucht. Plakativ und zugespitzt ausgedrückt: Um<br />
Diagnosetabellen auszufüllen, in Listen das statistisch wirksamste<br />
Angebot herauszusuchen und standardisierte, qualitätsgesicherte<br />
Handlungsprogramme abzuspulen, braucht man kein<br />
qualifiziertes, einer reflexiven Fachlichkeit verpflichtetes<br />
Fachpersonal, schon gar keine ›teuren‹ AkademikerInnen.<br />
Angesichts <strong>der</strong> Logik einer Re-Taylorisierung von <strong>Arbeit</strong>svollzügen<br />
und dem bislang unbekannten Ausmaß eines<br />
Mikromanagements im sozialen Dienstleistungssektor im<br />
Sinne einer Steuerung von Handlungsvollzügen ist eher von<br />
»einem ›dramatischen Entwertungsprozess‹ <strong>der</strong> Profession«<br />
auszugehen (Dahme/Wohlfahrt 2007, 23) – mithin einer<br />
Deprofessionalisierung, einer Verschlechterung von <strong>Arbeit</strong>sbedingungen<br />
für die Mehrzahl <strong>der</strong> in <strong>Sozialen</strong> Berufen Tätigen<br />
(vgl. Bauer 2004, 8) und – entgegen allen Verlautbarungen –<br />
weiteren administrativen und organisatorischen Überformung<br />
von Handlungsvollzügen. 11 Hierbei fallen dann all jene nicht<br />
messbaren, normierbaren und quantifizierbaren Faktoren wie<br />
Vertrauen und die Qualität einer Beziehung aus den Listen und<br />
Rastern heraus, eine ökonomistisch überformte Praxis kennt
Diagnose und Sozialtechnologie 85<br />
nur wenig Raum für Scheitern, Rückschritte, Ausbrüche und<br />
Unerwartetes. »Die reale lebensweltliche Komplexität, die<br />
Eigenlogiken und Sperrigkeiten von sozialen und pädagogischen<br />
Prozessen bleiben hier ausgeblendet – ebenso die hochgradig<br />
komplexen Prozesse, die in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> mit<br />
Begriffen wie Beziehung, Offenheit und Grenzen verknüpft<br />
sind« (Hafeneger 2001, 25).<br />
Ein kritisch-hermeneutisches Professionsverständnis kann sich<br />
nur in einem dialogischen Kommunikationsprozess zwischen<br />
Menschen entfalten. Jedoch sind konstitutive Machtverhältnisse<br />
we<strong>der</strong> durch lebenswelthermeneutische Sensibilität<br />
noch den Entwurf o<strong>der</strong> die Utopie einer ›an<strong>der</strong>en‹, nicht mehr<br />
institutionell konstituierten ›<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>‹ auflösbar, und<br />
auch Aushandlungs- und Partizipationsverfahren schaffen keinen<br />
herrschaftsfreien Raum. Die nichtaufhebbare Subjektivität<br />
von BeobachterIn und DeuterIn bleibt sowohl Risiko als auch<br />
Ressource, und begründet im sozialpädagogischen Handeln<br />
neben einer spezifischen Emotionalität im Kontext von Nähe<br />
und Distanz gleichsam eine beson<strong>der</strong>e professioneller Verantwortung<br />
(z.B. für eigene Deutungen, aber auch für die<br />
Verwendung von Daten und Deutungen). Diese Verantwortung<br />
heißt nicht notwendigerweise Expertokratie, und ihrer kann<br />
sich auch nicht qua Verfahren entledigt werden. Die Beson<strong>der</strong>heit<br />
sozialpädagogischer Professionalität liegt »in <strong>der</strong><br />
gestalteten Balance von professioneller Expertise und respektvoller<br />
Verständigungsbereitschaft« (Schrapper 2005, 194), und<br />
nicht zuletzt in <strong>der</strong> Beteiligung <strong>der</strong> AdressatInnen an allen sie<br />
betreffenden Entscheidungsvorgängen.<br />
Anmerkungen<br />
1 Liessmann (2006, 79) identifiziert für den Bildungsbereich eine fast<br />
schon »neurotische Fixierung auf Ranglisten aller Art«. »Wer einmal<br />
dem Mechanismus <strong>der</strong> Reihung verfallen ist, entwickelt rasch
86<br />
Diagnose und Sozialtechnologie<br />
Symptome, die an den aus <strong>der</strong> Psychoanalyse bekannten<br />
Zwangscharakter erinnern« (ebd., 83).<br />
2 Bei dieser Kritik handelte es sich um mehr als um Begriffsklauberei,<br />
denn: »Es ist keineswegs gleichgültig, wie man die Sachen nennt (...)<br />
. Der Name schon bringt eine Auffassungstendenz mit sich, kann<br />
glücklich treffen o<strong>der</strong> in die Irre führen. Er legt sich wie Schleier o<strong>der</strong><br />
Fessel um die Dinge« (Jaspers 1983, 428).<br />
3 Vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch (2006), für ein Modell ausgehend von<br />
jugendlichen Selbstdeutungsmuster z.B. Mollenhauer/Uhlendorff<br />
(1995). Zur Verwendung von Verfahren <strong>der</strong> qualitativen Sozialforschung<br />
für die Ausbildung und Alltagspraxis von SozialarbeiterInnen<br />
vgl. die Beiträge in Jakob/Wensierski (1997).<br />
4 So betonen bspw. SystemikerInnen die Verschränkung von Diagnose<br />
und Intervention, da sie Diagnosen als Interventionen im Prozess, und<br />
Interventionen als zugleich sondierende diagnostische Schritte<br />
begreifen (vgl. Ritscher 2004, 73).<br />
5 Im Bereich frühkindlicher Bildung absolvieren alle 4-jährigen im<br />
Bundesland Nordrhein-Westfalens den ›Delfin 4‹-Test zur Diagnose<br />
und För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Sprachkompetenz, für die SchülerInnen <strong>der</strong><br />
Dritten und Achten Klasse folgen regelmäßige Lernstandserhebungen<br />
in den Hauptfächern.<br />
6 Liessmann (2006, 86 f.) hat in diesem Sinne in Bezug auf die Inflation<br />
<strong>der</strong> Bildungsrankings vom Kin<strong>der</strong>garten bis zur Hochschule festgestellt:<br />
»Was in <strong>der</strong> Ideologie des Rankings als empirische<br />
Bestandsaufname vorhandener Qualitäten und Defizite aufscheint,<br />
hat bei genauerer Betrachtung einen durchwegs normativen<br />
Charakter. Über die Autorität <strong>der</strong> Rangliste werden jene Vorgaben<br />
gemacht, nach denen Wissenskulturen modifiziert und Bildungsräume<br />
reformiert werden, ohne dass diese Vorgaben je explizit<br />
gemacht worden wären.«<br />
7 Zwar weist Heiner (2001, 253) zu Recht auf entsprechende<br />
Weiterentwicklungen hin, bemerkt jedoch auch, dass etwa die<br />
psychologische Diagnostik bis heute im Wesentlichen eine<br />
Testdiagnostik ist, die mit standardisierten Kategorien operiert und<br />
einem positivistischen Erkenntnismodell folgt – und, sollten Zweifel
Diagnose und Sozialtechnologie 87<br />
aufkommen, nach dem angesprochenen Prinzip des ›Mehrdesselben‹<br />
operiert.<br />
8 »Testverfahren bspw. verleihen diesem Mythos eine ungerechtfertigte<br />
Glaubwürdigkeit, indem diese die Sprache des Mythos zur<br />
Beschreibung verwendet – und damit wird <strong>der</strong> Mythos ›realisiert‹<br />
(o<strong>der</strong> ›wahr/objektiv gemacht‹) durch die Technologie, die er hervorgebracht<br />
hat« (vgl. BOAG 2000, 45).<br />
9 Allen Fans <strong>der</strong> zeitgenössischen »Bekenntniskultur«, <strong>der</strong> permanenten<br />
»Selbstentzifferung« und dem »Zugang zur inneren Wirklichkeit<br />
und zur eigenen Identität« (Lemke 2004, 268f.) sei die Website<br />
http://de.tickle.com/ empfohlen. Hier können AnhängerInnen von<br />
Persönlichkeitstests, Checklisten und Fragebögen nahezu alle<br />
Bedürfnisse und Fragen befriedigen – zu Themen wie Karriere,<br />
Entertainment, Liebe, Wissen, IQ und schließlich allen erdenklichen<br />
Bereichen einer (vermeintlichen?) Persönlichkeit.<br />
10 Als Beispiel für eine solche Ideologieproduktion vgl. z.B. Luthe<br />
(2003). Bei <strong>der</strong> Lutheschen Bestimmung von Sozialer <strong>Arbeit</strong> als sozialtechnologisch<br />
optimierte Inklusionshilfe dürfen dann auch nicht alle<br />
mitmachen, denn »Leute, die Dilettantismus als Leitprinzip beruflicher<br />
Identität betrachten, wird man hierbei nicht gebrauchen können«<br />
(Luthe 2003, 44), und, nicht nur bei Euch, liebe NachbarInnen,<br />
muss scheinbar unbedingt nachgearbeitet werden! »Der in vielen<br />
Ausbildungsinstitutionen unter <strong>der</strong> Rubrik ›Sozialarbeitswissenschaft‹<br />
<strong>der</strong>zeit zu beobachtende Rückfall in die 70er Jahres des letzten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts (vor allem in Österreich) muß dagegen mit Sorge<br />
betrachtet werden« (ebd., 48).<br />
11 Indiz hierfür ist die Flut an Diagnose-, Qualitätserfassungs-,<br />
Evaluationsbögen usw., die über die Soziale <strong>Arbeit</strong> hereingebrochen<br />
ist und in <strong>der</strong> zum Teil banalste Alltagshandlungen (wie z.B. die<br />
Begrüßung eines neu ankommenden Jugendlichen) zum Gegenstand<br />
<strong>der</strong> Erfassung werden.
88<br />
Diagnose und Sozialtechnologie<br />
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Diversity und Ausschluss<br />
Samira Baig<br />
Im Folgenden wird die Entwicklung des Diversitybegriffs dargelegt<br />
und in Bezug auf soziale <strong>Arbeit</strong> diskutiert. Nachdem die<br />
Herkunft von Diversity und Diversity Management und <strong>der</strong>en<br />
Einzug in Europa kurz beschrieben wurden, werden meine<br />
Beobachtungen in Bezug auf das Thema im Bereich <strong>der</strong> sozialen<br />
<strong>Arbeit</strong> zur Diskussion gestellt. Im Zuge dessen soll auch<br />
aufgezeigt werden, wie ein reduktionistisches Verständnis von<br />
Diversität, die Gefahr in sich birgt, Ausschluss zu för<strong>der</strong>n<br />
anstatt diesem entgegen zu wirken.<br />
Diversity – ein vielfältiger Begriff<br />
Das Wort Diversity bedeutet per se nichts an<strong>der</strong>es als Vielfalt<br />
und hat als Schlagwort im Zeitalter <strong>der</strong> Globalisierung enorm<br />
an Bedeutung gewonnen. Mit diesem Begriff wird versucht die<br />
Heterogenität <strong>der</strong> Bevölkerung in einer Welt, die immer komplexer<br />
und pluralistischer geworden ist, zu beschreiben.<br />
Konkret bezieht sich <strong>der</strong> Begriff auf die Vielfalt von Menschen,<br />
die sich auf Grund ihrer Unterschiede, die sie zu Individuen<br />
machen, ergibt.<br />
Ganz im Sinne <strong>der</strong> Wortbedeutung gibt es aber vielfältige<br />
Zugänge und unterschiedliche Sichtweisen zu Diversität.<br />
Es wird davon ausgegangen, dass Menschen sich in vielerlei<br />
Hinsicht voneinan<strong>der</strong> unterscheiden und keineR <strong>der</strong>/dem an<strong>der</strong>en<br />
gleicht (vgl. Stuber 2004, S.15). In diesem Sinne betont<br />
Diversity die Individualität und somit die Unterschiedlichkeit<br />
je<strong>der</strong>/s einzelnen. Dieses breite Verständnis von Diversity birgt<br />
allerdings die Gefahr in sich, dass <strong>der</strong> Begriff wenig konkret<br />
bleibt. Es wurden daher unterschiedliche Aspekte formuliert,
92<br />
Diversity und Ausschluss<br />
die dabei unterstützen sollen, die Vielfalt bzw. Unterschiedlichkeiten<br />
von Individuen näher zu beschreiben. So werden<br />
zum Beispiel die zwei Kerndimensionen Geschlecht und<br />
Ethnizität herangezogen, o<strong>der</strong> es wird zwischen direkt wahrnehmbaren<br />
und indirekt wahrnehmbaren Unterschieden differenziert<br />
(vgl. Stuber 2004, S.17f; vgl. Finke 2005, S. 39f). Bei<br />
diesen Versuchen Vielfalt und Unterschiedlichkeit mit konkreten<br />
Aspekten zu beschreiben, besteht die Gefahr, <strong>der</strong> Komplexitätsreduktion<br />
und <strong>der</strong> Fokussierung auf Unterschiede anstatt<br />
auf Vielfalt (vgl. Stuber 2004, S.16). Somit steht nicht mehr die<br />
Individualität im Vor<strong>der</strong>grund, son<strong>der</strong>n die Kategorie- und<br />
Gruppenzugehörigkeit und Bil<strong>der</strong> von verallgemeinernden<br />
Identitäten entstehen. Es entwickeln sich stereotype Annahmen<br />
über die Angehörigen <strong>der</strong> jeweiligen Kategorie, wobei<br />
Unterschiede innerhalb <strong>der</strong> Kategorien ausgeblendet werden<br />
(Krell 2004, S. 42).<br />
Michael Stuber (2004), »Diversity Pionier« im deutschsprachigen<br />
Raum führt in diesem Zusammenhang an:<br />
»Ein beson<strong>der</strong>es Risiko besteht in <strong>der</strong> Reduzierung <strong>der</strong> ausgewählten<br />
Unterscheidungsfaktoren bei gleichzeitiger Betonung von<br />
Unterschiedlichkeit im Sinne von (trennendem) An<strong>der</strong>ssein. So entstehen<br />
allzu leicht klassische Feindbil<strong>der</strong> zwischen einigen wenigen<br />
Gruppen: diejenigen, die <strong>der</strong> Norm entsprechen, also ›normal‹ sind,<br />
und denen, die sich unterscheiden. Stattdessen erweisen sich Ansätze<br />
als vorteilhaft, die einerseits darauf verweisen, dass je<strong>der</strong> Mensch<br />
angesichts zahlloser Faktoren ein einmaliges Individuum darstellt,<br />
und gleichzeitig betonen, dass wir vieles gemeinsam haben, uns also<br />
in einigen Faktoren ähneln.« (S. 18).<br />
Lee Gardenswartz und Anita Rowe, zwei US Amerikanerinnen,<br />
die sich bereits seit den 70er Jahren sehr intensiv dem Thema<br />
widmen, haben ein Modell entwickelt, die »4 Layers of<br />
Diversity«, das einem Verständnis von Vielfalt als Unterschiede<br />
UND Gemeinsamkeiten gerecht wird, indem es Vielfalt mög-
Diversity und Ausschluss 93<br />
lichst differenziert abbildet und im gleichen Zuge auch hilft,<br />
Gemeinsamkeiten sichtbar zu machen (vgl. Gardenswartz<br />
/Rowe 2003, S. 31-65).<br />
Im Zentrum dieses Modells steht »Personality«, die<br />
Persönlichkeit, als einzigartige Kombination persönlicher<br />
Charakteristika, die uns alle voneinan<strong>der</strong> unterscheidet und die<br />
unsere Interaktion mit an<strong>der</strong>en auszeichnet. Neben dieser einzigartigen<br />
Individualität werden weitere Dimensionen<br />
beschrieben bezüglich <strong>der</strong>er sich Menschen unterscheiden: die<br />
»Internal Dimensions«, die »External Dimensions« und die<br />
»Organizational Dimensions«.<br />
Die am meisten beachteten Internal Dimensions stellen<br />
Kategorien dar, die wir selber nicht beeinflussen können, wie<br />
Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, physische Einschränkungen,<br />
ethnische Herkunft und Hautfarbe (vgl. Gardenswartz<br />
/Rowe 2003, S. 31-32).<br />
Die External Dimensions sind Faktoren, die ebenso die<br />
Persönlichkeit in ihrer Individualität prägen, aber von je<strong>der</strong>/m<br />
einzelnen mehr o<strong>der</strong> weniger beeinflussbar sind (vgl.<br />
Gardenswartz /Rowe 2003, S. 45). Hier werden Religionszugehörigkeit,<br />
Familienstand, Ausbildung, Einkommen,<br />
Elternschaft, Erscheinungsbild bzw. Aussehen, Gewohnheiten<br />
(wie rauchen, trinken, etc.), Hobbies, geografische Herkunft<br />
(wie Wohnort, Gegend <strong>der</strong> Kindheit, etc.) und <strong>Arbeit</strong>serfahrung<br />
(vgl. Gardenswartz /Rowe 2003, S. 45-52) hinzugezählt.<br />
Da Diversity bzw. das Management von Diversity, wie wir weiter<br />
unten noch sehen werden, ein zentrales wirtschaftliches<br />
Thema für Unternehmen darstellt, haben Lee Gardenswartz und<br />
Anita Rowe neben den persönlichen und sozialen Einflüssen<br />
auch Dimensionen auf organisatorischer Ebene formuliert, die<br />
einen Unterschied im <strong>Arbeit</strong>salltag machen: Funktion/Einstufung,<br />
<strong>Arbeit</strong>sinhalte/Tätigkeitsfeld, Abteilung/Einheit/<br />
Gruppe, Dauer <strong>der</strong> Zugehörigkeit, <strong>Arbeit</strong>sort, Gewerkschaftszugehörigkeit<br />
und Management Status (vgl. Gardenswartz<br />
/Rowe 2003, S. 53-57).
94<br />
Dieses Modell <strong>der</strong> 4 Layers of Diversity ist hilfreich, Vielfalt in<br />
ihren unterschiedlichen Aspekten sichtbar, benennbar und<br />
somit fassbar zu machen und gleichzeitig einer allzu großen<br />
Komplexitätsreduktion und <strong>der</strong> Gefahr von Stereotypisierung<br />
und Stigmatisierung entgegen zu wirken. Bei allen Gegensätzlichkeiten<br />
werden auch Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten<br />
aufgezeigt, was Vorraussetzung für eine Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit Unterschiedlichkeiten darstellt. Auch wenn sich<br />
allmählich die Haltung breit macht, dass Vielfalt eine Bereicherung<br />
darstellt, zieht sie per se keineswegs Harmonie nach<br />
sich, son<strong>der</strong>n ist viel mehr Ursache für Missverständnisse und<br />
Konflikte unterschiedlichster Art. Erst wenn diese geklärt sind,<br />
können sich die Vorteile von Vielfalt entfalten. In diesem<br />
Zusammenhang wurde Diversity Management zu einem zentralen<br />
Begriff.<br />
Diversity Management<br />
Diversity und Ausschluss<br />
Diversity Management bezeichnet das Managementkonzept,<br />
das zum Ziel hat, einen professionellen Umgang mit Diversity<br />
in Unternehmen zu etablieren und so ein produktives Miteinan<strong>der</strong><br />
im <strong>Arbeit</strong>salltag zu för<strong>der</strong>n (vgl. Finke 2005, S.13).<br />
Es geht darum, eine strukturelle und inhaltliche Flexibilität zu<br />
erlangen, die Raum für die Entfaltung von Diversität gibt und<br />
gleichzeitig hilft die Produktivität zu erhalten bzw. zu steigern<br />
(vgl. Stuber 2004, S. 244 f.). Diversity Management bedeutet<br />
somit auch personalwirtschaftliches und organisationales<br />
Managementhandeln, das vorhandene Privilegien und Benachteiligungen<br />
sichtbar macht und abbaut, um die Vielfalt <strong>der</strong><br />
MitarbeiterInnen betriebswirtschaftlich besser entwickeln und<br />
nutzen zu können. Dabei gilt es sowohl individuelle Unterschiede<br />
als auch Gruppenzugehörigkeiten (z.B. Zugehörigkeit<br />
zu den oben erwähnten Dimensionen) zu berücksichtigen.
Diversity und Ausschluss 95<br />
Diversity & Diversity Management –<br />
und ihre US amerikanische Herkunft<br />
Diversity und Diversity Management sind zwei Begriffe, die<br />
ursprünglich aus den USA kommen, einem traditionellen<br />
Einwan<strong>der</strong>ungsland, das auf Grund dessen immer mit <strong>der</strong><br />
Notwendigkeit konfrontiert war ein Mit- o<strong>der</strong> zumindest<br />
Nebeneinan<strong>der</strong> auf Grund bzw. trotz <strong>der</strong> kulturellen und sozialen<br />
Vielfalt zu finden. Dieser Umstand in Kombination mit <strong>der</strong><br />
US amerikanischen Human Rights Bewegung führte dazu, dass<br />
die Antidiskriminierungsidee schon früh gesetzlich eingebunden<br />
und somit auch gerichtlich einfor<strong>der</strong>bar wurde (z.B. Civil<br />
Rights Act 1964; Equal Employment Opportunity Act 1972).<br />
Dadurch kam auch <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Risikominimierung bzw.<br />
Vermeidung von Klagen wegen individueller Diskriminierung<br />
als wesentlicher Grund für Unternehmen hinzu, ein<br />
Miteinan<strong>der</strong> trotz aller Unterschiedlichkeiten zu unterstützen.<br />
Diversity Management ist somit zwar nicht direkt, aber<br />
womöglich indirekt auch gesetzlich motiviert (vgl. Koall/<br />
Bruchhagen 2005, S. 17-20; Bendl, 2004).<br />
David A. Thomas und Robin J. Ely (1996) haben eine Reihe US<br />
amerikanischer Unternehmen und <strong>der</strong>en Umgang mit Diversity<br />
untersucht und in <strong>der</strong> historischen Betrachtung unterschiedliche<br />
Phasen in <strong>der</strong> Entwicklung von Diversity Management<br />
beschrieben. (vgl. Engel 2004, S.15-15; vgl. Koall/Bruchhagen<br />
2005, S. 22-24):<br />
Eine erste Phase zeichnet sich dadurch aus, dass die Norm <strong>der</strong><br />
Fairness und Gerechtigkeit besteht, sowie die Übereinkunft,<br />
dass niemand diskriminiert werden darf. Die tatsächliche<br />
Umsetzung dessen ist aber von <strong>der</strong> individuellen<br />
Konfliktbereitschaft und -fähigkeit abhängig. D.h. es existiert<br />
eine Dominanzkultur, die Normen und somit unhinterfragt<br />
Normalität vorgibt, in die sich sämtliche Minoritäten zu integrieren<br />
haben. An<strong>der</strong>ssein wird als Wi<strong>der</strong>stand o<strong>der</strong><br />
Unprofessionalität gewertet. Alle – Frauen, Farbige,
96<br />
Diversity und Ausschluss<br />
Homosexuelle, u.a. – haben die Möglichkeit in den Organisationen<br />
Fuß zu fassen, vorausgesetzt sie geben dem<br />
Anpassungszwang <strong>der</strong> Mehrheitsangehörigen 1 nach und ordnen<br />
sich den vorhandenen Standards unter. Zuwan<strong>der</strong>erInnen<br />
verleugnen ihre kulturelle Herkunft und passen sich den westlichen<br />
Werten an, homosexuelle Menschen, verheimlichen ihre<br />
sexuelle Orientierung, um als heterosexuell zu gelten, Frauen<br />
unterstützen patriarchale Strukturen und somit den Ausschluss<br />
von gleichgeschlechtlichen Personen, etc..<br />
In einem nächsten Schritt werden zum einen durch die amerikanische<br />
Gesetzgebung spezielle Tätigkeitsfel<strong>der</strong> für Min<strong>der</strong>heitenangehörige<br />
eingeführt, um Sanktionszahlungen zu vermeiden,<br />
an<strong>der</strong>erseits wird entdeckt, dass das An<strong>der</strong>e bzw. die<br />
An<strong>der</strong>en für den Ausbau von KundInnenmärkten eingesetzt<br />
werden kann. Angehörige von Min<strong>der</strong>heiten werden damit<br />
interessant für Unternehmen. In dieser zweiten Phase wird<br />
gezielt rekrutiert, wobei weiterhin von dem Beson<strong>der</strong>en, dem<br />
An<strong>der</strong>en ausgegangen und die Differenzen betont werden.<br />
Minoritätsangehörige sind für jeweils spezifische Zielgruppen<br />
zuständig, um neue KundInnenmärkte zu erschließen und zu<br />
betreuen, o<strong>der</strong> haben Aufgabenbereiche mit niedrigen sozialen<br />
Status inne. Wenn hier auch <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>e Nutzen von<br />
Minoritätsangehörigen sichtbar o<strong>der</strong> gar betont wird, so för<strong>der</strong>t<br />
das gleichzeitig die Bildung von Nischen und somit auch die<br />
(Re-)Produktion von Stereotypen.<br />
Erst in <strong>der</strong> dritten Phase geht es um ein Erlernen eines effizienten<br />
Umgangs mit Unterschiedlichkeiten. Hier wird die<br />
Integration minorisierter Personen angeregt, auch durch<br />
Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Organisationen und struktureller Rahmenbedingungen,<br />
wie <strong>der</strong> Kommunikationsbeziehungen und hierarchischer<br />
Positionierungen. An<strong>der</strong>ssein gilt nicht als Wi<strong>der</strong>stand<br />
gegen die Dominanzkultur o<strong>der</strong> fachliches Defizit, son<strong>der</strong>n<br />
wird unter dem Aspekt einer grenzerweiternden Perspektive<br />
wertgeschätzt. Das Managementkonzept »Diversity<br />
Management« ist entstanden.
Diversity und Ausschluss 97<br />
Entsprechend dem »american way of life« basiert dieses<br />
Konzept auf dem Leistungsgedanken. Die individuelle<br />
Leistung wird betont, denn sie ermöglicht gesellschaftliche<br />
Durchlässigkeit. (vgl. Koall/Bruchhagen 2005, S.17). Wenn die<br />
Leistung im Sinne <strong>der</strong> Wirtschaftlichkeit stimmt, ist die<br />
Gruppenzugehörigkeit per se unwesentlich und es gilt lediglich<br />
eine gemeinsame Basis zu finden im <strong>Arbeit</strong>salltag. Der politisch<br />
korrekte Anspruch Vielfalt nicht nur zu akzeptieren, son<strong>der</strong>n<br />
auch zu för<strong>der</strong>n und das Positive in Diversity zu sehen, ist<br />
hinzugekommen als ein wesentlicher Aspekt, um das<br />
Management von Vielfalt und Unterschiedlichkeit zu unterstützen.<br />
Die zunehmende Leistungs- und Marktorientierung in<br />
Kombination mit einer steigenden sichtbaren Vielfalt <strong>der</strong><br />
Bevölkerung auf Grund <strong>der</strong> demographischer Entwicklungen<br />
(vgl. Stuber 2004, S. 110 – 134) lässt Diversity und Diversity<br />
Management auch in Europa zu relevanten Themen werden.<br />
»Managing Gen<strong>der</strong> und Diversity« –<br />
Diversity Management im deutschsprachigen Raum<br />
Betrachtet man die Entwicklung von Diversity Management im<br />
deutschsprachigen Raum, so fällt auf, dass oft von »Managing<br />
Gen<strong>der</strong> und Diversity« gesprochen wird und die Dimension<br />
Gen<strong>der</strong> somit explizit hervorgehoben wird, bei einschlägigen<br />
Publikationen, bei <strong>der</strong> Benennung von Gen<strong>der</strong>- und Diversitylehrgängen,<br />
bei <strong>der</strong> Bezeichnung von Gen<strong>der</strong>- und Diversitybeauftragten,<br />
bei <strong>der</strong> Titulierung von Lehrveranstaltungen, etc.<br />
Diese Tatsache resultiert aus <strong>der</strong> spezifischen Entwicklung und<br />
den gesetzlichen Bestimmungen im deutschsprachigen Raum<br />
im Vergleich zu den USA:<br />
Die 80er und 90er Jahre in Westeuropa waren geprägt von<br />
Chancengleichheitsprogrammen, die auf die Gleichstellung <strong>der</strong><br />
Geschlechter abzielten und speziell die Frauenför<strong>der</strong>ung voran-
98<br />
Diversity und Ausschluss<br />
trieben. Die Bedeutung von Gen<strong>der</strong> Mainstreaming, wurde bei<br />
<strong>der</strong> UN Weltfrauenkonferenz 1985 entwickelt und hielt 1996<br />
Einzug in die EU, wo es im Artikel 3 des Amsterdamer<br />
Vertrages Nie<strong>der</strong>schlag fand. Es wurde damit zur Aufgabe aller<br />
EU Staaten Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung<br />
von Frauen und Männern zu för<strong>der</strong>n. Eine<br />
Anfor<strong>der</strong>ung, <strong>der</strong> Österreich im Jahr 2000 explizit nachkam,<br />
indem es ein Gleichbehandlungsgesetz für Frauen und Männer<br />
beschloss (vgl. Bendl 2004, S. 46-53). Erst in demselben Jahr<br />
verabschiedete die EU auch eine Richtlinie zum Verbot <strong>der</strong><br />
Diskriminierung im <strong>Arbeit</strong>sbereich auf Grund <strong>der</strong> Rasse und<br />
<strong>der</strong> ethnischen Herkunft und schuf auch einen Rahmen gegen<br />
Diskriminierung auf Grund von Behin<strong>der</strong>ung, sexueller<br />
Orientierung, <strong>der</strong> Weltanschauung, <strong>der</strong> Religion und des Alters.<br />
Das führte 2004 zu einer Novellierung des Gleichbehandlungsgesetzes<br />
in Österreich, das über die Gleichbehandlung<br />
von Mann und Frau hinaus geht und auch Menschen vor<br />
Diskriminierung in <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>swelt auf Grund von ethnischer<br />
Zugehörigkeit, Religion o<strong>der</strong> Weltanschauung, des Alters und<br />
<strong>der</strong> sexuellen Orientierung schützen soll (vgl. Gutschlhofer<br />
2006).<br />
Ganz im Gegensatz zu den USA lag <strong>der</strong> inhaltliche Fokus <strong>der</strong><br />
Gleichbehandlung in Europa also auf dem Gen<strong>der</strong>aspekt und<br />
erst aufgrund EU-rechtlicher Vorgaben erfolgte eine gesetzliche<br />
Gleichstellung in Bezug auf weitere Diversityaspekte, wobei<br />
die Bedeutung des Gen<strong>der</strong>aspektes nach wie vor sichtbar in <strong>der</strong><br />
Bezeichnung mitgeführt wird.<br />
Von <strong>der</strong> Wirtschaft in die soziale <strong>Arbeit</strong><br />
Auch im Bereich <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong> rückt die Heterogenität <strong>der</strong><br />
Bevölkerung auf KundInnen- bzw. KlientInnenseite ins<br />
Bewusstsein und wird immer mehr zum Thema. Vor allem <strong>der</strong><br />
steigende Anteil an MigrantInnen, scheint bei den Mitarbei-
Diversity und Ausschluss 99<br />
terInnen von sozialen Institutionen verunsichernd und irritierend<br />
zu wirken. Gleichzeitig besteht das Bemühen auch sozial<br />
benachteiligte Menschen aus an<strong>der</strong>en Herkunftslän<strong>der</strong>n gut<br />
betreuen zu können.<br />
Der Begriff Diversity – Vielfalt – findet im psychosozialen<br />
Bereich weitgehend eine reduktionistische Verwendung und<br />
wird oft als Synonym für Interkulturalität verwendet. 2<br />
Bei diesem Zugang wird allerdings leicht übersehen, dass kultureller<br />
Hintergrund bzw. Herkunft nur ein Aspekt von<br />
Diversity ist, auf Grund dessen sich Menschen unterscheiden.<br />
Weitere Aspekte, wie Geschlecht, Alter, Behin<strong>der</strong>ung, sexuelle<br />
Orientierung, etc., die die Identität von Personen prägen, werden<br />
ausgeblendet. Vergleichen wir die beschriebene Entwicklung<br />
des Einzuges von Diversity in amerikanische<br />
Unternehmen weiter vorne in diesem Artikel, so scheint <strong>der</strong><br />
Verlauf im deutschsprachigen Raum im Bereich <strong>der</strong> sozialen<br />
<strong>Arbeit</strong> diesem sehr ähnlich zu sein. Nachdem MigrantInnen<br />
bereits vereinzelt in Institutionen des psychosozialen Bereichs<br />
vorgedrungen sind, vorausgesetzt sie entsprechen den vorhandenen<br />
Werten und Standards – o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ausgedrückt sind gut<br />
assimiliert, so dürfte nun Phase 2 eingetreten sein. Auch die<br />
soziale <strong>Arbeit</strong> ist auf Grund <strong>der</strong> zunehmenden Heterogenität <strong>der</strong><br />
Bevölkerung mit neuen Markterfor<strong>der</strong>nissen konfrontiert.<br />
Soziale Einrichtungen sind bemüht <strong>der</strong> Situation damit zu<br />
begegnen, dass sie danach streben, vermehrt MitarbeiterInnen<br />
mit Migrationshintergrund und Fremdsprachenkenntnissen<br />
anzuwerben. Die Anfor<strong>der</strong>ungen des »Marktes« lassen<br />
MigrantInnen als wertvolle MitarbeiterInnen erscheinen, die<br />
nun gezielt rekrutiert werden, um ihresgleichen gut betreuen<br />
und beraten zu können. Das Anfor<strong>der</strong>ungsprofil: Menschen mit<br />
einschlägiger Ausbildung, mit sehr guten Deutschkenntnissen,<br />
Migrationshintergrund und einschlägigen Sprachkenntnissen.<br />
Dieses Vorgehen zieht aber per se keine diversifizierte<br />
Unternehmenskultur nach sich – ganz im Gegenteil, es för<strong>der</strong>t<br />
Monokultur trotz ausländischer MitarbeiterInnen. Menschen
100<br />
Diversity und Ausschluss<br />
mit interkulturellem Hintergrund werden rekrutiert, unter dem<br />
Aspekt <strong>der</strong> Nützlichkeit für die soziale Institution. Es werden<br />
»die Besten« ausgesucht, die sich auch dadurch auszeichnen,<br />
dass sie im Großen und Ganzen <strong>der</strong> Mehrheitskultur entsprechen,<br />
abgesehen von ein bis zwei Zusatzqualifikationen. O<strong>der</strong><br />
wie viele Mitarbeiterinnen in sozialen Institutionen mit<br />
Kopftuch kennen Sie?<br />
Obwohl Du an<strong>der</strong>s bist, darfst Du dazu gehören, aber du darfst<br />
nur soweit an<strong>der</strong>s sein, wie es zu unseren Werten passt. Alles an<br />
Abweichung, was darüber hinaus geht, erzeugt einen Anpassungsdruck,<br />
<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Regel von den Betroffenen selbst bewältigt<br />
werden muss (vgl. Pauser 2007, S.56), wenn sie dazu gehören<br />
wollen. Hinzu kommt, dass auf Grund des an<strong>der</strong>s Seins,<br />
an<strong>der</strong>e Bereiche zugeordnet werden. Die Kollegin aus dem Iran<br />
ist meist für Interkulturelles und MigrantInnen zuständig.<br />
Durch diese Art <strong>der</strong> Ausglie<strong>der</strong>ung wird einer Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
seitens <strong>der</strong> Mehrheitskultur ausgewichen. Wenn auch<br />
das Bewusstsein besteht, dass das An<strong>der</strong>e wichtig und nützlich<br />
ist, so birgt die momentane Vorgehensweise die Gefahr des<br />
Ausschlusses in sich – des Ausschlusses von Vielfalt.<br />
Diversity statt Ausschluss in <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong><br />
Für einen kompetenten Umgang mit Diversity, <strong>der</strong> Vielfalt<br />
sichtbar macht und (be-)för<strong>der</strong>t und somit hilft Ausschluss entgegen<br />
zu wirken, sind folgende Aspekte hervorzuheben, die<br />
meiner Meinung nach von zentraler Bedeutung sind und über<br />
die hier beschriebenen Bestrebungen in <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong> hinaus<br />
gehen.<br />
Zum einen ist Diversity ein breiter Begriff, <strong>der</strong>, wie erwähnt,<br />
mehr meint als Interkulturalität. Diversity betont nicht nur die<br />
Unterschiedlichkeiten unter Menschen, son<strong>der</strong>n auch die<br />
Vielfalt im Menschen. Türken sind nicht nur Türken, Türken<br />
sind auch Männer, sie sind alt o<strong>der</strong> jung, homo- o<strong>der</strong> heterose-
Diversity und Ausschluss 101<br />
xuell, mit o<strong>der</strong> ohne physischer Behin<strong>der</strong>ung, Väter, Großväter<br />
o<strong>der</strong> allein stehend, etc..<br />
Konkret bedeutet das auch für die soziale <strong>Arbeit</strong> mit ihrem<br />
Diversity Fokus auf Interkulturalität den Blick zu öffnen für die<br />
vielfältigen Lebensläufe von MigrantInnen, für die Vielfalt in<br />
ihrer Person und die Aspekte, die sie ausmachen (vgl. Vahsen<br />
2000, S.119). Es gilt zu erkennen, dass es auch in <strong>der</strong> sozialen<br />
<strong>Arbeit</strong> tradierte Bil<strong>der</strong> über das Zusammenleben in<br />
MigrantInnenfamilien gibt, über Männer und Frauenrollen und<br />
religiös fixierte Zuschreibungen, die es zu überprüfen gilt, um<br />
Stereotype, Vorurteile und (unbewusste) Diskriminierungen<br />
aufzudecken (vgl. Vahsen 2000, S18-19).<br />
Zum an<strong>der</strong>en bedeutet Diversity »Gemeinsamkeiten UND<br />
Unterschiede«. Die Kunst besteht darin Gemeinsamkeiten im<br />
Auge zu behalten, ohne Unterschiedlichkeiten zu leugnen.<br />
Minoritätsangehörige unterscheiden sich von <strong>der</strong> herrschenden<br />
Mehrheit. Damit sind hier allerdings nicht die nahezu romantischen<br />
Projektionen auf das An<strong>der</strong>e gemeint, die die an<strong>der</strong>en als<br />
exotisch, anziehend, gastfreundlich, sozial, spontan, etc. erscheinen<br />
lassen (vgl. Gaitanides 2005), son<strong>der</strong>n die Tatsache, dass es<br />
anzuerkennen gilt, dass Min<strong>der</strong>heitsangehörige auf Grund ihrer<br />
Gruppenzugehörigkeit an<strong>der</strong>e Erfahrungen machen als<br />
Mehrheitsangehörige – konkret: Diskriminierungserfahrungen<br />
(vgl. Vahsen 2000, S.70f). Min<strong>der</strong>heitenangehörige begegnen<br />
häufig Situationen des Ausschlusses. Ihre Gruppenzugehörigkeit<br />
auf Grund <strong>der</strong> ethnischen Herkunft, Hautfarbe, körperlicher<br />
Behin<strong>der</strong>ung, etc. ist permanent sichtbar – für sich und für an<strong>der</strong>e.<br />
Sie erleben im Alltag Stresssituationen und spezifische<br />
Risiken, vor denen Mehrheitsangehörige verschont bleiben, bis<br />
hin zur tätlichen Angriffen und Beschimpfungen auf <strong>der</strong> Straße<br />
einzig aufgrund ihres »an<strong>der</strong>s Sein«.<br />
Das führt in weiterer Folge zu natürlichen Grenzen <strong>der</strong><br />
Einfühlung auf Seiten <strong>der</strong> ProfessionistInnen <strong>der</strong> Mehrheitskultur,<br />
dessen sie sich bewusst sein sollten. Siebert (1996) formuliert<br />
(zit. nach Vahsen 2000 S. 65):
102<br />
Diversity und Ausschluss<br />
»Nicht das Verstehen um jeden Preis, die totale Empathie ist wünschenswert<br />
(...), son<strong>der</strong>n die Einsichten in die Grenzen des<br />
Fremdverstehens.«<br />
Nicht <strong>der</strong>/die an<strong>der</strong>e ist fremd, son<strong>der</strong>n wir sind einan<strong>der</strong> fremd<br />
und das gilt es auszuhalten, um dann einen gemeinsamen Weg<br />
im Sinne einer gleichberechtigten Integration zu finden.<br />
Darüber hinaus ist Diversity Management auf allen Ebenen zu<br />
berücksichtigen. Die Orientierung an sozialer Gerechtigkeit ist<br />
gerade im Bereich <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong> sehr präsent und politische<br />
Korrektheit wird groß geschrieben. Das hat aber lei<strong>der</strong> nicht<br />
automatisch das Verschwinden von Vorurteilen und Diskriminierung<br />
zur Folge. Vorurteile und Diskriminierung werden<br />
dadurch lediglich tabuisiert und subtil – meist unbewusst ausgelebt.<br />
Anstatt einer Ausgrenzung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en kommt es zu einer<br />
Bevorzugung <strong>der</strong> Eigengruppe (vgl. Devine, Plant, Blair 2001).<br />
Diese Mechanismen spiegeln sich auch in den Systemen <strong>der</strong><br />
professionellen Institutionen wi<strong>der</strong>, die durch ihre Ausrichtung<br />
an tradierten Mehrheitsnormen implizit an<strong>der</strong>e ausschließen<br />
(vgl. Vahsen, 2000). Es bedarf somit auch Verän<strong>der</strong>ungen auf<br />
organisatorischer Ebene mit Aus- und Rückwirkungen auf die<br />
bestehenden sozialen Normen:<br />
Die interkulturelle Orientierung einer Institution beginnt beim<br />
Leitbild und impliziert eine entsprechende Zusammensetzung <strong>der</strong><br />
Personals, schließt fragwürdige <strong>Arbeit</strong>steilung aus und erfor<strong>der</strong>t<br />
Partizipation und Transparenz (Auerheimer 2005, S.19).<br />
Das gilt nicht nur für eine interkulturelle Öffnung, son<strong>der</strong>n ist<br />
ein wesentlicher Aspekt für Diversity Management auf institutioneller<br />
Ebene.<br />
»Simply recruiting people from different backgrounds is not enough;<br />
there has to be a complementary effort to support those individuals<br />
once they have entered the organization« (Johns/Jordan, 2006, S.1274).
Diversity und Ausschluss 103<br />
Diversity und soziale <strong>Arbeit</strong> –<br />
ein politischer Anspruch?<br />
Sozialarbeit mit einem politisch-reflexiven Anspruch hat schon<br />
lange das Problem struktureller Unterdrückung in den unterschiedlichsten<br />
Bereichen erkannt und dennoch ist zu beobachten,<br />
wie strukturelle und politische Entwicklungen es geschafft<br />
haben, soziale <strong>Arbeit</strong> zu einem Bereich zu machen, in dem<br />
administrative und evaluative Tätigkeiten und Fähigkeiten<br />
immer mehr an Bedeutung gewinnen – und Politisches aus dem<br />
Berufsalltag verschwindet (vgl. Johns/Jordan 2006).<br />
»The radical agenda of anti-oppressive, inclusive and empowering<br />
practice has been sidelined.« (Johns/Jorda, 2006, S.1273).<br />
Stellt sich die Frage, ob sich diese Tendenz nicht auch im<br />
Bereich Diversity und soziale <strong>Arbeit</strong> wi<strong>der</strong>spiegelt. Statt<br />
Integrationsbewusstsein zu för<strong>der</strong>n, wird ein utilitaristischer<br />
Zugang gewählt. Aber Diversity ist nicht nur eine wirtschaftliche<br />
Ressource, son<strong>der</strong>n hat auch einen politischen Anspruch.<br />
Dazu gehört es, strukturelle Unterdrückung aufzuzeigen und<br />
aktiv Ausschlussmechanismen und Diskriminierung in den<br />
eigenen Reihen zu identifizieren. Stehen wirtschaftliche<br />
Aspekte und das Ziel <strong>der</strong> Effizienzsteigerung im Vor<strong>der</strong>grund<br />
wird nicht nur <strong>der</strong> Status Quo des Verhältnisses von Mehrheitsund<br />
Min<strong>der</strong>heitsangehörigen hingenommen, son<strong>der</strong>n auch darauf<br />
geachtet, dass die Stellung <strong>der</strong> Majorität und tradierte<br />
Ausschlussmechanismen nicht gefährdet werden.<br />
Es gilt einen Diskurs zu führen, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Komplexität des<br />
Themas Vielfalt mit all seinen Aspekten adäquat ist und das<br />
Ziel einer wahrhaftigen Integration und eines Miteinan<strong>der</strong> einer<br />
immer heterogener werdenden Bevölkerung hat.
104<br />
Anmerkungen<br />
1 Die Begriffe Mehrheit und Majorität wird in weiterer Folge nicht nur<br />
im Sinne einer zahlenmäßigen Mehrheit verwendet, son<strong>der</strong>n auch<br />
unter Berücksichtigung des Machtverhältnisses. In diesem Sinne ist<br />
in Bezug auf Gen<strong>der</strong> zum Beispiel die Gruppe <strong>der</strong> Männer als<br />
Majorität bzw. Mehrheit zu verstehen, wenn sie auch anzahlmäßig<br />
den Frauen gegenüber unterlegen sind.<br />
2 Diese Beobachtung spiegelt sich auch in geför<strong>der</strong>ten Sozialprojekten<br />
zu Diversity wi<strong>der</strong>, wie Diversity@Care, women.diversity.net, siqua,<br />
etc.<br />
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Ideologiekritik und Theoriebildung<br />
Albert Scherr<br />
Jede Praxis, also auch die Praxis <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, basiert auf<br />
gesellschaftlichen »Wirklichkeitsmodellen« (Schmidt 2003),<br />
auf Annahmen darüber, was <strong>der</strong> Fall ist und wie angemessen<br />
gehandelt werden kann sowie auf Normalitätsmodellen und<br />
Normen, mit denen begründet wird, was bewirkt werden soll.<br />
Wirklichkeitsmodelle, Normalitätsmodelle und Normen verän<strong>der</strong>n<br />
sich mit <strong>der</strong> historischen Entwicklung und sind prinzipiell<br />
kontrovers, wie sich an unterschiedlichen Beispielen zeigen<br />
lässt: So hat sich inzwischen die Vorstellung einer prinzipiellen<br />
Gleichheit von Männern und Frauen und die normative Überzeugung<br />
durchgesetzt, dass Gleichbehandlung anstrebenswert<br />
ist; Homosexualität gilt nicht mehr, wie noch Anfang <strong>der</strong><br />
1970er Jahre, als behandlungsbedürftige psychische Krankheit,<br />
son<strong>der</strong>n als eine normale und zu akzeptierende Form menschlicher<br />
Sexualität; PädagogInnen haben gelernt, die Anwendung<br />
pädagogischer Gewalt nicht länger als unverzichtbares<br />
Erziehungsmittel zu betrachten, son<strong>der</strong>n als unzulässige Form<br />
<strong>der</strong> Misshandlung zu bewerten. Verän<strong>der</strong>ungen gesellschaftlich<br />
einflussreicher Sichtweisen werden in <strong>der</strong> Wissenssoziologie<br />
nicht als eine Folge rationaler Lernprozesse betrachtet, in denen<br />
sich das bessere Wissen gegen als falsch erkanntes durchsetzt,<br />
son<strong>der</strong>n auf ihren Zusammenhang mit gesellschaftsstrukturellen<br />
Entwicklungen und mit den Interessen sozialer Gruppen hin<br />
untersucht. Es wird danach gefragt, was bestimmte Sichtweisen<br />
<strong>der</strong> sozialen Wirklichkeit ermöglicht, welche Auswirkungen<br />
diese haben und was Verän<strong>der</strong>ungen auslöst. (vgl. Knoblauch<br />
2005) Bereits die ältere Wissenssoziologie verbindet die Frage<br />
nach dem sozial gültigen Wissen mit <strong>der</strong> Untersuchung von<br />
Machtverhältnissen. In seiner klassischen Studie »Außenseiter«<br />
thematisiert Howard S. Becker die »Definitionsmacht« sozialer
Ideologiekritik und Theoriebildung 107<br />
Gruppierungen, die bestimmte Vorstellungen über normales<br />
und abweichendes Verhalten etablieren und durchsetzen (vgl.<br />
Becker 1971, 133ff.). Peter L. Berger (1973, 3ff.) argumentiert,<br />
dass <strong>der</strong> »Zwangscharakter« <strong>der</strong> Gesellschaft« nicht nur in<br />
Gesetzen und Sanktionen begründet ist, son<strong>der</strong>n auch in ihrer<br />
Macht, bestimmte Sichtweisen <strong>der</strong> Wirklichkeit als objektiv<br />
gültige zu setzen. Diskursanalyse in <strong>der</strong> von Michel Foucault<br />
begründeten Tradition (vgl. Keller et al. 2006) fragt dezidiert<br />
nach den Macht- und Herrschaftseffekten von ›Macht-Wissens-<br />
Komplexen‹: Wissen und Macht sind demnach keine Gegensätze,<br />
son<strong>der</strong>n bestimmtes Wissen ermöglicht und begründet<br />
bestimmte Formen <strong>der</strong> Macht- und Herrschaftsausübung.<br />
Ideologiekritik – ein in <strong>der</strong> Traditionslinie <strong>der</strong> Marx’schen<br />
Kapitalismuskritik zu verortendes und inzwischen als eher<br />
unmo<strong>der</strong>n geltendes Unternehmen – verfolgt ein vergleichbares<br />
Anliegen (vgl. als einführenden Überblick Haug 1992): Hier<br />
geht es zentral darum, aufzuzeigen, dass und wie gesellschaftliche<br />
Strukturen und Machtverhältnisse durch die jeweils vorherrschenden<br />
Wirklichkeitsmodelle gerechtfertigt werden:<br />
Ideologien sind im Kern Rechtfertigungslehren, die die<br />
Notwendigkeit einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung,<br />
<strong>der</strong> sie kennzeichnenden Strukturen sozioökonomischer<br />
Ungleichheit und <strong>der</strong> politischen Machtverhältnisse behaupten.<br />
Naturalisierung und allgemeines Interesse<br />
Eine Grundfigur ideologischen Denkens ist die <strong>der</strong><br />
Naturalisierung sozialer Verhältnisse: Eine bestimmte Ordnung<br />
<strong>der</strong> gesellschaftlichen Verhältnisse wird damit gerechtfertigt,<br />
dass sie den vermeintlich naturgegebenen Eigenschaften von<br />
Menschen bzw. naturgesetzlichen Prinzipien entspricht. Auch<br />
die aktuelle Programmatik des Neoliberalismus basiert auf solcher<br />
Naturalisierung: Die zentrale For<strong>der</strong>ung nach einer marktökonomischen<br />
Steuerung aller gesellschaftlichen Teilbereiche
108<br />
Ideologiekritik und Theoriebildung<br />
wird u. a. mit einer Darstellung von Globalisierung als ein<br />
naturgesetzlicher Prozess verbunden, in dem nationale Grenzen<br />
vermeintlich bedeutungslos werden sowie mit <strong>der</strong> Behauptung,<br />
dass sich die Überlegenheit des Marktes als rationales<br />
Steuerungsinstrument für die Koordination des Handelns von<br />
Menschen, <strong>der</strong>en Grundantrieb die egoistische Verfolgung<br />
eigener Interesse sei, zweifelsfrei erwiesen habe (vgl. etwa<br />
Willke 2003).<br />
Eine weitere klassische Grundfigur ideologischen Argumentierens<br />
besteht darin, dass spezifische Interessen als<br />
Allgemeine, als das gemeinsame wohlverstandene Eigeninteresse<br />
aller Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> dargestellt werden. In <strong>der</strong><br />
Entstehungsphase mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften war es v. a. die bürgerlichen<br />
Ideen <strong>der</strong> (Vertrags-)Freiheit und (rechtlichen)<br />
Gleichheit, die als Ausdruck allgemeiner menschlicher Naturrechte<br />
und als Grundlage einer vernünftigen Gesellschaftsgestaltung<br />
behauptet wurden. Ideologiekritik zielt darauf bezogen<br />
auf den Nachweis, dass die bürgerlichen Freiheiten in dem<br />
Maße nicht Je<strong>der</strong>mann, son<strong>der</strong>n nur partikularen Interessen dienen,<br />
wie die rechtliche Gleichheit durch ökonomische<br />
Ungleichheit konterkariert und die formelle Freiheit durch ökonomische<br />
Zwänge und politische Machtverhältnisse in einer<br />
Weise eingeschränkt wird, die den Interessen <strong>der</strong> Lohnabhängigen<br />
und <strong>der</strong> Armen wi<strong>der</strong>sprechen: Das Gesetz »in seiner<br />
erhabenen Gleichheit verbietet es Reichen wie Armen,<br />
unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und<br />
Brot zu stehlen«, so eine klassische Formulierung von Anatole<br />
France (1925, 116).<br />
Angesichts des mit neoliberalen Argumenten legitimierten<br />
Abbaus sozialstaatlicher Leistungen bei gleichzeitiger Stärkung<br />
repressiver Instrumente staatlicher Kontrolle und Sanktionierung<br />
– in Hinblick auf die USA hat Loic Wacquant (2006)<br />
den Umbau vom Wohlfahrtsstaat zum strafenden Staat und die<br />
Kriminalisierung <strong>der</strong> Armut detailliert beschrieben – besteht<br />
gegenwärtig ersichtlich hinreichen<strong>der</strong> Anlass für Ideologie-
Ideologiekritik und Theoriebildung 109<br />
kritik. Dabei kann aber, wie im Folgenden deutlich werden soll,<br />
die Soziale <strong>Arbeit</strong> selbst aus einer ideologiekritischen Thematisierung<br />
nicht ausgeklammert werden.<br />
Gibt es eine Garantie des richtigen Standpunkts<br />
<strong>der</strong> Kritik?<br />
Dass Ideologiekritik gegenwärtig gleichwohl nicht en vogue<br />
ist, hängt mit einem zentralen Problem <strong>der</strong> klassischen<br />
Ideologiekritik zusammen: Wer ein bestimmtes Wirklichkeitsmodell<br />
mit <strong>der</strong> klassischen Marx’schen Formel als »notwendig<br />
falsches Bewusstsein« qualifiziert, muss für sich in Anspruch<br />
nehmen, das falsche vom richtigen Bewusstsein unterscheiden<br />
zu können, also über einen privilegierten Zugang zur Wahrheit<br />
zu verfügen. Niemand, auch <strong>der</strong> Ideologiekritiker selbst, kann<br />
aber beanspruchen, über einen Standpunkt zu verfügen, <strong>der</strong><br />
außerhalb gesellschaftlicher Einflussnahmen auf sein Denken<br />
steht. Ideologiekritik setzt sich also selbst dem Verdacht aus,<br />
auf ideologischen – nicht rational begründbaren – Annahmen<br />
zu beruhen. Dies hat u. a. bei Michel Foucault (1992, 31) zu<br />
einer Distanzierung von <strong>der</strong> Programmatik <strong>der</strong> Ideologiekritik<br />
geführt:<br />
»Man möchte nicht wissen, was wahr o<strong>der</strong> falsch, begründet o<strong>der</strong><br />
nicht begründet, wissenschaftlich o<strong>der</strong> ideologisch, legitim o<strong>der</strong> missbräuchlich<br />
ist. Man möchte wissen, welche Verschränkungen zwischen<br />
Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen aufgefunden<br />
werden können, welche Verweisungen und Stützungen sich zwischen<br />
ihnen entwickeln, wieso ein bestimmtes Erkenntniselement – sei es<br />
wahr o<strong>der</strong> wahrscheinlich o<strong>der</strong> ungewiss o<strong>der</strong> falsch – Machtwirkungen<br />
annimmt und wieso ein bestimmtes Zwangsverfahren<br />
rationale, kalkulierbare, technisch effiziente Formen und Rechtfertigungen<br />
annimmt.« (ebd.: 31)
110<br />
Ideologiekritik und Theoriebildung<br />
Verzichtet man nun aber darauf, ganz generell die Verzichtbarkeit<br />
von Zwangsmechanismen und die Überwindbarkeit von<br />
Machtwirkungen zu behaupten, dann stellt sich an Foucault und<br />
die Diskursanalyse die Frage, was eine Kritik bestimmter<br />
Zwangsmechanismen, Erkenntniselemente und Machtwirkungen<br />
ermöglicht. Denn Foucault teilt mit <strong>der</strong> klassischen<br />
Ideologiekritik das Motiv <strong>der</strong> Kritik: Auch bei ihm geht es<br />
darum, gegebene Herrschaftsverhältnisse in Frage zu stellen<br />
und nichts als wahr zu akzeptieren »was eine Autorität als wahr<br />
ansagt« o<strong>der</strong> »weil eine Autorität es als wahr vorschreibt«<br />
(ebd.: 14).<br />
Folglich steht Diskursanalyse ebenso wie Ideologiekritik vor<br />
<strong>der</strong> Aufgabe, die Kriterien auszuweisen, die sie für die<br />
Begründung einer kritischen Perspektive in Anspruch nimmt.<br />
Kritik kann sich entsprechend auf Regeln wissenschaftlichen<br />
Argumentierens beziehen: Eine bestimmte Sichtweise wird in<br />
Frage gestellt, weil ihre theoretischen und empirischen<br />
Begründungen nicht überzeugen. Ein an<strong>der</strong>er Modus <strong>der</strong> Kritik<br />
akzentuiert die Diskrepanz zwischen den normativen<br />
Prinzipien, die politisch in Anspruch genommen werden, und<br />
den Effekten gesellschaftspolitischer Entscheidungen, also<br />
etwa zwischen Gleichheits- und Gerechtigkeitsnormen und <strong>der</strong><br />
Realität ungleicher und ungerechter Verhältnisse.<br />
In beiden Fällen gilt, dass Kritik keineswegs voraussetzen<br />
kann, aber auch nicht voraussetzen muss, »selbst im garantierten<br />
Besitz <strong>der</strong> einen, absoluten und ewigen Wahrheit zu sein«;<br />
sie muss für sich beanspruchen können, »die besseren<br />
Argumente zu haben« (Haug 1992: 118). Ideologiekritik<br />
besteht also darin, in den Streit um die besseren Argumente einzutreten<br />
und dabei Begründungen und Rechtfertigungen von<br />
sozialen Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnissen unter<br />
den Verdacht zu stellen, auf rational nicht begründbaren<br />
Prämissen und Setzungen zu basieren. Dies schließt eine selbstkritische<br />
Perspektive nicht aus, son<strong>der</strong>n ein: Angemessene<br />
Grundlage von Ideologiekritik kann kein Dogmatismus sein,
Ideologiekritik und Theoriebildung 111<br />
<strong>der</strong> sich gegen Zweifel an <strong>der</strong> Tragfähigkeit eigener Überzeugungen<br />
abschottet, son<strong>der</strong>n nur die Bereitschaft, sich auf den<br />
offenen und unabschließbaren Prozess <strong>der</strong> kritischen Hinterfragung<br />
und argumentativen Begründung immer wie<strong>der</strong> erneut<br />
einzulassen.<br />
Wozu Ideologiekritik in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />
Mo<strong>der</strong>ne Soziale <strong>Arbeit</strong> hat sich in kritischer<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung auch mit ihrer eigenen Tradition entwikkelt,<br />
einer Tradition, in <strong>der</strong> sich Soziale <strong>Arbeit</strong> immer wie<strong>der</strong><br />
als Anwalt <strong>der</strong> gesellschaftlichen Ordnung gegenüber denjenigen<br />
verstanden hat, die sich den ökonomischen Zwängen, den<br />
rechtlichen Normen und den gesellschaftlichen Normalitätserwartungen<br />
nicht anpassen können o<strong>der</strong> wollen. So fasst<br />
August Aichorn in seiner klassischen Studie zur Fürsorgeerziehung<br />
die Bezugsproblematik (Aichorn 1951) als »Verwahrlosung«<br />
und als »Dissozialenproblem« (ebd.: 39) und die<br />
Zielsetzung als »Aufrichten des sozial gerichteten Ichideals,<br />
das heißt im Nachholen jenes Stücks <strong>der</strong> individuellen<br />
Entwicklung, das dem Verwahrlosten zur vollen Kulturfähigkeit<br />
gemangelt hat« (ebd.: 200). Hans Scherpner bestimmt<br />
noch Anfang <strong>der</strong> 1960er Jahre die »Unangepasstheit des<br />
Einzelnen an die materiellen Lebensbedingungen« und seine<br />
»Unzulänglichkeit gegenüber <strong>der</strong> moralischen Ordnung <strong>der</strong><br />
Gemeinschaft« als Bezugsproblem sozialarbeiterischer Interventionen<br />
(Scherpner 1962, 122). Die Erfahrung <strong>der</strong><br />
Verstrickung <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> in die nationalsozialistische<br />
Politik <strong>der</strong> Ausson<strong>der</strong>ung und Vernichtung <strong>der</strong> »Asozialen« und<br />
»Gemeinschaftsschädlinge« hatte also zunächst keineswegs zu<br />
einer grundlegenden Infragestellung eines solchen Verständnisses<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> geführt, das auf Verän<strong>der</strong>ungen »problematischer«<br />
Verhaltensweisen von Individuen zielt, ohne dass<br />
eine Hinterfragung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Maßstäbe erfolgt, die
112<br />
Ideologiekritik und Theoriebildung<br />
jeweiligen Problemwahrnehmungen zu Grunde liegen. Dies<br />
än<strong>der</strong>t sich erst in dem Maße, wie Versuche zu einer gesellschaftstheoretisch<br />
fundierten Theorie <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> vorgelegt<br />
werden und an Einfluss gewinnen. So formuliert Klaus<br />
Mollenhauer (1964: 19) programmatisch, dass Sozialpädagogik<br />
»Bestandteil des pädagogischen Systems, das durch die industrielle<br />
Gesellschaft hervorgebracht wurde« sei und deshalb<br />
gelte, dass »alles, was über sie zu sagen ist, .... sinnvoll auch<br />
nur in Bezug auf diese Gesellschaft gesagt werden« kann.<br />
Dabei weist er auf den konstitutiven und spezifischen<br />
Zusammenhang von gesellschaftlich bedingten Problemlagen<br />
und sozialpädagogischen Interventionen hin: »Von ihrem<br />
Beginn an und in allen ihren Formen war sie ein Antworten auf<br />
Probleme dieser Gesellschaft, die <strong>der</strong> Sozialpädagoge zu<br />
Erziehungsaufgaben umformulierte.« Daran anschließend kann<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> – im Sinne einer ersten, abstrakt-allgemeinen<br />
theoretischen Bestimmung – als eine gesellschaftliche Form<br />
<strong>der</strong> Bearbeitung von solchen Auswirkungen gesellschaftsstrukturell<br />
bedingter Problemlagen auf die Lebenssituation von<br />
Individuen und Familien verstanden werden, die die<br />
Inanspruchnahme von Hilfeleistung und/o<strong>der</strong> die Zuschreibung<br />
von Hilfsbedürftigkeit veranlassen. 1<br />
Folglich kann eine zentrale Aufgabe von Theoriebildung in <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> darin gesehen werden, den gesellschaftlichen<br />
Entstehungszusammenhang <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zur<br />
Bearbeitung zugewiesenen Problemlagen sowie gesellschaftliche<br />
Festlegungen zu analysieren, mit denen legitime von unberechtigten<br />
Hilfeerwartungen und vermeintlich angemessene<br />
von vermeintlich unangemessenen Formen des Helfens unterschieden<br />
werden. Theorie zielt dann darauf, Soziale <strong>Arbeit</strong> als<br />
eine gesellschaftlich situierte und gesellschaftlich strukturierte<br />
Praxis zu untersuchen und dabei die Bedingungen und<br />
Möglichkeiten, aber auch die strukturellen Grenzen sozialarbeiterischer<br />
Interventionen zu bestimmen. Dabei kann auf eine<br />
ideologiekritische Perspektive nicht verzichtet werden. Dies
Ideologiekritik und Theoriebildung 113<br />
gilt nicht ›nur‹ in Hinblick auf neoliberale Diskurse, die eine<br />
affirmative Darstellung marktökonomischer Prinzipien mit<br />
For<strong>der</strong>ungen nach einer verstärkten Kontrolle und Sanktionierung<br />
<strong>der</strong>jenigen verbinden, die an den Zwängen und<br />
Zumutungen des sich mo<strong>der</strong>nisierenden Kapitalismus scheitern.<br />
Denn Soziale <strong>Arbeit</strong> findet sich, was im Weiteren zu erläutern<br />
sein wird, in einer Situation vor, in <strong>der</strong> ideologische, etwa<br />
paternalistische, personalisierende und moralisierende Sichtweisen<br />
nicht nur als Traditionsbestand einflussreich sind, son<strong>der</strong>n<br />
durch das grundlegende Arrangement <strong>der</strong> individualisierenden<br />
Bearbeitung gesellschaftlich bedingter Problemlagen<br />
immer wie<strong>der</strong> erneut nahe gelegt werden.<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> als Verschiebung<br />
Um als SozialarbeiterIn handlungsfähig zu sein und zu bleiben,<br />
um den beruflichen Alltag bewältigen zu können, ist es erfor<strong>der</strong>lich,<br />
mit den jeweils verfügbaren Mitteln auf diejenigen<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen und Problemlagen zu reagieren, die sich im<br />
Kontext <strong>der</strong> jeweiligen Praxis stellen. Dazu ist es unverzichtbar<br />
anzuerkennen, dass Soziale <strong>Arbeit</strong> an die zentralen Ursachen<br />
<strong>der</strong> Probleme, mit denen sie konfrontiert ist, nicht heranreicht:<br />
Zum Beispiel kann Soziale <strong>Arbeit</strong> mit arbeitslosen Jugendlichen<br />
zwar versuchen, <strong>der</strong>en individuelle Chancen auf dem<br />
Ausbildungs- und <strong>Arbeit</strong>smarkt zu verbessern, sie hat aber<br />
ersichtlich nur wenig Einfluss auf die <strong>Arbeit</strong>smarkt- und<br />
Bildungspolitik. Soziale <strong>Arbeit</strong> verfügt auch nicht über<br />
Möglichkeiten, eine Politik <strong>der</strong> Armutsbekämpfung durch<br />
Umverteilung durchzusetzen, sie kann sich nur darum bemühen,<br />
die konkrete Lebenssituation ihrer jeweiligen Adressaten<br />
zu verbessern. 2<br />
Dabei ist Soziale <strong>Arbeit</strong> vielfach mit Adressaten konfrontiert,<br />
die sich durchaus »unvernünftig« und »ärgerlich« verhalten,<br />
indem sie sich etwa schulischen o<strong>der</strong> beruflichen
114<br />
Ideologiekritik und Theoriebildung<br />
Möglichkeiten verweigern, und gelegentlich mit solchen, die<br />
sich selbst und an<strong>der</strong>e beschädigen, etwa durch Drogengebrauch,<br />
durch Vernachlässigung von Kin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> durch<br />
Gewaltausübung. Dass die Armen und Benachteiligten nicht<br />
›die besseren Menschen‹ sind und eine Haltung <strong>der</strong> Sympathie<br />
mit denjenigen, die den Normalitätserwartungen einer geordneten<br />
bürgerlichen Lebensführung nicht entsprechen können, mitunter<br />
an ihre Grenzen stößt, gehört zu den Grun<strong>der</strong>fahrungen<br />
je<strong>der</strong> SozialarbeiterIn. Eine Theorie <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> hat entsprechend<br />
in Rechnung zu stellen, dass soziale Ungleichheit<br />
und soziale Ausgrenzung nicht nur zu objektiv benachteiligten<br />
Lebensbedingungen führen, son<strong>der</strong>n auch die Subjektivität <strong>der</strong><br />
Benachteiligten, Ausgegrenzten und Diskriminierten beschädigen<br />
können: Subjektivität im Sinne eigenverantwortlicher<br />
Urteils- und Handlungsfähigkeit, als Fähigkeit zur empathischen<br />
Perspektivenübernahme und zur moralischen Abwägung<br />
zwischen Handlungsalternativen o<strong>der</strong> als Möglichkeit zur<br />
Ausrichtung <strong>der</strong> eigenen alltäglichen Lebensführung ist sozial<br />
voraussetzungsvoll. Denn Lebensbedingungen, die durch<br />
Armut und Unsicherheit gekennzeichnet sind, können dazu<br />
führen, dass das Denken und Handeln darauf fokussiert ist, den<br />
Alltag irgendwie zu bewältigen; Subjektivität reduziert sich<br />
dann ggf. auf Bemühungen, die eigene psychische Verfassung<br />
zu stabilisieren und praktischen Handlungszwängen <strong>der</strong> alltäglichen<br />
Lebensführung gerecht zu werden.<br />
Deshalb ist Soziale <strong>Arbeit</strong> wie<strong>der</strong>kehrend vor die Aufgabe<br />
gestellt, »Bedingungen herzustellen, die dem Subjekt seine<br />
Subjektivität ermöglichen« (Winkler 1988, 99), sich also mit<br />
Effekten <strong>der</strong> Beschädigungen und Begrenzungen von<br />
Subjektivität auseinan<strong>der</strong> zu setzen.<br />
Folglich werden gesellschaftsstrukturell bedingte Problemlagen<br />
in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> auch als problematisches Verhalten<br />
von Individuen sichtbar, auf das Soziale <strong>Arbeit</strong> mit ihren eigenen<br />
Mitteln einwirken soll. Dabei ist <strong>der</strong> Zusammenhang zwischen<br />
den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem individuel-
Ideologiekritik und Theoriebildung 115<br />
len Verhalten komplex, keineswegs immer einfach zu durchschauen.<br />
In <strong>der</strong> Folge hat Soziale <strong>Arbeit</strong> eine nicht zufällige<br />
Affinität zu solchen ideologischen Sichtweisen, die als<br />
Individualisierung und Moralisierung charakterisiert werden<br />
können: In ihrem beruflichen Handeln sind SozialarbeiterInnen<br />
nicht unmittelbar mit gesellschaftlichen Verhältnissen befasst,<br />
son<strong>der</strong>n mit Einzelnen und <strong>der</strong>en Praktiken. Die alltägliche<br />
Erfahrung von SozialarbeiterInnen im praktischen Handlungszusammenhang<br />
legt deshalb Sichtweisen nahe, die Effekte<br />
gesellschaftlicher Lebensbedingungen als Folge individuellen<br />
Verhaltens »erklären« und als solche bewerten. Sozialarbeiterische<br />
Interventionen sind in <strong>der</strong> Regel zudem darauf verwiesen,<br />
Individuen zu einem verän<strong>der</strong>ten Umgang mit den<br />
ihnen auferlegten Lebensbedingungen zu befähigen, da sie<br />
nicht über die Möglichkeit verfügen, substantielle Verän<strong>der</strong>ungen<br />
dieser Lebensbedingungen zu bewirken. Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> tendiert folglich immer dann zu einem moralisierenden<br />
Individualismus, wenn eine theoretische Klärung <strong>der</strong><br />
Bedingungen, die für die Entwicklung <strong>der</strong> Fähigkeit zu einer<br />
eigenverantwortlichen und sozial rechtfertigbaren Lebensführung<br />
för<strong>der</strong>lich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich sind, unterbleibt.<br />
Eine Radikalisierung eines moralisierenden Individualismus<br />
wird im neoliberalen Leitbild des als »Unternehmer seiner<br />
<strong>Arbeit</strong>skraft und seiner Daseinsvorsorge« konzipierten Individuums<br />
vorgenommen (vgl. Bröckling 2007). Unter systematischer<br />
Ausblendung des sozialwissenschaftlichen Wissens um<br />
die sozialen und sozialisatorischen Voraussetzungen <strong>der</strong> Prozesse,<br />
in denen Individuen die Fähigkeit entwickeln können,<br />
ihren Lebensentwurf gezielt und langfristig zu planen, wird an<br />
Eigenverantwortlichkeit appelliert und werden denjenigen, die<br />
im Dauerlauf um Selbstoptimierung durch lebenslanges Lernen<br />
nicht mithalten, unter den sanktionsbewehrten Verdacht<br />
gestellt, ihren Mitwirkungspflichten nicht gerecht zu werden.<br />
Die Alternative zu einer ideologischen Deutung von<br />
Hilfsbedürftigkeit als Ausdruck individuell zurechenbarer
116<br />
Ideologiekritik und Theoriebildung<br />
Defizite kann aber auch keine pauschale Gesellschaftskritik<br />
sein, die die Klientel <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zu unschuldigen und<br />
bedauernswerten Opfern ihrer Lebensumstände stilisiert und<br />
ihnen damit jede Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen<br />
Lebensführung bestreitet. Erfor<strong>der</strong>lich ist vielmehr eine genaue<br />
Betrachtung nicht »nur« <strong>der</strong> objektiven Aspekte <strong>der</strong><br />
Lebenssituation jeweiliger Adressaten, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> damit<br />
verbundenen Formierungen ihrer Subjektivität, insbeson<strong>der</strong>e<br />
<strong>der</strong> Beschädigungen und Begrenzungen ihrer Fähigkeit einer<br />
selbstbewussten und selbstbestimmten Lebensgestaltung. Denn<br />
nur so können auch Erfor<strong>der</strong>nisse und Ansatzpunkte für eine<br />
Praxis bestimmt werden, die auf Empowerment und<br />
Subjektbildung ausgerichtet ist.<br />
Eine weiterer Ansatzpunkt ideologischer Deutungen in <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ist die sich in Krisenzeiten zuspitzende<br />
Diskrepanz zwischen Erfor<strong>der</strong>nissen und Möglichkeiten des<br />
Helfens: Mit <strong>der</strong> Zunahme von Hilfsbedürftigkeit, etwa in<br />
Folge steigen<strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>slosigkeit und Armut, reduzieren sich<br />
zugleich die Möglichkeiten des Helfens, denn es stehen dann<br />
auch weniger <strong>Arbeit</strong>splätze zur Verfügung und die sozialstaatlichen<br />
Mitteln werden knapper. Soziale <strong>Arbeit</strong> kann sich dann<br />
als »eine unlösbare Aufgabe darstellen (vgl. Bourdieu et al.<br />
1997, 217ff.) Hierauf reagieren ideologische Deutungsangebote,<br />
die gesellschaftlich bedingte Grenzen des Helfens in prinzipielle,<br />
nicht überschreitbare Grenzen helfen<strong>der</strong> Interventionen,<br />
etwa von Erziehung und Therapie, umdeuten. Es ist so<br />
betrachtet kein Zufall, dass in Zeiten <strong>der</strong> Krise Zweifel an den<br />
Möglichkeiten des Helfens wachsen und gleichzeitig For<strong>der</strong>ungen<br />
nach Repression und Sanktionierung an Einfluss gewinnen.<br />
3
Ideologiekritik und Theoriebildung 117<br />
Rück- und Ausblick<br />
Die Kritik von Ideologien, die das Leiden und das Scheitern <strong>der</strong><br />
Adressaten Sozialer <strong>Arbeit</strong> als unvermeidbar o<strong>der</strong> als selbstverschuldet<br />
darstellen sowie Soziale <strong>Arbeit</strong> in die Funktion einer<br />
Institution zuweisen, die <strong>der</strong> Aufrechterhaltung und Durchsetzung<br />
ökonomischer Zwänge, politischer Strategien, vorherrschen<strong>der</strong><br />
Normen und Normalitätsmodelle dient, war und ist<br />
eine zentrale Aufgabe von Theoriebildung. Eine solche Kritik<br />
kann nicht durch eine bloße Beobachtung <strong>der</strong> Wandlungen <strong>der</strong><br />
Diskurse ersetzt werden, aus denen Soziale <strong>Arbeit</strong> ihre<br />
Wirklichkeitsmodelle und Handlungsmaximen bezieht. Es<br />
genügt auch nicht, gegenüber alten und neuen Mustern ideologischen<br />
Denkens eine Haltung <strong>der</strong> Sympathie mit den Armen,<br />
Ausgegrenzten und Abweichenden einzunehmen – dies schon<br />
deshalb nicht, weil diese allzu leicht in einen Zynismus umkippt,<br />
<strong>der</strong> Distanz zu theoretischen Anstrengungen mit <strong>der</strong> vermeintlich<br />
allein realistischen Einsicht verbindet, dass die Klientel letztlich<br />
doch selbst verantwortlich ist für ihre Situation. Erfor<strong>der</strong>lich ist<br />
es vielmehr, immer wie<strong>der</strong> konkret zu analysieren, welche ideologischen<br />
Modelle jeweils an Einfluss gewinnen und die<br />
Problematik ihrer Voraussetzungen und Folgen theoretisch<br />
genau und empirisch fundiert zu bestimmen. Theoriebildung und<br />
Ideologiekritik sind also zwei Seiten <strong>der</strong> gleichen Medaille.<br />
Gegenwärtig stellt die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit zwei ineinan<strong>der</strong><br />
verwobenen Tendenzen die m. E. entscheidende Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
dar: Der Abbau sozialstaatlicher Leistungen und sozialarbeiterischer<br />
Hilfen einerseits, <strong>der</strong> Ausbau sozialer Kontrollen<br />
und Sanktionen an<strong>der</strong>erseits. Deren gemeinsames ideologisches<br />
Fundament ist das Postulat des für seinen Erfolg und sein<br />
Scheitern selbst verantwortlichen Individuums, dem auch<br />
Normverletzungen als schuldhafte Verfehlung zurechenbar<br />
sind. Demgegenüber ist in <strong>der</strong> Traditionslinie kritisch-sozialpädagogischen<br />
Denkens darauf zu beharren, dass es eine Aufgabe<br />
von Gesellschaftspolitik, insbeson<strong>der</strong>e von <strong>Arbeit</strong>smarkt-,
118<br />
Ideologiekritik und Theoriebildung<br />
Sozial- und Bildungspolitik ist, Bedingungen herzustellen, die<br />
Individuen tatsächlich befähigen, ihre Lebensführung bewusst<br />
und eigenverantwortlich zu gestalten. Dabei ist gerade nicht,<br />
wie immer wie<strong>der</strong> fälschlich behauptet wird, von einem grundlegenden<br />
Gegensatz von sozialer Sicherheit und individueller<br />
Autonomie auszugehen, son<strong>der</strong>n gerade davon, dass soziale<br />
Sicherheit vielfach Eigenverantwortlichkeit erst ermöglicht.<br />
Umgekehrt gilt: »Der Weg über die Kürzung von Sozialleistungen<br />
mag sonst wohin führen – doch gewiss nicht zu einer<br />
Gesellschaft freier Individuen.« (Bauman 1997, 363)<br />
Anmerkungen<br />
1 Soziale <strong>Arbeit</strong> ist nun jedoch keineswegs die einzige gesellschaftlich<br />
institutionalisierte Form des Helfens: Im Unterschied zu den medizinischen<br />
und psychotherapeutischen Berufen ist sie gering spezialisiert<br />
sowie überwiegend mit <strong>der</strong> Hilfsbedürftigkeit <strong>der</strong>jenigen befasst, die<br />
sozioökonomischen Benachteiligungen unterliegen; im Unterschied<br />
zu den Leistungen <strong>der</strong> sozialen Sicherungssysteme beschränkt sie<br />
sich nicht auf die Zuteilung von Geld- und Versicherungsleistungen,<br />
son<strong>der</strong>n versucht, durch Beratung, Betreuung, Erziehung, Bildung<br />
und Quasi-Therapie auf die Lebensführung und das Selbstverständnis<br />
von Individuen einzuwirken (vgl. dazu ausführlicher Bommes/Scherr<br />
2000).<br />
2 Zwar können SozialarbeiterInnen und Organisationen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> durchaus versuchen, auf politische Entscheidungen Einfluss zu<br />
nehmen und für sich mit guten Gründen ein (sozial-)politisches Mandat<br />
beanspruchen; ersichtlich sind die Erfolge entsprechen<strong>der</strong><br />
Versuche jedoch begrenzt.<br />
3 Dies verbindet sich gegenwärtig mit einer einflussreichen Kritik, die<br />
emanzipatorische Pädagogik und Sozialarbeit als illusionäre<br />
Verkennung <strong>der</strong> Unhintergehbarkeit von Disziplinierung und<br />
Sanktionierung denunziert (vgl. Bueb 2007; Weidner/Kilb 2004).
Ideologiekritik und Theoriebildung 119<br />
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Weidner, Jens/Kilb, Rainer (Hg.) (2004): Konfrontative Pädagogik.<br />
Wiesbaden<br />
Willke, Gerhard (2003): Neoliberalismus. Frankfurt/New York<br />
Winkler, Michael (1988): Eine Theorie <strong>der</strong> Sozialpädagogik. Stuttgart
Management und Steuerung<br />
Michael Winkler<br />
1. Die Begriffe Management und Steuerung und die gemeinten<br />
Sachverhalte gehören zu den jüngeren Ideologien und praktischen<br />
Pathologien <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Im Konzept des<br />
Sozialmanagements sind sie zusammengeführt, <strong>der</strong> als ein<br />
diskursiver Leitbegriff gelten kann. Sozialmanagement erlebt<br />
vor allem im letzten Drittel des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts »eine erstaunliche<br />
Karriere« (Galuske 2007, 333); es steht für eine<br />
Aufwertung <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, die mit Binnendifferenzierung<br />
einhergeht. Reputierlichkeit entsteht nämlich häufig, wenn<br />
Hierarchien zeigen, wie man etwas in einem Bereich werden<br />
kann: Wo es ManagerInnen gibt, lohnt es sich wohl einzusteigen.<br />
Ein Blick auf soziale Einrichtungen in Großbritannien<br />
bestätigt dies auf makabre Weise: Während im Feld selbst, also<br />
vor Ort und mit KlientInnen weniger und schlechter ausgebildete<br />
AkteurInnen wirken, schmücken sich in den Institutionen<br />
auf unterschiedlichsten Ebenen die ManagerInnen mit ihren<br />
Titeln. Ironischerweise ergab sich dies als Nebeneffekt fortschreiten<strong>der</strong><br />
Privatisierung des <strong>Sozialen</strong> Sektors und trug<br />
zugleich zu erheblichen Kostensteigerungen bei.<br />
In professioneller Hinsicht verweist Management auf eine neue<br />
Kultur in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, die sich nicht zuletzt an den<br />
Ausbildungsstätten beobachten lässt. Zwar klingen dort Ende<br />
<strong>der</strong> siebziger Jahre die Parolen und Programme nach, welche<br />
auf gesellschaftliche Verän<strong>der</strong>ung durch Soziale <strong>Arbeit</strong> hoffen.<br />
Die Akteure lassen sich von ihrem politischen Engagement zur<br />
Randgruppenarbeit und von mitmenschlicher Empathie motivieren.<br />
Sie werden darauf eingeschworen, in einer »schmuddeligen«<br />
Lebenswelt verstehend und aushandelnd, die<br />
Möglichkeiten zu einem gelingen<strong>der</strong>en Alltag zu entdecken<br />
(vgl. Thiersch 1992). Doch schon taucht ein an<strong>der</strong>er Typus auf:
Management und Steuerung 121<br />
White collar workers mit schmucken Aktenkoffern und noch<br />
schwergewichtigen Klapprechnern, welche <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
und sich selbst ein neues Image geben (wollen): Unternehmer<br />
des <strong>Sozialen</strong>, Betriebswirte in einem Non-Profit-Sektor, <strong>der</strong><br />
vom Gang an Aktienbörsen schwärmt, Organisatoren von<br />
Dienstleistungen. Nebenbei gerät ihnen aus dem Blick, was<br />
heute wie<strong>der</strong> beschäftigt: Armut, soziale Isolation und kulturelle<br />
Verelendung, Pädagogik im umfassenden Sinne, nämlich als<br />
Erziehung zur Sicherung von Mündigkeit im Erwerb <strong>der</strong> Mittel<br />
zur Selbstbeherrschung und im Zugang zu kulturell entscheidenden<br />
Inhalten gerät endgültig zum Tabu. Das rächt sich.<br />
Disziplinär entspricht <strong>der</strong> professionellen Entwicklung zur<br />
anerkannten <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> die Etablierung des Sozialmanagements<br />
als Wissenschaft. Der Bereich wirkt attraktiv.<br />
Denn Forschung und Lehre in ihm übersteigen die Horizonte<br />
<strong>der</strong> klassischen sozialen <strong>Arbeit</strong> und <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Erziehungswissenschaft<br />
angesiedelten Sozialpädagogik. Interdisziplinär<br />
interessiert, bezieht sich die akademische Beschäftigung mit<br />
dem Sozialmanagement auf die Sozial- und Gesundheitswissenschaften<br />
schlechthin. Sie wird durch die Entwicklungen<br />
in den <strong>Arbeit</strong>s- und Handlungsfel<strong>der</strong>n geradezu forciert:<br />
Knappheit in den öffentlichen Haushalten, eine – etwa durch<br />
den demographischen Wandel beeinflusste – Verän<strong>der</strong>ung und<br />
Steigerung <strong>der</strong> Bedarfszahlen, vor allem ein wachsendes<br />
Bedürfnis nach Innovation bei gleichzeitig verbesserter und<br />
intensivierter Qualitätskontrolle führen dazu, dass Fragen <strong>der</strong><br />
Organisation und Steuerung von Aufgaben und Leistungen in<br />
den Zusammenhängen <strong>der</strong> Bildungs-, Kultur- und Sozialsysteme<br />
hohes Gewicht gewinnen. Ein erhebliches Interesse<br />
besteht seitens <strong>der</strong> öffentlichen und <strong>der</strong> freien Träger sozialer,<br />
kultureller und pädagogischer Angebote wie des Gesundheitsbereichs.<br />
Die Herausfor<strong>der</strong>ung liegt darin, dass ökonomische<br />
wie administrative Vorgänge und solche etwa <strong>der</strong> Personalführung<br />
mit inhaltlichen, insbeson<strong>der</strong>e konzeptionellen, curricularen<br />
Entwicklungen verbunden und in Strukturen gebracht
122<br />
Management und Steuerung<br />
werden, die eine Mitwirkung aller Beteiligten und Betroffenen<br />
för<strong>der</strong>n. Nicht zuletzt aber berühren Fragen des Sozialmanagements<br />
Problemstellungen <strong>der</strong> Evaluation und einer ihr<br />
folgenden Optimierung des Mitteleinsatzes. Insofern besteht<br />
eine enge Verbindung zwischen Sozialmanagement und <strong>der</strong><br />
Qualitätssicherung in den einschlägigen Bereichen.<br />
Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die Nachfrage nach<br />
entsprechenden Ausbildungsangeboten und grundlegenden wie<br />
anwendungsnahen Forschungsleistungen; insbeson<strong>der</strong>e an<br />
Fachhochschulen werden einschlägige Professuren eingerichtet,<br />
einige Universitäten folgen. Doch seit <strong>der</strong> Jahrtausendwende<br />
erlahmt die wissenschaftliche <strong>Arbeit</strong>. Zwar werden im<br />
angelsächsischen Bereich einschlägige Handbücher veröffentlicht<br />
(vgl. Patti 2000), eine Untersuchung konzeptioneller und<br />
begrifflicher Grundlagen lässt sich aber kaum mehr beobachten.<br />
Völlig fehlt eine empirische Erforschung <strong>der</strong> Implementation<br />
o<strong>der</strong> des Nutzens von Sozialmanagement. Die<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung wird unter dem Begriff <strong>der</strong> Sozialwirtschaftslehre<br />
geführt (vgl. Wendt 2002) o<strong>der</strong> verlagert sich<br />
in die Fel<strong>der</strong> selbst. Sozialmanagement kommt in den Geruch,<br />
als praxeologisches Konstrukt theorielos zu bleiben (vgl. Otto<br />
2002, 178). Reflexion verliert ihre Relevanz, vielleicht weil<br />
Idee und Konzept selbstverständlich geworden und in den professionellen<br />
Habitus eingesickert sind. Sie müssen anscheinend<br />
nicht mehr geklärt werden.<br />
Allerdings ist diese Entwicklung nicht ganz ungewöhnlich für<br />
Debatten um Gesellschaft schlechthin, Soziale <strong>Arbeit</strong> und<br />
Sozialpädagogik im Beson<strong>der</strong>en. Themen verflüchtigen sich in<br />
Spezialdiskurse o<strong>der</strong> in eine Art untergründiges Wissen,<br />
obwohl die Bedeutung <strong>der</strong> einschlägigen Probleme, Sachverhalte<br />
und Begriffe unbestimmt bleibt. Sie behalten dennoch<br />
Gewicht und Ansehen, die ihnen sogar beängstigende Züge verleihen.<br />
Unsicherheit ruft Verunsicherung hervor. So endet beispielsweise<br />
ein Lexikonbeitrag mit <strong>der</strong> Zusammenfassung, dass<br />
Sozialmanagement »ein Entwicklungsprogramm <strong>der</strong> Rekon-
Management und Steuerung 123<br />
struktion und Produktion personenbezogener sozialer Dienstleistungen<br />
eines Verbandes, einer sozialen Verwaltung, einer<br />
Kommune, sowie <strong>der</strong> [...] Evaluation im Horizont <strong>der</strong><br />
Charakteristika und <strong>der</strong> historischen Entwicklung des sozialen<br />
Sektors aus einer Managementperspektive« kennzeichne<br />
(Karsten 1996, 467). Dieser Satz klingt großartig, zumal er alle<br />
diskursiv relevanten Bezugspunkte benennt. Gleichwohl bleibt<br />
er schlicht unverständlich, was ihn <strong>der</strong> Ideologie verdächtig<br />
macht. Sozialmanagement gibt sich bedeutungsschwanger –<br />
das schafft dann eine beson<strong>der</strong>e Aura. Sie leuchtet um so mehr,<br />
weil hinter Sozialmanagement jene politischen und öffentlich<br />
genutzten Semantiken stehen, in welchen Innovation und<br />
Reform zu Topoi werden. Das Ganze gehört also in den<br />
Kontext <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften.<br />
2. Die Etymologie kann die Herkunft von Management nicht<br />
sicher identifizieren, die Deutungen reichen von Hand anlegen<br />
bis das Haus bestellen (vgl. Merchel 2006, 18). In die deutsche<br />
Sprache wan<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Ausdruck seit dem Ende des 19.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts ein, um nach dem 2. Weltkrieg größere<br />
Verbreitung zu finden (vgl. Feldhoff 1980). Manager meint<br />
seitdem zum einen OrganisatorInnen von Institutionen, größeren<br />
Verwaltungseinheiten, welche soziale und wirtschaftliche<br />
Prozesse leiten, koordinieren und möglichst optimieren, oftmals<br />
in einem Spannungsfeld zwischen innerbetrieblichen<br />
Kontexten und Öffentlichkeit. Das Bild des Managers/<strong>der</strong><br />
Managerin in <strong>der</strong> Öffentlichkeit ist weitgehend davon geprägt,<br />
dass seine/ihre Aktivitäten kaum dem Gemeinwohl dienen,<br />
schon gar nicht aber die (existenziellen) Interessen <strong>der</strong>jenigen<br />
wahrnehmen, welche ihnen untergeordnet sind und als faktische<br />
Träger des betrieblichen Erfolges gelten. Tatsächlich fällt<br />
es schwer ein persönliches Risiko des Managers zu erkennen.<br />
Zum an<strong>der</strong>en hebt <strong>der</strong> Begriff des Managers auf jene ab, welche<br />
für erfolgreiche Akteure in Sport, Kunst und Medien die<br />
Geschäfte führen, Vereinbarungen treffen und Öffentlichkeits-
124<br />
Management und Steuerung<br />
kontakte regeln, dafür meist mit einem festgesetzten prozentualen<br />
Anteil honoriert werden. Manager in diesem Sinn des<br />
Ausdrucks genießen wenig Ansehen. Sie gelten sogar als geradezu<br />
parasitär. Management trägt dies als Ambivalenz weiter:<br />
Etwas managen erweckt negative Vorstellungen, die vom<br />
»Gschaftlhuber« im Dunstkreis klein-krimineller Aktivitäten<br />
bis zum »Big Business« mit seinen vielschichtigen Feindbil<strong>der</strong>n<br />
reicht.<br />
In <strong>der</strong> Sache bezieht sich Management auf zwei Dimensionen,<br />
nämlich einerseits – handlungsorientiert – auf die Leitung von<br />
Organisationen, wobei klassisch Planung, Organisation,<br />
Personalwahl und Personalführung, Betriebsleitung, Koordination<br />
und Finanzverwaltung unterschieden werden; zudem<br />
gehören zum Management die strategische Entwicklung von<br />
Unternehmen, auch durch Erweiterung und Verringerung <strong>der</strong><br />
Betriebseinheiten (also Zukauf zur Diversifikation als<br />
Sicherung vor Marktrisiken o<strong>der</strong> zur Erzielung von Synergien<br />
versus Outsourcing), Öffentlichkeits- und Lobbyistenarbeit wie<br />
endlich die Kontrolle <strong>der</strong> Leistung. An<strong>der</strong>erseits versteht man<br />
unter Management die Personen des Management, bzw. die<br />
Führung und Entwicklung des Personals selbst.<br />
Noch weniger lässt sich <strong>der</strong> Begriff Steuerung eindeutig fassen.<br />
Das Grimmsche Wörterbuch erinnert eine Vielzahl von<br />
Bedeutungen für die unterschiedlichen, als Verb wie als<br />
Substantiv aufzufindenden Formen von »Steuern«. Steuerung<br />
findet sich in <strong>der</strong> erfassten Literatur sogar für Unterstützung,<br />
Hilfe, För<strong>der</strong>ung, dann erwartungsgemäß für Lenkung und<br />
Leitung, aber sogar für Abwehr, Verhin<strong>der</strong>ung und Lin<strong>der</strong>ung<br />
(Grimm 1941, Sp. 2665). Die Sachbezüge fallen nicht min<strong>der</strong><br />
weit aus, und reichen dabei vom naturwissenschaftlichen technischen<br />
bis zum psychologischen Gebrauch des Ausdrucks<br />
(vgl. Hassenstein/Hildebrandt 1998; Müller 1998).<br />
3. Management und Steuerung stehen auch für den Tatbestand,<br />
dass <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Staat das fürsorgende und helfende Handeln
Management und Steuerung 125<br />
aus <strong>der</strong> Zufälligkeit löst, an welche es durch christliche<br />
Nächstenliebe gebunden war. Im sorgenden Staat wird<br />
Gesellschaft zu einem Projekt, das rational begründet, bürokratisch<br />
durchgeführt und systematisch verwirklicht werden muss,<br />
um das Wohlergehen des Ganzen o<strong>der</strong> aller zu sichern – in dieser<br />
Differenz unterscheiden sich marktwirtschaftliche von sozialstaatlichen<br />
Verfassungen. Das Geschehen bleibt allerdings<br />
stets vieldeutig: Im Kern reagiert die Einführung wohlfahrtsstaatlicher<br />
Ordnungen und Regelungen nämlich darauf, dass<br />
Notlagen systemisch und systematisch, mithin in einer Weise<br />
notorisch werden, die nicht mehr als durch Gott gegeben o<strong>der</strong><br />
als menschliches Schicksal allein bestimmt sind. Wenngleich<br />
schon mittelalterliche Armenordnungen den Weg gewiesen<br />
haben, belegen Notlagen doch erst seit <strong>der</strong> Durchsetzung kapitalistischer<br />
Gesellschaften und industrieller Produktionsweisen<br />
die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur als solche, son<strong>der</strong>n<br />
als soziale Dynamos. Verhältnisse erzeugen Lebenslagen. Not<br />
und Elend signalisieren jedoch eine abstrakte Mechanik; an<strong>der</strong>s<br />
als in <strong>der</strong> alten agrarischen Gesellschaft verschwindet noch <strong>der</strong><br />
Schutz durch jene, welche die Elenden in Abhängigkeit gehalten<br />
hatten. Notlagen werden nun gesellschaftlich erzeugt,<br />
umfassend; sie bestimmen materielle wie kulturelle Lebensbedingungen<br />
und -lagen, prägen zugleich individuelle, psychisch-seelische<br />
Befindlichkeiten.<br />
Darin entsteht eine kaum mehr einzuholende Spannung. Denn<br />
einerseits verlangen die Notlagen systematische Gestaltung. Sie<br />
for<strong>der</strong>n objektiv den Willen <strong>der</strong> Sozialpolitik, die sie in ihrer<br />
abstrakt strukturellen Bedingtheit erkennt und Lebensverhältnisse<br />
umgestaltet. An<strong>der</strong>erseits aber richtet sich Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> auf die Individuen in ihrer konkreten lebenspraktischen<br />
Situation und Subjektivität. So entstehen Strukturen <strong>der</strong> Hilfe,<br />
ein Systemzusammenhang und eine Regelmäßigkeit sowohl in<br />
den zu bearbeitenden Problematiken wie in <strong>der</strong>en Bearbeitung<br />
selbst; dies muss nicht bedeuten, dass humane Motive und<br />
Verfahren maßgebend werden, vor allem wäre das Geschehen
126<br />
Management und Steuerung<br />
missverstanden, wenn Hilfe als entscheidend gelten würde. Es<br />
geht schon um Kontrolle <strong>der</strong> Bevölkerung. Dem entspricht auf<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite, dass für die AdressatInnen die Hilfeleistung<br />
zugleich doch berechenbar wird. Als systematisches ist es aber<br />
bürokratisches Verwaltungshandeln, stets im Zwang, auf generalisiert<br />
definierte Anlässe mit standardisierten Formen zu reagieren,<br />
um gerichtlich Bestand zu wahren, als individualisiertes<br />
wirkt es immer willkürlich und ungerecht. Soziale <strong>Arbeit</strong> mag<br />
zwar als Hilfe und Kontrolle gelten, sie ist aber auch<br />
Verwaltung und Moral.<br />
4. Nüchtern betrachtet steht jedoch Sozialmanagement zunächst<br />
für einen eher äußerlichen, bloß terminologischen Wechsel von<br />
Bezeichnungen, <strong>der</strong> aber einen Wechsel von Semantiken<br />
andeutet, ohne unmittelbar eine Verän<strong>der</strong>ung in den tatsächlichen<br />
Gegebenheiten <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> auszusprechen; als<br />
symptomatisch für diese »unwesentliche« Bedeutung des<br />
Begriffs Sozialmanagement kann man ansehen, wenn Stephan<br />
Lessenichs Buch »Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe«, mit<br />
welchen er an die »Geschichtlichen Grundbegriffe« anknüpft<br />
und die historischen und aktuellen Diskurse <strong>der</strong> Sozialpolitik<br />
diskutiert, Sozialmanagement, Management und Steuerung<br />
nicht einmal im Register aufführt (vgl. Lessenich 2003). Auch<br />
fällt auf, wie die Diskurse unverbunden bleiben: »Sozialpädagogisches<br />
Denken« von Böhnisch, Schröer und Thiersch<br />
(2005) nimmt das Sozialmanagement schlicht nicht zur<br />
Kenntnis, umgekehrt kennen die Einführungen in das Sozialmanagement<br />
das sozialpädagogische Denken nicht.<br />
Sozialmanagement steht also zuerst – wie eine Vielzahl von<br />
Belegstellen zeigt – als Äquivalent für »Verwaltung«, genauer:<br />
»Administration«. Allerdings lässt sich kaum übersehen, wie<br />
<strong>der</strong> Ausdruck damit aufkommt, dass in die Soziale <strong>Arbeit</strong> neue,<br />
digitale Techniken eindringen und so verän<strong>der</strong>te <strong>Arbeit</strong>sformen<br />
und neue <strong>Arbeit</strong>sabläufe provozieren, dass zudem Strategien<br />
des Marketing, <strong>der</strong> Darstellung und <strong>der</strong> PR-<strong>Arbeit</strong> für die eige-
Management und Steuerung 127<br />
nen Organisationen sich durchsetzen. Er lässt sich kaum trennen<br />
von Aktivitäten einer Beeinflussung von Öffentlichkeit, um<br />
Mittel im Rahmen des fund raising zu akquirieren. Mit den<br />
Begriffen Sozialmanagement, Management und Steuerung verbinden<br />
sich somit doch unterschiedliche Intentionen, die sich<br />
als Begründungslinien zu einem Diskurs verweben:<br />
Zunächst for<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Begriff des »Sozialmanagement« ein<br />
höheres Bewusstsein für die Spezifika des <strong>Sozialen</strong> Sektors;<br />
strukturell zeichnet sich dieser als »intermediärer Bereich« aus,<br />
<strong>der</strong> uneindeutig geregelt wird (vgl. zum Folgenden auch:<br />
Merchel 2006, 41), nämlich durch eine Mischung von bürokratischen<br />
und marktförmigen Elementen mit solchen <strong>der</strong><br />
Solidarität und ethischen Normen 1 . Den sozialen Sektor<br />
bestimmen mithin drei unterscheidbare Handlungsimperative,<br />
nämlich solche einer Regulation durch die Solidarität im informellen<br />
Bereich gemeinschaftlichen Handelns, <strong>der</strong> Regulation<br />
durch Vertrag und Tausch auf dem Markt, einer bürokratischen<br />
Steuerung durch den Staat. Zudem muss man die wachsende<br />
Einflussnahme durch die mediale Öffentlichkeit nennen, in <strong>der</strong><br />
Auffor<strong>der</strong>ungen und Legitimationen entstehen, die wie<strong>der</strong>um<br />
von <strong>der</strong> Politik beachtet werden, die allen drei Imperativen folgen<br />
möchte.<br />
Sozialmanagement steht auch im Kontext des Versuchs, die<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> von ihrem Image bloßer Sozialverwaltung zu<br />
lösen, um einerseits den administrativen wie disziplinierenden<br />
Zug <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> vor<strong>der</strong>gründig abzustreifen, sowie die<br />
Erstarrung in bürokratischen Routinen zu überwinden, an<strong>der</strong>erseits<br />
den fachlichen Prinzipien des Handeln mehr Wirksamkeit<br />
zu verschaffen. Damit geht einher, dass dem ganzen Bereich<br />
<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> Bereich nicht nur höhere Eigenständigkeit, son<strong>der</strong>n<br />
geradezu die Qualität eines eigenen Systems zugebilligt<br />
wird; so bestehen Verbindungslinien zwischen <strong>der</strong> Systemtheorie<br />
als Begründung professionellen Handelns und dem<br />
Denken als Sozialmanagement. Zugleich eröffnet dies eine<br />
Perspektive, um Soziale <strong>Arbeit</strong> in die Nähe zu unternehmeri-
128<br />
Management und Steuerung<br />
schem Handeln zu bringen, das innerhalb seines systemischen<br />
Kontexts Freiheit und Selbstständigkeit einerseits, die<br />
Kompetenzen wirtschaftlicher Aktivitäten an<strong>der</strong>erseits benötigt.<br />
Im Kern zielt dies auf stärkere Professionalisierung, während<br />
jedoch das Interesse <strong>der</strong> kommunaler Träger sozialer<br />
Dienstleistungen eher auf Kostenreduktion gerichtet war und<br />
ist. 2<br />
Sozialmanagement steht überdies für eine Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
generellen Steuerung des <strong>Sozialen</strong> Sektors; <strong>der</strong> »Managementboom<br />
in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> [ist] Ausdruck des Umbaus und <strong>der</strong><br />
aktivierenden Neuprogrammierung von Sozialstaat und<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong>« (Galuske 2007, 335). Dieser wird anfällig<br />
(gemacht) für Einflussnahmen durch öffentliche und politische<br />
Debatten. Eine neue public policy entspricht dem, die als governance<br />
erwartet, dass die Bürger selbst stärker in das Geschehen<br />
eingebunden werden; das verlangt nach dem, was Foucault als<br />
Gouvernementalität analysiert. Phänomenologisch zeigt sich<br />
diese als Schwächung einer Steuerung durch Recht und Gesetz,<br />
mithin als Abbau von überprüfbaren und einklagbaren rechtlichen<br />
Normen zugunsten von tagespolitisch motivierten<br />
Programmen; so demonstrieren in Wahlkämpfen PolitikerInnen<br />
und Medien eine eigentümliche Nonchalance gegenüber klaren<br />
und eindeutigen rechtlichen Regelungen, verlangen zuweilen<br />
Gesetzesän<strong>der</strong>ungen, welche sich dem Verfassungsbruch<br />
nähern. Hinter dieser new policy verbirgt sich eine durchaus<br />
zweifelhafte Annahme: Sie besagt, dass mo<strong>der</strong>ne Gesellschaften<br />
einer zunehmenden Verän<strong>der</strong>ungsdynamik unterliegen<br />
und sich in einer Weise beschleunigen (vgl. Rosa 2005), die ein<br />
beständiges Nachjustieren sozialer Systeme o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong>en<br />
regelmäßige Überprüfung und Revision verlangen; längst zu<br />
Worthülsen verkommen (vgl. Bauman 2000). Der soziale<br />
Sektor dürfe demnach nicht mehr als – vermeintlich – starres<br />
System verwaltungsförmigen Handelns gestaltet werden, son<strong>der</strong>n<br />
müsse in sich dynamisch und flexibel werden; die Hilfen<br />
zur Erziehung haben dies unter den Stichworten »Flexi-
Management und Steuerung 129<br />
bilisierung« und »Integration« als Antwort auf die sogenannten<br />
»Versäulung« von Hilfeangeboten aufgenommen. Kurz: Weil<br />
das Ganze <strong>der</strong> Gesellschaft in Bewegung gerät, müsse <strong>der</strong><br />
Soziale Sektor selbst offener und dynamischer werden;<br />
Sozialmanagement soll dies gewährleisten und zugleich im<br />
Griff behalten. Nur: Solche Entwicklungen zur Dynamisierung<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft vollziehen sich gemeinsam mit Verhärtungen,<br />
in welchen sich klassische Strukturmuster kapitalistischer<br />
Gesellschaften wie<strong>der</strong> durchsetzen und Gewalt über Menschen<br />
gewinnen. Prozesse <strong>der</strong> Ausgrenzung, vor allem: Verelendungsvorgänge<br />
vollziehen sich an den Scheidelinien zwischen<br />
Kapital und <strong>Arbeit</strong>, wie die wachsende Gruppe <strong>der</strong>jenigen<br />
belegt, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen ein<br />
<strong>Arbeit</strong>seinkommen erzielen, das zur Existenzsicherung nicht<br />
hinreicht.<br />
Darin deutet sich die an<strong>der</strong>e Seite des Sozialmanagements an: Es<br />
wird eingeführt, um die Steuerung von den alten Imperativen zu<br />
lösen und mehr – vermeintlich sachbezogen – politischer<br />
Programmatik zu folgen. Zu dieser gehört, dass von den erreichten<br />
Effekten her gedacht werden soll. Die Ziele selbst stehen<br />
nicht zur Debatte, Management aber soll erreichen, dass sie verwirklicht<br />
werden. Mehr noch: untergründig wirkt <strong>der</strong> Wunsch<br />
nach absoluter Effizienzsteigerung. Mit einem Minimum an<br />
Aufwand, möglichst unter Aktivierung <strong>der</strong> eigenen Ressourcen<br />
sollen die Beteiligten, Adressaten wie soziale Dienste, die ihnen<br />
vorgegebenen Ziele selbst verwirklichen. Vom aktivierenden<br />
Staat verspricht sich die Sozialpolitik den höchsten Nutzen.<br />
Management provoziert dann bei aller Knappheit <strong>der</strong> Mittel<br />
Wirkungen, weil es schlichten Druck erzeugt. Dieser Druck trägt<br />
einen Namen: Messen. Die Steuerung erfolgt über Kenndaten<br />
und Eckwerte, über Standards, welchen sich die Beteiligten<br />
selbst verpflichten (müssen). Wer ihnen nicht genügt, wird vom<br />
Markt genommen – längst sitzen Einrichtungen <strong>der</strong> sozialen<br />
<strong>Arbeit</strong> mit ihrer Klientel in einem Boot. Denn diese Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> lässt sich nur mit Fachkräften verwirklichen, die schlech-
130<br />
Management und Steuerung<br />
ter ausgebildet, wenigstens aber jünger sind. Insofern sinkt wohl<br />
mit wachsen<strong>der</strong> Aufmerksamkeit auf managerielle Prozesse und<br />
Steuerung die Qualität <strong>der</strong> Leistung, so weit die KlientInnen<br />
betroffen sind.<br />
Endlich symbolisiert Sozialmanagement die hegemoniale<br />
Durchsetzung von Denkweisen und Praktiken, die als Ökonomisierung<br />
bezeichnet werden. Dabei geht es weniger um die<br />
Frage nach materiellen Bedingungen o<strong>der</strong> fiskalischen<br />
Restriktionen (diese bestanden im Feld <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
schon immer). Den paradigmatischen Wechsel bezeugt die neue<br />
Wahrnehmung <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> als »Produktion personenbezogener<br />
sozialer Dienstleistungen« (Karsten 2005, 1760);<br />
dabei lassen sich ein sozialtechnokratisches, ein gruppen- bzw.<br />
interaktionsdynamisch orientiertes, ein sozialplanerisches,<br />
sowie ein innovationsorientiertes, sozialpolitisches Konzept<br />
unterscheiden, zudem könne man Sozialmanagement als<br />
»Metakonzept« fassen (Karsten ebenda). Immer geht es jedoch<br />
darum zu verstehen und zu regeln, wie entwe<strong>der</strong> das Soziale<br />
schlechthin o<strong>der</strong> – vorzugsweise – die sozialen Dienstleistungen<br />
als Produkte und Erzeugnisse hervorgebracht werden;<br />
Wertschöpfung, Erzeugnis, Güterherstellung, Umwandlung<br />
des Objektiven stehen im Fokus, nicht mehr die gemeinsame<br />
Praxis handlungsfähiger und sinnorientierter Subjekte in<br />
ihrem ethisch qualifizierten Lebens- und Bildungsprozess. Zum<br />
an<strong>der</strong>en steht das Managementkonzept in großer Nähe zur<br />
Durchsetzung von Wettbewerbsstrukturen, die Überprüfung<br />
und Reduktion von Kosten einerseits, an<strong>der</strong>erseits eine<br />
Erhöhung <strong>der</strong> Qualität von Leistungen zu bewirken vorgibt, die<br />
sowohl den Aufwandsträgern, also den Kommunen, wie den<br />
betroffenen Adressaten zu Gute kommen soll (vgl. Merchel<br />
2006). Unklar bleibt in einem solchen Produktionsverständnis<br />
von Sozialer <strong>Arbeit</strong>, was als das Produkt zu fassen ist und ob<br />
ein solches mehr o<strong>der</strong> maschinell zu erzeugen ist: Das<br />
Wohlverhalten <strong>der</strong> Adressaten? Ihre Integration? Ihre<br />
Entwicklung und ihr Lernen?
Management und Steuerung 131<br />
5. Hinter <strong>der</strong> Idee und dem Konzept des Managements verbirgt<br />
sich ein alter Traum <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, <strong>der</strong> sich auf die Natur bezog,<br />
dann auf Gesellschaft und Kultur, indem sie diese selbst noch<br />
naturalisiert und wo ihr dies nicht gelingt, im Begriffe des<br />
Sachzwangs als unabän<strong>der</strong>licheres Geschehen behauptet: Sie<br />
will Ordnung schaffen, Kategorien und System einführen,<br />
Zuordnungen vornehmen, welche eine technische Beherrschung<br />
und Regelung <strong>der</strong> Phänomene <strong>der</strong> sozialen wie kulturellen<br />
Welt erlauben. Dazu bedient sie sich verschiedener<br />
Einteilungen, einer Feststellung von Ursache und Wirkung o<strong>der</strong><br />
einer Festsetzung von Relevanzen. Der normative Charakter<br />
des Geschehens bleibt jedoch verschleiert. Denn alles soll wissensbasiert<br />
geschehen, aufgespannt zwischen einer apriorisch<br />
festgestellten o<strong>der</strong> gesetzten rationalen Systematik einerseits,<br />
einer experimentell gestützten Ordnung an<strong>der</strong>erseits; diese<br />
Spannung lässt sich bis heute als ein Konflikt zwischen den<br />
akademisch Ausgebildeten, welchen neuen Theorien und<br />
Modellen folgen, und den Erfahrenen verfolgen, welche im<br />
schlimmsten Fall noch für ihre Routinen denunziert werden.<br />
Das Programm <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne geht also mit einer Zerstörung von<br />
humaner Erfahrung einher; es delegitimiert diese, um an die<br />
Stelle einer moralische Ökonomie eine Ökonomie zu setzen,<br />
welche einer an<strong>der</strong>en Rationalität folgt. Sie wird als durch<br />
Vernunft begründet und auf experimentelles Wissen gestützt<br />
behauptet. Der Verweis auf Vernunft und Experiment scheint zu<br />
genügen, um die nun gesetzten Normen zu rechtfertigen; in <strong>der</strong><br />
jüngeren Zeit wird dies sichtbar an den Standards und bench<br />
marks, welche als Maßstab des Handelns in den sozialen<br />
Fel<strong>der</strong>n wie des Bildungssystems gelten. Die Frage nach den<br />
Normen, welche <strong>der</strong> Systematik <strong>der</strong> Ordnungen wie <strong>der</strong> den<br />
Aktivitäten zugrunde liegt, wird beiseite geschoben, dass sie<br />
gesetzt sind, entzieht sich <strong>der</strong> Wahrnehmung. Standards und<br />
bench marks kommen jenseits <strong>der</strong> öffentlichen, selbst <strong>der</strong> politisch<br />
legitimierten Auseinan<strong>der</strong>setzung zustande. Es sind<br />
ExpertInnen, manchmal selbst ernannt, oft geheiligt durch
132<br />
Management und Steuerung<br />
Interessensgruppen, Gurus <strong>der</strong> Verbände und Institute, welche<br />
die Maßstäbe festsetzen, an welchen sich alles messen lassen<br />
muss. Dass die Verfechter des Sozialmanagements regelmäßig<br />
ethische Verpflichtungen ansprechen und for<strong>der</strong>n, hat Züge verzweifelter<br />
Ironie; sie sind blind für die Geister, die sie selbst<br />
riefen. Management ist Technik, Instrument, welche Normativität<br />
nur vollzieht, über diese aber nicht verfügt. Das gilt noch<br />
für das Handeln selbst. Management unterliegt <strong>der</strong> Steuerung,<br />
Einfluss auf diese darf es nicht nehmen, es hat zu optimieren.<br />
Dies geschieht durch Programme mit zynisch offenen<br />
Leitformeln, welche einer Kritik entzogen werden: For<strong>der</strong>n<br />
und För<strong>der</strong>n, <strong>der</strong> aktivierende Sozialstaat, sogar Empowerment<br />
gehören dazu, verraten noch, wie die Soziale <strong>Arbeit</strong> selbst die<br />
Stichworte gibt. Verantwortung sollen die Einzelnen nehmen,<br />
für Bedingungen, auf die sie keinen Einfluss haben, welche<br />
aber sorgfältig durch Steuerung verteilt werden. Steuerung<br />
erklärt dabei Bedingungen für relevant und zulässig, an<strong>der</strong>e<br />
verfallen hingegen dem Verdikt des Obsoleten. Foucault hat<br />
diese Herrschaftstechnik mit dem Begriff des Dispositivs<br />
gefasst: Regierung erfolgt, indem Zuständigkeiten und<br />
Aufgaben verteilt werden, das soziale Feld geordnet wird, um<br />
am Ende Effektivität und Effizienz an den Kriterien zu messen,<br />
welche unabhängig und wissenschaftlich gewonnen wurden.<br />
Man sollte sich also besser nichts vormachen: Die<br />
Gesellschaften und ihre Kulturen bestimmen die Möglichkeiten<br />
menschlicher Lebenspraxis, mit <strong>der</strong> Autonomie ist es so weit<br />
nicht her. Produktionsverhältnisse bestimmen Lebensbedingungen<br />
und Lebenslagen, machen wahrscheinlich, dass man<br />
in Armut lebt, dauerhaft und über Generationen. Lebenschancen<br />
werden verteilt und zugeordnet, am Ende sind noch<br />
dramatische Ereignisse sozial bestimmt. Durkheim hat dies<br />
gezeigt, als er den Suizid als soziale Größe enthüllte, unser<br />
Wissen über Armut macht dies deutlich, zuletzt etwa erneut in<br />
ihren Folgen für Bildungsprozesse. Was Ausgrenzung und<br />
Einschließung mit Menschen anstellen, ist nicht min<strong>der</strong>
Management und Steuerung 133<br />
bekannt, die Dynamik von Krisen vollzieht sich nach Mustern.<br />
Die Verhältnisse bestimmen noch, wie die Akteure ihre Kin<strong>der</strong><br />
betreuen – und zuweilen kann man politischen und gesetzgeberischen<br />
Entscheidungen voraussagen, welche Katastrophen sie<br />
erzeugen: Dass die nach Hartz, einem veritablen Kriminellen,<br />
benannten neuen Sozialgesetze in Deutschland Familien und<br />
Kin<strong>der</strong> in die Armut treiben, war im Umfang auf die Stelle hinter<br />
dem Komma prognostiziert; es ist so eingetreten. Dass<br />
Familien, die <strong>der</strong> Höhe ihrer Miete wegen, Wohnungen aufgeben<br />
und in anonyme Plattenbauten umziehen müssen, isoliert<br />
und mit <strong>der</strong> Betreuung ihrer Kin<strong>der</strong> überfor<strong>der</strong>t werden, ist<br />
wahrscheinlich – und ebenfalls eingetreten. Dass Fallmanager<br />
anstelle von Sozialarbeitern nur die Aktenlage und Geldtransfers<br />
kennen, um die Personen und ihre konkrete<br />
Lebensweise, um eben <strong>der</strong>en »schmuddeligen Alltag« aber<br />
nicht mehr wissen, mag zwar mit <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung von<br />
Eigenverantwortung gerechtfertigt werden, intensive persönliche<br />
Betreuung, <strong>der</strong> Aufbau von Beziehungen werden damit<br />
aber unwahrscheinlich. Dass Management-Kulturen Unternehmen<br />
in Bewegung bringen, gehört vielleicht zu ihren unabdingbaren<br />
Effekten, welche zu wünschen sind, wenn sich<br />
Märkte verän<strong>der</strong>n. Aber darin klingt <strong>der</strong> Zynismus an: Sind<br />
Elend und Not marktförmiges Geschehen, sind die Adressaten<br />
sozialer <strong>Arbeit</strong> wirklich Kunden – mit Recht auf Wi<strong>der</strong>spruch<br />
und Anspruch auf Garantie?<br />
Gleichwohl: das Soziale ist kontingent; das gilt für Gesellschaften<br />
und Kulturen in ihrer jeweils umfassenden<br />
Gesamtheit, das gilt erst recht für die mittleren sozialen<br />
Zusammenhänge, für Familien und Beziehungen, zuletzt für<br />
den Einzelnen selbst. Sichtbar wird solche Kontingenz gesellschaftlich<br />
und kulturell an dem, was ästhetische Erfahrung<br />
heißt, an <strong>der</strong> Differenz mithin <strong>der</strong> Kunst. Sichtbar wird solche<br />
Kontingenz, wenn Einzelne sich verweigern o<strong>der</strong> den eigenen<br />
Weg gehen – gegenüber den Zumutungen, die ihnen angetan<br />
werden. Als Resilienz wird das zum Thema <strong>der</strong> Forschung. Das
134<br />
Soziale ist kontingent, weil Gesellschaften und Kulturellen<br />
nicht bloß komplex sind, son<strong>der</strong>n sich in Verän<strong>der</strong>ungsprozessen<br />
befinden; was Management erfor<strong>der</strong>lich macht, wird<br />
somit zum stärksten Argument gegen dieses: Weil unterschiedliche<br />
Entwicklungen möglich sind, können nur Möglichkeitsräume<br />
erschlossen und ausgelotet, aber eben nicht systematisch<br />
ausgestaltet werden.<br />
Management und Steuerung, die solche Offenheit nicht zu ihrer<br />
eigenen Aufgabe machen, die Herstellung von Alternativen<br />
nicht in das Zentrum ihres Tuns heben, son<strong>der</strong>n Kategorien und<br />
Klassifikationen schaffen, denen folgend sie Menschen bearbeiten,<br />
enthüllen sich als Formen von bloßer Herrschaft und<br />
Machtausübung. Darin liegt dann die Grenze des Sozialmanagements,<br />
<strong>der</strong> Punkt, an dem es in grenzenlose Herrschaft<br />
und Machtausübung umschlagen kann. So ist kein prinzipieller<br />
Einwand gegen Management geboten, wohl aber einer, <strong>der</strong> sich<br />
auf die Voraussetzungen und Imperative des Geschehens richtet.<br />
Man darf gestalten und Vernunft dafür in Anspruch nehmen,<br />
wenn das Soziale mit Freiheit und damit verbunden wird, dass<br />
man Freiheit ethisch qualifiziert nutzen kann.<br />
Anmerkungen<br />
Management und Steuerung<br />
1 wobei sich zudem eine Personalsituation auswirkt, die sich durch professionelle,<br />
bloß verberuflichte, fachfremd ausgebildete, ehrenamtliche<br />
und als Laien tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auszeichnet<br />
...<br />
2 KritikerInnen übersehen jedoch häufig, wie Sozialmanagement<br />
zuweilen selbst eine kritische Absicht gegenüber den Praktiken einer<br />
Verwaltungsreform verfolgt, welche unter dem Etikett »Neue<br />
Steuerung« eingeführt wird; diese wird in Deutschland insbeson<strong>der</strong>e<br />
von <strong>der</strong> Kommunalen Gemeinschaftsstelle, einer Art Think Tank <strong>der</strong><br />
Kommunen aufgegriffen, welche einerseits dem Subsidiaritätsprinzip<br />
verpflichtet sind, an<strong>der</strong>erseits einem zunehmenden Einspardruck
Management und Steuerung 135<br />
unterliegen. Die Kommunale Gemeinschaftsstelle (KGSt) greift dabei<br />
auf Erfahrungen in den Nie<strong>der</strong>landen zurück, die eine Verwaltungsreform<br />
praktizieren, welche das klassische Modell <strong>der</strong> »Input-<br />
Steuerung« zugunsten einer »Output-Steuerung« favorisiert:<br />
Leistungen <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltung insbeson<strong>der</strong>e im<br />
Wohlfahrtssektor sollen demnach prioritär an ihren Ergebnissen<br />
gemessen werden.<br />
Literatur<br />
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Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />
Elisabeth Hammer<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> politischen Ära des Neoliberalismus ist seit<br />
Mitte <strong>der</strong> 1990er Jahre eine Neustrukturierung von Zielrichtungen<br />
und Praktiken von Sozialpolitik und Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />
im Gange. Mit den Begriffen »Standortsicherung« und<br />
»Wettbewerbsfähigkeit« werden zwei Paradigmen eingeführt,<br />
an denen sich jegliche wohlfahrtsstaatliche Erneuerung nunmehr<br />
zu orientieren hat (vgl. Hammer 2006).<br />
Diskursiv wurde die Etablierung eines neoliberalen<br />
Sozialmodells bisher in erster Linie über Konzepte <strong>der</strong><br />
»Aktivierung« durchgesetzt. Vorausgesetzt und eingefor<strong>der</strong>t<br />
wurde hierbei eine spezifische Eigenleistung, um in weiterer<br />
Folge eine sozialstaatliche Gegenleistung in Anspruch nehmen<br />
zu können. Zug um Zug setzte sich, insbeson<strong>der</strong>e im Feld <strong>der</strong><br />
<strong>Arbeit</strong>smarktpolitik und zunehmend auch sichtbar in <strong>der</strong><br />
Jugendhilfe, eine Sozialpolitik durch, die »den Einsatz von verhaltensregulierenden<br />
und -kontrollierenden Interventionsmitteln<br />
[ermöglicht] und […] Abschreckung sowie Druck und<br />
Zwang zur Konformität wie<strong>der</strong> gesellschaftsfähig [macht]«<br />
(Dahme/Wohlfahrt 2002, 20).<br />
Im Zuge <strong>der</strong> Debatte um die Existenz und die Merkmale einer so<br />
genannten »neuen Unterschicht« hat dieser Aktivierungsdiskurs<br />
nun neuen Rückenwind erhalten. Angestoßen wurde die Debatte<br />
durch Paul Nolte, <strong>der</strong> 2004 für Deutschland die Herausbildung<br />
einer »neue Unterschicht« konstatierte, die sich durch einen spezifischen<br />
verwahrlosten, unmündigen und unselbstständigen<br />
Lebensstil auszeichnet. Im Verständnis von Nolte scheint dieser<br />
»Schicht« vieles zu fehlen, die Bandbreite reicht hier »von <strong>der</strong><br />
Erwerbsfähigkeit bis zur Kompetenz, Kin<strong>der</strong> zu erziehen o<strong>der</strong><br />
sich vernünftig zu ernähren, ja, selbst eine gekochte Mahlzeit auf<br />
den Tisch zu bringen« (Nolte, in Chassé 2007, 22).
138<br />
Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />
Bei dieser Debatte geht es allerdings nicht um die Frage eines<br />
durch die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse<br />
verän<strong>der</strong>ten Klassen- und Schichtmodells und einer damit im<br />
Zusammenhang stehenden möglichen Spaltung <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />
Ziel ist es vielmehr spezifische Phänomene als kulturbedingt<br />
umzudeuten und ihre Ursachen zu individualisieren. Zu<br />
Recht konstatieren Kessl, Reutlinger und Ziegler (2007, 10) in<br />
diesem Zusammenhang, dass die Debatte um eine »neue<br />
Unterschicht« als »Motor für politische Positionierungen dient,<br />
die sich vom bisherigen ›Lösungsmodell‹, dem Modell <strong>der</strong><br />
Wohlfahrtsstaatlichkeit, aber verabschieden wollen.« Gefahr<br />
besteht, dass auch differenziertere Befunde sozialer und gesellschaftlicher<br />
Verän<strong>der</strong>ungen für die neoliberal-konservative<br />
Ausrichtung <strong>der</strong> Debatte verkürzt und verfremdet werden.<br />
Legitimiert werden soll in <strong>der</strong> Folge eine Sozialpolitik, die<br />
nicht nur – ganz in <strong>der</strong> Logik auch bisheriger Aktivierungspolitik<br />
– Transferleistungen zurückfährt, um Potenziale von<br />
»Eigeninitiative« und »Selbstverantwortung« zwangsweise zu<br />
stärken, son<strong>der</strong>n auch bei <strong>der</strong> Inanspruchnahme von sozialen<br />
Leistungen paternalistische und strafandrohende Betreuungsformen<br />
durchsetzt, um eine umfassende Anpassung an arbeitsmarktpolitische<br />
Normen und bürgerliche Leitbil<strong>der</strong> zu erreichen.<br />
An<strong>der</strong>s als im Zuge <strong>der</strong> bisherigen Debatten zur<br />
Aktivierung scheint <strong>der</strong> Diskurs um die »neue Unterschicht«<br />
nun noch eindeutiger und unverschleierter als bisher einen<br />
direkten erzieherischen Zugriff auf die Individuen, aufgrund<br />
eben ihrer identifizierten kulturellen Defizite, als notwendige<br />
Reformmaßnahme für die Ausrichtung sozialpolitischer und<br />
sozialarbeiterischer Programme vorzuschlagen (vgl. Kessl<br />
2005; Heite et al. 2007).<br />
Angesichts dieses Diskursverlaufes wird deutlich, dass <strong>der</strong><br />
Begriff <strong>der</strong> »Unterschicht« zunehmend seiner ursprünglich auf<br />
ökonomische Ursachen fokussierten Bedeutungen beraubt und<br />
<strong>der</strong>zeit ausschließlich als kulturelles Phänomen gedeutet wird.<br />
Im Gegenzug dazu hat sich für die Analyse gegenwärtiger
Neue Unterschicht und soziale Sicherung 139<br />
gesellschaftlicher Spaltungstendenzen <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> »Prekarität«<br />
als hilfreich erwiesen – insbeson<strong>der</strong>e auch deshalb, weil er<br />
die Dynamik gesellschaftlicher (Des-)Integration durch<br />
Erwerbsarbeit veranschaulicht und so neue Ungleichheiten<br />
sichtbar machen hilft, die die vertikale Klassen- und<br />
Schichtungsstruktur ergänzen und überlagern.<br />
»Prekarität« als Ansatzpunkt zur Analyse von<br />
erwerbsgesellschaftlichen Entwicklungen<br />
Die Spaltung <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft in Folge ökonomischer<br />
und politischer Entwicklungen hat Robert Castel (2000) herausgearbeitet.<br />
Er unterscheidet dabei eine »Zone <strong>der</strong><br />
Integration« mit geschützten Normalarbeitsverhältnissen von<br />
einer »Zone <strong>der</strong> Entkoppelung« von Gruppen an »Entbehrlichen«<br />
und »Überflüssigen«, die mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> dauerhaft<br />
von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind.<br />
Dazwischen verortet er eine »Zone <strong>der</strong> Prekarität«, die eine<br />
Bündelung heterogener, nicht dauerhaft Existenz sichern<strong>der</strong><br />
und damit »verwundbarer« Beschäftigungsverhältnisse bildet.<br />
Für Deutschland haben Dörre, Kraemer und Speidel (2004) versucht,<br />
die Integrations- bzw. Desintegrationspotenziale von Erwerbsarbeit<br />
zu veranschaulichen. Basierend auf einer qualitativen<br />
Erhebung haben sie den drei Castel’schen Zonen jeweils zwei bis<br />
vier unterschiedliche Typen zugeordnet und in <strong>der</strong> Folge auch<br />
ihre jeweilige quantitative Ausprägung erhoben. Obwohl in die<br />
»Zone <strong>der</strong> Integration« insgesamt 80,6% <strong>der</strong> Befragten zugeordnet<br />
werden konnten, entfallen immerhin 33,1% auf den Typus <strong>der</strong><br />
so genannten »Abstiegsbedrohten« und 12,9% auf die »Verunsicherten«.<br />
Gemeinsam mit 13,8% in <strong>der</strong> »Zone <strong>der</strong> Prekarität«<br />
und 1,7% in <strong>der</strong> »Zone <strong>der</strong> Entkoppelung«, muss man von mehr<br />
als 60% an Befragten ausgehen, die nicht länger von <strong>der</strong> für den<br />
fordistischen Wohlfahrtsstaat üblichen stabilen, gesellschaftlichen<br />
Integrationskraft von Erwerbsarbeit erfasst werden.
140<br />
Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />
Die Mehrheit <strong>der</strong> erwachsenen Bevölkerung ist somit entwe<strong>der</strong><br />
unmittelbar von Prekarisierung betroffen o<strong>der</strong> aufgrund des<br />
prekären Potenzials ihrer Beschäftigungsform mit Prekarisierungsängsten<br />
konfrontiert. Prekäres Potenzial, das die allermeisten<br />
Formen von flexibler, atypischer Beschäftigung auszeichnet,<br />
ist häufig mit einem nicht dauerhaft Existenz sichernden<br />
Erwerbseinkommen bzw. einer permanenten Beschäftigungsunsicherheit,<br />
einer Aushöhlung von sozialen Sicherheitsgarantien,<br />
einem Mangel an kollektiver Interessensvertretung<br />
sowie einem benachteiligten Zugang zu betrieblichen<br />
Anrechten und Privilegien verbunden (vgl. Kraemer/Speidel<br />
2005, 379f). Da atypische Beschäftigungsformen quantitativ<br />
auf dem Vormarsch sind und durch eine Vielzahl an<br />
Deregulierungsmaßnahmen seitens <strong>der</strong> Gesetzgeber eine Re-<br />
Kommodifizierung von Erwerbsarbeit eingeläutet wird, ist<br />
davon auszugehen, dass Prekarisierungserfahrungen und -ängste<br />
noch weiter zunehmen werden.<br />
Prekarisierung bewirkt Disziplinierung,<br />
Desintegration und soziale Unsicherheit<br />
Neben dem Desintegrationspotenzial einer Re-Kommodifizierung<br />
von Erwerbsarbeit muss allerdings auch ein neuer<br />
Integrationsmechanismus beachtet werden: Für jene, die (noch)<br />
über ein Normalarbeitsverhältnis verfügen und <strong>der</strong> »Zone <strong>der</strong><br />
Integration« zuzuordnen sind, wirkt die zunehmende<br />
Prekarisierung durchaus als marktförmiger Disziplinierungsmechanismus.<br />
Der gesellschaftliche Integrationsmodus wird<br />
somit »von Teilhabe auf Disziplinierung, Einschüchterung und<br />
Folgebereitschaft« (Kraemer/Speidel 2005, 382) umgestellt.<br />
Prekarisierung wird damit zu einem »Macht- und Kontrollsystem,<br />
dem sich in <strong>der</strong> gespaltenen <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft auch<br />
die formal Integrierten nicht zu entziehen vermögen.«<br />
(Dörre/Fuchs 2005, 29)
Neue Unterschicht und soziale Sicherung 141<br />
Die gegenwärtigen Verän<strong>der</strong>ungen führen nicht nur zu<br />
Spaltungstendenzen am <strong>Arbeit</strong>smarkt, son<strong>der</strong>n auch zur<br />
Aushöhlung <strong>der</strong> sozialen Sicherungssysteme – und wie Castel<br />
hinweist (2005, 44) auch <strong>der</strong> öffentlichen Dienste und kollektiven<br />
Vertretungsinstanzen. Da soziale Erwartungen bezüglich<br />
<strong>der</strong> Teilhabe am wirtschaftlichen Fortschritt und gesellschaftlichen<br />
Wohlstand enttäuscht werden, kommt es in <strong>der</strong> Folge zu<br />
einer sozialen Verunsicherung nicht nur <strong>der</strong> unteren Schichten,<br />
son<strong>der</strong>n weiter Teile <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />
Diese soziale Unsicherheit, als wahrgenommene Bedrohung<br />
von individuellen Lebensplänen, umfassen<strong>der</strong>en Lebenskonzepten<br />
und auch berufsbiographischen Identitäten (vgl.<br />
Kraemer/Speidel 2005, 376), ist in <strong>der</strong> Meinung von Castel<br />
»wie ein Virus, <strong>der</strong> das Alltagsleben durchdringt, die sozialen<br />
Bezüge auflöst und die psychischen Strukturen <strong>der</strong> Individuen<br />
unterminiert […]« (Castel 2005, 38). Dörre und Fuchs bestätigen<br />
diese Einschätzung mit Blick auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse:<br />
»vielfach bewirken sie Anerkennungsdefizite und<br />
eine Schwächung <strong>der</strong> Zugehörigkeit zu sozialen Netzen, die<br />
eigentlich dringend benötigt würden, um den Alltag einigermaßen<br />
zu bewältigen.« (Dörre/Fuchs 2005, 27). Zusammenfassend<br />
muss festgehalten werden dass Prekarisierungsprozesse<br />
das funktionale, aber auch symbolische, auf sozialen Status<br />
orientierte, Integrationspotenzial von Erwerbsarbeit schwächen<br />
(Kraemer/Speidel 2005, 372).<br />
Angesichts <strong>der</strong> Ausbreitung von Prekarisierungserfahrungen<br />
und -ängsten muss die Soziale <strong>Arbeit</strong> ihre Mitwirkung an <strong>der</strong><br />
Herstellung von sozialer Unsicherheit sowie an <strong>der</strong><br />
Marginalisierung von betroffenen Gruppen – auch über das<br />
umgrenzte Feld <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>smarktpolitik hinaus – kritisch<br />
beleuchten. Die Entwicklungen <strong>der</strong> letzten Jahre scheinen zu<br />
bestätigen, dass <strong>der</strong> Sozialstaat zunehmend nicht mehr als<br />
Armutsbekämpfer, son<strong>der</strong>n als Ausgrenzungsför<strong>der</strong>er in<br />
Erscheinung tritt (vgl. Buhr 2005, 197) und sich die Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> in die Rolle einer Exklusionsverwalterin einrichtet,
142<br />
Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />
<strong>der</strong>en Bedeutung – so wie von Scherr (1999) vorhergesehen –<br />
deutlich zugenommen hat.<br />
Soziale Sicherung auf dem Prüfstand<br />
Die Umbrüche <strong>der</strong> Erwerbsarbeitsgesellschaft zeigen die Grenzen<br />
gegenwärtiger Formen von sozialstaatlicher Sicherung auf<br />
und ermöglichen darüber hinaus auch eine Re-Aktualisierung<br />
struktureller Schwächen konservativ-korporatistischer Wohlfahrtsstaaten<br />
wie Österreich und Deutschland.<br />
Grundlegend muss – im Sinne eines »revolutionär-konservativen<br />
Doppelgesichts <strong>der</strong> Sozialpolitik« (Heimann 1981 [1929])<br />
anerkannt werden, dass mit dem System sozialer Sicherung<br />
neben seinen integrativen und absichernden Errungenschaften<br />
in allen Fällen auch disziplinierende, kontrollierende und ausgrenzende<br />
Wirkungen verbunden waren und sind. Die <strong>der</strong>zeitigen<br />
sozialstaatlichen Verän<strong>der</strong>ungen, die insbeson<strong>der</strong>e im Anschluss<br />
an die Hartz-Reformen in Deutschland kritisch diskutiert<br />
wurden (vgl. z.B. Dahme/Otto/Wohlfahrt 2003), spiegeln<br />
diesbezüglich substanzielle Verschärfungen wi<strong>der</strong>, sind allerdings<br />
einer sozialstaatlichen Logik nicht grundsätzlich fremd.<br />
Die Kritik am gegenwärtigen Sozialstaatsmodell muss an folgenden<br />
Aspekten ansetzen, die ihrerseits stark miteinan<strong>der</strong> verknüpft<br />
sind:<br />
– Der Sozialstaat ist in seiner starken Orientierung als<br />
Sozialversicherungsstaat in erster Linie auf die Bedürfnisse von<br />
Lohnabhängigen hin orientiert und wirkt diesbezüglich auch<br />
disziplinierend. Bedarfslagen, die in Erwerbsarbeit nicht o<strong>der</strong><br />
nur mangelhaft integrierte Gruppen betreffen, sind seit jeher<br />
nachrangig im Rahmen <strong>der</strong> Sozialhilfe (als reformierte<br />
Armenfürsorge) bearbeitet worden. Konstitutiv für diesen<br />
Bereich ist ein deutlich verschlechterter Zugang zu sozialen<br />
Rechten und materieller Sicherung, gekoppelt mit paternalistischen<br />
Ansprüchen zu Unterordnung und Anpassung.
Neue Unterschicht und soziale Sicherung 143<br />
- Desweiteren ist die ausgeprägte Statusorientierung sozialer<br />
Sicherung (d.h. die Aufrechterhaltung von Unterschieden zwischen<br />
Bevölkerungsgruppen durch eine Segmentierung von<br />
Leistungen) kritisch zu beleuchten. Diese wurde zwar in gewissen<br />
Aspekten (insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> Krankenversicherung) abgeschwächt,<br />
ist aber ansonsten immer noch typisches Kennzeichen<br />
eines Sozialstaates Bismark’scher Prägung. Gerade<br />
atypische und prekäre Beschäftigungsformen werden durch<br />
dieses System strukturell kaum erfasst, Hierarchien und<br />
Statusunterschiede setzen sich so vom <strong>Arbeit</strong>smarkt auch in<br />
an<strong>der</strong>e Lebensbereiche fort und erhöhen gesellschaftliche<br />
Spaltungen.<br />
– Nicht zuletzt aufgrund <strong>der</strong> vorgenannten Aspekte ist <strong>der</strong> deutsche<br />
und österreichische Sozialstaat als stark geldleistungsorientiert<br />
zu bezeichnen (vgl. Badelt/Österle 2001, 21;<br />
Benz/Böckh 2005, 84). Teilhabe wurde und wird in allererster<br />
Linie über eine Integration am Erwerbsarbeitsmarkt bzw. über<br />
Transfers sichergestellt, nicht aber über einen Zugang zu<br />
öffentlichen Dienstleistungen im Bereich Verkehr, Wohnen,<br />
Kultur und Soziales. Gerade aber auf die Bedeutung von<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> als Teil <strong>der</strong> sozialen Dienste – von<br />
Böhnisch/Arnold/Schröer (1999) als »lebendiges Inventar <strong>der</strong><br />
Sozialpolitik« bezeichnet – wird gemeinhin in Grundlagentexten<br />
zur Sozialpolitik nicht o<strong>der</strong> nur am Rande verwiesen<br />
(vgl. Tálos 2005, Badelt/Österle 2001)<br />
– Diese Ausführungen deuten auch auf die starke Rolle von<br />
familialen Leistungen im Zusammenhang mit sozialer<br />
Sicherung hin, <strong>der</strong>en Erbringung historisch den Frauen zugewiesen<br />
wurde. Der Sozialstaat baut so auf einer Hierarchisierung<br />
von (bezahlter) Erwerbsarbeit für den männlichen<br />
Ernährer (»breadwinner«) und (unbezahlter) Familienarbeit<br />
durch die weibliche Versorgungsarbeiterin (»care taker«) auf<br />
(vgl. Lewis 1992) und nutzt Frauen als »unsichtbare<br />
Ressource« (Zan<strong>der</strong> 1997: 31). Die damit verbundene grundsätzliche<br />
Inadäquatheit gegenwärtiger Strukturen für die sozia-
144<br />
Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />
le Sicherung von Frauen sowie für die Vereinbarkeit von<br />
Erwerbsarbeit und Sorgetätigkeiten – für beide Geschlechter! –<br />
ist kritisch zu konstatieren.<br />
In jedem Fall ist ein Umbau des Systems sozialer Sicherung<br />
notwendig. Die Dringlichkeit einer Reform erhöht sich nicht<br />
zuletzt dadurch, dass eine Beibehaltung des Gegenwärtigen<br />
eine automatische Verschärfung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Spaltungstendenzen<br />
bedeuten würde.<br />
Neue Wege <strong>der</strong> sozialen Sicherung<br />
Angesichts dieser Entwicklungen haben Ideen zur Einführung<br />
eines »bedingungslosen Grundeinkommens« Hochkonjunktur.<br />
Der grundsätzliche Gedanke eines »bedingungslosen Grundeinkommens«,<br />
wie er von neoliberalen Ökonomen in <strong>der</strong><br />
Tradition von Milton Friedman, aber auch von liberalen und<br />
linksalternativen Gruppierungen vertreten wird, bricht mit zentralen<br />
Bedingungen eines bislang erwerbsorientierten Systems<br />
sozialer Sicherheit und besteht in einer Entkoppelung von<br />
Erwerbsarbeit und Existenzsicherung: Ein Grundeinkommen,<br />
das als individueller Rechtsanspruch ohne Bedürftigkeitsprüfung<br />
konzipiert ist, impliziert we<strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>sgebote noch<br />
<strong>Arbeit</strong>sverbote und würde mit großer Wahrscheinlichkeit auch<br />
die Rolle von Sozialer <strong>Arbeit</strong> in einzelnen Handlungsfel<strong>der</strong>n<br />
transformieren.<br />
Die mit <strong>der</strong> Einführung eines Grundeinkommens verbundene<br />
Erwartung (insbeson<strong>der</strong>e auch von im Sozialbereich tätigen<br />
Personen) liegt nicht zuletzt darin, über die Schaffung eines individuellen<br />
Rechts auf soziale Teilhabe – eben mittels eines monatlich<br />
zu gewährenden Fixbetrages – sozial disziplinierende<br />
Aspekte in Sozialpolitik und Sozialer <strong>Arbeit</strong> zurückzudrängen,<br />
die Autonomie in <strong>der</strong> persönlichen Lebensgestaltung zu erhöhen<br />
sowie einer neuen Form gesellschaftlicher Solidarität abseits <strong>der</strong><br />
Erwerbsgesellschaft verstärkt zur Geltung zu verhelfen.
Neue Unterschicht und soziale Sicherung 145<br />
Die unterschiedlichen Modelle, die unter <strong>der</strong> Überschrift<br />
»Bedingungsloses Grundeinkommen« zusammengefasst werden,<br />
sind allerdings mit jeweils ähnlichen Grundproblemen verbunden.<br />
An dieser Stelle soll auf zwei Aspekte hingewiesen<br />
werden:<br />
VertreterInnen eines »bedingungslosen Grundeinkommens«<br />
wollen ausgehend von den Befunden einer »Krise <strong>der</strong><br />
<strong>Arbeit</strong>sgesellschaft« die Erwerbsarbeitsgesellschaft überwinden.<br />
Allerdings steht dies im – auch empirisch belegbarem –<br />
Wi<strong>der</strong>spruch dazu, »dass Erwerbsarbeit weiterhin einen uneingeschränkt<br />
hohen Stellenwert für die Positionierung des<br />
Individuums im sozialen Raum zugeschrieben werden muss«<br />
(Kraemer/Speidel 2005, 370). So kann man – auch mit Blick<br />
auf unfreiwillig vom <strong>Arbeit</strong>smarkt ausgeschlossene Gruppen –<br />
we<strong>der</strong> von einem subjektiven noch objektiven Bedeutungsverlust<br />
von Erwerbsarbeit ausgehen (Kraemer/Speidel 2005,<br />
370) und muss Erwerbsarbeit weiterhin als »konstitutiv für alltagspraktische<br />
und symbolische Teilhabechancen« sowie die<br />
Zuschreibung von sozialer Anerkennung verstehen. Angesichts<br />
dieser Befunde erweist sich ein »bedingungsloses Grundeinkommen«<br />
in doppelter Hinsicht als Exklusionsermöglichung<br />
(vgl. Nullmeier 2007, 18): Einerseits für die GrundeinkommensbezieherInnen,<br />
die – bei ausreichen<strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong><br />
Geldleistung – ihren Unterhalt auch ohne Erwerbsarbeit sichern<br />
können, an<strong>der</strong>erseits für <strong>Arbeit</strong>geber und staatliche Akteure, die<br />
von <strong>der</strong> Last <strong>der</strong> Sicherung eines hohen Niveaus an<br />
Beschäftigungsmöglichkeiten entbunden werden. Während die<br />
Option <strong>der</strong> Nichtinklusion beidseitig besteht, entscheidet über<br />
die Inklusion allerdings nur eine Seite. Somit kann das »bedingungslose<br />
Grundeinkommen« auch als »Lohn für die soziale<br />
Exklusion« (Butterwege 2005, 298) wirksam werden.<br />
Darüber hinaus handelt es sich bei jedem Grundeinkommen um<br />
eine rein monetäre Leistung, die es zur Sicherung <strong>der</strong><br />
Lebensbedürfnisse am »freien Markt« zu verwerten gilt.<br />
Unabhängig von <strong>der</strong> Höhe und damit konkreten »Kaufkraft«
146<br />
Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />
eines Grundeinkommens, wird über eine <strong>der</strong>artige Leistung das<br />
Recht auf soziale Teilhabe monetarisiert – und gleichzeitig<br />
auch individualisiert (zur Problematik von Geldleistungen vgl.<br />
auch Hammer/Österle 2001). Teilhabe wird damit in erster<br />
Linie auf eine »Konsuminklusion« reduziert (vgl. Nullmeier<br />
2007, 18). Dies entspricht durchaus auch <strong>der</strong> Meinung und dem<br />
Willen von liberalen ProponentInnen dieser Idee. So wirbt zum<br />
Beispiel eine deutsche Expertengruppe im Auftrag <strong>der</strong><br />
Heinrich-Böll-Stiftung unter dem Titel einer »Teilhabegesellschaft«<br />
für einen »Neuen Sozialkontrakt mit Zukunftsperspektive«,<br />
<strong>der</strong> »dem Grundsatz <strong>der</strong> individuellen Eigenverantwortung<br />
Rechnung [trägt] und zugleich dem Prinzip <strong>der</strong><br />
Chancengleichheit [genügt]« (Grözinger/Maschke/Offe 2006,<br />
3) 1 . Teilhabe kann damit am Markt erkauft werden – allerdings<br />
nur, solange das Geld eben reicht. So sich individuelle<br />
Entscheidungen zur Verwertung des Geldes als verfehlt herausstellen,<br />
läge <strong>der</strong> Gewinn an Gerechtigkeit darin, »dass alle mit<br />
Beginn des Erwachsenenlebens eine ähnliche Chance hätten,<br />
Entscheidungen zu treffen, die sich als ›richtig‹ bewähren.«<br />
(Grözinger/Maschke/Offe 2006, 3). Ein <strong>der</strong>artiges Verständnis<br />
von Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Solidarität muss vor<br />
dem Hintergrund gegenwärtiger sozialer Ungleichheiten und<br />
Spaltungstendenzen schlicht als zynisch bezeichnet werden.<br />
Abseits <strong>der</strong> Vorschläge zur Einführung eines »bedingungslosen<br />
Grundeinkommens« gibt es allerdings nur begrenzt Ideen zur<br />
radikalen Reformierung <strong>der</strong> sozialen Sicherung – Benz/Boeckh<br />
wähnen einen emanzipativen Reformbegriff grundsätzlich »in<br />
<strong>der</strong> realpolitischen Defensive« (Benz/Boeckh 2005, 71).<br />
Angesichts <strong>der</strong> kritischen Befunde zu Wirkungen eines »bedingungslosen<br />
Grundeinkommens« sollen im Folgenden jene<br />
Perspektiven herausgearbeitet werden, die eine Reformierung<br />
sozialer Sicherheit im Rahmen des <strong>der</strong>zeitigen Systems ermöglichen.<br />
Aufgegriffen werden soll allerdings <strong>der</strong> mit den<br />
Perspektiven eines »bedingungslosen Grundeinkommens« reaktualisierte<br />
Anspruch <strong>der</strong> Gewährung von sozialer Sicherung
Neue Unterschicht und soziale Sicherung 147<br />
in einer Form, die Druck und Zwang zu einem normierten<br />
(Erwerbsarbeits-)Leben möglichst hintanstellt.<br />
Mit Blick auf die Zentrierung des <strong>der</strong>zeitigen sozialen<br />
Sicherungsmodells auf ein geschlechterhierarchisches Verständnis<br />
von »male breadwinner« und »female caretaker«, aber<br />
auch im Zusammenhang mit den Entwicklungen in Wirtschaft<br />
und <strong>Arbeit</strong>smarkt, bedarf es einer Neubewertung und -verteilung<br />
von Erwerbsarbeit und an<strong>der</strong>en (Sorge-)Tätigkeiten.<br />
Soziale Sicherung muss so gestaltet sein, dass sie auch bei<br />
Erwerbstätigkeiten abseits des traditionellen »Normalarbeitsverhältnisses«<br />
Existenzsicherung und gesellschaftliche<br />
Teilhabe sicherstellt und Anreize für eine egalitäre Verteilung<br />
von Sorgetätigkeiten zwischen den Geschlechtern setzt. Bei<br />
einer Reform sozialer Sicherung ist jedenfalls darauf zu achten,<br />
dass die »Planbarkeit <strong>der</strong> Zukunft« als wesentliches Element im<br />
Kampf gegen die soziale Unsicherheit (vgl. Castel 2005, 49)<br />
substanziell verbessert wird.<br />
Verbunden ist damit ein System sozialer Sicherung, das nicht<br />
mehr auf homogene und stabile Bevölkerungsgruppen abstellt,<br />
son<strong>der</strong>n die vielfältigen Lebenssituationen und- profile von<br />
Individuen zu berücksichtigen in <strong>der</strong> Lage ist (vgl. Castel 2005,<br />
98f). Erstens bedeutet dies eine stärkere Verankerung von beitragsunabhängigen<br />
sozialen Grundrechten innerhalb und außerhalb<br />
<strong>der</strong> Sozialversicherung. Zweitens ist damit in logischer<br />
Konsequenz eine Tendenz <strong>der</strong> Entkoppelung von sozialen<br />
Rechten und strikter Erwerbsorientierung verknüpft. Angesichts<br />
diskontinuierlicher Berufswege würde so eine<br />
Rechtskontinuität geschaffen werden, die auch Perioden einer<br />
Unterbrechung von Erwerbsarbeit (z.B. auch zur Erbringung<br />
von Sorgetätigkeiten) absichert und die Unabhängigkeit <strong>der</strong><br />
BürgerInnen von Wechselfällen des Marktes und des<br />
Erwerbsstatus stärkt (vgl. Castel 2005, 119; sowie Kronauer<br />
2007, 33).<br />
Darüber hinaus ist, statt einer weitergehenden Privatisierung<br />
von sozialen Diensten, die Gewährleistung eines breiten
148<br />
Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />
Angebots von sozialer Infrastruktur sicherzustellen. Joachim<br />
Hirsch als einer <strong>der</strong> Verfasser eines Konzeptes von<br />
»Sozialpolitik als Infrastruktur« (vgl. AG links-netz 2003) versteht<br />
darunter den umfassenden »Ausbau öffentlicher Güter<br />
und Dienstleistungen, die allen Menschen unentgeltlich zur<br />
Verfügung gestellt werden müssen. Dies reicht von Bildung<br />
und Ausbildung über Gesundheitsvorsorge bis hin zu Wohnen<br />
und Verkehr« (Hirsch 2005, 39ff). Mit einem <strong>der</strong>artigen<br />
Ausbau, auch von sozialen Diensten, können nicht nur armutspräventive<br />
Wirkungen (vgl. Benk/Boeckh 2005, 72), son<strong>der</strong>n<br />
auch ein Beitrag zur sozialen Kohärenz verbunden werden.<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen für eine kritische Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
Die anhand <strong>der</strong> Debatte zur »neuen Unterschicht« sichtbare,<br />
medial inszenierte Umdeutung von ökonomischen und sozialen<br />
Problemlagen in kulturelle Defizite begünstigt eine Form von<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong>, die paternalistisch-pädagogische Interventionen<br />
zur Wie<strong>der</strong>herstellung von Ordnung, Angepasstheit<br />
und Sittlichkeit an die Stelle einer Unterstützung zur Sicherung<br />
von sozialer und materieller Teilhabe setzt. In Misskredit geraten<br />
somit nicht nur »passivierende«, die Eigeninitiative und<br />
–verantwortung lähmende Geldleistungen, son<strong>der</strong>n sozialarbeiterische<br />
Betreuungskonzepte insgesamt. Für die Fachlichkeit<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong>, die schon im Zuge <strong>der</strong> Ökonomisierungsbestrebungen<br />
und <strong>der</strong> damit verbundenen quantifizierenden<br />
Logiken – auch durch die eigene Profession selbst – zunehmend<br />
in Frage gestellt wird, bedeuten diese Verän<strong>der</strong>ungen<br />
eine große Herausfor<strong>der</strong>ung zur Wie<strong>der</strong>aneignung ihres normativen<br />
Anspruches und seiner fachlichen Umsetzung.<br />
Prekarisierung und gesellschaftliche Desintegration bedürfen<br />
als Reaktion einer Sozialpolitik und <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, die mit<br />
Formen von sozialer Sicherung nicht nur einem Auseinan<strong>der</strong>driften<br />
<strong>der</strong> materiellen Lebenslagen, son<strong>der</strong>n auch einer »sozi-
Neue Unterschicht und soziale Sicherung 149<br />
alen Entkoppelung« (Castel 2005, 39) von Individuen und<br />
Gruppen entgegenwirkt.<br />
Wie die Ausführungen zu Dynamiken <strong>der</strong> Prekarisierung<br />
gezeigt haben, werden eindeutige Schichtzugehörigkeiten<br />
zunehmend brüchig und soziale Unsicherheiten, die auch, aber<br />
nicht nur materielle Lebensverhältnisse betreffen, weiten sich<br />
gesamtgesellschaftlich aus. In einem verbreiterten Verständnis<br />
von sozialer Sicherung ist Soziale <strong>Arbeit</strong> als wesentlicher Teil<br />
einer »sozialen Infrastruktur« zu verstehen, die sich gerade<br />
durch ihre Zugänglichkeit für Menschen unterschiedslos von<br />
Ressourcen und Status auszeichnet.<br />
Die gegenwärtige Entwicklung einer einseitigen »Neuausrichtung«<br />
<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> auf Disziplinierung, Kontrolle und<br />
Verhaltensregulierung macht eine Konkretisierung <strong>der</strong> gerechtigkeitstheoretischen<br />
Fundierung von Sozialer <strong>Arbeit</strong> unumgänglich.<br />
lohnende Konzeptionalisierungen sind im Anschluss<br />
an den Fähigkeitenansatz von Amartya Sen und Martha<br />
Nussbaum entstanden (vgl. Schrödter 2007). Grundgedanke ist<br />
hierbei die Sichtweise von Fähigkeiten als Grundgüter, die in<br />
<strong>der</strong> Regel sozial erzeugt sind und <strong>der</strong>en faire Verteilung ebenso<br />
organisiert werden muss wie die Verteilung ökonomischer<br />
Güter. Mark Schrödter sieht die Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> in<br />
diesem Zusammenhang darin, Verwirklichungschancen für ihre<br />
KlientInnen durch einen Zugang zu den ihnen bislang vorenthaltenen<br />
Grundgütern sicherzustellen und so zum Vollzug von<br />
Sozialer Gerechtigkeit beizutragen (vgl. Schrödter 2007, 20f).<br />
Aus dieser Perspektive heraus steht <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ein großes<br />
Betätigungsfeld offen, das auch die wi<strong>der</strong>sprüchlichen<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen an Soziale <strong>Arbeit</strong> – die neben ihrer Funktion zur<br />
Abfe<strong>der</strong>ung von kapitalistischen Verwerfungen immer auch<br />
Herrschaftsinstrument ist und bleiben wird – aus kritischer<br />
Sicht zu konzeptualisieren vermag.
150<br />
Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />
Anmerkungen<br />
1 An<strong>der</strong>s als die herkömmlichen Vorschläge eines »bedingungslosen<br />
Grundeinkommens« schlagen die AutorInnen hier einen<br />
Einmaltransfer im Sinne einer Vermögensteilhaberschaft für jede/n<br />
BürgerIn vor.<br />
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Norm und Abweichung<br />
Franz Kolland<br />
Warum ist die Frage von sozialen Normen und sozialer<br />
Abweichung so wichtig? In <strong>der</strong> sogenannten Wiener Deklaration,<br />
dem Trinationalen Dokument des Deutschen Berufsverbandes<br />
für Soziale <strong>Arbeit</strong> e.V., <strong>der</strong> Ne<strong>der</strong>landse Vereniging van<br />
Maatschappelijk Werkers und dem Österreichischen<br />
Berufsverband Diplomierter SozialarbeiterInnen heißt es:<br />
»Sozialarbeit trägt zur Durchsetzung gesellschaftlicher Normen<br />
bei, im Einklang mit den in den Menschenrechtsverträgen und<br />
den sozialen Chartas anerkannten Prinzipien« 1 . In diesem<br />
deklarativen Anspruch steckt einerseits eine Referenz auf die<br />
Existenz und die Bedeutung sozialer Normen im gesellschaftlichen<br />
Handeln, wobei auf die Legitimität dieser Normen<br />
Bezug genommen wird. An<strong>der</strong>erseits wird auf den zwingenden<br />
Charakter von Normen hingewiesen. Und beide Elemente<br />
zusammen bilden einen Handlungsrahmen für Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />
Gemeint ist mit diesem Dokument wohl auch, dass das<br />
Normative die Grundlage <strong>der</strong> Gesellschaft ist – und damit auch<br />
<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Dieser normative Aspekt gesellschaftlichen<br />
und sozialarbeiterischen Handelns wird im ersten Teil<br />
<strong>der</strong> folgenden Ausführungen behandelt. Im zweiten Teil <strong>der</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> wird dann <strong>der</strong> Begriff des abweichenden Verhaltens dargestellt,<br />
um im dritten Abschnitt dann dieses Begriffspaar stärker<br />
in den Kontext <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zu stellen.<br />
Handeln nach sozialen Normen<br />
Doch wie entstehen Normen? Es konkurrieren hier verschiedene<br />
Grundauffassungen. Einige berufen sich auf das Naturrecht,<br />
an<strong>der</strong>e leiten sie aus dem göttlichen Ratschluss ab, wie<strong>der</strong>
Norm und Abweichung 155<br />
an<strong>der</strong>e gehen davon aus, dass jede Norm von Menschen<br />
geschaffen wurde. Die soziokulturelle Vielfältigkeit von<br />
Norminhalten demonstriert jedenfalls die soziale Plastizität und<br />
Produktivität des Menschen. Jede Gesellschaft entwickelt und<br />
gestaltet ihre eigenen Normen, sie ist sogar gezwungen, diese<br />
zu gestalten (vgl. Schäfers 2008). Wenn auch eine gewisse<br />
Globalisierung von sozialen Normen feststellbar ist, so bleiben<br />
diese nichtsdestoweniger stark kontextgebunden. Sie verlieren<br />
jenseits des sozialen Umfeldes und <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> Aktivitäten, auf<br />
die sie sich beziehen, ihren Sinn.<br />
Es gibt keine allgemeine Definition von normal bzw. pathologisch.<br />
Was normal bzw. pathologisch ist, ist vor dem<br />
Hintergrund <strong>der</strong> jeweiligen gesellschaftlichen Situation zu<br />
sehen. Dabei ist eine deutliche Diskrepanz zwischen den geltenden<br />
Normen und <strong>der</strong> Praxis feststellbar, zwischen dem, was<br />
wir tun sollen und dem, was wir tatsächlich tun. Es scheint<br />
gerade so zu sein, dass die Existenz sozial gefor<strong>der</strong>ter und sanktionierter<br />
Handlungen zugleich das Auftreten sozial verbotener<br />
Handlungen nach sich zieht. Durkheim (1984 [1895]) geht<br />
sogar soweit, dass er sagt: »Das Verbrechen ist normal, weil<br />
eine Gesellschaft, in <strong>der</strong> es kein Verbrechen gäbe, völlig<br />
unmöglich ist« (S. 154). Wenn auch unbestritten ist, dass<br />
Normabweichung einen konstitutiven Bestandteil gesellschaftlichen<br />
Handelns ausmacht, so kann Durkheims These als utilitaristisch<br />
und evolutionistisch bezeichnet werden, weil sie letztlich<br />
jede menschliche Aktivität unter funktionalen Gesichtspunkten<br />
analysiert, d.h. in ihrer Bedeutung für den Erhalt <strong>der</strong><br />
Ordnung in <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />
Indem Entscheidungen für o<strong>der</strong> gegen eine bestimmte Norm<br />
getroffen werden, für o<strong>der</strong> gegen Rauchen in Lokalen, für o<strong>der</strong><br />
gegen Fußfesseln in <strong>der</strong> Straffälligenarbeit, für o<strong>der</strong> gegen ein<br />
Grundeinkommen ist eine Gesellschaft produktiv. Sie ist produktiv,<br />
weil eine Wahl innerhalb eines bestimmten Spielraums<br />
getroffen wird und weil Entscheidungen getroffen werden, die<br />
zu Festlegungen führen und weiteres Handeln definieren. Und
156<br />
Norm und Abweichung<br />
diese Festlegungen erfolgen unter gegenseitiger Bezugnahme,<br />
d.h. Normen begrenzen die Willkür in <strong>der</strong> Beziehung von<br />
Menschen untereinan<strong>der</strong>. Allerdings können solche Entscheidungen<br />
nicht nur zu mehr Sicherheit und Verhaltensstabilität<br />
führen, son<strong>der</strong>n auch gleichzeitig zu Regelungen führen, die<br />
Freiheitsspielräume einschränken bzw. sozial ungerecht sind<br />
(vgl. Biermann 2007). Inwieweit also (neue) soziale Normen<br />
als produktiv bewertet werden können, hängt nicht nur davon<br />
ab, ob sie Sicherheit erzeugen, son<strong>der</strong>n auch, wie sie sich auf<br />
die Machtverhältnisse in <strong>der</strong> Gesellschaft auswirken. Die<br />
KlientInnen in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> haben aufgrund fehlen<strong>der</strong><br />
Ressourcen geringe Spielräume bei <strong>der</strong> Gestaltung sozialer<br />
Normen.<br />
Unter sozialen Normen verstehen wir jedenfalls kollektive<br />
Verhaltenserwartungen und Verhaltensanweisungen, die als<br />
legitim gelten. Sie bewirken eine gewisse Regelmäßigkeit und<br />
Gleichförmigkeit <strong>der</strong> sozialen Handlungsabläufe und entlasten<br />
das Individuum von <strong>der</strong> Notwendigkeit, ständig neue, situationsgerechte<br />
Handlungsweisen zu entwerfen (vgl. Peuckert<br />
1986, 256). Soziale Normen befriedigen grundlegende Bedürfnisse<br />
des Menschen, wie z.B. nach sozialem Vergleich,<br />
Nutzenmaximierung, Gerechtigkeit und Zusammengehörigkeit.<br />
Wenn Normen auch oft mit rationalen Interessen von<br />
Individuen begründet werden, d.h. Individuen ein Interesse<br />
daran haben, die Handlungen von an<strong>der</strong>en Personen in eine<br />
bestimmte Richtung zu lenken, so ist ihnen doch gerade eigen,<br />
dass sie über eine bloße Nutzenorientierung hinausführen.<br />
Denn, so Esser (2001, 35), »die bloße Nutzenorientierung lässt<br />
den Menschen in Ziellosigkeit und die Gesellschaft in<br />
Unordnung zurück«.<br />
Normen legen fest, was in spezifischen sozialen Situationen<br />
geboten o<strong>der</strong> verboten ist, z.B. »Tischnormen«, »Begrüßungsnormen«.<br />
Sie werden im Sozialisationsprozess gelernt und tradiert,<br />
sie ermöglichen Erwartungshaltungen und haben allge-
Norm und Abweichung 157<br />
meine Geltung für ein Kollektiv. Soziale Verpflichtungen werden<br />
habitualisiert. Es handelt sich also nicht nur um<br />
Zumutungen, die als von außen kommend erlebt werden, son<strong>der</strong>n<br />
um Sollansprüche, die verinnerlicht und als selbstverständlich<br />
angesehen werden. Soziale Normen erzeugen auf<br />
diese Weise Sicherheit (z.B. Verkehrsregeln) und ermöglichen<br />
ein geregeltes Zusammenleben. »Normen begründen Normalität«<br />
(Bahrdt 2000, 50). Jede normative Interpretation von<br />
Handlungen und Situationen begrenzt die soziale Relevanz <strong>der</strong><br />
individuellen Erlebnissphäre. Normen schaffen damit aber auch<br />
eine künstliche Kommunikationssphäre zwischen Menschen.<br />
Soziale Normen sind in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne stark mit <strong>der</strong> Entwicklung<br />
des Staates verknüpft. Die Entwicklung des wohlfahrtsstaatlichen<br />
Sicherungssystems seit dem Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
hat sowohl zu neuen und tiefgreifenden Normierungseffekten<br />
als auch zu Entlastungseffekten im gesellschaftlichen Handeln<br />
geführt. Über wohlfahrtsstaatliche Regelungen ist es etwa zu<br />
einer Normierung des Lebenslaufs in drei Phasen gekommen.<br />
Entstanden ist eine altersdifferenzierte Gesellschaft, in <strong>der</strong> sich<br />
die Jungen im Bildungssystem befinden, die Erwachsenen in<br />
<strong>der</strong> Erwerbsarbeit und die Alten im »Ruhestand«. Diese<br />
Ordnung des Lebenslaufs hat das Individuum entlastet und aus<br />
<strong>der</strong> Kontrolle kleinräumlich angesiedelter Gemeinschaften entlassen.<br />
Der Einfluss des Sozialstaats hat damit als mächtiger<br />
Individualisierungsfaktor gewirkt, indem er dem Individuum<br />
beträchtliche kollektive Sicherungsleistungen zur Verfügung<br />
stellte. Die »Hilfsgarantie« des Staates erweiterte die<br />
Handlungsspielräume des Individuums. In dieser Hinsicht kann<br />
von einer gesteigerten Normierungsoffenheit in wohlfahrtsstaatlich<br />
organisierten Gesellschaften gesprochen werden, d.h.<br />
Normen haben ihre klare Orientierungsfunktion verloren. Das<br />
Individuum findet eine deutlich erweiterte Gelegenheitsstruktur<br />
für die eigene Lebensgestaltung. Im Zuge dieser Entwicklung<br />
hat sich das Individuum an die Hilfsgarantien »gewöhnt«, das<br />
Sicherheitsbedürfnis – könnte überspitzt formuliert werden –
158<br />
Norm und Abweichung<br />
ist zur gesellschaftlichen »Natur« des mo<strong>der</strong>nen Menschen<br />
geworden. Demnach wird <strong>der</strong> Wandel im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t als<br />
Wandel von einer Disziplinargesellschaft zu einer Sicherheitsgesellschaft<br />
beschrieben (vgl. Singelnstein/Stolle 2006).<br />
Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts löst sich das Zusammenspiel von<br />
wohlfahrtsstaatlicher Sicherheit und individuellem Handeln in<br />
verschiedenen Lebensbereichen, z.B. Familie, Religion,<br />
Freizeit auf. Es kommt zu einer Radikalisierung <strong>der</strong><br />
Individualisierung bzw. Selbstverantwortung. In <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> findet sich die Formel von <strong>der</strong> »Hilfe zur Selbsthilfe«.<br />
Subjektive Selbstorganisation wird <strong>der</strong> Vorrang vor staatlicher<br />
Intervention eingeräumt. Soziale <strong>Arbeit</strong> steht unter dem normativen<br />
Postulat <strong>der</strong> Aktivierung (vgl. Kessl/Otto 2004).<br />
Die Disziplinargesellschaft des 19./20.Jh war gekennzeichnet<br />
durch ein allgemein gültiges Werte- und Normengefüge, das<br />
eine klare Trennlinie zwischen normal und anormal gezogen<br />
hat. Klassenzugehörigkeit, Kirche und Familie waren die institutionellen<br />
Träger dieser normativen Struktur. Wurden Normen<br />
verletzt, dann wurde das Individuum diszipliniert und an den<br />
präskriptiven Normen »ausgerichtet«. Diese Disziplinierung ist<br />
großteils verschwunden, weil sich die gesellschaftlichen<br />
Bedingungen, die diese Formation getragen haben, gewandelt<br />
haben. Im Laufe dieser Entwicklung haben nicht nur die traditionellen<br />
Institutionen an Bedeutung verloren, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong><br />
Wohlfahrtsstaat als Sicherheitsgarantie. Entwickelt hat sich im<br />
späten 20. Jahrhun<strong>der</strong>t zunehmend eine Ideologie <strong>der</strong><br />
Selbstverantwortung des Individuums, welches ein hohes persönliches<br />
Sicherheitsbedürfnis aufweist bzw. nach persönlicher<br />
normativer Rahmung sucht. Die normative Kontrolle wurde in<br />
das Individuum hineinverlagert, sodass Gilles Deleuze (1993)<br />
von einer Ablösung <strong>der</strong> Disziplinargesellschaft durch die<br />
Kontrollgesellschaft spricht 2 . Kontrolle geschieht aber nicht<br />
nur durch eine Internalisierung von Normen, son<strong>der</strong>n auch über<br />
den verstärkten Einsatz technischer Überwachungsgeräte (wie<br />
Videokameras, Zugangsschranken o<strong>der</strong> Audiokontrolle) o<strong>der</strong>
Norm und Abweichung 159<br />
die architektonisch abweisende Gestaltung von Räumen. In<br />
einer Untersuchung über deutsche Städte, kommt Wehrheim<br />
(2002) zu dem Ergebnis, dass durch die neuartigen<br />
Kontrollstrategien verstärkt benachteiligte Personengruppen<br />
aus öffentlichen Räumen ausgeschlossen werden, die noch vor<br />
kurzer Zeit unkompliziert zugänglich waren. Es geht dabei<br />
nicht um eine Verhin<strong>der</strong>ung von abweichendem Verhalten, son<strong>der</strong>n<br />
um die Verhin<strong>der</strong>ung konsumabträglicher Situationen. Als<br />
störend empfunden werden da sowohl Kin<strong>der</strong> als auch<br />
Menschen, die betteln, rauchen, trinken o<strong>der</strong> Handel treiben.<br />
Von Bedeutung für die Soziale <strong>Arbeit</strong> sind die von Heinrich<br />
Popitz (2006 [1961]) herausgearbeiteten universalen Konstrukte<br />
sozialer Normierung, wozu einerseits allgemeine Normen gehören<br />
und an<strong>der</strong>erseits Partikularnormen. Zu den allgemeinen<br />
Normen gehört etwa das Gleichheitsprinzip, welches besagt,<br />
dass Menschen ungeachtet ihrer empirischen Ungleichheit als<br />
gleich zu gelten haben und zu behandeln sind. Es werden damit<br />
übergreifende Zugehörigkeitsprinzipien zu einer Gruppe definiert.<br />
Real erfährt das Individuum allerdings sowohl<br />
Zugehörigkeit als auch Ausschluss. Im Fall <strong>der</strong> Menschen, mit<br />
denen Soziale <strong>Arbeit</strong> zu tun hat, handelt es sich sehr viel häufiger<br />
um Erfahrungen sozialer Exklusion. Aus diesem Grund wird<br />
das in allgemeinen Normen angelegte Gleichheitsprinzip durch<br />
verschiedene Typen von Partikularnormen im gesellschaftlichen<br />
Binnenraum unterlaufen und modifiziert. Über<br />
Partikularnormen wird versucht, eine eigene »unversehrte«<br />
Lebenswelt zu schaffen. In solchen Normen, die nur in den<br />
jeweiligen gesellschaftlichen Teilgruppen anerkannt werden,<br />
drücken sich Formen des An<strong>der</strong>sseins, <strong>der</strong> Ungleichartigkeit<br />
aus. Roland Girtler (1995) weist in seinen Untersuchungen über<br />
Randgruppen darauf hin, dass diese das An<strong>der</strong>ssein zu stilisieren<br />
trachten, weil gerade ein nicht mehrheitsgesellschaftlichkonformes<br />
Handeln zu hohem Ansehen <strong>der</strong> handelnden Akteure<br />
beiträgt. Es ergibt sich eine Gleichheit im An<strong>der</strong>ssein, wobei<br />
empirisch Prinzipien wechselseitig gleicher Verpflichtungen zu
160<br />
Norm und Abweichung<br />
finden sind und von einer insularen Reziprozität gesprochen<br />
werden kann (vgl. Popitz 2006 [1961], 34).<br />
Der Doppelcharakter sozialer Normen besteht in Inklusion und<br />
Exklusion. Sie haben den Zweck <strong>der</strong> sozialen Integration. Sie<br />
sorgen für Stabilität und Ordnung. Der Begriff deckt damit<br />
auch die Friedhofsruhe in Gesellschaften totalitären Charakters<br />
ab. Soziale Normen sind demnach nicht bloß Stützen <strong>der</strong><br />
Verhaltenssicherheit <strong>der</strong> Individuen, sie sind auch Stützen von<br />
Macht und Herrschaft. Damit ist auf den Konfliktcharakter von<br />
sozialen Normen verwiesen (vgl. Scherr 2006). Dieser zeigt<br />
sich auf allen Ebenen <strong>der</strong> Gesellschaft. Er ist in <strong>der</strong> Vielheit<br />
sich überschneiden<strong>der</strong> Verpflichtungen prinzipiell angelegt. In<br />
allen Gesellschaften sind die Individuen Mitglie<strong>der</strong> divergenter<br />
sozialer Einheiten und damit Träger mehrerer sozialer Rollen,<br />
wodurch die Möglichkeit von Normkonflikten gegeben ist. Die<br />
KlientInnen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> befinden sich in einer verschärften<br />
Konfliktsituation. Sie wollen bestimmte normative<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen erfüllen, z.B. eine »gute Mutter« sein, ein/e<br />
»liebevolle/r PartnerIn« sein, können dies aber aufgrund ihrer<br />
sozialen Lage nicht. Und sie verletzen ständig Normen, um<br />
überleben zu können.<br />
Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle<br />
So wie Normen als Urphänomen des <strong>Sozialen</strong> bezeichnet werden<br />
können (vgl. König 1969), so ist auch das abweichende<br />
Verhalten konstitutiv für den Erhalt sozialer Normen. Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> hat es häufig mit abweichendem Verhalten zu tun, mit<br />
Menschen und Gruppen, die nicht den gesellschaftlichen<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen gerecht werden. Doch wie lässt sich abweichendes<br />
Verhalten bestimmen? Es bezeichnet alle Formen eines<br />
mit gesellschaftlichen Normen nicht übereinstimmenden<br />
Verhaltens wie z.B. Kriminalität, Suizid, Drogenabhängigkeit,<br />
Alkoholismus, Krankheit, Behin<strong>der</strong>ungen, Leistungsversagen,
Norm und Abweichung 161<br />
Prostitution, Randgruppenzugehörigkeit, Extravaganz, Rebellion,<br />
Innovation etc (vgl. Lamnek 2007). In seiner<br />
Neutralität intendiert <strong>der</strong> Terminus »abweichendes Verhalten«<br />
die traditionelle Diskriminierung auffälligen Verhaltens und die<br />
ideologische Belastung älterer Begriffe wie »Verwahrlosung«<br />
und »Gefährdung« zu vermeiden. Wesentlich ist jedenfalls,<br />
dass deviantes Verhalten von den in <strong>der</strong> jeweiligen Gesellschaft<br />
anerkannten Normen abhängig ist. Es gibt kein abweichendes<br />
Verhalten als solches, son<strong>der</strong>n Handlungen, die eine allgemeine<br />
gesellschaftliche Norm verletzen o<strong>der</strong> die einer bestimmten<br />
Gruppe in <strong>der</strong> Gesellschaft. Die soziale Konstruktion abweichenden<br />
Verhaltens bedeutet auch, dass dieses einerseits jemanden<br />
braucht, <strong>der</strong> eine Handlung als abweichend definiert (vgl.<br />
Becker 1973) und es an<strong>der</strong>erseits einem ständigen Wandel<br />
unterworfen ist. Devianz ist ein Begriff, <strong>der</strong> nur dann verstanden<br />
werden kann, wenn man weiß, wovon jemand »abweicht«<br />
(vgl. Peuckert 2008).<br />
Aus einem sozialpädagogischen Verständnis lässt sich öffentlich<br />
etikettiertes und sanktioniertes abweichendes Verhalten in<br />
seinem Kern auch als Bewältigungsverhalten verstehen (vgl.<br />
Böhnisch 1999), als subjektives Streben nach situativer und<br />
biografischer Handlungsfähigkeit. Es dient <strong>der</strong> psychosozialen<br />
Balance in kritischen Lebenssituationen. Abweichendes<br />
Verhalten ist Folge einer »devianten Sozialisation«. Gibt es in<br />
<strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit sich selbst bzw. mit an<strong>der</strong>en<br />
Probleme, dann können diese über deviantes Verhalten »bewältigt«<br />
werden. Eine an<strong>der</strong>e Definition lautet: Abweichende<br />
Verhaltensweisen sind solche Verhaltensweisen, die in einer<br />
bestimmten Gesellschaft und in einer bestimmten historischen<br />
Epoche von den jeweils Herrschenden und einflussreichen<br />
Eliten zur öffentlichen Distanzierung und Ächtung freigegeben<br />
sind. Damit ist abweichendes Verhalten mit Macht und<br />
Herrschaft verknüpft.<br />
Immer wie<strong>der</strong> ist versucht worden, die Erklärung für<br />
Abweichung in angeborenen Eigenarten <strong>der</strong> Menschen zu fin-
162<br />
Norm und Abweichung<br />
den. So analysierte zum Beispiel im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> italienische<br />
Kriminologe Cesare Lombroso (1836-1909) auf <strong>der</strong><br />
Suche nach vererbten kriminellen Tendenzen die Schädelform<br />
von Kriminellen. Seine Forschungen legten die Vermutung<br />
nahe, dass viele Kriminelle hohe Backenknochen, große<br />
Kieferknochen und hervorstehende Augenbrauenknochen hätten.<br />
Lombroso beging indessen einen fatalen Fehler. Er untersuchte<br />
nur die Schädel von Kriminellen, nicht jedoch die einer<br />
repräsentativen Gruppe <strong>der</strong> gesamten Bevölkerung. Als einige<br />
Jahre später <strong>der</strong> englische Arzt Charles Goring die Schädel von<br />
Kriminellen mit denen an<strong>der</strong>er Menschen verglich, fand er<br />
keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (vgl.<br />
Lamnek 2007). Heutige Wissenschaftler gehen davon aus, dass<br />
das menschliche Verhalten viel zu komplex ist, um es allein<br />
biologisch zu erklären. Wie sehr allerdings <strong>der</strong> biologischgenetische<br />
Ansatz immer wie<strong>der</strong> zur Erklärung abweichenden<br />
Verhaltens herangezogen wird, zeigt die von <strong>der</strong> Hirnforschung<br />
vor einigen Jahren neu entfachte Debatte (vgl. Singer 2003).<br />
Die Neurowissenschaften verstärken die Tendenz <strong>der</strong><br />
Psychiatrisierung des Rechtssystems und stellen damit sozialpädagogisch-sozialarbeiterische<br />
Interventionen in Frage.<br />
Wesentliche soziale Determinanten abweichenden Verhaltens<br />
sind – unter Berücksichtigung kriminellen Verhaltens – Alter<br />
und Geschlecht, d.h. es findet sich eine höhere Rate bei<br />
Jüngeren und Männern. Die Kriminalitätsbelastung junger<br />
Menschen beträgt ein Mehrfaches <strong>der</strong> Belastung von Menschen<br />
im mittleren und höheren Alter. Die Alterskurve <strong>der</strong><br />
Kriminalitätsbelastung für beide Geschlechter ist »linksschief«,<br />
d.h. die Belastung erreicht bei den Altersgruppen unter 25<br />
Jahren ihren Gipfel und fällt danach wie<strong>der</strong> ab (vgl. Hodapp<br />
2007). Diese »Linksschiefe« wird seit Führung einer amtlichen<br />
Kriminalitätsstatistik beobachtet. Daraus folgt auch <strong>der</strong> temporärere<br />
Charakter von abweichendem Verhalten im Jugendalter.<br />
Die Frage, die sich hinsichtlich des Zusammenhangs von<br />
Kriminalität mit Alter und Geschlecht ergibt, ist die nach <strong>der</strong>
Norm und Abweichung 163<br />
Erklärung dieses Zusammenhangs. Sind Frauen besser sozialisiert,<br />
vermeiden sie Delikte, weil sie für Kin<strong>der</strong> zu sorgen<br />
haben? O<strong>der</strong> lässt sich <strong>der</strong> Unterschied mit physischer Stärke<br />
erklären, wie es <strong>der</strong> amerikanische Forscher Walter Gove formuliert<br />
hat, d.h. je größer die physische Stärke, die sowohl<br />
geschlechts- als auch alterskorreliert ist, desto höher ist die<br />
Kriminalitätsrate. Auffällig ist auch noch, dass Geschlechtsund<br />
Alterseffekte deliktabhängig sind, d.h. Diebstahl ist weniger<br />
altersabhängig als Gewaltdelikte. Der originäre Ort weiblicher<br />
Devianz ist die Privatsphäre. Die Mädchendelinquenz<br />
spiegelt weibliche Rollennormen wi<strong>der</strong>. Sie ist »leise«, sie findet<br />
eher im Verborgenen statt und richtet sich in den meisten<br />
Fällen nicht gegen die Machtstrukturen männlicher Hegemonie<br />
(vgl. Böhnisch 1999, 85).<br />
Wie sieht nun die gesellschaftliche Reaktion auf abweichendes<br />
Verhalten aus? Nach Peuckert (2008) verträgt fast jedes soziale<br />
System abweichendes Verhalten in einem beträchtlichen<br />
Ausmaß. Es leistet wichtige Beiträge zur Lebensfähigkeit und<br />
Effektivität des sozialen Systems. Empirisch ist ungeklärt,<br />
unter welchen Bedingungen welche Formen des abweichenden<br />
Verhaltens günstige bzw. ungünstige Wirkungen haben.<br />
Feststellbar ist hinsichtlich <strong>der</strong> äußeren Kontrolle von abweichendem<br />
Verhalten jedenfalls eine erhebliche Verän<strong>der</strong>ung des<br />
Kontrollstils im Zuge <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung. Soziale Kontrolle<br />
wird immer weniger von lokalen Gruppen o<strong>der</strong> Gemeinschaften,<br />
son<strong>der</strong>n von staatlichen Organisationen und Medien<br />
ausgeübt. Bis ins 19. Jahrhun<strong>der</strong>t wurde abweichendes<br />
Verhalten als Sünde bzw. Verbrechen gesehen und dementsprechend<br />
repressiv und körperlich bestraft (vgl. Foucault 2006).<br />
Als ein wesentliches Kennzeichen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung gilt die<br />
Pädagogisierung bzw. Medikalisierung des Kontrollstils.<br />
Ungehorsam wird weniger strafrechtlich und sozial ausschließend<br />
geahndet, son<strong>der</strong>n stärker als pathologisch gedeutet und<br />
einer therapeutischen Intervention zugeführt. Mit <strong>der</strong> Zunahme<br />
behandeln<strong>der</strong> Kontrollformen wurde das Gefängnis, so
164<br />
Norm und Abweichung<br />
Foucault (2006), als Mittel sozialer Kontrolle zunehmend überflüssig.<br />
Die Medikalisierung abweichenden Verhaltens zeigt<br />
sich etwa im Anspruch <strong>der</strong> Medizin Normabweichungen<br />
benennen, erklären und behandeln zu können. Normabweichungen<br />
werden als Symptome individueller Unmündigkeit<br />
angesehen. Die Rolle des Abweichenden wird als eine solche<br />
des/<strong>der</strong> Kranken umdefiniert.<br />
Tendenziell lässt sich wohl ein Rückgang harter Formen <strong>der</strong><br />
sozialen Kontrolle beobachten und eine Zunahme präventiver<br />
Strategien, d.h. Techniken <strong>der</strong> inneren Disziplinierung (z.B. Iss<br />
weniger! Rauch weniger! Mach mehr Bewegung!), jedoch lässt<br />
sich auch das Fortbestehen repressiver Formen zeigen. Dies gilt<br />
etwa für den Ansatz <strong>der</strong> »Null Toleranz« <strong>der</strong> New Yorker<br />
Polizei, wonach selbst kleinste Regelverstöße, wie z.B. Trinken<br />
von Alkohol in <strong>der</strong> Öffentlichkeit hart und schnell geregelt werden.<br />
Dies gilt aber auch im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Kontrolle<br />
rechtsradikaler Strömungen, Gewalt in Schulen o<strong>der</strong><br />
Sexualdelikten (vgl. Hoops/Permien/Rieker 2001). Allen<br />
Maßnahmen <strong>der</strong> sozialen Kontrolle ist jedenfalls gemeinsam,<br />
dass sie die Bandbreite menschlichen Verhaltens auf Typen von<br />
sozial erwünschten »Sozialcharakteren« einzuengen versuchen.<br />
Normen und soziale Abweichung<br />
in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
Die Bedeutung <strong>der</strong> Normenfrage in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> stellt<br />
sich vor dem Hintergrund ihres Engagements innerhalb konkreter<br />
Konfliktverhältnisse auf individueller, interaktiver und<br />
struktureller Ebene. Dieses Engagement erhält Orientierungen<br />
durch gesellschaftlich-sozialpolitische Funktionszuschreibungen<br />
und institutionell-administrative Vorgaben wie auch durch<br />
Selbstkonzepte und Programme Sozialer <strong>Arbeit</strong>. Basierend auf<br />
<strong>der</strong> Unterscheidung in helferische und erzieherische Normen<br />
kann eine gewisse »Pädagogisierung« <strong>der</strong> Hilfe festgestellt
Norm und Abweichung 165<br />
werden, d.h. die Verknüpfung von Hilfeleistung mit Verhaltenserwartungen,<br />
wobei aus <strong>der</strong> Verbindung von Erziehung und<br />
Hilfe in einer einzigen Berufsrolle des Sozialarbeiters<br />
Normenkonflikte entstehen können (vgl. Biermann 2007).<br />
Staub-Bernasconi (2005) hat in ihrer disziplinären Bestimmung<br />
<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> drei Paradigmen herausgearbeitet, die<br />
unterschiedliche normativen Rahmen sozialen Handelns anbieten.<br />
Als erstes Paradigma nennt sie das egozentrische, welches<br />
den individuellen Wert Freiheit als wesentliche Handlungsmaxime<br />
in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ausweist. Dieser normative<br />
Anspruch stellt sich dann im Zusammenhang mit abweichendem<br />
(kriminellen) Verhalten so dar, dass SozialarbeiterInnen<br />
die Partei <strong>der</strong> KlientInnen gegen die »ungerechte« Gesellschaft<br />
ergreifen und manchmal sogar in Kauf nehmen, selbst belogen<br />
und bestohlen zu werden. Als zweites Paradigma nennt Staub-<br />
Bernasconi das soziozentrische, in dem soziale Werte des<br />
Zusammenhalts, <strong>der</strong> gesellschaftlichen Stabilität und Ordnung<br />
an oberster Stelle stehen. Individuen haben demnach »möglichst<br />
viele verallgemeinerbare Pflichten zur Erhaltung <strong>der</strong><br />
strukturellen Ordnung unter Gleichen und Ungleichen zu übernehmen«<br />
(Staub-Bernasconi 2005, 252). Als drittes Paradigma<br />
wird das prozessual-systemische angeführt. Dieses versucht<br />
den egozentrischen und den soziozentrischen zu vereinen. In<br />
diesem Ansatz geht es sowohl um Probleme von Individuen als<br />
auch sozialstrukturelle Hemmnisse als Basis für Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />
Wesentlich ist in dieser Verlinkung von Mikro- und<br />
Makroebene die Berücksichtung von Machtaspekten.<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> ist stets nicht nur als eine Form <strong>der</strong> Hilfe son<strong>der</strong>n<br />
auch als eine Form <strong>der</strong> Kontrolle anzusehen, wobei diese<br />
Verdopplung (vgl. Sünker 1995, 81) als eine historische<br />
Konsequenz <strong>der</strong> Vergesellschaftung von Hilfe angesehen wird.<br />
Durch diese Dopplung <strong>der</strong> Funktion in Hilfe und Kontrolle<br />
wird Soziale <strong>Arbeit</strong> in einen Zusammenhang mit Fragen nach<br />
sozialen Normen und abweichendem Verhalten gestellt und als<br />
eine darauf bezogene Interventionsform betrachtet. Lange Zeit
166<br />
Norm und Abweichung<br />
war man davon ausgegangen, dass die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft in<br />
zunehmendem Maße Inklusionsmöglichkeiten für Je<strong>der</strong>mann<br />
bereithalten würde. Es galt das »Prinzip <strong>der</strong> Inklusion aller in<br />
alle Funktionssysteme« (Luhmann 1995). Doch das Postulat<br />
einer allumfassenden Inklusion erweist sich wie jede Norm als<br />
sehr enttäuschungsresistent. Die soziale Realität entspricht keineswegs<br />
den Vorgaben dieses Imperativs.<br />
Erhebliche Schwierigkeiten ergeben sich für die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
vor dem Hintergrund des allgemeinen Kontrollbedürfnisses in<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft. Sie wird in die Rolle <strong>der</strong> kontrollierenden<br />
Instanz gedrängt, d.h. sie übt nicht nur soziale Kontrolle aus,<br />
son<strong>der</strong>n sie ist auch eine Instanz, die sozialer Kontrolle unterliegt<br />
(vgl. Biermann 2007). Sie soll kontrollieren, ob dies nun<br />
die Medikamenteneinnahme von KlientInnen betrifft o<strong>der</strong> die<br />
sachgerechte Verwendung von öffentlichen Gel<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> den<br />
Tagesablauf von Haftentlassenen. Damit wird <strong>der</strong> Anspruch <strong>der</strong><br />
»Hilfe zur Selbsthilfe« konterkariert. Die »Hilfe« soll sowohl<br />
ergebnisorientiert, nachhaltig und effektiv sein, als auch nicht<br />
bevormundend und kein Verhältnis <strong>der</strong> Abhängigkeit erzeugen.<br />
Dabei wäre es notwendig, die Gültigkeit sozialer Normen als<br />
solches in Frage zu stellen, wie dies Judith Butler zeigt.<br />
Judith Butler (2003) befasst sich mit dem Verhältnis zwischen<br />
dem ethischen Subjekt und <strong>der</strong> in einer Gesellschaft tradierten<br />
Norm. Es geht dabei darum, welche Normen innerhalb eines<br />
gegebenen sozialen bzw. historischen Kontextes schon vorab<br />
entscheiden, ob ein Subjekt Anerkennung und Gehör finden<br />
kann und o<strong>der</strong> nicht. Normen entscheiden bereits vorweg darüber,<br />
wer Subjekt wird und wer nicht. Welche Normen sind es,<br />
denen Individuen gleichzeitig in gleicher und in höchst unterschiedlicher<br />
Form unterliegen? Während bestimmte Individuen<br />
von Vornherein in ihrer Subjekthaftigkeit anerkannt werden<br />
(z.B. Weiße, Männer), werden an<strong>der</strong>e als Subjekt »ausgesetzt«.<br />
Herauszuarbeiten gilt es in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> den Bezugsrahmen,<br />
<strong>der</strong> Anerkennung ermöglicht o<strong>der</strong> nicht. Es gibt vor<br />
je<strong>der</strong> möglichen Übernahme, Aneignung o<strong>der</strong> Überschreitung
Norm und Abweichung 167<br />
einzelner Normen bereits ein durch vorgängige Normen überhaupt<br />
erst eröffnetes Feld, das für ein Subjekt konstitutiv ist und<br />
den Schauplatz je<strong>der</strong> Anerkennung bestimmt. Beson<strong>der</strong>es problematisch<br />
sind soziale Normen dort, wenn sie zu einem<br />
Universalitätsgesetz erstarren und neue ethische Ansprüche<br />
zurückgewiesen werden. Das gilt etwa für den Topos <strong>der</strong><br />
»deserving poor«. In diesem Kontext kann von struktureller<br />
Gewalt gesprochen werden. Soziale Normen entziehen sich<br />
ihrer historischen und kulturellen Kontingenz, wenn kulturelle<br />
Beson<strong>der</strong>heiten und die Entstehungsbedingungen, denen soziale<br />
Normen unterliegen, außer Acht gelassen werden.<br />
Die Soziale <strong>Arbeit</strong> selbst befindet sich in einem bürokratisch<br />
und marktwirtschaftlich regulierten »social services complex«<br />
gefangen. In diesem Komplex geht es mehr um Verwaltung<br />
o<strong>der</strong> auch Marketing von Aktivitäten als um die <strong>Arbeit</strong> selbst.<br />
Die Soziale <strong>Arbeit</strong> ist dort gefährdet, wo sie Normen und<br />
Gesetze bloß anwendet und diese zuwenig in ihren Macht- und<br />
Begrenzungsaspekten reflektiert. Die Eigenständigkeit <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> wird sich in Zukunft daran bewerten lassen,<br />
inwieweit sie ihre Wi<strong>der</strong>ständigkeit gegenüber Kontrollzumutungen<br />
aufrecht erhält bzw. diesen entgegentritt. Die<br />
Kontrollformen werden unpersönlicher, abstrakter und zunehmend<br />
mit dem Zwang zur individuellen Abarbeitung versehen.<br />
Hier braucht es ein Korrektiv durch die Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />
Zu erwarten ist eine weitere Diversifizierung <strong>der</strong> Wert- und<br />
Moralvorstellungen und eine höhere Akzeptanz sozialer und<br />
kultureller Abweichungen. Als Beispiel mag hier die<br />
Hinzuziehung von illegalen Pflegekräften in <strong>der</strong> Altenbetreuung<br />
genannt werden, wo von einer strukturell erzeugten<br />
Abweichung gesprochen werden kann, <strong>der</strong>en Ahndung individuelle<br />
Empörung ausgelöst hat. Eine Ausrichtung <strong>der</strong><br />
Individuen an festen Normen und eine präzise Unterscheidung<br />
zwischen normal und anormal sind damit nur mehr bedingt<br />
möglich. Übrig bleiben situations- und kontextabhängige<br />
Wertprioritäten, die keinen allgemeingültigen Anspruch erhe-
168<br />
ben. Eine Logik des Risikos prägt die gegenwärtige Formation<br />
von Norm-Abweichung, die auch von <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
durch entsprechende theoretisch-methodische und politische<br />
Konzepte zu berücksichtigen wäre. Ein Schritt in diese<br />
Richtung findet sich in <strong>der</strong> »Wiener Erklärung zur Ökonomisierung<br />
und Fachlichkeit in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>« 3 .<br />
Anmerkungen<br />
1 http://www.dbsh.de/html/hauptteil_wasistsozialarbeit.html [Zugriff:<br />
24.9.2007]<br />
2 http://www.nadir.org/nadir/archiv/netzkritik/postskriptum.html<br />
[Zugriff: 3.1.2008]<br />
3 http://www.oberoesterreich-sozialarbeit.at/download/Wiener<br />
Erklaerung_04062007.pdf [Zugriff: 4.1.2008]<br />
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Einführung in Hauptbegriffe <strong>der</strong> Soziologie. 7. Aufl. Wiesbaden, 23-<br />
44.<br />
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Wehrheim, Jan (2002): Die überwachte Stadt. Opladen.
Prävention und Disziplinierung<br />
Agnieszka Dzierzbicka<br />
Iss doch kein weißes Brot,<br />
sonst bist du morgen tot<br />
Wir meinen’s gut mit dir<br />
Wir schützen dich vor dir<br />
(Chuzpe – Die guten Kräfte)<br />
Kampagnen, die <strong>der</strong> Prävention von Gewalt und Sucht, <strong>der</strong><br />
Ausbreitung von Krankheiten o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Disziplinierung von<br />
BürgerInnen ob ihrer ungesunden Lebensweise, ihres unrühmlichen<br />
Verhaltens – wie mangelnde Mülltrennung o<strong>der</strong> etwa die<br />
Überschreitung von Geschwindigkeitsbegrenzungen – dienen,<br />
stehen zurzeit hoch im Kurs: Ihretwegen werden Lebensgewohnheiten<br />
unter die Lupe genommen, mehr o<strong>der</strong> weniger<br />
kreative Verhaltens-, Bewegungs- und Ernährungsimperative<br />
formuliert und nicht zuletzt lukrative Allianzen zwischen<br />
Politik, Ökonomie und Medien geschlossen. Der Anlassfall für<br />
den Boom um die »richtige« Lebensführung ist sattsam<br />
bekannt, eine statistische Gleichung, die nicht länger aufgehen<br />
will: Menschen bestimmter Regionen werden immer älter, <strong>der</strong><br />
Preis dafür immer höher. Wurde jedoch bis vor kurzem in diesem<br />
Zusammenhang <strong>der</strong> Fokus auf die Kin<strong>der</strong>losigkeit (<strong>der</strong><br />
europäischen Mittelschicht) gelegt, so rückt nun <strong>der</strong> Lebensstil<br />
an sich ins Zentrum. Fettes Essen, Rauchen, Alkoholgenuss und<br />
mangelnde Bewegung machen, wie immer wie<strong>der</strong> betont wird,<br />
nicht nur unglücklich, son<strong>der</strong>n treiben auch die Gesundheitskosten<br />
in die Höhe. Damit sorgt <strong>der</strong> klinisch anmutende Begriff<br />
Prävention für Furore. Egal ob in <strong>der</strong> nüchternen Welt <strong>der</strong><br />
Medizin o<strong>der</strong> in schicken Lifestylemagazinen, allerorts hat man<br />
sich dem vorbeugenden und nachhaltigen Denken, Handeln<br />
und Leben verschrieben.
Prävention und Disziplinierung 171<br />
Wesentlich länger und freilich weniger lukrativ aber nicht min<strong>der</strong><br />
penetrant wird auch das Feld <strong>der</strong> Sozialarbeit in die Pflicht<br />
genommen, wenn es darum geht, jene, die als gefährdet eingeschätzt<br />
werden – gefährdet aus dem gesellschaftlichen System<br />
und seinen Spielregeln heraus zu fallen und damit das System<br />
selbst zu gefährden –, zu stützen. Auch hier ist es längst eine<br />
Binsenweisheit, dass Vorbeugung besser als «Heilen« ist: Ob<br />
Gewaltprävention, Suchtprävention o<strong>der</strong> Schuldenprävention,<br />
je früher interveniert wird, desto wirkungsvoller und freilich<br />
billiger die Maßnahmen. Doch wie schon angedeutet, mit einer<br />
Intervention allein ist es nicht getan. Was wäre jede<br />
Vorbeugemaßnahme ohne einen Rückgriff auf die Disziplinierung,<br />
im optimalen Fall die Selbstdisziplinierung? Sie wäre<br />
dazu verdammt als eine punktuelle Maßnahme zu verpuffen.<br />
Dass es aber vor diesem Hintergrund ein sehr altes und bewährtes<br />
Wissen über die Techniken und Technologien <strong>der</strong><br />
Disziplinierung gibt, das innerhalb sozialer Einrichtungen über<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te mit Akribie und Hartnäckigkeit tradiert und<br />
gepflegt wurde, das hat Michel Foucault in Überwachen und<br />
Strafen (1975) auf eine für diese Einrichtungen wenig schmeichelnde<br />
Art und Weise veranschaulicht. Im Folgenden wird<br />
diese Kritik nachgezeichnet und darüber hinaus die These vertreten,<br />
dass mit <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong> wohlfahrtsstaatlichen Institutionen<br />
nun konsequenterweise auch in <strong>der</strong> sozialen Praxis vermehrt<br />
auf den Begriff <strong>der</strong> Prävention zurückgegriffen wird. Ein<br />
Umstand, <strong>der</strong> meines Erachtens die Problematik um die<br />
Disziplinierung im Rahmen dieser Praxis keinesfalls entschärft<br />
wie ich aufzeigen möchte.<br />
Die Etablierung <strong>der</strong> Disziplinen<br />
In Überwachen und Strafen beschreibt Michel Foucault das<br />
Brüchigwerden <strong>der</strong> souveränen Macht und die darauf beruhende<br />
Formierung <strong>der</strong> von ihm so genannten Disziplinar-
172<br />
Prävention und Disziplinierung<br />
gesellschaften. Am Beispiel <strong>der</strong> allmählichen Verdrängung <strong>der</strong><br />
Marter im 17./18. Jahrhun<strong>der</strong>t und <strong>der</strong> Implementierung des<br />
mo<strong>der</strong>nen Strafvollzugs wird hier <strong>der</strong> Wandel <strong>der</strong> abendländischen<br />
Gesellschaften in Begriffen und Bil<strong>der</strong>n skizziert, die<br />
keine Spuren jener Euphorie o<strong>der</strong> Aufbruchsstimmung aufweisen,<br />
die für die Zeit <strong>der</strong> Aufklärung und ihre industriellen<br />
Möglichkeiten charakteristisch sind: »Damit betreten wir das<br />
Zeitalter <strong>der</strong> sozialen Orthopädie, wie ich es nennen möchte. Es<br />
handelt sich um eine Form von Macht und einen Gesellschaftstyp,<br />
die ich im Unterschied zu den vorangegangenen<br />
Strafgesellschaften als Disziplinargesellschaft bezeichne«<br />
(Foucault 2002, 734). Die Strafgesellschaften sind abhängig<br />
von vorherrschenden Strafgewohnheiten, es handelt sich dabei<br />
um »hypothetische Gesellschaften« (ebd., 569). Sie stellen eine<br />
modellhafte Typisierung vor, <strong>der</strong>en Charakterisierung vom<br />
Umgang <strong>der</strong> Gesellschaften mit Straffälligen und Abweichenden<br />
abhängig ist. So unterscheidet Foucault vier<br />
Gesellschaftstypen: griechische Gesellschaften, die verbannen,<br />
germanische Gesellschaften, die im Fall eines Vergehens einen<br />
Freikauf for<strong>der</strong>n, abendländische Gesellschaften am Ende des<br />
Mittelalters, die »ein Zeichen im Körper einschreiben« – die<br />
Souveränitätsgesellschaften 1 , und schließlich Gesellschaften,<br />
die einsperren – die Disziplinargesellschaften. Die Formierung<br />
<strong>der</strong> Disziplinargesellschaft ist auf das Engste mit dem Umstand<br />
verbunden, dass die bis dahin übliche Manifestation <strong>der</strong><br />
Herrschaft, die leibliche Marter, ausgedient hat. Der schnelle<br />
Tod durch die Guillotine bzw. den Strick setzt <strong>der</strong> langwierigen<br />
öffentlichen Folter ein Ende.<br />
Was haben nun Foucaults historisch-soziologische Analysen<br />
einer längst vergangenen Zeit und daraus resultierenden philosophischen<br />
Überlegungen mit aktuellen <strong>Leitbegriffe</strong>n <strong>der</strong><br />
Sozialarbeit zu tun? Es sind unter an<strong>der</strong>en zwei Motive, die<br />
Foucault für die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Praxisfeld <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> und seiner gegenwärtigen Verfasstheit spannend<br />
und fruchtbar machen: seine Analysen des gesellschaft-
Prävention und Disziplinierung 173<br />
lichen Wandels und <strong>der</strong> damit einhergehenden Brüche und<br />
Kontinuitäten sowie seine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem<br />
Komplex Macht/Wissen entlang <strong>der</strong> Frage, wie die Gesellschaft<br />
mit von <strong>der</strong> Norm Abweichendem umgeht, präziser, wie sie<br />
Abweichungen zu verhin<strong>der</strong>n sucht.<br />
»Zu Beginn des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts geht also das große<br />
Schauspiel <strong>der</strong> peinlichen Strafe zu Ende; man schafft den<br />
gemarterten Körper beiseite; man verbannt die Inszenierung<br />
des Leidens aus <strong>der</strong> Züchtigung« (Foucault 1995a, 22 f.). An<br />
ihre Stelle tritt die Disziplinierung des Körpers, <strong>der</strong> sich in<br />
Anbetracht gesellschaftlicher und technischer Umwälzungen<br />
als eine nutzbare Kraft zeigt. Also auch hier finden wir bereits<br />
die Frage <strong>der</strong> gesellschaftlichen Ökonomisierungstendenzen als<br />
Motor zum Wandel von Institutionen: Und so geraten von nun<br />
an das Leben und seine Verwaltung an Stelle des Todes in den<br />
Sog von Diskurs- und Machtwirkungen. In späteren Schriften<br />
präzisierte Foucault diese Zäsur am Beispiel des Zugriffs auf<br />
das Leben <strong>der</strong> Gesetzesbrechenden im Beson<strong>der</strong>en und das<br />
Leben <strong>der</strong> Bevölkerungen im Allgemeinen: »Man könnte<br />
sagen, das alte Recht, sterben zu machen o<strong>der</strong> leben zu lassen,<br />
wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen o<strong>der</strong> in den<br />
Tod zu stoßen« (Foucault 1997, 165; Hervorhebungen im<br />
Orig.).<br />
Das »Leben« wird also zum bestimmenden Faktor im gesellschaftlichen<br />
Gefüge. Die für seine Verwaltung notwendigen<br />
Institutionen, die großen Einsperrungen bzw. Einschließungen<br />
– die Schulen, die Kasernen, die Fabriken, die Krankenhäuser<br />
wie auch die Gefängnisse –, formieren sich im 17./18.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t um das Individuum und werden zur allgemeinen<br />
Herrschaftsform (vgl. Foucault 1995a). Wie Foucault nicht<br />
müde wurde zu beschreiben, werden diese Institutionen maßgeblich<br />
für eine bestimmte Art von permanenter Unterdrückung<br />
im Alltagsleben verantwortlich: Der Einzelne wird ins Zentrum<br />
des Produktivitätsdenkens <strong>der</strong> Waren herstellenden bürgerlichen<br />
Gesellschaft beför<strong>der</strong>t und von ihren Institutionen fest
174<br />
Prävention und Disziplinierung<br />
umschlossen. »Was in <strong>der</strong> Schule, in <strong>der</strong> Armee überhand<br />
nimmt, ist eine Mikro-Justiz <strong>der</strong> Zeit (Verspätungen,<br />
Abwesenheiten, Unterbrechungen), <strong>der</strong> Tätigkeit (Unaufmerksamkeit,<br />
Nachlässigkeit, Faulheit), des Körpers (›falsche‹<br />
Körperhaltungen und Gesten, Unsauberkeit), <strong>der</strong> Sexualität<br />
(Unanständigkeit)« (Foucault 1995a, 230).<br />
Das von Foucault beschriebene Disziplinarregime entpuppt sich<br />
also kurzerhand als eine Macht <strong>der</strong> Normierung und Normalisierung,<br />
hegemoniale Strukturen finden ihren Ausdruck in <strong>der</strong><br />
Anpassung und Einglie<strong>der</strong>ung des Abweichenden. Zentraler<br />
Begriff dabei ist, wie <strong>der</strong> Name schon verrät, die Disziplin, die<br />
– disziplinäre Wissenschaft und disziplinierende Institutionen<br />
subsumierend – jene Schnittstelle <strong>der</strong> Macht, die Produktivkräfte<br />
(z.B. menschliche <strong>Arbeit</strong>skraft, Maschinen, Rohstoffe)<br />
und Wissen (bereitgestellt durch die Humanwissenschaften) zu<br />
einen und zu funktionalisieren »weiß«. Nicht das vernunftbegabte<br />
und gerade vertragsfähig gewordene Individuum wird für<br />
die Gestaltung <strong>der</strong> Produktionsbedingungen und Produktivität<br />
in dieser Zeit bestimmend, son<strong>der</strong>n die Etablierung und<br />
Stärkung von hierarchisch organisierten Strukturen, die die<br />
Produktion gewährleisten und in Gang halten. Tayloristisches<br />
Management und fordistische Produktionsweise werfen ihre<br />
Schatten voraus und prägen das Menschenbild entgegengesetzt<br />
zu einem an Autonomie ausgerichteten Emanzipationsideal. So<br />
mündet die Stilisierung <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong> von einem notwendigen Übel<br />
zu einer positiven, sinnstiftenden Aufgabe in <strong>der</strong> passgenauen<br />
Austauschbarkeit von Einzelteilen wie auch von <strong>Arbeit</strong>enden<br />
(vgl. Ribolits 1997). Ermöglicht wird diese Austauschbarkeit<br />
durch die Disziplinen, die definieren, »wie man die Körper <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen<br />
zu lassen, was man verlangt, son<strong>der</strong>n um sie so arbeiten zu lassen,<br />
wie man will: mit den Techniken, mit <strong>der</strong> Schnelligkeit, mit<br />
<strong>der</strong> Wirksamkeit, die man bestimmt« (Foucault 1995a, 176 f.).
Prävention und Disziplinierung 175<br />
Normalisierung: Die aufgeklärte, produktive Masse<br />
Die Vereinnahmung des Alltags durch das Diktat einer<br />
bestimmten Ökonomie <strong>der</strong> Macht, <strong>der</strong> »Akkumulation von<br />
Kapital und Menschen« (Foucault 1995a, 283), fällt somit<br />
bemerkenswerterweise bereits in jene Zeit, die eigentlich als<br />
Befreiung des Menschen aus seiner Unmündigkeit in die<br />
Geschichte eingehen sollte: Indem <strong>der</strong> Mensch beschließt,<br />
seine Lebensführung kraft <strong>der</strong> eigenen Vernunft in die Hand zu<br />
nehmen, werden das »neuzeitliche subjektivistische Menschenverständnis«<br />
und die Pädagogik mit ihrem prononcierten<br />
Auftrag begründet, Wissen und Methoden für die Aufklärung<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft bereitzustellen (vgl. Ballauf/Schaller 1970,<br />
326). Das mo<strong>der</strong>ne Erziehungsverständnis ergibt sich also erst<br />
mit <strong>der</strong> Vorstellung, dass <strong>der</strong> Mensch »allein und ausschließlich<br />
für sich als vernünftiges Wesen verantwortlich zu sein habe und<br />
dass dies von <strong>der</strong> Erziehung abhängig sei, dass also die<br />
Erziehung den für sich selbst verantwortlichen Menschen ›hervorbringen‹<br />
könne« (Schäfer 2005, 27). Foucault sieht die<br />
Entstehung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Pädagogik und ihrer späteren<br />
Subdisziplinen selbstverständlich in keinem aufklärerischen<br />
Licht, son<strong>der</strong>n im Dienst <strong>der</strong> Disziplinarmacht. So wird die<br />
Sozialpädagogik »nützlich«, indem sie beispielsweise »beim<br />
faulen Subjekt« den Geschmack an <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong> weckt – »wer<br />
leben will, muß arbeiten« (Foucault 1995a, 157). Deshalb verwun<strong>der</strong>t<br />
Foucaults Fazit hinsichtlich <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Transformationen an <strong>der</strong> Schwelle zwischen Klassik und<br />
Mo<strong>der</strong>nität wohl wenig: »›Aufklärung‹, welche die Freiheiten<br />
entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden« (ebd., 285).<br />
Was nun auf den ersten Blick wi<strong>der</strong>sprüchlich und unvereinbar<br />
wirkt, nämlich die Befreiung bei gleichzeitiger Unterdrückung<br />
des Menschen, lässt sich durchaus zusammenführen, wenn in<br />
Betracht gezogen wird, dass in diesem Fall eine Verzahnung<br />
individueller Interessen mit gesellschaftlichem Fortschritt stattgefunden<br />
hat. Auf diese Weise konnten komplexe Diszipli-
176<br />
Prävention und Disziplinierung<br />
nierungsakte im Namen von Leistung, Fortschritt, Bildung und<br />
Produktivität <strong>der</strong>maßen »trivialisiert« werden, dass sie eben<br />
selbstverständlich und normal erschienen: »Wie sollte das<br />
Gefängnis nicht unmittelbar akzeptiert werden, wo es doch,<br />
indem es einsperrt, herrichtet, fügsam macht, nur die<br />
Mechanismen des Gesellschaftskörpers – vielleicht mit einigem<br />
Nachdruck – reproduziert? Das Gefängnis ist eine etwas<br />
strenge Kaserne, eine unnachsichtige Schule, eine düstere<br />
Werkstatt, letztlich nichts qualitativ Verschiedenes« (ebd., 297).<br />
Ob nun das Gefängnis o<strong>der</strong> die Schule – beide Institutionen stehen<br />
im Dienste einer Normalisierungsmaschinerie, die aus<br />
unübersichtlicher Masse eine geordnete Vielheit macht, die sich<br />
reproduziert, Ziele verfolgt und zu erfüllen trachtet. Zugleich<br />
sind es aber auch die Normalisierungsmechanismen, die dem<br />
Menschen ein Verständnis seiner Existenz ermöglichen: Als<br />
»Subjekt« wird <strong>der</strong> Mensch einerseits zu einem freien, eben für<br />
sein Handeln in <strong>der</strong> Gesellschaft verantwortlichen, da vernunftbegabten<br />
Menschen, an<strong>der</strong>erseits bedeutet dieses Freisein<br />
immer auch einen Akt <strong>der</strong> Unterwerfung angesichts <strong>der</strong> in den<br />
Einschließungen/Staatsapparaten vorherrschenden Normen und<br />
Normalisierungsmechanismen. Theodor W. Adorno und Max<br />
Horkheimer beschrieben diese dialektische Wendung als die<br />
»Absurdität des Zustandes«, <strong>der</strong> die Menschen zwar aus <strong>der</strong><br />
Gewalt <strong>der</strong> Natur herausführt, aber mit jedem ausgeführten<br />
Schritt »die Gewalt des Systems über den Menschen« wachsen<br />
lässt. (Horkheimer/Adorno 2000, 45) Für die Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Kritischen Theorie wird damit die Vernunft als ein strukturelles<br />
Problem wahrgenommen. Die befreiende Macht <strong>der</strong> Vernunft<br />
birgt per se ein Moment <strong>der</strong> Unvernunft in sich. So erlangt <strong>der</strong><br />
Mensch Herrschaft über die Welt »ohne Rücksicht auf<br />
Unterschiede« und lässt die Natur zur »bloßen Objektivität«<br />
werden. Doch diese Vermehrung an Macht müssen die<br />
Menschen mit Entfremdung bezahlen, ausgerechnet mit »<strong>der</strong><br />
Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben« (ebd.,<br />
14 f.). Auf den Punkt gebracht verstrickt sich <strong>der</strong> Mensch mit
Prävention und Disziplinierung 177<br />
jedem Schritt aus <strong>der</strong> Abhängigkeit in eine an<strong>der</strong>e Abhängigkeit.<br />
»Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die<br />
Anerkennung <strong>der</strong> Macht als des Prinzips aller Beziehungen«<br />
(ebd., 15).<br />
Für den Strukturalisten Althusser liegt das Dilemma bereits<br />
darin, dass <strong>der</strong> Subjektbegriff an sich für die bürgerliche<br />
Ideologie konstitutiv ist: »Wir behaupten außerdem, daß die<br />
Ideologie in einer Weise ›handelt‹ o<strong>der</strong> ›funktioniert‹, daß sie<br />
durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung<br />
(interpellation) nennen, aus <strong>der</strong> Masse <strong>der</strong> Individuen Subjekte<br />
›rekrutiert‹ (sie rekrutiert sie alle) o<strong>der</strong> diese Individuen in<br />
Subjekte ›transformiert‹ (sie transformiert sie alle)« (Althusser<br />
1977, 142). Althusser zieht aus <strong>der</strong> allmächtigen, »ewigen«<br />
Anrufung »He, Sie da!« (ebd.), die kein Entkommen vorsieht,<br />
einen pragmatischen, definitiven Schluss: Um zu einer<br />
Erkenntnis gelangen zu können, muss ein wissenschaftlicher<br />
Diskurs über Ideologie »ohne Subjekt« auskommen (Althusser<br />
1977, 142). Ist dies für eine sozialpädagogische Analyse möglich?<br />
Einen Versuch gilt es zu wagen.<br />
Lässt man sich also auf die machtanalytischen Untersuchungen<br />
in Foucaults Überwachen und Strafen ein, so erscheinen die<br />
Gesellschaft und ihre Institutionen in einem düsteren Licht.<br />
Selbst soziale Errungenschaften <strong>der</strong> Nachkriegszeit – formuliert<br />
in <strong>der</strong> Idee des Wohlfahrtsstaates – entpuppen sich in <strong>der</strong><br />
Foucault’schen Logik bei näherer Betrachtung als Facetten <strong>der</strong><br />
ungeheuren Disziplinarmacht. Diese Macht durchdringt, diszipliniert<br />
und normiert im Namen des Fortschritts und einer<br />
(mittlerweile zweifelhaft gewordenen) Produktivität den<br />
Gesellschaftskörper, <strong>der</strong> in den Institutionen, die das<br />
Individuum einschließen, nun formbar wird. So wechseln<br />
Menschen von einer einschließenden Institution zur nächsten.<br />
Aller Anfang ist die Familie, dann folgen die Schul- und<br />
Bildungsanstalten, für manche die Kaserne, die Fabrik bzw. <strong>der</strong><br />
Betrieb, zeitweilig das Krankenhaus, eventuell das Gefängnis<br />
(vgl. Foucault 1995a). Jede dieser Einschließungen ist durch
178<br />
Prävention und Disziplinierung<br />
eigene Gesetze und Verfahren charakterisiert und bedeutet<br />
zugleich immer auch Ausschließung. Zunächst erscheinen diese<br />
Institutionen als voneinan<strong>der</strong> divergierend und divergent. Bei<br />
einer näheren Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass<br />
diese so hermetisch abgeschlossenen Milieus einan<strong>der</strong> konvergierend<br />
fortschreiben, immer aufeinan<strong>der</strong> verweisen: Der vertraute<br />
Satz »Du bist hier nicht zu Hause« (Deleuze 1993, 254)<br />
findet sich im Alltagsdiskurs <strong>der</strong> Einschließung Schule ebenso<br />
wie auch die Drohung: »Wenn du dann mal wirklich im Beruf<br />
stehst!« Im letzteren Fall entsinnt sich die Einschließung<br />
Schule eines ihrer Aufträge, nämlich <strong>der</strong> Vorbereitung auf die<br />
nächste Einschließung, das Berufsleben. Die stehende<br />
Wendung »Du bist hier nicht mehr in <strong>der</strong> Schule!« fungiert<br />
wie<strong>der</strong>um als eine Antwort <strong>der</strong> Einschließung Betrieb, wenn<br />
gegen <strong>der</strong>en Regelwerk verstoßen wird. Auf diese Weise<br />
erscheinen alle Varianten <strong>der</strong> Einschließungen letztlich als ein<br />
einziges System ineinan<strong>der</strong> greifen<strong>der</strong> Disziplinierungs- und<br />
Normierungsmechanismen, die in den entwicklungspsychologisch<br />
bedingten und sozial bestimmten Lebensentwürfen wirksam<br />
sind und – über die Einschließungsfunktion hinaus –<br />
Komponenten des Anschließens beinhalten. Und wenn all die<br />
Drohungen, Ermahnungen keine Wirkung zeitigen, dann gibt es<br />
– frei nach Foucault – immer noch die Sozialarbeit.<br />
Der Gesellschaftskörper tritt also in <strong>der</strong> Disziplinargesellschaft<br />
in den Hintergrund und <strong>der</strong> gleichsam »erfundene« individualisierte,<br />
auszubildende Körper rückt ins Zentrum <strong>der</strong><br />
Einflussnahme. Es ist <strong>der</strong> individualisierte Körper, <strong>der</strong> in jener<br />
Zeit-Raum-Achse <strong>der</strong> Produktivität positioniert werden kann,<br />
welche die Summe <strong>der</strong> Einzelkräfte in einem nie zuvor gekannten<br />
Ausmaß zu übertreffen vermag. Die Funktion <strong>der</strong> einschließenden<br />
Institutionen jedoch ausschließlich auf die Normierung<br />
und Disziplinierung zurückzuführen, wäre eine verkürzende<br />
Vorgehensweise, denn es kann davon ausgegangen werden,<br />
dass eine Normierung, die nicht zweckgerichtet ist, sich auf<br />
lange Sicht erschöpft. Eine mögliche Erklärung für den beacht-
Prävention und Disziplinierung 179<br />
lichen Erfolg und die Wirksamkeit <strong>der</strong> Disziplinierungssysteme<br />
könnte vielmehr in ihrer weiteren Funktion liegen, nämlich in<br />
jener <strong>der</strong> Sinnstiftung.<br />
So sind den normierenden Leistungen <strong>der</strong> Einschließungen die<br />
anzustrebenden Lebensziele bzw. Wünsche und Sehnsüchte <strong>der</strong><br />
Einzelnen inhärent. Dieses spezifische Verhältnis lässt sich<br />
zwischen den zwei Polen gesellschaftlicher Fortschritt und<br />
persönlicher Erfolg verorten 2 . Dadurch entsteht ein<br />
Spannungsfeld, das Einschließungen so effizient und beständig<br />
macht wie die Disziplinargesellschaften produktiv – ein<br />
Spannungsfeld, das Emanzipation und Unterwerfung des mit<br />
Vernunft ausgestatteten mo<strong>der</strong>nen Subjekts überhaupt erst<br />
ermöglicht. Isaiah Berlins Konzept <strong>der</strong> negativen Freiheit als<br />
Freiheit von Zwängen kollektiver Bevormundung (»freedom<br />
from«) findet hier ebenso eine Anwendung wie sein Konzept<br />
<strong>der</strong> positiven Freiheit (»freedom to«), die das Subjekt zum<br />
eigenen Herrn ermächtigt (vgl. Berlin 1995). Zwischen beiden<br />
Richtungen zerrissen, indifferent und polarisiert, findet sich das<br />
zum Einsatz <strong>der</strong> Vernunft ermächtigte Individuum <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />
in den Institutionen <strong>der</strong> Gesellschaft eingeschlossen wie<strong>der</strong>.<br />
Althussers Argument, die Subjektivierungsmechanismen als<br />
einen Akt <strong>der</strong> Unterwerfung zu betrachten, bringt dieses<br />
Dilemma auf den Punkt. Demnach ist das Subjekt nichts<br />
Ursprüngliches, son<strong>der</strong>n ein Resultat jener Verhältnisse, die<br />
Menschen als Subjekte zueinan<strong>der</strong> und zur Gesellschaft vorfinden<br />
und prägen, wobei diese Verhältnisse niemals transparent,<br />
son<strong>der</strong>n imaginär sind, da sie eben über die ideologischen<br />
Staatsapparate konstituiert und erst mit <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />
eines Rückgriffs auf repressive Staatsapparate 3 real werden.<br />
»Resultat: Gefangen in diesem […] System <strong>der</strong> Anrufung als<br />
Subjekte, <strong>der</strong> Unterwerfung unter das SUBJEKT, <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Wie<strong>der</strong>erkennung und <strong>der</strong> absoluten Garantie, ›funktionieren‹<br />
die Subjekte in <strong>der</strong> riesigen Mehrzahl <strong>der</strong> Fälle ›ganz von<br />
alleine‹ – mit Ausnahme <strong>der</strong> ›schlechten Subjekte‹, die gelegentlich<br />
das Eingreifen dieser o<strong>der</strong> jener Abteilung des (repres-
180<br />
Prävention und Disziplinierung<br />
siven) Staatsapparates provozieren« (Althusser 1977, 148;<br />
Hervorhebungen im Orig.).<br />
Von <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong> Disziplinen<br />
zum Aufstieg <strong>der</strong> Prävention<br />
Seit geraumer Zeit scheinen jedoch die Disziplinen in <strong>der</strong><br />
Krise: Die Produktivität steht nicht länger im Zeichen <strong>der</strong><br />
Stückzahl und <strong>der</strong> Stechuhr. Auch sind die einst großen<br />
Einschließungen wie Familie, Schule, Gefängnis, Fabrik o<strong>der</strong><br />
Krankenhaus seit geraumer Zeit von Prozessen <strong>der</strong> Öffnung<br />
geprägt, die im übertragenen Sinne die disziplinäre Schlinge<br />
um das Individuum gelockert haben. Diese Entwicklungen sind<br />
aber laut Deleuze bloß ein Übergangsstadium und sollten nicht<br />
über den Umstand hinwegtäuschen, dass die einstigen<br />
Einschließungen, Nachlassverwaltern ähnlich, zu Wegbereitern<br />
<strong>der</strong> Konstituierung neuer Kräfte geworden sind: »Aber je<strong>der</strong><br />
weiß, daß diese Institutionen über kurz o<strong>der</strong> lang am Ende sind.<br />
Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und<br />
die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an<br />
die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben« (Deleuze<br />
1993, 255). Disziplin und Norm garantieren in den westlichen<br />
Gesellschaften per se keine Produktivität mehr, viel eher lässt<br />
sich <strong>der</strong>en Ersetzung durch Begriffe wie Flexibilität und<br />
Motivation beobachten. Konnte in Foucaults Disziplinargesellschaft<br />
das wesentliche Moment <strong>der</strong> Macht als ein Akt <strong>der</strong><br />
Disziplinierung und Normierung benannt werden, so verweist<br />
Deleuze demgegenüber auf eine neue strategische Situation <strong>der</strong><br />
Gesellschaft. Im Postskriptum über die Kontrollgesellschaften<br />
(Deleuze 1993) findet sich Kontrolle als konstitutives Element<br />
einer neuen Gesellschaftsordnung eingeschrieben.<br />
»Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften<br />
abzulösen«, lautet die knappe Diagnose von Gilles<br />
Deleuze (Deleuze 1993, 255). 4 So tritt das Unternehmen an die
Prävention und Disziplinierung 181<br />
Stelle <strong>der</strong> Fabrik, die permanente Weiterbildung löst tendenziell<br />
die Schule ab und die kontinuierliche Kontrolle das Examen.<br />
»Bin ich noch jung genug?«, fragen sich Tom Holert und Mark<br />
Terkessidis im Vorwort zu Mainstream <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heiten. Pop<br />
in <strong>der</strong> Kontrollgesellschaft (1996). Und diese Frage ist programmatisch,<br />
denn einerseits verdeutlicht sie die Unsicherheit<br />
<strong>der</strong> 1990er Jahre, als die Zahlen von »freigesetzten« Menschen<br />
zum fixen Programmpunkt von Tagesnachrichten zu werden<br />
schienen, und an<strong>der</strong>erseits die Einschreibung <strong>der</strong> permanenten<br />
Selbstüberprüfung und Kontrolle. Wenn man in den<br />
Disziplinargesellschaften »nie aufhörte anzufangen« (in<br />
Schule, Kaserne, Fabrik), so wird man in <strong>der</strong> Kontrollgesellschaft<br />
»nie mit irgendetwas fertig«: Unternehmen,<br />
Weiterbildung und Dienstleistung, allesamt Zustände einer<br />
Modulation (Deleuze 1993, 257). Während sich das Individuum<br />
also in mehreren Einschließungen zugleich wie<strong>der</strong> findet<br />
und sich fragt, ob es genug ist – »Bin ich fit genug?«, »Bin ich<br />
gesund genug?« etc. –, scheinen die Institutionen an <strong>der</strong><br />
Kostenfrage zu scheitern. Und so befinden sich mehr als ein<br />
Jahrzehnt nach dem Erscheinen des Postskriptums die beschriebenen<br />
Institutionen immer noch in <strong>der</strong> Reformphase, eine<br />
Konsolidierungsphase scheint nicht absehbar. Das heißt,<br />
Institutionen und »Leute« sind nach wie vor in einer Art<br />
Wartelounge platziert, <strong>der</strong>en wie<strong>der</strong>kehrende Funktion die reibungslose<br />
Durchführung von Restrukturierungsmaßnahmen ist.<br />
»Bin ich gut genug?« Das bleibt als Frage neben vielen an<strong>der</strong>en,<br />
die allesamt um die Kardinalsfrage kreisen: »Habe ich<br />
genug dafür getan?« Denn die jüngsten Entwicklungen lassen<br />
den nahe liegenden Schluss zu, dass die Disziplinierung heute<br />
nur Effizienz und Produktivität zeitigt, wenn Sie im Namen <strong>der</strong><br />
Prävention statt findet. Ob marode Gesundheitssysteme o<strong>der</strong><br />
das Problem <strong>der</strong> Vollbeschäftigung, auf alles scheint die<br />
Prävention eine Antwort zu bieten. Vorsorge ist die Devise in<br />
dem einen Fall, also gesunde Ernährung, Fitness usw. usf, und<br />
Employability als die eigenverantwortlich sichergestellte
182<br />
Prävention und Disziplinierung<br />
Beschäftigungsfähigkeit im an<strong>der</strong>en. Gemeinsam ist beiden <strong>der</strong><br />
Umstand, dass das Individuum im Zuge <strong>der</strong> Selbstdisziplinierung<br />
dafür die (Vor)Sorge und Verantwortung zu tragen hat,<br />
die gegenwärtig scheinbar unumstößlichen anthropologischen<br />
Eigenschaften sein eigen zu nennen. Wie Frigga Haugg in einer<br />
Kritik so treffend herausarbeitet handelt es sich dabei um die<br />
Bereitschaft zu den drei Rs nämlich »rennen, rackern, rasen«<br />
und das Aufweisen <strong>der</strong> vier Fs »fit, fähig, flexibel, fantastisch«.<br />
(Vgl. Haugg 2003) Für das Praxisfeld Sozialarbeit ist das auf<br />
den ersten Blick erfreulich, gibt es hier genug zu tun, zu beraten,<br />
zu aktivieren und zu stützen. Auf den zweiten Blick wird es<br />
wohl immer wichtiger, sich darüber im Klaren zu werden, was<br />
die eigentliche Profession ausmacht, denn die gesellschaftlichen<br />
Entwicklungen und politisch gefällten Entscheidungen<br />
mit all ihren Folgen kann Sozialarbeit nicht abfe<strong>der</strong>n. Um so<br />
mehr scheint ein Rückgriff auf Gesellschaftstheorie unabdingbar,<br />
soll Burnout nicht als professionelle Selbstverständlichkeit<br />
zur akzeptierten Norm werden.<br />
Anmerkungen<br />
1 Hierbei ist die direkte Beziehung zwischen dem Gesetzesbrecher und<br />
dem Souverän von Bedeutung. Nicht nur ist <strong>der</strong> Souverän zur<br />
Aufklärung des Tatbestands und Einleitung <strong>der</strong> Ahndung verpflichtet,<br />
er ist auch das eigentliche Opfer des Verbrechens. Insofern es sich um<br />
seine Gesetze handelt, die überschritten werden, ist es seine absolute<br />
Macht, die untergraben wird. Mit <strong>der</strong> Peinigung bzw. dem Tode des<br />
Täters erlischt die Schuld. Die öffentliche Hinrichtung o<strong>der</strong> das<br />
Brandmal inklusive des obligaten Zur-Schau-Stellens <strong>der</strong> körperlichen<br />
Verstümmelungen wie auch die eventuelle Beteiligung des<br />
Volkes an <strong>der</strong> Sühne heben den angegriffenen Herrscher wie<strong>der</strong> auf<br />
seinen rechtmäßigen Platz <strong>der</strong> Souveränität (vgl. Foucault 1995a).<br />
2 Alain Ehrenbergs These vom erschöpften Selbst als Kennzeichen <strong>der</strong><br />
Gegenwart lässt sich als eine Bestätigung dieser These anführen.
Prävention und Disziplinierung 183<br />
Demnach leidet das Selbst <strong>der</strong>zeit an Erschöpfung und Depression,<br />
weil es – nach dem Aufweichen <strong>der</strong> autoritären Disziplinarmechanismen<br />
zugunsten <strong>der</strong> persönlichen Initiative – nun die<br />
Verantwortung für die erfolgreiche Gestaltung seines Lebens selbst<br />
tragen muss: »Der Depressive ist nicht voll auf <strong>der</strong> Höhe, er ist<br />
erschöpft von <strong>der</strong> Anstrengung, er selbst werden zu müssen.«<br />
(Ehrenberg 1998, 4). Siehe dazu auch Ulrich Bröcklings Das unternehmerische<br />
Selbst (2007).<br />
3 Althusser unterscheidet die repressiven Staatsapparate von den ideologischen,<br />
indem er ihnen eine »auf <strong>der</strong> Gewalt funktionierende<br />
Grundlage, zumindest im Ernstfall«, zuschreibt. Dazu zählen Armee,<br />
Polizei, Gerichte und Gefängnisse, also Institutionen, die in den<br />
1970er Jahren noch klar dem öffentlichen Sektor zugeordnet werden<br />
konnten, während die ideologischen Staatsapparate größtenteils »privat«<br />
schienen, etwa »die Kirchen, die Parteien, die Gewerkschaften,<br />
die Familien, einige Schulen, die Mehrzahl <strong>der</strong> Zeitungen, die kulturellen<br />
Unternehmungen usw. usf.« (Althusser 1977, 120). Beide<br />
Formen des Staatsapparates funktionieren zwar auf repressiver wie<br />
ideologischer Grundlage, allerdings lassen sich Tendenzen ausmachen,<br />
die eine Unterscheidung ermöglichen: »Der (repressive)<br />
Staatsapparat funktioniert als solcher nämlich auf massive Weise in<br />
erster Linie auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Repression (die physische inbegriffen),<br />
während er nur in zweiter Linie auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong><br />
Ideologie arbeitet (es gibt keinen rein repressiven Apparat)« (ebd.,<br />
121).<br />
4 Mit »Ablösung« ist jedoch nicht notwendigerweise eine zeitliche<br />
Reihenfolge angedacht, vielmehr geht es um Bedeutung und<br />
Wirksamkeit. Deleuzes Modell ist ein Schichtenmodell, das die<br />
Gleichzeitigkeit <strong>der</strong> Wirkungsweise von <strong>der</strong> Macht unterschiedlicher<br />
Gesellschaften denkmöglich macht: »Es könnte sein, daß alte Mittel,<br />
die den frühen Souveränitätsgesellschaften entlehnt sind, wie<strong>der</strong> auf<br />
den Plan treten, wenn auch mit den nötigen Anpassungen« (Deleuze<br />
1993, 261).
184<br />
Prävention und Disziplinierung<br />
Literatur<br />
Althusser, Louis (1977 [1965]): Ideologie und ideologische Staatsapparate.<br />
Hamburg/Westberlin.<br />
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Main.<br />
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Main.<br />
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Frankfurt am Main.<br />
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(Hg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et écrits. Band<br />
II, 1970-1975. Frankfurt am Main, 568-586.<br />
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Ribolits, Erich (1997): Die <strong>Arbeit</strong> hoch? Wien.<br />
Schäfer, Alfred (2005): Einführung in die Erziehungsphilosophie.<br />
Weinheim/Basel.
Profession und Geschlecht<br />
Margrit Brückner<br />
Ermöglichungen und Grenzen postmo<strong>der</strong>ner<br />
Vielfalt diesseits und jenseits von Professionalität<br />
Geschlecht scheint auf den ersten Blick in europäischen<br />
Gesellschaften an Bedeutung verloren zu haben, denn die<br />
Geschlechterverhältnisse vervielfältigen sich. Es herrscht nicht<br />
nur jeweils ein Männer- und ein Frauenbild vor, son<strong>der</strong>n verschiedene<br />
Formen des Mann- respektive Frauseins sind möglich,<br />
bis hin zu dekonstruktivistischen Vorstellungen, nach<br />
denen Geschlecht als aufzuhebende soziale Konstruktion gesehen<br />
wird. Auf den zweiten Blick gibt es neben all den postmo<strong>der</strong>nen<br />
Bewegungen eigentümliche Konstanten im Geschlechterarrangement,<br />
Bereiche, in denen sich wenig bis gar nichts<br />
verän<strong>der</strong>t hat: Die Mächtigen in Wirtschaft und Politik sind<br />
nach wie vor fast ausschließlich männlichen Geschlechts.<br />
Männer arbeiten in besser bezahlten Branchen und verdienen<br />
mehr als Frauen, selbst bei gleicher Ausbildung – auch in <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Wobei es zumeist Frauen sind, die erzieherische,<br />
pflegende und soziale Berufe wählen. Familienarbeit wird<br />
unabhängig von Erwerbstätigkeit ganz überwiegend von<br />
Frauen wahrgenommen – auch in den meisten egalitär gesonnenen<br />
Beziehungen. Daher gibt es weiterhin geschlechtsspezifische<br />
soziale Problemlagen. (vgl. Brückner 2003).<br />
Allen weitreichenden Verän<strong>der</strong>ungen im Geschlechterverhältnis<br />
in den letzten hun<strong>der</strong>t Jahren zum Trotz erweist sich<br />
Geschlecht weiterhin als zentrale Kategorie zur Analyse gesellschaftlicher<br />
Prozesse und individueller Handlungs- und<br />
Deutungsmuster. Von <strong>der</strong> Frauen- und Geschlechterforschung<br />
wird Geschlecht verstanden als sozial konstruiert – im<br />
Gegensatz zu biologisch vorgefunden, als kontextuell verankert
186<br />
Profession und Geschlecht<br />
und historisch variabel. Geschlecht zeigt sich auf zwei verschiedene<br />
Ebenen, die einan<strong>der</strong> bedingen:<br />
• In die gesellschaftliche Struktur ist eine hegemoniale<br />
männliche Geschlechterordnung eingelassen, die historisch<br />
und kontextuell variabel ist, denn die Geschlechterbil<strong>der</strong><br />
haben sich beträchtlich gewandelt, aber die männliche<br />
Vorherrschaft ist ökonomisch, politisch und sozial erhalten<br />
geblieben (vgl. Becker-Schmidt/Knapp 2000).<br />
• Auf <strong>der</strong> Subjektebene erweist sich Geschlecht durch alltägliche<br />
Geschlechtszuweisung und -darstellung als wesentlicher<br />
Teil <strong>der</strong> sozialen Praxis (vgl. Gildemeister 2001).<br />
Obwohl durch die Individualisierung <strong>der</strong> Lebenslagen<br />
Frau-Sein und Mann-Sein heute vielfältiger gestaltbar ist,<br />
kommt »doing gen<strong>der</strong>«, <strong>der</strong> Übernahme und Ausgestaltung<br />
geschlechtsspezifischer Muster, weiterhin eine identitätsrelevante<br />
und somit auch beruflich prägende Bedeutung zu.<br />
Die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Judith Lorber<br />
(1999) hat vor knapp zehn Jahren eine »De-Gen<strong>der</strong>ing«<br />
Debatte angestoßen, die es gilt, für Soziale <strong>Arbeit</strong> fruchtbar zu<br />
machen: Eine Entgeschlechtlichung gesellschaftlicher Strukturen,<br />
um Demokratisierungsprozesse im öffentlichen und im<br />
privaten Raum voranzutreiben. Meines Erachtens bedeutet das:<br />
»Re-Gen<strong>der</strong>ing« im Sinne des Sichtbarmachens von Geschlecht<br />
dort, wo Geschlecht drin ist, aber nicht drauf steht, um<br />
den geschlechtsspezifischen Gehalt (z.B. sozialpolitischer<br />
Maßnahmen) sichtbar zu machen und »De-Gen<strong>der</strong>ing« im<br />
Sinne <strong>der</strong> Zurückweisung von Geschlechtszuweisungen dort,<br />
wo diese an Entwertung gekoppelt ist o<strong>der</strong> mit Einengung einhergeht<br />
(z.B. unbezahlte Familienarbeit von Frauen) (vgl.<br />
Brückner 2006). Gleichzeitig dürfen an<strong>der</strong>e gesellschaftliche<br />
Differenzmechanismen wie Schichtzugehörigkeit und Ethnie<br />
mit ihrem jeweiligen Potential an sozialer Ungleichheit nicht<br />
aus dem Auge verloren werden (vgl. Knapp 2005).
Profession und Geschlecht 187<br />
Zusammenfassend bedeutet die kategoriale Einbeziehung von<br />
Geschlecht in Analysen und Handlungsformen Sozialer <strong>Arbeit</strong>,<br />
die strukturellen gesellschaftlichen Auswirkungen von<br />
Geschlecht zu erfassen und die Modi <strong>der</strong> Herstellung von<br />
Geschlecht durch die Subjekte zu benennen, um – auf <strong>der</strong> Basis<br />
demokratischer Prinzipien wie Gleichheit – an einer gerechteren<br />
Geschlechterordnung durch Kritik an den Geschlechterverhältnissen<br />
und durch geschlechterbewusste Ansätze mitzuwirken.<br />
Dabei gilt es, ein geschlechtertheoretischen Ansätzen<br />
innewohnendes Problem zu beachten: So hoch <strong>der</strong> Erkenntnisgewinn<br />
von Geschlecht als soziale Kategorie ist, enthält<br />
die Thematisierung von Geschlecht jedoch immer die<br />
Gefahr, Geschlecht als differenzierende Kategorie zu bestärken<br />
und das Denken in bi-polaren Mustern von Weiblichkeit und<br />
Männlichkeit zu verfestigen, statt diese zu kritisieren (vgl. Rose<br />
2007).<br />
Sichtbare und unsichtbare geschlechtsspezifische<br />
Grundlagen <strong>der</strong> Profession Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
Von <strong>der</strong> Entstehung bis zum heutigen Tage spielt Geschlecht in<br />
<strong>der</strong> professionellen Entwicklung Sozialer <strong>Arbeit</strong> eine zentrale<br />
Rolle. Soziale <strong>Arbeit</strong> war lange ein von Männern weitgehend<br />
ignoriertes Feld, das Frauen aufgrund ihrer kulturell angenommenen<br />
und lebensgeschichtlich vorhandenen Nähe zu<br />
Fürsorglichkeit geformt haben. Die ersten Ausbildungsstätten<br />
wurden vor hun<strong>der</strong>t Jahren von Frauen gegründet und boten<br />
sozial engagierten, bürgerlichen Frauen eine Chance qualifizierter<br />
Betätigung (vgl. Maurer 2001). Ebenso wurden die<br />
ersten theoretischen Ansätze zur Notwendigkeit einer systematischen<br />
Fürsorge – angesichts sich verschärfen<strong>der</strong> Klassengegensätze<br />
und entsprechen<strong>der</strong> Konflikte – in Europa und den<br />
USA von Frauen veröffentlicht (vgl. Staub-Bernasconi 1989).<br />
Pionierinnen wie Jane Addams, Ilse Arlt o<strong>der</strong> Alice Salomon
188<br />
Profession und Geschlecht<br />
waren theoretisch interessierte und politisch motivierte Frauen,<br />
die ihre gesellschaftskritischen Ansätze im Kontext einer nationalökonomischen<br />
Analyse und ihre Praxis in engem<br />
Zusammenhang mit <strong>der</strong> sozialreformerischen und <strong>der</strong><br />
Frauenbewegung entwickelten (vgl. Böhnisch/Schröer/<br />
Thiersch 2005). In ihren Theorien und Handlungsansätzen steht<br />
die Suche nach einer Gesellschaft mit menschlichem Antlitz<br />
(auf <strong>der</strong> Basis vorhandener Macht- und Besitzverhältnisse) im<br />
Mittelpunkt, die sich als damalige Suche nach einer Art<br />
»Drittem Weg« zwischen Sozialismus und Kapitalismus interpretieren<br />
lässt. Im Zuge <strong>der</strong> Institutionalisierung und<br />
Verwissenschaftlichung haben diese Frauen <strong>der</strong> Ersten Stunde<br />
jedoch zunehmend an Anerkennung für ihre praxisbezogenen,<br />
schulengründenden und wissenschaftlichen Leistungen eingebüßt.<br />
Je mehr Soziale <strong>Arbeit</strong> zur staatlich geplanten und rechtlich<br />
kodifizierten Aufgabe sozialer Sicherung wurde und je<br />
stärker Soziale <strong>Arbeit</strong> in Hochschule und Wissenschaft eingebunden<br />
ist, desto häufiger sind Männer in Planung,<br />
Entwicklung und Theorie öffentlich präsent, während Frauen<br />
weiterhin die große Mehrheit <strong>der</strong> Praktikerinnen stellen (vgl.<br />
Rauschenbach/Züchner 2001). Daher ist immer noch aktuell,<br />
was Christoph Sachße für die 1920er Jahre konstatiert: »Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> verän<strong>der</strong>te sich (...) von einem Konzept weiblicher<br />
Emanzipation zu einem Dienstleistungsberuf unter männlicher<br />
Leitung« (Sachße 2001, 679).<br />
Anfang des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts hat die gemäßigte erste<br />
Frauenbewegung das Konzept »geistiger Mütterlichkeit« entwickelt,<br />
in dem Frauen für soziale Berufe prädestiniert erscheinen.<br />
Das grenzüberschreitende dieser Position lag darin, dass<br />
die Erweiterung des Mütterlichkeitsbegriffs gebildeten Frauen<br />
den Schritt aus <strong>der</strong> Familie ermöglichte. Die begrenzende Seite<br />
dieses Konzepts – eine enge Verknüpfung sozialer Berufe mit<br />
Weiblichkeit und mütterlichem Handeln – stellt jedoch bis<br />
heute ein Problem dar, weil die geschlechtsspezifische<br />
Konstruktion <strong>der</strong> Abwertung dieser Berufe als sogenannte
Profession und Geschlecht 189<br />
Semi-Professionen dient (vgl. Rabe-Kleberg 1996). Das kann<br />
so weit gehen, dass selbst die bisher erreichte Qualifikationsstufe<br />
immer wie<strong>der</strong> politisch zur Disposition steht,<br />
indem professionelle Aufgaben ins Ehrenamt verschoben o<strong>der</strong><br />
in ungelernte Tätigkeiten zurückverwandelt werden. Daher<br />
bedürfen soziale Berufe einer eigenen Definitionsmacht und<br />
Kontrolle über ihren Bereich, die es dann auch wahrzunehmen<br />
gilt. Sorgetätigkeiten in <strong>der</strong> professionellen sozialen Praxis<br />
müssen als Qualität anerkannt und normativ positiv besetzt<br />
werden, ohne diese wie<strong>der</strong> im Sinne »geistiger Mütterlichkeit«<br />
moralisch aufzuladen: Das heißt, Dekonstruktion <strong>der</strong><br />
Geschlechtszentrierung Sozialer <strong>Arbeit</strong> und Zugänglichmachen<br />
für beide Geschlechter (vgl. Schimpf 2002).<br />
Das Beson<strong>der</strong>e in sozialen und pflegerischen Bereichen im<br />
Vergleich zu männlich konnotierten Berufen ist, dass letztere<br />
zumeist hoch strukturiert und in ihrem Aufgabenbereich klar<br />
definiert sind, während erstere selbst auf professioneller Ebene<br />
einen Grad von Diffusität und Allzuständigkeit beibehalten.<br />
Die für Soziale <strong>Arbeit</strong> benötigten Fähigkeiten werden traditionell<br />
zwischen »natürlicher« Menschenliebe und wissenschaftlich<br />
fundierten Methoden angesiedelt (vgl. Zan<strong>der</strong> et al. 2006).<br />
Professionelle Befähigung zur Beziehungsarbeit – mit Kin<strong>der</strong>n<br />
o<strong>der</strong> mit Erwachsenen in schwierigen Lebenslagen – erhält eine<br />
ähnlich geringe Wertschätzung wie Hausarbeit: beide finden<br />
wenig Beachtung solange sie problemlos funktionieren und<br />
dadurch unsichtbar sind. An<strong>der</strong>s als Tätigkeiten in männlich<br />
konnotierten Professionen werden personenbezogene Hilfe und<br />
Sorgen kulturell höher bewertet, wenn sie nicht professionell,<br />
son<strong>der</strong>n privat geleistet werden. Professioneller Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />
haftet daher häufig ein Makel an: bezogen auf die<br />
Sorgebedürftigen, dass sie eine bezahlte Kraft nötig haben und<br />
bezogen auf Sorgetragende, dass sie diese <strong>Arbeit</strong> nicht umsonst<br />
und zeitlich unbegrenzt machen. Beides Phänomene, die es so<br />
in männlich konnotierten Professionen typischerweise nicht<br />
gibt, da diese historisch sehr viel früher vom Haus abgekoppelt
190<br />
Profession und Geschlecht<br />
wurden und weniger an »Liebesdienste« anknüpfen (vgl.<br />
Brückner 2004).<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in einer geschlechtszentrierten<br />
Gesellschaft das Verhältnis von Beruf und<br />
Geschlecht bedeutungsvoll für den Stellenwert eines jeden<br />
Berufes ist. Soziale <strong>Arbeit</strong> fällt dabei aus zweierlei Gründen aus<br />
<strong>der</strong> normierten Welt <strong>der</strong> Professionen heraus. Sie beschäftigt<br />
sich erstens weniger mit einem fest umrissenen Aufgabengebiet<br />
in Alleinzuständigkeit, son<strong>der</strong>n ist vor allem zuständig für das<br />
Ausgeschlossene (wie nicht versicherte Lebensrisiken und von<br />
Ausschluss bedrohte Menschen). Soziale <strong>Arbeit</strong> bezieht sich<br />
zweitens auf den Alltag und findet zumeist in <strong>der</strong> Lebenswelt<br />
<strong>der</strong> Menschen statt. Beides macht Soziale <strong>Arbeit</strong> jedoch nicht<br />
zu einer Semi-Profession, son<strong>der</strong>n zu einer Profession, welche<br />
die herrschenden Normierungen von Professionalität in Frage<br />
stellt. Der <strong>der</strong>zeitige Blick auf Soziale <strong>Arbeit</strong> als effektive und<br />
effiziente Dienstleistung, die gemanagt und gesteuert werden<br />
muss, läuft Gefahr, den Beziehungsaspekt Sozialer <strong>Arbeit</strong> aus<br />
dem Auge zu verlieren, ohne dessen Berücksichtigung keine<br />
Empowermentstrategien und keine Selbsthilfeansätze wirksam<br />
werden können. Soziale <strong>Arbeit</strong> als Profession steht daher<br />
immer auch für die Wertschätzung zwischenmenschlicher<br />
Interdependenz.<br />
<strong>Aktuelle</strong> Entwicklungen<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> als Profession<br />
Derzeit lassen sich jedoch im Zuge emotionaler Entleerung<br />
sozialer und pflegen<strong>der</strong> Berufe – durch männlich konnotierte<br />
betriebswirtschaftliche Prioritätensetzungen und entsprechend<br />
zweck-mittel orientierten rationalen Zielsetzungen – vielfältige<br />
Kehrtwendungen beobachten: Zeit- und kostenaufwendige<br />
Fürsorglichkeit und Beziehungsorientierung drohen dem Credo<br />
<strong>der</strong> Kurzfristigkeit und <strong>der</strong> Distanzwahrung als neuer
Profession und Geschlecht 191<br />
Königsweg <strong>der</strong> Professionalität zum Opfer zu fallen (vgl.<br />
Waerness 2000). Im von Frauen dominierten, klientennahen<br />
Bereich hat sich eine neue <strong>Arbeit</strong>steilung entwickelt, indem auf<br />
<strong>der</strong> einen Seite sozialpädagogisch gut ausgebildete<br />
Professionelle mit zunehmend auf Steuerung ausgerichteten,<br />
inhaltlich und zeitlich eingegrenzten Aufgabengebieten und<br />
sehr beschränkten, persönlich distanzierten Kontakten zu den<br />
AdressatInnen stehen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite finden sich ungelernte<br />
Kräfte (häufig mit Migrationshintergrund) wie<br />
Putzfrauen und HausmeisterInnen sowie Frauen mit<br />
Kurzausbildungen wie<strong>der</strong>, die aufgrund sozialer Nähe und ihrer<br />
Tätigkeit häufig in Anwesenheit <strong>der</strong> AdressatInnen für die allgemein<br />
menschliche Seite, wie alltägliche Gespräche und<br />
Mitgefühl, sorgen.<br />
Zur Sicherung vorherrschen<strong>der</strong> Professionalitätsvorstellungen<br />
auf <strong>der</strong> Basis curricularer Wissensbestände scheint es am einfachsten,<br />
schwer fassbare Dimensionen zwischenmenschlicher<br />
Bindung als Teil <strong>der</strong> Professionalität in sozialen und pflegerischen<br />
Berufen aufzugeben und durch instrumentelles Handeln<br />
zu ersetzen. Dann gehen allerdings auch Bedürfnisse <strong>der</strong><br />
AdressatInnen nach persönlicher Anerkennung und die<br />
Möglichkeit, eine haltende Funktion im Sinne von Winnicott<br />
(1990) einzunehmen (d.h. schwer auszuhaltende Situationen<br />
innerlich mit zu tragen und somit Beistand zu leisten), verloren.<br />
An beziehungsorientierten Fragen dieser Art setzen Theoretikerinnen<br />
wie Kari Waerness (2000) an, indem sie eine wissenschaftliche<br />
Verortung von Beziehungsarbeit zum zentralen<br />
Bestandteil personenbezogener Fürsorge und Pflege machen.<br />
Waerness geht von <strong>der</strong> Notwendigkeit einer »Fürsorgerationalität«<br />
aus, die sie zweckrationalen Vorgehensweisen<br />
gegenüberstellt und die sie definiert als: Verständigung über<br />
und Abstimmung von Bedürfnissen und Sichtweisen sowie ausreichend<br />
Zeit und Raum, um eine gemeinsame <strong>Arbeit</strong>sgrundlage<br />
zu schaffen. Diese zwischenmenschliche Dimension<br />
je<strong>der</strong> Sorgetätigkeit, ob in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, <strong>der</strong> Pflege o<strong>der</strong>
192<br />
Profession und Geschlecht<br />
im Erziehungsbereich muss nach Waerness seiner Naturalisierung<br />
und Geschlechterzuweisung enthoben und neu in<br />
die Profession integriert werden.<br />
Zusammenfassend zeigen Geschichte und Gegenwart Sozialer<br />
<strong>Arbeit</strong> eine enge Verquickung von Geschlecht und Profession<br />
durch den Wirkungszusammenhang gesellschaftlich vorgegebener<br />
Geschlechterordnung und durch die sozialen Praxen von<br />
Frauen und Männern. Aufgrund enger geschlechtlicher Rahmenbedingungen<br />
und innerer Überzeugungen sind die Pionierinnen<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> den gesellschaftlich vorgegebenen Weg geschlechtlicher<br />
Beson<strong>der</strong>ung weitergegangen. Heute können<br />
Fürsorge-, Erziehungs- und Pflegeaufgaben (personenbezogene<br />
soziale Dienstleistungen) als strukturell geschlechtsunabhängig<br />
gesehen werden, indem als selbstverständlich erachtete, Frauen<br />
zugeschriebene Fähigkeiten auf eine professionelle Ebene transferiert<br />
und offizieller Bestandteil des <strong>Arbeit</strong>sauftrages werden.<br />
Entsprechend gilt es, das vorherrschende Männerbild so zu<br />
erweitern, dass Sorgetätigkeiten integrierbar sind, und Männer<br />
müssen ausreichend Möglichkeiten zu einer entsprechenden<br />
sozialen Praxis erhalten. Die hohe Präsenz von Frauen und die<br />
historische Verquickung des Berufs mit Frauen zugewiesener,<br />
unbezahlter <strong>Arbeit</strong> in Haus und Familie hat zur Abwertung<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> im Verhältnis zu an<strong>der</strong>en Professionen geführt,<br />
weshalb bei Professionsdiskursen zumeist die weibliche<br />
Tradition ausgeklammert wird. Professionen wohnt ein männliches<br />
Verhältnis zu <strong>Arbeit</strong>s- und Lebensbedingungen inne: ungehin<strong>der</strong>ter<br />
Zugang zu Bildung, Spezialisierung und berufliche<br />
Selbstkontrolle, Befreiung von reproduktiven Tätigkeiten und<br />
ähnliches. Traditionelle Professionsvorstellungen greifen bezogen<br />
auf Soziale <strong>Arbeit</strong> zu kurz, da sie eine klare Trennung zwischen<br />
»System und Lebenswelt« (Habermas) voraussetzen, während<br />
die Qualität <strong>der</strong> Profession Sozialer <strong>Arbeit</strong> gerade darauf<br />
beruht, Übergänge herzustellen, d.h. AdressatInnen Lebenschancen<br />
durch Zugänge zu persönlichen und gesellschaftlichen<br />
Ressourcen sowie durch Beziehungsangebote zu eröffnen.
Profession und Geschlecht 193<br />
Sichtbare und unsichtbare geschlechtsspezifische<br />
Grundlagen Sozialer Politik<br />
als Rahmenbedingungen professioneller<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> trifft auf sehr unterschiedliche Einkommensund<br />
Armutssituationen von Frauen und Männern, die entsprechend<br />
verschiedene Bedarfe haben, auch wenn durch<br />
<strong>Arbeit</strong>slosigkeit, Reduktion versicherungspflichtiger Vollzeitarbeitsplätze<br />
und Abbau des Sozialstaates Angleichungen zwischen<br />
den Geschlechtern stattfinden. Da sich die Sozialversicherungsleistungen<br />
am männlichen Lebensmodell orientieren<br />
– lebenslange, versicherungspflichtige Vollerwerbstätigkeit,<br />
sind Frauen durch Familienarbeit häufig nur halbtags o<strong>der</strong><br />
geringfügig beschäftigt, wodurch sie strukturell schlechter<br />
gestellt sind (vgl. Geißler 2002). Dass familiale und informelle<br />
Sorgetätigkeiten (zumeist) von Frauen einen signifikanten Teil<br />
wohlfahrtsstaatlicher Leistungen ausmachen, bleibt dabei politisch<br />
fast völlig unbeachtet.<br />
Wurde Soziale <strong>Arbeit</strong> zu Zeiten des sozialstaatlichen Ausbaus<br />
in den 1970er/80er Jahren noch als Teil gesellschaftlichen<br />
Ausgleichs und des Demokratisierungsprozesses gesehen, stehen<br />
Sorgetätigkeiten aller Art heute für das Gegenteil von<br />
Fortschritt, Emanzipation und Individualität (vgl. Bauer/<br />
Gröning 2000). Daher gilt es, die geschlechtliche Bindung<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> aufzulösen, nicht um Frauen und ihre<br />
Tätigkeiten zum Verschwinden zu bringen, son<strong>der</strong>n um die<br />
Konsequenzen sichtbar zu machen, wenn Sorgetätigkeit einem<br />
Geschlecht und noch dazu dem nachrangigen zugeordnet wird:<br />
• Sozialer <strong>Arbeit</strong> wird wenig Wert zugemessen, weil sie<br />
Frauenarbeit ist und sie wird Frauen überlassen, weil sie<br />
wegen ihrer Nähe zur Hausarbeit keinen Machtfaktor darstellt;<br />
• Soziale <strong>Arbeit</strong> wi<strong>der</strong>spricht mit ihrer Hilfeleistung dem
194<br />
Profession und Geschlecht<br />
Ideal des unabhängigen Individuums, das sich selbst hilft<br />
und immer als männlich gedacht war.<br />
Unterschiedliche Entwicklungspfade sind bezogen auf soziale<br />
Aufgaben <strong>der</strong> Erziehung, Fürsorge und Pflege– ob in einem<br />
Sozialberuf o<strong>der</strong> als private Tätigkeit in <strong>der</strong> Familie – denkbar<br />
(vgl. Gottschall/Pfau-Effinger 2002):<br />
• Soziale Aufgaben organisiert als professionelle Sorgetätigkeit<br />
von ausgebildeten Kräften im Kontext öffentlicher<br />
Dienste (wie vor allem in Skandinavien),<br />
• Soziale Aufgaben organisiert als marktförmige Dienstleistungen<br />
von gering Qualifizierten (häufig Migrantinnen) im<br />
Niedriglohnsektor (wie insbeson<strong>der</strong>e in den USA) o<strong>der</strong><br />
• Soziale Aufgaben organisiert als Mixmodell mit einem vergleichsweise<br />
geringen Anteil professioneller sozialer<br />
Dienstleistungen und einem relativ hohen Anteil familialisierter,<br />
sozialstaatlich qua Steuerpolitik und Transferzahlungen<br />
gestützter <strong>Arbeit</strong>, zunehmend ergänzt durch<br />
Schattenarbeit in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>erziehung und privaten Pflege<br />
(wie charakteristisch für Deutschland und Österreich).<br />
Aufgrund massiver, sozialstruktureller Verän<strong>der</strong>ungen bezogen<br />
auf Formen des Zusammenlebens, Überalterung <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
und zunehmende Teilhabe von Frauen am<br />
<strong>Arbeit</strong>smarkt, wächst die Notwendigkeit, in zu erweiterndem<br />
Umfang Soziale Aufgaben als gesellschaftlich und nicht privat<br />
zu lösende zu verstehen, so z.B. durch Ausbau diversifizierter<br />
Kin<strong>der</strong>einrichtungen und Hilfeinstanzen für alte Menschen.<br />
Real werden hingegen soziale Institutionen eher abgebaut o<strong>der</strong><br />
zumindest nur selten entsprechend ausgebaut, wodurch sich das<br />
Defizit sozialer Aufgaben vergrößert und die Lücke zunehmend<br />
gar nicht o<strong>der</strong> nur mit privaten Mitteln geschlossen werden<br />
kann. Für eine vorausschauende Bedarfsentwicklung muss<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> den weiteren Verlauf dieser durchaus wi<strong>der</strong>-
Profession und Geschlecht 195<br />
sprüchlichen Entwicklungsprozesse mit seinen jeweiligen<br />
geschlechtsspezifischen Wirkungen analysieren und entsprechende<br />
Hilfeplanungen vorantreiben.<br />
Als angemessenes Modell (»warm mo<strong>der</strong>n model«) für die<br />
Bewältigung sich wandeln<strong>der</strong> sozialer Aufgaben sieht Arlie<br />
Hochschild (1995) eine nach den unterschiedlichen Bedürfnissen<br />
<strong>der</strong> Menschen gestaltete Aufgabenteilung zwischen<br />
gesellschaftlichen Institutionen und privaten Angeboten <strong>der</strong><br />
Fürsorge und Pflege sowohl von Frauen als auch von Männern.<br />
Wenn eine Vernetzung zwischen den verschiedenen Anbietern<br />
und Interessengruppen sichergestellt wird, bleibt auch für privat<br />
Sorgende gesellschaftliche Teilhabe im Sinne einer<br />
Angebundenheit und einer Entschädigung weiter möglich. Die<br />
Grenzen persönlicher Entscheidungsfreiheit – Sorgeaufgaben<br />
zu übernehmen o<strong>der</strong> es nicht zu tun – liegen nach Hochschild<br />
sowohl in jeweiligen ökonomischen Zwängen als auch da, wo<br />
sie soziale Gerechtigkeit tangieren. Dann sind kollektive<br />
Lösungen erfor<strong>der</strong>lich, für die allerdings ein breiter Konsens<br />
angesichts <strong>der</strong> Pluralisierung von Lebenslagen und sozialen<br />
Polarisierungen schwieriger wird.<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Sozialpolitik europäischer<br />
Wohlfahrtsregime einen mehr o<strong>der</strong> weniger stark ausgeprägten<br />
Geschlechter-Bias aufweist: Auf <strong>der</strong> strukturellen<br />
Ebene dominiert ein an männlicher Normalität orientiertes<br />
Modell sozialer Sicherheit, indem lebenslange, ganztägige<br />
Erwerbsarbeit Voraussetzung für eine ausreichende, nicht<br />
bedürftigkeitsbezogene Soziale Sicherung darstellt. Auf <strong>der</strong><br />
subjektiven Ebene dominiert die Vorstellung von Sorgetätigkeit<br />
als Frauenarbeit, die als nicht passend für Männer angesehen<br />
wird und entsprechend schlecht o<strong>der</strong> gar nicht bezahlt ist.
196<br />
Profession und Geschlecht<br />
Geschlechterforschung als Beitrag zur<br />
Überwindung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit<br />
Solange Geschlechtszugehörigkeit ein zentrales Kriterium<br />
gesellschaftlicher und persönlicher Verortung bleibt, muss die<br />
Wirkung von Geschlecht analysiert und reflektiert werden, um<br />
Wege zu erkunden, die Gleichberechtigung und gegenseitiger<br />
Anerkennung näher kommen.<br />
Ein <strong>der</strong>artiges Konzept stellt »Geschlechterdemokratie« dar,<br />
welches an den Gedanken eines demokratischen Staatswesens<br />
und einer demokratischen zivilen Gesellschaft anknüpft und<br />
Geschlechterungleichheit als undemokratisch betrachtet (vgl.<br />
Diaz 2001). Geschlechterdemokratie erfor<strong>der</strong>t Bildungsansätze,<br />
die Akteure bei<strong>der</strong> Geschlechter für eine gleichberechtigte<br />
Kooperation ausbildet. Ziel ist eine Flexibilisierung von<br />
Geschlechterrollen durch den Abbau männlicher Dominanzstrukturen<br />
und die Aufgabe von Männlichkeit als hegemonialem<br />
Strukturprinzip. Dabei dürfen sich Demokratisierungsprozesse<br />
nicht auf Geschlecht beschränken, son<strong>der</strong>n müssen<br />
an<strong>der</strong>e Formen <strong>der</strong> Ungleichheit einschließen, ohne Geschlecht<br />
aus dem Blick zu verlieren. Bezogen auf De- und Re-<br />
Gen<strong>der</strong>ing bedeutet dieses Konzept<br />
• »De-Gen<strong>der</strong>ing« im Sinne des Sichtbarmachens und<br />
Reduzierens von Geschlechtergrenzen und -benachteiligungen<br />
sowohl in gesellschaftlichen Institutionen als auch<br />
alltäglichen Lebenszusammenhängen;<br />
• »Re-Gen<strong>der</strong>ing« im Sinne des Bewusstmachens und <strong>der</strong><br />
Wertschätzung erworbener geschlechtsspezifischer Leistungen<br />
und des Vorhaltens geschlechtsbewusster sowie<br />
geschlechtsspezifischer sozialer Angebote solange<br />
Geschlecht als sozialer Platzanweiser fungiert.<br />
Im Sinne eines geschlechterdemokratischen Ansatzes ist<br />
Profession und Geschlecht in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ein Thema
Profession und Geschlecht 197<br />
mit unterschiedlichen, gleichermaßen wichtigen Facetten, denn<br />
alle Fel<strong>der</strong> Sozialer <strong>Arbeit</strong> bedürfen geschlechterbewusster<br />
Ansätze und zudem braucht es je nach gesellschaftlicher<br />
Situation kontextspezifisch angemessener, geschlechtsspezifischer<br />
Angebote, <strong>der</strong>zeit z.B. bezogen auf das Problem <strong>der</strong><br />
Gewalt im Geschlechterverhältnis. Auf <strong>der</strong> Erkenntnisebene ist<br />
es wichtig, Geschlecht als Wirkfaktor zu analysieren, um nach<br />
geschlechterübergreifenden Perspektiven zu suchen o<strong>der</strong> um<br />
geschlechtsspezifische Aufgaben anzuerkennen. Auf <strong>der</strong> Ebene<br />
<strong>der</strong> Lösung sozialer Probleme geht es neben <strong>der</strong> gleichgewichtigen<br />
Sicht auf die Lebenslage bei<strong>der</strong> Geschlechter um das<br />
Feststellen geschlechtsspezifischer Bedarfe und um die beson<strong>der</strong>e<br />
För<strong>der</strong>ung von Frauen und Mädchen, solange keine<br />
gleichwertigen Partizipationsmöglichkeiten auf allen gesellschaftlichen<br />
Ebenen gewährleistet sind. Dazu erfor<strong>der</strong>lich ist<br />
• eine ausreichende Geschlechtersensibilität <strong>der</strong> Profession,<br />
um Geschlechterdifferenzen und <strong>der</strong>en Wirkungen zu<br />
erkennen,<br />
• eine Reflexion des eigenen professionellen »doing gen<strong>der</strong>«<br />
in Theorie und Praxis.<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die beson<strong>der</strong>e<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Kategorie Geschlecht für die Profession Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> sowohl im Aufspüren von Geschlechterdimensionen<br />
bezogen auf strukturelle und biografische Benachteiligungen<br />
liegt, als auch in <strong>der</strong> Rekonstruktion geschlechtsspezifischer<br />
Leistungen, die sonst dem Vergessen anheim fallen und last not<br />
least in <strong>der</strong> Entwicklung geschlechtergerechter Perspektiven.<br />
Um als Profession diese Aufgaben bestmöglich wahrnehmen zu<br />
können, bedürfte es <strong>der</strong> Aktivität auf verschiedenen Ebenen:<br />
Einer stärkeren Einbeziehung und Kritik sozialpolitischer<br />
Rahmenbedingungen Sozialer <strong>Arbeit</strong>, einer selbstbewussteren<br />
und fachpolitisch vernetzten Vertretung <strong>der</strong> frauenpolitischen<br />
Geschichte und Gegenwart Sozialer <strong>Arbeit</strong> einschließlich <strong>der</strong>
198<br />
daraus erwachsenden eigenständigen Entwicklung von<br />
Handlungsmethoden und ein wissenschaftlich abgesichertes<br />
Bestehen auf Sozialer <strong>Arbeit</strong> als beziehungsorientierter,<br />
geschlechtersensibler Hilfeform.<br />
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Qualität und Effizienz<br />
Josef Bakic<br />
Starkoch Bocuse setzt auf Fast Food<br />
«Es wird Self-Service sein«, beschreibt Jean Fleury,<br />
<strong>der</strong> für den Meisterkoch vier Brasserien betreibt,<br />
die Geschäftsidee. «Unser Motto wird sein:<br />
Qualität, Einfachheit, Effizienz.«<br />
Der Meister habe einfach die<br />
Zeichen <strong>der</strong> Zeit erkannt, so Fleury.<br />
www.orf.at 23.01.2007<br />
Effizienz und Qualität sind für sich genommen zunächst harmlose,<br />
nichts sagende, im jeweiligen Zusammenhang erst zu<br />
bestimmende »Plastikwörter« (Pörksen 1988). Spannend wird<br />
es dann, wenn <strong>der</strong> Bedeutungsaufladung dieser beiden<br />
Zauberwörter im Bereich <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> nachgespürt wird,<br />
denn das, was für die einfache und schnelle Küche als Rezept<br />
gilt, muss ja nicht für alles gelten.<br />
Qualität im allgemeinen Wortsinne bedeutet Beschaffenheit<br />
o<strong>der</strong> Eigenschaft – kurz das Wesen eines Gegenstandes.<br />
Alltagssprachlich wird Qualität mit »positiven« Eigenschaften<br />
wie Güte, Zufriedenheit, Solidität und Gründlichkeit verbunden.<br />
Im praktisch wirtschaftlichen Sinn wird versucht, mit dem<br />
Begriff Qualität eine Messbarkeit <strong>der</strong> erwünschten Kriterien zu<br />
verbinden. Dabei wird Qualität als die Gesamtheit von<br />
Eigenschaften und Merkmalen eines Produktes o<strong>der</strong> einer<br />
Tätigkeit definiert, die sich auf <strong>der</strong>en Eignung zur Erfüllung<br />
gegebener Erfor<strong>der</strong>nisse beziehen (vgl. DIN/ÖNORM/ISO).<br />
Als Produkt ist hier jede Art von Waren o<strong>der</strong> Rohstoffen, wie<br />
auch <strong>der</strong> Inhalt von Entwürfen, Plänen und Projekten<br />
zusammengefasst, während die Tätigkeiten verschiedenste<br />
Dienstleistungen und Prozesse bezeichnen (vgl. Bakic 2006,
Qualität und Effizienz 201<br />
218f). Die Produkte o<strong>der</strong> Tätigkeiten selbst müssen im jeweiligen<br />
Kontext erst bestimmt werden. In den letzten Jahrzehnten<br />
hat sich eine Vielzahl von Einrichtungen zur Feststellung von<br />
Qualität in diesem Sinne etabliert, so etwa das österreichische<br />
Normungsinstitut (ÖNORM), die internationale Standardisierungsorganisation<br />
(ISO/DIS 8402:1991) und das Deutsche<br />
Industrie Normierungsinstitut (DIN 55350).<br />
Effizienz im allgemeinen Wortsinn bedeutet Wirksamkeit, hat<br />
in verschiedenen Fachbereichen jedoch unterschiedliche<br />
Bedeutungen. Während sie etwa im technischen Bereich den<br />
Wirkungsgrad eines bestimmten Verhältnisses definiert, beispielsweise<br />
die Relation eines Rohrdurchmessers zur beför<strong>der</strong>ten<br />
Flüssigkeitsmenge, meint Effizienz in wirtschaftlicher<br />
Hinsicht in <strong>der</strong> Regel einen Imperativ. Betriebswirtschaftlich<br />
heißt dies z.B. dann ein Ziel mit möglichst geringem Aufwand<br />
zu erreichen, volkswirtschaftlich hingegen z.B. die Ressourcen<br />
optimal zu verteilen. Allgemein ist die Frage nach <strong>der</strong> Effizienz<br />
eine Frage nach <strong>der</strong> Passgenauigkeit <strong>der</strong> Mittel zur Zielerreichung<br />
und daher nicht unabhängig von <strong>der</strong> Perspektive, die<br />
dabei eingenommen wird.<br />
Ursprünglich stammt die Idee <strong>der</strong> Normierung von<br />
Qualitätskriterien aus dem militärischen Bereich sowie an<strong>der</strong>en<br />
sensiblen Gebieten wie <strong>der</strong> friedlichen Nutzung von<br />
Kernenergie, <strong>der</strong> Raumfahrt etc. Ausgehend von betrieblichen<br />
Qualitätszirkeln in japanischen Unternehmen in den 1950ern<br />
kam es in Europa in den 1980er Jahren zu ersten Qualitätsmanagementbestrebungen,<br />
die über eine bloße Produktionskontrolle<br />
im Fordschen o<strong>der</strong> Taylorschen Sinne hinausgingen.<br />
Während in Japan eine intensivere Weiterentwicklung <strong>der</strong><br />
Maßnahmen im Qualitätssektor hin zu ganzheitlicheren<br />
Verfahren, wie dem Total Quality Management, stattfand, wurden<br />
in Europa jene Verfahren verwendet, die auf Produkt- und<br />
Prozessmessung bzw. -sicherung abzielten. Die zunächst größte<br />
Verbreitung fand das normierte Qualitätssicherungssystem<br />
nach ISO 9000 (ff, nunmehr aktuell: ISO 9000ff:2000), das in
202<br />
Qualität und Effizienz<br />
vielen Institutionen das Herzstück <strong>der</strong> Qualitätsmanagementbestrebungen<br />
ausmacht. Ein entscheiden<strong>der</strong> Grund für die<br />
Einführung dieses Systems wird darin gesehen, dass die<br />
Abnehmer von Waren o<strong>der</strong> Leistungen, den hohen Zeit- und<br />
Kostenaufwand für die Prüfung <strong>der</strong> Güte einsparen. Dazu<br />
wurde eine einheitliche ISO-Norm vereinbart, auf die sich<br />
Abnehmer grundsätzlich verlassen können sollen. Als Träger<br />
einer <strong>der</strong>artigen Norm soll auch <strong>der</strong> Hersteller damit im Vorteil<br />
gegenüber seinen nicht zertifizierten Mitbewerbern sein. Damit<br />
überprüft werden kann, ob die jeweilige Institution auch die<br />
dafür vorgesehenen Normen einhält, werden eigene<br />
Zertifizierungsbetriebe gegründet. Entscheidend für das<br />
Ausweisen von Qualität wird also die Anerkennung durch eine<br />
Zertifizierungsagentur, die ihrerseits ExpertInnen für das<br />
Zertifizieren bereitstellt, nicht jedoch für das zu Zertifizierende.<br />
Zum Eindringen fachfrem<strong>der</strong><br />
Begriffsverständnisse in die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
Soziale und pädagogische Einrichtungen rücken seit den<br />
1990ern als Ziele, die auch neuer Qualitätsmanagementmethoden<br />
bedürfen, ins Blickfeld. Dabei wurde und wird ein<br />
Anspruch nach Verän<strong>der</strong>ung eingefor<strong>der</strong>t und somit implizit<br />
vermittelt, dass diese Einrichtungen bisher kaum etwas o<strong>der</strong> zu<br />
wenig für die Herstellung und Sicherung guter <strong>Arbeit</strong>sergebnisse<br />
geleistet hätten. Qualität als neue Perspektive für die<br />
Ausrichtung pädagogischen und sozialarbeiterischen Handelns<br />
scheint demnach Folge verän<strong>der</strong>ter Prioritätensetzungen <strong>der</strong><br />
Bildungs- und Sozialpolitik zu sein: Unter den Chiffren<br />
»Wettbewerb« und »Exzellenz« soll eine wie auch immer geartete<br />
Leistungs- und Ertragssteigerung durch Vergleichbarkeit<br />
erzielt werden. Qualität und Effizienz werden im Verständnis<br />
zusammengeschmolzen und immer wenn von Qualität die Rede<br />
ist, wird auch schon auf Effizienz abgezielt.
Qualität und Effizienz 203<br />
Die in <strong>der</strong> Sozialarbeit seit jeher herrschende Verunsicherung<br />
bezüglich ihrer theoretischen Selbstvergewisserung öffnet einer<br />
bereitwilligen Implementation <strong>der</strong> »Qualitätsdebatte« Tür und<br />
Tor. Mit den eingeführten Qualitätsmanagementsystemen soll<br />
eine Kostensenkung durch Effizienzsteigerung, ein ständiges<br />
Erkennen von Verbesserungspotentialen und eine Entwicklung<br />
hin zu Wettbewerbsorientierung im Spiegel <strong>der</strong> Marktwirtschaft<br />
erfolgen. Damit einhergehend werden nun zur Überprüfung <strong>der</strong><br />
Qualität und Effizienz sozialer <strong>Arbeit</strong> Steuerungsmodelle aus <strong>der</strong><br />
Industrie herangezogen, die auf durch Ursache – Wirkungszusammenhänge<br />
definierte technologische Verfahren abgestimmt<br />
sind (vgl. Bakic/Diebäcker/ Hammer 2007a). Eine sozialarbeitsspezifische<br />
Argumentation wird hier we<strong>der</strong> eingefor<strong>der</strong>t<br />
noch beachtet, obgleich dieser Diskurs auf eine Bewertung <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> in unterschiedlichen Anwendungsbereichen<br />
abzielt, also ihre Güte feststellen möchte und somit zu einem<br />
genuin fachlichen Problem wird (vgl. Köpp/Neumann, 2003 98f;<br />
Galiläer 2005, 12 bzw. 107ff). Bei <strong>der</strong> Analyse dieser<br />
Entwicklung zeigt sich auch, dass immaterielle Bereiche <strong>der</strong><br />
Versorgung und Betreuung, also Schutz, Bildung, Erziehung und<br />
Kultur deswegen standardisiert werden sollen, um etwa den<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen bei <strong>der</strong> Leistungsvergabe durch ein neu konstruiertes<br />
Ausschreibungswesen nach dem jeweiligen Vergabegesetz<br />
gerecht zu werden, in dem Qualität und Effizienz zum<br />
Entscheidungsfaktor werden (vgl. Bakic 2007, 78) 1 . Ganz allgemein<br />
wird hier jedenfalls davon ausgegangen, dass es eine externe<br />
Prüfvorstellung von richtig – also vorgabenkonform und sparsam<br />
– durchgeführter Sozialer <strong>Arbeit</strong> gäbe.<br />
Der Begriff Qualität bietet sich hier als Zauberformel an. Als<br />
eine aus <strong>der</strong> Wirtschaft gewohnte Messgröße wird sie mit darstellbaren<br />
Ergebnisziffern in Verbindung gebracht, mit <strong>der</strong>en<br />
Hilfe günstige Kosten-Nutzen-Verhältnisse hergestellt werden<br />
sollen. Die Darstellung dieser Messgrößen erfolgt in <strong>der</strong> Regel in<br />
Form quantitativer Werte, Differenzierungen in <strong>der</strong> jeweiligen<br />
beson<strong>der</strong>en Form <strong>der</strong> sozialarbeiterischen Tätigkeit sind hier nur
204<br />
Qualität und Effizienz<br />
sehr schwierig einzuführen und die Vergabe von Gewichtungskriterien<br />
liegt außerhalb <strong>der</strong> Zuständigkeit von Fachexpertinnen.<br />
Die Konsequenzen <strong>der</strong> Effektivierung<br />
menschlicher Handlungsvollzüge<br />
Im Ansinnen, dass soziale Einrichtungen passfähiger und<br />
ertragreicher werden sollen (vgl. Merchel 2003), wird die Zeitund<br />
Kostenfrage zu einem neuen Imperativ Sozialer <strong>Arbeit</strong>.<br />
Finanziers sozialer <strong>Arbeit</strong> interessieren vorwiegend jene<br />
Handlungen, die kurzfristig zu einem vorhersagbaren und berechenbaren<br />
Ergebnis führen. So wird nicht mehr gefragt, was für<br />
die Soziale <strong>Arbeit</strong> ein sinnvoller Rahmen, sowohl zeitlich als<br />
auch vom Aufwand her gesehen, wäre, son<strong>der</strong>n es werden in<br />
<strong>der</strong> Regel betriebswirtschaftlich gedachte Kriterien als<br />
Leitprinzip vorgegeben. Dieser Imperativ ›Optimiere!‹, <strong>der</strong><br />
dauerhafte Verbesserungsanspruch, ist Ausdruck politischer<br />
Strategie, die das Subjekt einer Verfahrenskontrolle unterstellt,<br />
die nicht auf eine Sache abzielt, son<strong>der</strong>n auf die Effektivierung<br />
menschlichen Handelns als Technologie. Das wird etwa in den<br />
Schriften <strong>der</strong> EU-Bildungskommision deutlich, wenn von <strong>der</strong><br />
Ausschöpfung des Humanressourcenpotentials gesprochen<br />
wird (vgl. EU Bildungskommision 1995), was ja nicht unbedingt<br />
etwas Neues darstellt 2 . Dies führt mittlerweile soweit,<br />
wie Michael Winkler einwirft, dass aus <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> heraus<br />
eigene Angebote kritisch unter die Lupe genommen werden,<br />
ob sie passgenau o<strong>der</strong> doch bereits eine ›Luxusvariante‹<br />
seien, die wenig taugen angesichts <strong>der</strong> »realistischen<br />
Perspektiven junger Menschen« (Winkler 2000, 152). Die<br />
aktuelle Diskussion um Soziale <strong>Arbeit</strong> verkürzt sich <strong>der</strong>gestalt<br />
auf die Frage nach <strong>der</strong> Passfähigkeit sozialarbeiterischer<br />
Antworten auf gesellschaftlich markierte Problemlagen.<br />
Die Versuche <strong>der</strong> Herstellung einer ökonomisch rationalen<br />
Kontrolle zielen weiters auf messbare Ergebnisparameter ab,
Qualität und Effizienz 205<br />
die davon ausgehen müssen, dass Soziale <strong>Arbeit</strong> über kausal<br />
wirkende Techniken zur Verän<strong>der</strong>ung von Menschen verfügt.<br />
Dieser Anspruch an Soziale <strong>Arbeit</strong> übersieht jedoch die<br />
Offenheit von Bildungs- und Entscheidungsprozessen, die sich<br />
allgemein im so genannten ›Technologiedefizit‹ Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />
zeigen und von Michael Galuske als Akt <strong>der</strong> Selbsttäuschung<br />
entlarvt werden, sollte man meinen, über absolut wirkende<br />
Methoden zu verfügen (vgl. Galuske 2003, 60), da ihr dadurch<br />
»jene auf die Bedingungen des Einzelfalls ausgerichtete, fachlich<br />
fundierte, gleichwohl offene Suchhaltung gegenüber dem<br />
biografischen Eigensinn, den ›Beson<strong>der</strong>heiten‹ <strong>der</strong> Klienten<br />
und ihrer Lebenslage, den Eigenheiten ihrer Lebenswelten und<br />
ihrer sozialen Netzwerke« (Galuske/Müller 2002, 488) abhanden<br />
kommt. Es dürfte also ein fundamentaler Wi<strong>der</strong>spruch zwischen<br />
dem fachlichen Anspruch Sozialer <strong>Arbeit</strong> und dem auf<br />
betriebswirtschaftliche Kontrolle und Planbarkeit abzielendem<br />
Qualitätsverständnis vorliegen.<br />
Anstatt einer reflexiven Fachdiskussion erfolgt die Ausrichtung<br />
an Zauberformeln und allseits Zustimmung findenden<br />
Hülsenwörtern, wozu Qualität und Effizienz in herausragen<strong>der</strong><br />
Weise zählen. Es fällt schwer, hier Kritik zu üben, ohne sich mit<br />
dem Vorwurf konfrontiert zu sehen, realitätsfremd zu sein.<br />
Qualität will schließlich jede/r, und zwar auf allerhöchstem<br />
Niveau. Wer will schon von einer/m mittelmäßigen o<strong>der</strong> gar<br />
mäßigen SozialarbeiterIn beraten o<strong>der</strong> betreut werden? Wer<br />
möchte schon, dass am Ende einer sozialarbeiterischen<br />
›Dienstleistungserbringung‹ ein Ergebnis steht, das nicht im<br />
Entferntesten den Idealvorstellungen eines geglückten<br />
Interventionsprozesses entspricht? Ebenso wird die aus<br />
Werbesendungen allseits bekannte For<strong>der</strong>ung allgemein vorauszusetzen<br />
sein: Warum mehr bezahlen, wenn das gleiche<br />
Produkt billiger zu haben ist?<br />
Mit diesen, einfache Lösungen versprechenden Zugängen lässt<br />
sich auch die zunehmend kritikfreie Einführung betriebswirtschaftlicher<br />
und managementorientierter Steuerungskonzepte
206<br />
Qualität und Effizienz<br />
in <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong> erklären, die konkrete Auswirkungen auf<br />
die <strong>Arbeit</strong>sweise und das <strong>Arbeit</strong>sverständnis haben, und ihren<br />
Nie<strong>der</strong>schlag in <strong>der</strong> theoretischen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> finden 3 . Otto Speck spricht hier bereits Ende<br />
<strong>der</strong> 1990er von <strong>der</strong> Nötigung zur Wirtschaftlichkeit unter<br />
Ausklammerung realer Anfor<strong>der</strong>ungen (vgl. Speck 1999, 12).<br />
Diese Entwicklung führte in Deutschland zur Einführung neuer<br />
Steuerungsmodelle bei den öffentlichen Jugendhilfeträgern und<br />
zu neuen Anfor<strong>der</strong>ungen an Bereiche <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenarbeit,<br />
speziell an die <strong>Arbeit</strong> von Behin<strong>der</strong>tenwerkstätten, die mit qualitätszertifizierten<br />
Firmen zusammenarbeiten und breitet sich<br />
zunehmend auf alle Bereiche <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> aus. In Österreich<br />
sind ähnliche Entwicklungen etwas zeitversetzt zur deutschen<br />
Situation beobachtbar 4 .<br />
Die Einführung von Maßnahmen zur Orientierung an Qualität<br />
im Sinne <strong>der</strong> Sicherung und Messung geht Hand in Hand mit<br />
<strong>der</strong> Diskussion um die Finanzierung <strong>der</strong> staatlichen<br />
Sozialkosten und dem damit verbundenen Umbau des<br />
Sozialstaates bzw. <strong>der</strong> Reform <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltungen.<br />
New-Public Management, strategisches bzw. operatives Controlling,<br />
Outputorientierung, Produktdefinitionen, Kontraktmanagement<br />
und ›Markt statt Staat‹ sind die heilsversprechenden<br />
Key-Words, die <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltung und dem<br />
Sozialwesen verordnet werden (vgl. Galiläer 2005, 112f).<br />
Die Argumente, die diesen Paradigmenwechsel legitimieren<br />
sollen, wurden in Deutschland, wie in Österreich gleichermaßen<br />
ins Treffen geführt: leere öffentliche Kassen und zu hohe<br />
Sozialkosten. Eine Neuregelung des deutschen Sozialstaates<br />
und die Reform <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltungen werden konsequent<br />
durchgeführt, in Österreich wird dies seit Mitte <strong>der</strong><br />
1990er angestrebt und ab 2000 auf lokaler Ebene schrittweise<br />
umgesetzt (vgl. Bakic/Diebäcker/Hammer 2008). Die Suche<br />
nach dem Heilmittel mehr privat, weniger Staat als Lösung für<br />
eine angebliche Finanzierungsproblematik favorisiert da wie<br />
dort outputorientierte Steuerung sozialarbeiterischer Maß-
Qualität und Effizienz 207<br />
nahmen. In Deutschland gibt es hierfür ausgearbeitete<br />
Produktkataloge (vgl. BMFSFJ 2000, 25ff) und für die<br />
Bewilligung von Budgets sind die Einführung standardisierter<br />
Controllingverfahren sowie ein spezifisches<br />
Kontraktmanagement im Zeichen von Qualität und Effizienz<br />
vorgeschrieben.<br />
Damit wird ein einseitiger Fokus auf Wirtschaftlichkeitsfragen<br />
gelegt, denn bei all diesen Neuerungen wird vor allem geprüft,<br />
ob das Ergebnis und <strong>der</strong> dafür notwendige Aufwand gerechtfertigt<br />
sind. Nikolaus Dimmel spricht in diesem Zusammenhang<br />
von wirkungsorientiertem Managerialismus: »what works<br />
is good and true« (Dimmel 2007, 31). Gleichzeitig wird transportiert,<br />
dass die bisherige <strong>Arbeit</strong> im Verwaltungs- und<br />
Sozialbereich nicht den zeitgemäßen Effizienzansprüchen<br />
gerecht wird, wenn durch politische Vorgaben nicht Reformen<br />
bloß um <strong>der</strong> Reformbekundung wegen durchgeführt werden.<br />
Otto Speck findet die Antwort im allgemeinen Wehklagen über<br />
den nicht mehr zeitgemäßen Wohlfahrtsstaat, <strong>der</strong> bereits Mitte<br />
<strong>der</strong> Neunziger des zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts von deutschen<br />
Politikern als Gefahr einer sozialen Dienstleistungskatastrophe<br />
beschwört wird. Nach Warnfried Dettling (1995, 160) sei nicht<br />
nur die Vergeudung von Ressourcen und Effizienzmängel zu<br />
konstatieren, son<strong>der</strong>n vor allem das Vorbeiarbeiten an den<br />
Bedürfnissen <strong>der</strong> Menschen.<br />
»Der Grund liege in <strong>der</strong> Allzuständigkeit des Staates. Sie habe zu<br />
einer Erstarrung <strong>der</strong> sozialen Dienste geführt. Diese seien heute so<br />
organisiert, dass sie sich über ihre eigenen Ziele und Erfolgskriterien<br />
nicht im Klaren seien, also we<strong>der</strong> aus ihren Erfolgen noch aus ihren<br />
Fehlern lernen könnten.« (Speck 1999, 18).<br />
Als Entgegnung dieser Vorwürfe kommt es zu einer bereitwilligen<br />
Aufnahme markterprobter Sicherungsmodelle.<br />
Kriterien wie die gleichzeitige Beachtung des individuellen und<br />
des Gemeinwohls, die Beachtung sozialer Logik jenseits eines
208<br />
Qualität und Effizienz<br />
Tauschwertes finden sich aber nicht an zentraler Stelle und die<br />
›Prüfinstanzen‹ dazu wären wohl auch nicht die Verwaltungsexekutoren<br />
sozialstaatlicher Provenienz.<br />
Wenn durch Qualitätssicherung als Grundlage von Leistungsbeschreibungen<br />
ein bewerten<strong>der</strong> Vergleich zwischen verschiedenen<br />
Trägern ermöglicht werden soll, stellt sich in Folge die<br />
Frage, ob in Zukunft nur noch <strong>der</strong> billigste Anbieter ausgewählt<br />
werden soll? Dies stellt wohl ernsthaft in Aussicht, dass eine<br />
Unterschiedlichkeit in <strong>der</strong> Gestaltung sozialarbeiterischer<br />
Tätigkeit nicht nur nicht erwünscht, son<strong>der</strong>n unmöglich<br />
gemacht werden soll. Es ist wohl so weit, dass die öffentliche<br />
Verwaltung durch die Einführung einer wirtschaftsmarktangepassten<br />
Struktur sich eine Kostensenkung aufgrund eines künstlich<br />
forcierten Wettbewerbs erhofft. Wenn man sich die gegenwärtige<br />
Ausdünnung <strong>der</strong> Leistungsvergabe ansieht, kurz formuliert<br />
also mehr <strong>Arbeit</strong> um weniger Geld, dann lässt sich<br />
erkennen, dass es hier um ein Ausloten <strong>der</strong> Möglichkeit von<br />
Rationalisierung geht.<br />
Die Diskussion um Qualität vermittelt jedenfalls als Lösung<br />
eine einfache und ökonomisch rationale Kontrolle. In <strong>der</strong><br />
Sprache <strong>der</strong> Verwaltungslogik heißt dies dann etwa:<br />
»Die Erarbeitung des Produktkataloges des Amtes erfor<strong>der</strong>te viel<br />
Anpassungsvermögen zwischen <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> Leistungen, die sich<br />
im Produktkatalog <strong>der</strong> Jugendwohlfahrt- Österreich spiegeln, und den<br />
Erfor<strong>der</strong>nissen <strong>der</strong> hohen Verdichtung für den Produktkatalog des<br />
Magistrates.« (AJF Linz 2000, 168).<br />
Die Übersetzung des Begriffes Verdichtung liegt wohl nicht nur<br />
im Auge <strong>der</strong> BetrachterIn.
Qualität und Effizienz 209<br />
Wie nun damit umgehen?<br />
Der Trend scheint jedenfalls auf eine Vision standardisierter<br />
Einheitspraxis von Sozialpädagogik und Sozialarbeit abzuzielen.<br />
Eine offene Frage bei <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach Qualitätssicherungssystemnachweisen<br />
ist also die erziehungs- bzw. sozialarbeitswissenschaftliche<br />
Zielfrage. Liegt es in <strong>der</strong> Absicht<br />
öffentlicher Vergabestellen, dass alle Anbieter sozialer <strong>Arbeit</strong><br />
nur mehr nach standardisierten wirtschaftlichen Normen verglichen<br />
werden können? Zählt bei <strong>der</strong> Bewertung von<br />
Anbietern im Sozialbereich nur mehr <strong>der</strong> Kostenfaktor, <strong>der</strong> nun<br />
gleichgesetzt wird mit Qualität? 5<br />
Es kann festgehalten werden, dass <strong>der</strong> Qualitätsdiskurs keine<br />
brauchbaren fachlichen Kategorien für die Soziale <strong>Arbeit</strong> liefert<br />
und lediglich als von außen eingebrachter Ziel- und Interessensdiskurs<br />
zu einer äußerst fragwürdigen Daseinsberechtigung<br />
kommen konnte. Der Drang auf diese Diskussion<br />
aufzuspringen liegt jedoch – wie bereits aufgezeigt – zu einem<br />
Gutteil in <strong>der</strong> angeblichen Legitimationsnot und dem scheinbaren<br />
Theoriedefizit <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Auch die Ertragsseite für<br />
die allen Ortes werbenden Qualitätssicherungs-Beraterinnen im<br />
Sozialbereich dürfte nicht zu vernachlässigen sein.<br />
Die Qualitätsdebatte scheint überdies zu einem vielseitig einsetzbaren<br />
Vehikel für die Professionalisierungsdebatte in <strong>der</strong><br />
Sozialpädagogik/Sozialarbeit tauglich, weil die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
Ausübenden neben höheren Qualifizierungsansprüchen einen<br />
höheren Professionalitätsgrad erreichen wollen (vgl.<br />
Thole/Cloos 2000, 561), woran sichtbar wird,<br />
»dass auf Seiten <strong>der</strong> Professionellen ein Bedarf an sinn- und sicherheitsstiftenden<br />
berufspraktischen Orientierungsmustern und Handlungsrezepten<br />
nicht zu leugnen ist und offenbar die bisherige, in<br />
Ausbildung und Berufspraxis vermittelte Handlungskompetenz nicht<br />
ausreicht, um eine verlässliche Orientierung im alltäglichen <strong>Arbeit</strong>svollzug<br />
zu gewährleisten.« (Köpp/Neumann 2003, 178).
210<br />
Qualität und Effizienz<br />
Es geht also um einen mehrfachen Gewährleistungsanspruch.<br />
Alle wollen vorher wissen, was nachher rauskommt und gleichzeitig<br />
eine Garantie, dass das, was zu erreichen ist, auch möglichst<br />
schnell erreicht wird. Soweit so praktisch, bedauerlich ist<br />
nur, dass diese Wünsche vor allem reflexartig und nicht reflexionsartig<br />
bedient werden 6 .<br />
So scheint es auch folgerichtig, dass Soziale <strong>Arbeit</strong> ihren<br />
Begriff, ihre fachliche Bestimmung nicht mehr auf <strong>der</strong> Ebene<br />
von Ziel- und Sollensbestimmungen bzw. fachlich zu erarbeitenden<br />
normativen Grundlagen gewinnen könne, son<strong>der</strong>n vielmehr<br />
ihr Fachverständnis und ihre Bestimmung aus <strong>der</strong><br />
Beschreibung und <strong>der</strong> Analyse des je marktmäßig zugelassenen<br />
Geschehens zu gewinnen habe (vgl. Winkler 2000, 153). Dies<br />
schließt den Kreis zu einem auf Einsparung abzielenden neuen<br />
Steuerungsmodell in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, das unter an<strong>der</strong>em<br />
mit <strong>der</strong> Vorgabe antritt, die Effizienz mittels Qualitätssicherung<br />
zu steigern und diese neue Wirklichkeit zu schaffen.<br />
Diese normative Aufnahme des Gegebenen als das legitim zu<br />
Erreichende verabschiedet Soziale <strong>Arbeit</strong> als politische Idee <strong>der</strong><br />
Hoffnung auf eine bessere, an<strong>der</strong>e Welt – wie sie etwa Siegfried<br />
Bernfeld in seinem Sisyphos’schen Entwurf formuliert (vgl.<br />
Bernfeld 2000 [1925]), spricht emanzipatorischen Ansätzen<br />
jede Chance ab und ist eine Kurzschließung des Seins mit dem<br />
Sollen, des Gegebenen mit dem Möglichen. Damit wird auch<br />
eine zentrale Perspektive <strong>der</strong> Sozialer <strong>Arbeit</strong> suspendiert, die<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> zeitlichen Dimension, da eine offene<br />
Zukunft so nicht mehr verhandelbar ist.<br />
Lässt man Fachleuten bei <strong>der</strong> Suche nach <strong>der</strong> Qualität Sozialer<br />
<strong>Arbeit</strong> freien Lauf, dann kommt es mitunter zu Aussagen, wie<br />
sie <strong>der</strong> Sozialpsychologe Heiner Keupp stellvertretend formuliert:<br />
»För<strong>der</strong>ung und Unterstützung von a. ›aufrechtem‹ Gang und<br />
Selbstbestimmung; b. gesellschaftlicher Chancengleichheit; c. Vielfalt<br />
von Lebensformen/das Recht auf Differenz; d. kommunitären,
Qualität und Effizienz 211<br />
selbst organisatorischen Netzwerken; e. sozialer und materieller<br />
Grundsicherung; f. partizipativen Formen <strong>der</strong> Politikgestaltung.«<br />
(Keupp 2004, 337).<br />
Dieser Katalog normativer Bezugspunkte mag erklärungsbedürftig<br />
sein, ist in seiner Thesenhaftigkeit auch eine sehr grobe<br />
Allgemeinlinie, die bebil<strong>der</strong>t und ausgestaltet gehört. Was diese<br />
Aufzählung jedoch bereits skizziert, ist ein kritisch-reflexives<br />
Menschenbild, das sowohl die AdressatInnen wie auch die<br />
AkteurInnen Sozialer <strong>Arbeit</strong> mit dem Anspruch <strong>der</strong><br />
Eigenständigkeit und Identität versieht, also den Menschen und<br />
seine Handlungsvollzüge in den Mittelpunkt stellt. Dies ist<br />
etwas kategorial an<strong>der</strong>es als die ökonomistische Suche nach<br />
Flexibilität, Passgenauigkeit und Konsumfähigkeit, die den<br />
Menschen als Humanressource nimmt und zum verdinglichten<br />
Faktor für die Aufrechterhaltung einer Warenaustausch- und<br />
Dienstleistungswelt macht.<br />
Die Debatte um Qualität und Effizienz weist keine sozialarbeitswissenschaftlich<br />
bedeutsame Kategorie auf, son<strong>der</strong>n stellt<br />
vielmehr eine semantische Hülle dar, die zunächst von ideologischen<br />
Ansprüchen einer marktorientierten Ausrichtung des<br />
Staates in den Dienst genommen wird. Was bei dieser Debatte<br />
ganz augenscheinlich vergessen wird, ist die Anknüpfung an<br />
historische Entwicklungslinien innerhalb <strong>der</strong> facheigenen<br />
Theorieentwicklung, somit <strong>der</strong> Verlust <strong>der</strong> Tradition. Michael<br />
Winkler streicht dies hervor, wenn er feststellt:<br />
»Tatsächlich lässt sich an <strong>der</strong> um den Begriff <strong>der</strong> ›Qualität‹ zentrierten<br />
Jugendhilfe-Diskussion beobachten, dass sie eigentümlich unhistorisch<br />
wie aber auch gesellschaftstheoretisch desinteressiert, damit<br />
möglicherweise systematisch wie kategorial unterhalb des disziplinär<br />
verfügbaren Reflexionsniveaus bleibt.« (Winkler 2000, 143).<br />
Gleichwohl stellt die Dauerthematisierung von ›Qualität‹ und<br />
›Effizienz‹ eine konkrete Themenvorgabe für die Soziale <strong>Arbeit</strong>
212<br />
dar, weil sie die Frage nach <strong>der</strong> disziplinären Selbstvergewisserung<br />
zwar perspektivisch falsch, jedoch öffentlich<br />
wirksam aufwirft. Gleichwohl sollte hier tunlichst zwischen<br />
den beiden Ebenen unterschieden werden, die in <strong>der</strong> aktuellen<br />
Debatte immer schon kurzgeschlossen zu sein scheinen:<br />
Qualität und Effizienz als Benchmarking, als technologische<br />
Verfahrensweise und damit als Legitimation für die Existenz<br />
sozialarbeiterischer Handlungsfel<strong>der</strong> einseitig wirtschaftsorientiert<br />
zu führen, stellt eine Perspektivenwechsel dar, bei dem<br />
nichts weniger als die Bestimmung des Menschen im Sinne <strong>der</strong><br />
Humanitas auf dem Spiel steht. Eine Diskussion über das<br />
Wesen und die Wirkung Sozialer <strong>Arbeit</strong>, die sich an fachlichinhaltlichen<br />
Ansprüchen orientiert (vgl. Bakic/Diebäcker/<br />
Hammer, 2007b), mit einem fachlich begründeten Verständnis<br />
ihre Praxis bewertet, sich als solidarische Leistung für alle<br />
Menschen in Krisen- und Problemsituationen sieht, reflexive<br />
Fachlichkeit mit geeigneten Rahmenbedingungen verbinden<br />
kann und dabei ein kritisch-emanzipatives und generalistisches<br />
Verständnis Sozialer <strong>Arbeit</strong> nach innen wie nach außen<br />
Ausdruck verleiht, ist dem alle mal vorzuziehen.<br />
Anmerkungen<br />
Qualität und Effizienz<br />
1 Einige Beispiele: So sieht etwa das Bundesvergabegesetz 2006 explizit<br />
den Nachweis von Qualitätssicherungsverfahren vor, auch for<strong>der</strong>t<br />
Bundesminister Bartenstein in seiner Zielvorgabe für arbeitsmarktpolitische<br />
Maßnahmen im April 2006, den Nachweis von<br />
Qualitätsmessinstrumenten (vgl. www.bmwa.gv.at). Der FSW, <strong>der</strong><br />
Fonds Soziales Wien, verlangt von geför<strong>der</strong>ten Einrichtungen: »Mit<br />
<strong>der</strong> Anerkennung verpflichtet sich <strong>der</strong> Betreiber <strong>der</strong> Einrichtung zur<br />
Durchführung von Maßnahmen des Qualitätsmanagements: z. B.<br />
Maßnahmen <strong>der</strong> Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung (inkl.<br />
Konzepte zur Entwicklung und Implementierung solcher),<br />
Anerkennung von Qualitätsstandards ...« (Spezifische För<strong>der</strong>richt-
Qualität und Effizienz 213<br />
2<br />
linie für die Unterbringung und Betreuung wohnungsloser Menschen<br />
2006, [online: http://www.fsw.at])<br />
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer Dialektik <strong>der</strong><br />
Aufklärung (vgl. Adorno/Horkheimer 2000) sowie Günther An<strong>der</strong>s in<br />
seiner zweiten Abhandlung über die Antiquiertheit des Menschen<br />
(vgl. An<strong>der</strong>s 1980) haben dieses Phänomen bereits reichlich beschrieben.<br />
3 Vgl. etwa den Sammelband herausgegeben von Beckmann/Otto/<br />
Richter/Schrödter (2004), in dem aus unterschiedlichen Perspektiven<br />
das Qualitätsthema in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> beleuchtet wird, <strong>der</strong> internationale<br />
Implikationen aufzeigt, den Zusammenhang zum<br />
Wettbewerb, die Bedeutung für die Organisationsentwicklung, die<br />
Bedeutung für die Professionalisierung wie für das Nutzerinteresse in<br />
den Blick nimmt.<br />
4 So hat das BBRZ, das Berufliche Bildungs- und<br />
5<br />
Rehabilitationszentrum mit Gründung in Oberösterreich als erste<br />
Einrichtung 1992 DIN ISO 9001 eingeführt, Jugend am Werk, WUK<br />
Jugendprojekt, Rettet das Kind, Volkshilfe und viele an<strong>der</strong>e<br />
Einrichtungen in Österreich sind gefolgt. Mit Stand 08/2006 gibt es<br />
allein im Sozial- und Erziehungsbereich in Österreich über 100<br />
aktuelle ISO-Zertifikate.(vgl. www.oeqs.at) Was überdies, gemessen<br />
am <strong>Arbeit</strong>s- und Kostenaufwand, bemerkenswert ist, da die<br />
Zertifikate ja nur gültig sind, wenn sie laufend überprüft und alle drei<br />
Jahre neu zertifiziert werden.<br />
Am Rande lässt sich bei <strong>der</strong> Beschäftigung mit diesen Fragen vermuten,<br />
dass die gewünschte Effizienzsteigerung <strong>der</strong> Sozialpädagogik mit<br />
<strong>der</strong> Einführung von neuen Managementmodellen alleine deswegen<br />
nicht erreicht werden kann, weil von den veranschlagten Budgets<br />
immer weniger bei den Zielgruppen ankommt, da <strong>der</strong> personelle und<br />
verwaltende Aufwand bei den Institutionen zur Kostenerfassung,<br />
Abrechnung und Verwaltung immer weiter gesteigert werden dürfte<br />
o<strong>der</strong> bereits wird.<br />
6 Davon zeugen diverse Begleitbücher und Einführungshandbücher zur<br />
Implementierung von Qualitätssicherungsverfahren in Organisationen<br />
<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, Schule, Erwachsenenbildung,
214<br />
Sozialpädagogischen und Behin<strong>der</strong>teneinrichtungen etc.; vgl. etwa<br />
die Bibliografie zur Qualitätsdebatte in <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong> auf<br />
http://www.donau-quality.at/DMDOCUME/BIBLIOGR.PDF<br />
[06.01.2008]<br />
Literatur<br />
Qualität und Effizienz<br />
AJF Linz (2000): Jahresbericht AMT FÜR JUGEND UND FAMILIE Linz<br />
2000. [Online: http://www.linz.gv.at/archiv/jahresbericht00/gg3/ajf.<br />
pdf Stand 22.11.2007]<br />
Bakic, Josef (2007): Qualitätssicherung, Dienstleistungsorientierung und<br />
Lebensweltorientierte Bewältigungshilfe – neue Tendenzen einer<br />
Sozialpädagogik ohne pädagogischen Anspruch? Dissertation an <strong>der</strong><br />
Universität Wien<br />
Bakic, Josef (2006): Qualitätsmanagement. In: Dzierzbicka,<br />
Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (Hg.): Pädagogisches Glossar <strong>der</strong><br />
Gegenwart. Von Autonomie bis Wissensmanagement. Wien/<br />
Göttingen: <strong>Löcker</strong>, 218-227<br />
Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2008): Die Ökonomisierung<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> in Österreich – eine fachlich-kritische<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung. In: Kessl, Fabian/Ziegler, Holger (Hg.) Schwerpunktheft<br />
SOZIAL EXTRA «Schwarzbuch Soziale <strong>Arbeit</strong> –<br />
Destablisierung und Entstrukturierung Sozialer <strong>Arbeit</strong>« in<br />
Druckvorbereitung<br />
Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2007a): Wer Qualität<br />
sagt, muss auch Ideologie sagen: Eine Kritik managerialer und technokratischer<br />
Optimierungsversuche Sozialer <strong>Arbeit</strong>. In:<br />
EntwicklungspartnerInnenschaft Donau – Quality in Inclusion (Hg.):<br />
Sozialer Sektor im Wandel. Zur Qualitätsdebatte und Beauftragung<br />
von Sozialer <strong>Arbeit</strong>. Linz: edition pro mente, 107-118<br />
Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2007b): WIENER<br />
ERKLÄRUNG ZUR ÖKONOMISIERUNG UND FACHLICHKEIT<br />
IN DER SOZIALEN ARBEIT. [online: www.sozialearbeit.at,<br />
06.01.2008]
Qualität und Effizienz 215<br />
Beckmann, Christof/Otto, Hans-Uwe/Richter Martina (Hg.) (2004):<br />
Qualität in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Zwischen Nutzerinteresse und<br />
Kostenkontrolle. Wiesbaden: VS<br />
Siegfried Bernfeld (2000[1925]): Sisyphos o<strong>der</strong> die Grenzen <strong>der</strong><br />
Erziehung. Frankfurt am Main<br />
BMFSFJ (2000) Handbuch zur Neuen Steuerung in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und<br />
Jugendhilfe: eine <strong>Arbeit</strong>shilfe für freie und öffentliche Träger.<br />
Stuttgart/Berlin/Köln (zugleich: Schriftenreihe des Bundesministeriums<br />
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Bd. 187)<br />
Dettling, Warnfried (1995): Politik und Lebenswelt. Vom Wohlfahrtsstaat<br />
zur Wohlfahrtsgesellschaft. Gütersloh<br />
Dimmel, Nikolaus (2007): Ökonomisierung und Sozialbedarfsmarkte.<br />
Faktoren des Strukturwandels Sozialer <strong>Arbeit</strong>. In: EntwicklungspartnerInnenschaft<br />
Donau – Quality in Inclusion (Hg.): Sozialer<br />
Sektor im Wandel. Zur Qualitätsdebatte und Beauftragung von<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong>. Linz, 17-42<br />
EU-Bildungskommission (1995): Weißbuch <strong>der</strong> Kommission zur allgemeinen<br />
und beruflichen Bildung «Lehren und Lernen – auf dem Weg<br />
zur kognitiven Gesellschaft«, KOM(95) [online: http://euramis.net/<br />
documents/comm/white_papers/pdf/com95_590_de.pdf Stand<br />
06.01.2008]<br />
Galuske, Michael (2003): Methoden <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Eine Einführung.<br />
Weinheim und München<br />
Galuske, Michael (2002a): Dienstleistungsorientierung – ein neues<br />
Leitkonzept Sozialer <strong>Arbeit</strong>? In: neue praxis 3/2002, S. 240-258<br />
Galuske, Michael/Müller, Wolfgang, C. (2002): Handlungsformen in <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Geschichte und Entwickung. In: Thole, Werne (Hg.):<br />
Grundriss Soziale <strong>Arbeit</strong>. Opladen, 485-508<br />
Galiläer, Lutz (2005): Pädagogische Qualität. Perspektiven <strong>der</strong><br />
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Weinheim/München<br />
Hütte, Michael (1998): Qualitätssicherung in <strong>der</strong> Jugendhilfe Chance zur<br />
verbesserten Legitimation vergesellschafteter Kosten o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Weg in<br />
eine technokratisierte Pädagogik? In: Internationale Gesellschaft für<br />
erzieherische Hilfen (Hg.): Forum Erziehungshilfen 2/98
216<br />
Qualität und Effizienz<br />
Keupp, Heiner (2004): Die Suche nach <strong>der</strong> Qualität Sozialer <strong>Arbeit</strong> im<br />
Spannungsfeld von Markt, Staat und Bürgergesellschaft. In:<br />
Peteran<strong>der</strong>, Franz/Speck, Otto (Hg.): Qualitätsmanagement in sozialen<br />
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Majewski, Karin/Seyband, Elke (2002): Erfolgreich arbeiten mit QfS.<br />
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sozialen Bereich. Weinheim/München<br />
Merchel, Joachim (2003): Zum Stand <strong>der</strong> Diskussion über Effizienz und<br />
Qualität in <strong>der</strong> Produktion sozialer Dienstleistungen. In: Möller,<br />
Michael (Hg.): Effektivität und Qualität sozialer Dienstleistungen.<br />
Kassel, 4-25<br />
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Mo<strong>der</strong>nisierung? Zum Verhältnis von Professionalisierung<br />
und Verwaltungsreform in <strong>der</strong> Jugendhilfe. In: Flösser, Gaby/Otto,<br />
Hans-Uwe (Hg.): Neue Steuerungsmodelle für die Jugendhilfe.<br />
Neuwied/Kriftel/Berlin<br />
Speck, Otto (1999): Die Ökonomisierung sozialer Qualität: Zur<br />
Qualitätsdiskussion in Behin<strong>der</strong>tenhilfe und sozialer <strong>Arbeit</strong>.<br />
München/Basel<br />
Thole, Werner/Cloos, Peter (2000): Soziale <strong>Arbeit</strong> als professionelle<br />
Dienstleistung – »Zur Transformation des beruflichen Handelns«<br />
zwischen Ökonomie und eigenständiger Fachkultur. In: Otto, Hans-<br />
Uwe /Müller, Siegfried/Sünker, Heinz/Olk, Thomas/Böllert, Karin<br />
(Hg.): Soziale <strong>Arbeit</strong>. Gesellschaftliche Bedingungen und professionelle<br />
Perspektiven. Neuwied/Kriftel, 547-567<br />
Winkler, Michael (2000): Qualität und Jugendhilfe: Über Sozialpädagogik<br />
und reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung. In: Helmke, Andreas/Hornstein,<br />
Walter/Terhart, Ewald (Hg.): Qualität und Qualitätssicherung im<br />
Bildungsbereich: Schule, Sozialpädagogik, Hochschule. 41. Beiheft<br />
Z. f. Päd., Weinheim/Basel, 137-159
Recht und Wettbewerb<br />
Nikolaus Dimmel<br />
Wettbewerb – Recht – Sozialwirtschaft<br />
Seit Anfang <strong>der</strong> 1990er Jahre werden im Zuge einer Totalmobilmachung<br />
des Marktprinzips (vgl. Kurz 1999, 539ff) sukzessive<br />
auch Sozialdienstleistungen des österreichischen<br />
Wohlfahrtsstaates Marktbedingungen unterworfen. Damit einher<br />
ging eine Umstellung von <strong>der</strong> traditionellen Subventionswirtschaft<br />
auf zeitlich befristete Leistungsverträge. Dienstleistungen<br />
werden darin im Regelfall als »Produkte« beschrieben<br />
und mithilfe von Tag- bzw. Einzelleistungssätzen kalkuliert und<br />
abgerechnet. Gesetzgeber und Sozialverwaltungen sprechen<br />
seither von einem regulierten, gesteuerten »Sozialmarkt«.<br />
Reguliert werden etwa Leistungsstandards, Erbringungsqualität,<br />
Preise o<strong>der</strong> Einsatzgebiete sozialer Dienste. Da solcherart<br />
ein Preiswettbewerb nur eingeschränkt möglich ist,<br />
konzentriert sich die öffentliche Hand darauf, den<br />
Qualitätswettbewerb zwischen den Anbietern zu erzwingen.<br />
Diese Zuschneidung auf den Qualitätswettbewerb zwischen<br />
sozialen Dienstleistungsträgern wurde vor allem durch qualitative<br />
Standards im Sozialrecht, etwa im Sozialhilfe-,<br />
Behin<strong>der</strong>ten-, Heimvertrags- o<strong>der</strong> Heimrecht umgesetzt.<br />
Begründet wurde dieser Paradigmenwechsel mit Argumenten<br />
aus <strong>der</strong> (neo)liberalen Wohlfahrtsstaatskritik <strong>der</strong> 1980er Jahre.<br />
Diese rügte die drohende Unfinanzierbarkeit von Sozialleistungen,<br />
Formen <strong>der</strong> Überversorgung, falsche Anreize zum<br />
Verweilen in <strong>der</strong> Leistungsabhängigkeit (»Welfarization«)<br />
sowie die unzureichende Abstimmung von Angebot und<br />
Nachfrage. Zugleich wurde die Entmündigung <strong>der</strong><br />
NutzerInnen 1 sozialer Dienstleistungen im Kontext <strong>der</strong> traditionellen<br />
Objektför<strong>der</strong>ung, in <strong>der</strong> nicht die bedürftige Person,
218<br />
Recht und Wettbewerb<br />
son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Leistungen erbringende Träger entgolten/geför<strong>der</strong>t<br />
wird, kritisiert.<br />
Der mit jener »Vermarktlichung« einhergehende Umbau des<br />
Sozial- und Wohlfahrtsstaates schuf einen Marktrahmen,<br />
genauer: ein Wohlfahrtsdreieck bestehend aus öffentlichem<br />
Financier, Leistungserbringer und NutzerIn/KlientIn, in dem<br />
Hilfebedürftige kontrafaktisch seit Beginn <strong>der</strong> 1990er Jahre<br />
ungeachtet <strong>der</strong> »Unschlüssigkeit« <strong>der</strong> Austauschbeziehungen<br />
als »KonsumentInnen« bzw. »KundInnen« einer Sozialdienstleistung<br />
auftreten (müssen) (vgl. Effinger 1993).<br />
Gegenstand von Transaktionen auf diesem Markt sind im<br />
Wesentlichen Dienstleistungen <strong>der</strong> Beratung, Betreuung,<br />
Unterbringung und Pflege, also auch Tätigkeiten <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> (vgl. Dennebaum 1997). Diese Dienstleistungen werden<br />
von sozialwirtschaftlichen Unternehmen, also freien<br />
Wohlfahrtsträgern, zumeist im Auftrag <strong>der</strong> öffentlichen Hand<br />
erbracht und neben den Eigenleistungen <strong>der</strong> Begünstigten bzw.<br />
ihrer Unterhaltsverpflichteten auch ko-finanziert.<br />
Sozialwirtschaftliche Unternehmen treten darin einerseits als<br />
Leistungsvertragspartner <strong>der</strong> öffentlichen Hand und<br />
<strong>Arbeit</strong>geber von Sozial- und PflegearbeiterInnen und an<strong>der</strong>erseits<br />
als Konkurrenten auf Märkten in Erscheinung (vgl.<br />
Dahme et.al. 2005). Dazwischen bewegen sich die<br />
NutzerInnen, selten nur noch als »KlientInnen« bezeichnet, die<br />
sich als »geför<strong>der</strong>te Hilfsbedürftige« (daher: Subjektför<strong>der</strong>ung)<br />
auf einem freien Anbietermarkt orientieren müssen.<br />
Genauer betrachtet indes muss man von mehreren<br />
»Sozialmärkten« sprechen, auf denen Staat, freie Träger bzw.<br />
sozialwirtschaftliche Unternehmen, NGO´s und Selbsthilfeorganisationen<br />
Dienstleistungen erbringen. Es liegt auf <strong>der</strong><br />
Hand, dass die Regulierungen in den drei Sektoren Sozialer<br />
Dienstleistungen, nämlich »For-Profit-Markt«, »Staat« und<br />
»Social-Profit-Markt«, unterschiedlichen Kalkülen folgen.<br />
Während im Bereich gewinnorientierter privater Pflegeheime<br />
tatsächlich nach allgemein geltenden Grundsätzen wettbewerb-
Recht und Wettbewerb 219<br />
lich gehandelt wird, ist im Bereich staatlich monopolisierter<br />
Leistungen, etwa bei behördlichen Rechtsakten, bei<br />
Adoptionen o<strong>der</strong> bei sozialmedizinischen Anamnese-<br />
Leistungen eines Amtsarztes, Wettbewerb nicht möglich. In<br />
jenem Marktsegment, in welchem »Social Profit Unternehmen«<br />
agieren, ist schließlich Wettbewerb nur in eingeschränkter<br />
Form, nämlich als Qualitätswettbewerb (in Bezug<br />
auf Personalqualität, Zielerreichung, Nachhaltigkeit, KundInnenzufriedenheit<br />
etc) denkbar und praktikabel. 2<br />
Die Logik <strong>der</strong> sozialpolitischen Steuerung dieses Marktes<br />
basiert im Wesentlichen auf drei Zugriffen, nämlich dem<br />
Marktzutritt <strong>der</strong> Leistungserbringer, <strong>der</strong> Qualitätssteuerung zu<br />
erbringen<strong>der</strong> Leistungen sowie <strong>der</strong> Preisfestsetzung (bzw. <strong>der</strong><br />
bedarfsgeprüften Bezuschussung von Marktpreisen). Das<br />
gesamtwirtschaftliche Steuerungsarrangement allerdings ist<br />
wesentlich komplexer, da sozialwirtschaftliche Unternehmen<br />
auch wirtschaftsrechtlichen Regelungen unterliegen. Kompetentiell<br />
vermengen sich hier drei Gesetzesebenen, nämlich die<br />
supranationale, die nationale sowie die fö<strong>der</strong>ale. Auf supranationaler<br />
Ebene wird <strong>der</strong> Marktzugang gesteuert (EU-<br />
Wettbewerbsrecht; Vergabe- und Dienstleistungsrichtlinie). Der<br />
Zentralstaat wie<strong>der</strong>um steuert mithilfe <strong>der</strong> Normen des<br />
Wirtschaftsrechts – also <strong>der</strong> Gesamtheit <strong>der</strong> privat-, unternehmens-<br />
und öffentlich-rechtlichen Rechtsnormen – die<br />
Rechtsbeziehungen <strong>der</strong> auf den Sozialmärkten Beteiligten<br />
untereinan<strong>der</strong> und ihr Verhältnis zum leistenden und gestaltenden<br />
Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat – etwa in Form des<br />
Heimunterbringungsrechts. Erst komplementär zum wirtschaftsrechtlichen<br />
Rahmen regeln die Län<strong>der</strong> im Rahmen <strong>der</strong><br />
»Sozialmarktordnung« den Marktzutritt, Mindestanfor<strong>der</strong>ungen<br />
an leistungserbringende Einrichtungen (Organisation,<br />
Personal, Konzept etc.), die Qualität <strong>der</strong> Leistungen<br />
(Betreuungsschlüssel, Wohnformenverordnungen, Dokumentationspflichten<br />
uam.), die Koordination <strong>der</strong> Dienstleistungen<br />
(Sozialsprengel, soziale Infrastrukturplanung etc.) o<strong>der</strong> die
220<br />
Recht und Wettbewerb<br />
Sicherstellung von Diensten durch Institutionengarantien und<br />
Vorhalteverpflichtungen.<br />
Die normative Regelungsdichte auf den Sozialmärkten, auf<br />
denen soziale Dienstleistungen vergeben, beauftragt, erworben<br />
und erbracht werden, aber auch die Ausübung <strong>der</strong> Fachaufsicht<br />
durch die öffentlichen Auftraggeber und Financiers verunmöglicht<br />
weitgehend freien und ermöglicht stattdessen nur regulierten<br />
Wettbewerb. Kostenwettbewerb wird im Regelfall unterbunden.<br />
Denn während Wettbewerb o<strong>der</strong> »Mitbewerb«<br />
bekanntlich Konkurrenz, also die Rivalität um Chancen <strong>der</strong><br />
Kapitalverwertung auf Märkten, meint, sind auf den regulierten<br />
Sozialmärkten Dienstleistungsvolumen, Preis und Qualität im<br />
Regelfall bereits vertraglich festgelegt (vgl. MackIntosh 1997).<br />
Dies bezieht sich sowohl auf Aspekte <strong>der</strong> Struktur- und<br />
Prozess- als auch <strong>der</strong> Ergebnisqualität. Wettbewerb ist unter<br />
diesen Vorzeichen im Regelfall nur als Qualitäts-, nicht aber als<br />
Kostenwettbewerb vorstellbar. Im regulierten Qualitätswettbewerb<br />
spiegelt sich, dass NutzerInnen von Dienstleistungen<br />
selten »KundInnen«, fast immer aber »KlientInnen« sind, da<br />
ihnen zentrale Kundenmerkmale wie Entscheidungssouveränität<br />
o<strong>der</strong> Fähigkeit zur Auswahl zwischen verschiedenen<br />
Leistungen fehlen.<br />
Die einschlägigen Wettbewerbsbedingungen, unter denen soziale<br />
Dienstleistungen (und damit: soziale <strong>Arbeit</strong>) erbracht werden,<br />
erschöpfen sich nicht im Wettbewerbs- und Sozialrecht, son<strong>der</strong>n<br />
werden durch ein kompliziertes Geflecht aus Vergabe-,<br />
Gesellschafts-, Vertrags-, <strong>Arbeit</strong>s-, Steuer- und Vereinsrecht<br />
sowie ausgewählten Teilen <strong>der</strong> Zivilrechtsordnung (Gewährleistung;<br />
Schadenersatz; Gehilfenhaftung; Produkthaftpflicht<br />
etc.) gesteuert.
Recht und Wettbewerb 221<br />
Zur ökonomischen Notwendigkeit einer rechtlichen<br />
Regelung von Sozialdienstleistungen<br />
Das Postulat <strong>der</strong> »Vermarktlichung sozialer Dienstleistungen«<br />
erscheint in kategorialer Weise als paradox (Altvater<br />
1991,79ff). Denn die Notwendigkeit rechtlicher Regelungen in<br />
Bereichen von Dienstleistungen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> erklärt sich<br />
– neben den allgemeinen Anfor<strong>der</strong>ungen an die rechtsstaatliche<br />
Verfasstheit sozialer Leistungen und <strong>der</strong> institutionell ausbuchstabierten<br />
wohlfahrtsstaatlichen Zielsetzung des kapitalistischen<br />
Staates (vgl. Dimmel 2007, 13) – gerade auch aus <strong>der</strong> nur<br />
eingeschränkt gegebenen Marktfähigkeit dieser Dienstleistungen.<br />
Diese ergibt sich einerseits aus Eigenschaften <strong>der</strong><br />
Dienstleistungen selbst, liegt an<strong>der</strong>erseits aber auch in <strong>der</strong><br />
Charakteristik <strong>der</strong> (potenziellen) NutzerInnen/NachfragerInnen<br />
begründet, die im Zusammenspiel zu einer ineffizienten Marktallokation<br />
und einer gesellschaftlich unerwünschten Distribution<br />
führen (können) (vgl. Trukeschitz 2006, 50f).<br />
Einige <strong>der</strong> möglichen Ursachen von eingeschränkten<br />
Marktmöglichkeiten sollen in <strong>der</strong> Folge kurz besprochen werden.<br />
Häufig gibt es keine ausreichenden Marktsignale im Sinne<br />
von kaufkraftfähiger Nachfrage, auf die sozialwirtschaftliche<br />
Unternehmen reagieren können, weshalb <strong>der</strong> Staat gesellschaftliche<br />
Investitionen in den sozialen Zusammenhalt tätigen muss<br />
(vgl. Aglietta 2000, 70), <strong>der</strong>en Umwegrentabilität sowohl für<br />
<strong>Arbeit</strong>sproduktivität als auch für politische Stabilität sorgt (vgl.<br />
Kaufmann 1997, 34ff), wobei es an<strong>der</strong>erseits aber auch dem<br />
Staat oft nicht möglich ist, die erfor<strong>der</strong>lichen Leistungen auf<br />
effektive Weise selbst zu erbringen. Die Theorien zum Marktund<br />
zum Staatsversagen können insoweit sinnvoll als<br />
»Verdrängungstheorien« (Frey 1998, 83) beschrieben werden,<br />
als erst durch das Versagen von Markt und Staat <strong>der</strong> Weg für<br />
einen dritten Sektor (vgl. Birkhölzer et al. 2005) frei wird.
222<br />
Recht und Wettbewerb<br />
Asymmetrische Informations- und Machtverteilung<br />
Das idealtypische Marktmodell – nach dem Angebot und<br />
Nachfrage eine optimale Güterversorgung garantieren – geht<br />
von einer vollständigen Informiertheit aller MarktteilnehmerInnen<br />
hinsichtlich aller relevanten Aspekte <strong>der</strong><br />
Transaktion aus. Diese Voraussetzung wird in <strong>der</strong> Realität<br />
natürlich nie vollständig erfüllt sein (vgl. Heilbronner/Thurow<br />
2004, 203f). Gerade bei sozialen Dienstleistungen indes ist<br />
Information systemisch bedingt asymmetrisch verteilt.<br />
Gesellschaftlich erwünschte Transaktionen kommen dann gar<br />
nicht o<strong>der</strong> nicht mit dem gesellschaftlich erwünschten Ergebnis<br />
zustande: <strong>der</strong> Markt versagt.<br />
Das Informationsungleichgewicht und die daraus resultierenden<br />
»falschen individuellen Präferenzen« können in Rechtsunkenntnis,<br />
erlernter Hilflosigkeit, vermin<strong>der</strong>ter Artikulationsfähigkeit,<br />
psychischer Belastung, Scham, Stigmafurcht o<strong>der</strong> Verlustängsten<br />
begründet liegen. Informationsungleichgewichte entstehen<br />
aber auch daraus, dass bei co-produzierten Dienstleistungen<br />
Produktion und Konsum zusammenfallen (»Uno-Actu-Prinzip«)<br />
(vgl. Trukeschitz 2006, 36), es also unmöglich/nicht direkt möglich<br />
ist, we<strong>der</strong> Eigenschaften, Qualität noch Folgen <strong>der</strong><br />
Dienstleistung im Voraus festzustellen, selbst wenn die formalen<br />
Rahmenbedingungen sozialer <strong>Arbeit</strong> (Qualifikationszertifikat;<br />
Betreuungsschlüssel; Zeitquanten) vorgegeben sind. Das<br />
erschwert den Aufbau einer Vertrauensbeziehung, die aufgrund<br />
<strong>der</strong> notwendigen »compliance«, also <strong>der</strong> Duldungs-,<br />
Mitwirkungs- und Kooperationsbereitschaft des/r Leistungsempfängers/in<br />
erfor<strong>der</strong>lich ist (vgl. Dimmel 2007, 47). Nicht nur<br />
ist <strong>der</strong> korporierte Anbieter <strong>der</strong> Dienstleistung im Regelfall besser<br />
informiert als sein Klient, er besetzt ihm gegenüber im<br />
Gewande des sozialarbeiterischen Doppelmandates auch eine<br />
Macht-, Herrschafts- o<strong>der</strong> sozialpädagogische Autoritätsposition.<br />
Das führt bei mangeln<strong>der</strong> Regelung dazu, dass mehr<br />
Leistungen erbracht werden als nötig o<strong>der</strong> dass eine überhöhte<br />
Gegenleistung verlangt wird (vgl. Badelt/Österle 2001, 71).
Recht und Wettbewerb 223<br />
Asymmetrien behin<strong>der</strong>n also den Qualitätswettbewerb, während<br />
Preiswettbewerb mangels kaufkraftfähiger Nachfrage<br />
leerläuft. Lösungsmöglichkeiten für dieses Dilemma zwischen<br />
Preis- und Qualitätswettbewerb liegen in <strong>der</strong> Installierung von<br />
institutionellen Strukturen, die Vertrauen schaffen sollen o<strong>der</strong><br />
im Hinzuziehen von informierten Dritten, die die Informationsasymmetrie<br />
ausgleichen, Beispiele hierfür wären<br />
Sozialberatungsstellen o<strong>der</strong> SozialanwältInnen (Ombudsleute).<br />
Konkret können von staatlicher Seite Informationen unmittelbar<br />
zur Verfügung gestellt und Informationspflichten (Manuduktion;<br />
Informationspflichten von Heimbetreibern) festgelegt<br />
werden, während die Etablierung von Ausbildungsnormen und<br />
von Verfahren <strong>der</strong> Berufszulassungs- und Betriebsbewilligung,<br />
von Maßnahmen <strong>der</strong> Qualitätssicherung o<strong>der</strong> die Beigabe von<br />
Sachverständigen und die Einrichtung von Beratungseinrichtungen<br />
sowohl <strong>der</strong> objektiven Verbesserung <strong>der</strong> Leistungserbringung<br />
als auch dem subjektiven Aufbau von Vertrauen dienen<br />
können (vgl. Badelt/Österle 2001, 71f., Frey 1998, 84).<br />
Geringes/fehlendes nachfragefähiges Einkommen<br />
Ein substantielles Hin<strong>der</strong>nis für das Zustandekommen eines<br />
gesellschaftlich wünschenswerten Ausmaßes des Konsums<br />
sozialer Dienstleistungen ist die eingeschränkte o<strong>der</strong> fehlende<br />
Zahlungsfähigkeit <strong>der</strong> potenziellen NachfragerInnen. Die prekäre<br />
Einkommenssituation betroffener Bevölkerungsteile kann<br />
nicht nur zu einer Unterversorgung mit sozialen Dienstleistungen<br />
son<strong>der</strong>n auch zu externalisierten Folgekosten führen,<br />
die wie<strong>der</strong>um gesamtgesellschaftlich zu tragen sind (vgl.<br />
Fouarge 2003). Ein Beispiel hierfür liegt etwa in <strong>der</strong> sozialen<br />
Umwegrentabilität von Maßnahmen <strong>der</strong> Delogierungsprävention,<br />
<strong>der</strong>en Outcome, also Wirkung, die Kosten des<br />
Nichtintervenierens bei weitem übersteigt. Exekutierte<br />
Delogierungen wie<strong>der</strong>um haben nicht nur enorme primär-direkte<br />
(persönliche, familiäre) Folgekosten im Sinne einer<br />
Verstetigung <strong>der</strong> Armutsbelastung von Haushalten, son<strong>der</strong>n
224<br />
Recht und Wettbewerb<br />
auch hohe sekundär-indirekte Folgekosten etwa durch<br />
Lernstörungen, »home-avoidance«, <strong>Arbeit</strong>splatzverlust o<strong>der</strong><br />
Scheidung. Die individuelle Zahlungsbereitschaft kann freilich<br />
auch bei ausreichendem Einkommen zu gering sein. Nämlich<br />
dann, wenn es sich bei <strong>der</strong> Dienstleistung um ein meritorisches<br />
Gut handelt, bei welchem <strong>der</strong> gesellschaftliche Nutzen höher ist<br />
als <strong>der</strong> vom Individuum individuell angenommene (vgl.<br />
Trukeschitz 2006, 51f). Beides zusammen führt dazu, dass <strong>der</strong><br />
Staat in einem Dreiparteien-Verhältnis, welches als<br />
»Wohlfahrtsdreieck« bezeichnet werden kann (Dimmel 2007,<br />
40), die »Financier«-Funktion übernehmen muss.<br />
Öffentliche Güter/meritorische Güter<br />
Staatlich gewährleiste soziale Dienstleistungen sind für alle<br />
zugänglich und sie beruhen nicht auf gewinnwirtschaftlichem<br />
Kalkül, son<strong>der</strong>n politischer Entscheidung (vgl. Bellermann<br />
2004, 61f). Quantität und Qualität sozialer Dienstleistungen<br />
sind folglich Ergebnis politischer Konsensfindungsverfahren<br />
(vgl. Winter 1997). Hierbei stellt sich die marktmäßige<br />
Zuordnung von Dienstleistungen als Problem dar, da das marktwirtschaftliche<br />
System nicht in <strong>der</strong> Lage ist, eine flächen- und<br />
bedarfsdeckende Erbringung von gesellschaftlich wünschenswerten<br />
sozialen Dienstleistungen zu gewährleisten. Externe<br />
Effekte einer Dienstleistung (die ökonomische Situation eines<br />
Individuums wird durch die Dienstleistung/das Gut, die/das<br />
einem an<strong>der</strong>en Individuum gehört, positiv o<strong>der</strong> negativ beeinflusst,<br />
ohne dass es zu einem Ausgleich/einer Gegenleistung<br />
kommt) führen stets zu Verzerrungen <strong>der</strong> volkswirtschaftlich<br />
»korrekten« Allokation.<br />
Im Falle »öffentlicher Dienstleistungen« kann die Erstellung<br />
aber überhaupt nur durch ein Tätigwerden <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Hand sichergestellt werden. Diese Dienstleistungen/Güter<br />
zeichnen sich einerseits dadurch aus, dass bei ihnen das<br />
Ausschlussprinzip nicht greift (Gruppen, die nicht bereit sind,<br />
für den Konsum zu bezahlen, können nicht vom Konsum aus-
Recht und Wettbewerb 225<br />
geschlossen werden – »Freeriding«), an<strong>der</strong>erseits durch die<br />
Nichtrivalität im Konsum (mehrere KonsumentInnen können<br />
das Gut gleichzeitig nutzen, ohne eine Nutzeneinbuße hinnehmen<br />
zu müssen) aus.<br />
Dort, wo öffentliche Güter/Dienstleistungen über den Weg von<br />
Selbstbehalten/Selbstbeteiligungen individualisiert werden,<br />
finanzieren die KäuferInnen häufig auch den Nutzen für Dritte<br />
mit. Gegebenenfalls kommen vertragliche Lösungen deshalb<br />
nicht/o<strong>der</strong> nicht in optimaler Weise zustande (vgl. Frey 1998,<br />
83). Die prekäre Effizienz <strong>der</strong> Bereitstellung öffentlicher Güter<br />
ist schließlich vor allem auch dadurch bedingt, dass Individuen<br />
(auch) als irrational eigennutzmaximierende Subjekte in<br />
Erscheinung treten, mithin auch Leistungen in Anspruch nehmen,<br />
nach denen sie eigentlich keinen Bedarf haben.<br />
Umgekehrt können (vergleichbar <strong>der</strong> Familienbeihilfe)<br />
»Mitnahmeeffekte« auftreten, bei denen Personen öffentlich<br />
finanzierte Dienstleistungen in Anspruch nehmen, welche sie<br />
sich auch selbst/privat hätten finanzieren können. In diesem<br />
Zusammenhang ist indes auch auf die möglichen negativen<br />
externen Effekte sozialer Dienstleistungen zu verweisen, welche<br />
etwa »impact« auf die Lebensführung und ökonomischen<br />
Interessen unbeteiligter Dritter haben können. Dies lässt sich<br />
vielfach bei <strong>der</strong> Errichtung sozialer Dienstleistungseinrichtungen<br />
(AIDS-Hilfe; Drogenberatung; Notschlafstelle etc)<br />
nachzeichnen, wo AnrainerInnen negative Folgen für die<br />
Wohnqualität ihres Viertels/Quartiers einwenden, während die<br />
öffentliche Hand ein Interesse an <strong>der</strong> »Dispersion« bzw. <strong>der</strong><br />
Dekonzentration sozialer Problemlagen hat.<br />
Im Falle sog. »meritorischer Güter«, die nach Auffassung des<br />
Staates o<strong>der</strong> kollektiver Akteure privat in zu geringem/nicht<br />
sozialverträglichem Ausmaß nachgefragt werden, muss die<br />
öffentliche Hand in Vorlage treten. Diese individuelle<br />
»Unterbewertung« von Dienstleistungen/Gütern ist im gesamten<br />
Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen endemisch. Die<br />
Erstellung meritorischer Dienstleistungen/Güter wird hier des-
226<br />
Recht und Wettbewerb<br />
halb vom Staat in <strong>der</strong> Form von Regulierungen, Subventionierungen<br />
o<strong>der</strong> vollständiger staatlicher Finanzierung sichergestellt<br />
(vgl. Badelt/Österle 2001, 77f).<br />
Staats- und Politikversagen<br />
Die Theorie des Staatsversagens (Heise 2005) geht davon aus,<br />
dass sich eine demokratisch legitimierte staatliche Organisation<br />
in <strong>der</strong> Ausrichtung ihres Leistungsangebots wesentlich an<br />
wahlpolitischen Erwägungen und dem Einfluss von lobbyierten<br />
Interessen orientieren wird. Tendenziell wird sie mit ihrem<br />
Leistungsangebot deshalb möglichst breite Wählerschichten<br />
und ´Stake Hol<strong>der</strong>` (etwa: Wirtschaftsverbände) ansprechen<br />
wollen und damit Akzeptanz generieren. Die Interessen von<br />
kleineren und wahlpolitisch unbedeuten<strong>der</strong>en Bevölkerungsgruppen,<br />
etwa sozialer Randgruppen, werden vom Sozialstaat<br />
daher strukturell bedingt nur unzureichend berücksichtigt,<br />
wodurch eine optimale Ressourcenallokation erneut nicht<br />
zustande kommt (vgl. Frey 1998, 84f). Staatsversagen (eigentlich<br />
ein durch Legitimitätszwänge bedingtes Politikversagen,<br />
da sich politische Eliten im Wesentlichen nur an Lobbies und<br />
Wahlen orientieren und somit notwendige und/o<strong>der</strong> unpopuläre<br />
Entscheidungen verzögern) tritt also nicht nur in Form kontraproduktiver<br />
Markteingriffe, son<strong>der</strong>n auch durch die<br />
Ausblendung <strong>der</strong> Bedürfnisse jener Bevölkerungsgruppen auf,<br />
welche kein entsprechendes politisches »voicing« entwickeln<br />
können. Die aus dem »political rent seeking« <strong>der</strong> politischen<br />
Eliten resultierenden Probleme beschränken sich nicht auf eine<br />
mangelhafte Güterallokation o<strong>der</strong> die Instabilität/Ineffizienz<br />
<strong>der</strong> Erbringung von Dienstleistungen, son<strong>der</strong>n erstrecken sich<br />
etwa auch auf die unzureichende Ausschöpfung von Beschäftigungspotentialen<br />
o<strong>der</strong> die mit Beschäftigung verbundenen<br />
Erwerbschancen und Verteilungswirkungen. Ein idealtypisches<br />
Staatsversagen liegt in <strong>der</strong> Orientierung an kurzfristig<br />
wirksamen und <strong>der</strong> Vernachlässigkeit mittel- und langfristig<br />
wirksamer Maßnahmen (»second-best-solution«). Schließlich
Recht und Wettbewerb 227<br />
kann auch die selbst generierte Ausweitung bürokratischer<br />
(Kontroll-)Kompetenzen zu paradoxen Kosten-Nutzen-<br />
Effekten führen, etwa indem die Kontroll- und Überwachungskosten<br />
die Gesamtkosten des Systems aufblähen, ohne dass<br />
damit ein Qualitätszugewinn verbunden wäre.<br />
Unschlüssige Tauschbeziehungen<br />
Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass auch durch<br />
das Tätigwerden <strong>der</strong> staatlichen Akteure auf Sozialmärkten die<br />
Marktunvollkommenheiten nicht beseitigt, weshalb hier<br />
Dienstleistungen dominant durch politische Entscheidungen<br />
bzw. nach politischen Kriterien und weniger durch Marktlogiken<br />
bestimmt werden. In einer ökonomischen Betrachtung<br />
kann sich deshalb ein wirksamer Knappheitsmesser (etwa ein<br />
aussagekräftiger Marktpreis) nicht herausbilden, die<br />
Tauschbeziehungen bleiben insofern »unschlüssig« (vgl.<br />
Dimmel 2007, 40). Diese Unschlüssigkeit ist allerdings je nach<br />
dem Finanzierungsmodell, das <strong>der</strong> Staat als Financier sozialer<br />
<strong>Arbeit</strong> wählt – Objekt- o<strong>der</strong> Subjektför<strong>der</strong>ung – unterschiedlich<br />
ausgeprägt.<br />
Im Objektför<strong>der</strong>ungsmodell wird die Einrichtung, welche die<br />
sozialen Dienstleistungen erbringt, direkt geför<strong>der</strong>t. Richtiger<br />
handelt es sich hierbei aber nicht um eine För<strong>der</strong>ung, son<strong>der</strong>n<br />
(in <strong>der</strong> Regel) um den Abschluss von Leistungsverträgen; die<br />
»För<strong>der</strong>ung« ist einfach das Entgelt für vom Staat gekaufte<br />
Leistungen. Im Rahmen <strong>der</strong> Objektför<strong>der</strong>ung sind dem Staat<br />
direkte und weitreichende Eingriffe in die Sphäre <strong>der</strong><br />
Leistungserbringer möglich. Neben <strong>der</strong> Kostenübernahme des<br />
Staates bleibt natürlich eine Eigenleistung des/r Leistungsempfängers/in<br />
möglich (bzw. ist in vielen Fällen üblich und<br />
erfor<strong>der</strong>lich) (vgl. Dimmel 2007, 22).<br />
Bei <strong>der</strong> Subjektför<strong>der</strong>ung kommt es hingegen zu einer direkten<br />
För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> hilfebedürftigen/begünstigten Person. Das<br />
Individuum wird also mit den nötigen Finanzmitteln ausgestattet,<br />
um auf dem Sozialmarkt nach eigener Wahl Leistungen von
228<br />
Recht und Wettbewerb<br />
den anbietenden Einrichtungen einzukaufen (Modell Pflegegeld).<br />
Der Staat steuert diese Märkte damit nur indirekt, die<br />
Konsumentensouveränität wird tendenziell gesteigert, während<br />
<strong>der</strong> Wettbewerbsdruck für die Anbieter tendenziell steigt<br />
(Etablierung eines Dienstleistungsmarktes). Es kann hier zwischen<br />
einem Vollkostenmodell (mit anschließendem Regress)<br />
und einem Restkostenmodell (mit nur teilweiser Kostenübernahme)<br />
unterschieden werden (vgl. Dimmel 2007, 22f).<br />
Während aber <strong>der</strong> eigentliche Leistungsvertrag zwischen dem/r<br />
NutzerIn <strong>der</strong> Dienstleistung und ihrem Anbieter geschlossen<br />
wird, kommt es dennoch häufig auch zum Abschluss eines<br />
Rahmenvertrages zwischen dem Anbieter und dem staatlichen<br />
Financier, <strong>der</strong> dann als Vertrag zugunsten o<strong>der</strong> mit<br />
Schutzwirkung zugunsten Dritter zu qualifizieren ist (vgl.<br />
Dimmel/Hornung 2007).<br />
Kapitalistische Herrschaft auf Sozialmärkten<br />
Die Durchsetzung sowohl <strong>der</strong> Vermarktlichung von bislang<br />
direktiv staatlich geregelten Politikfel<strong>der</strong>n als auch <strong>der</strong><br />
Marktorientierung von Subjekten, welche bislang Leistungen<br />
direkt zugeteilt erhielten, spiegelt die Strategie neoliberaler,<br />
postfordistischer Eliten, den leistenden und gestaltenden<br />
Wohlfahrtsstaat durch einen »Wettbewerbsstaat« (Joachim<br />
Hirsch) zu ersetzen. Die Totalmobilmachung des Marktprinzips<br />
spiegelt insofern nicht nur eine Ideologie, versteht man<br />
Ideologie sowohl als falsches Bewusstsein als auch als<br />
Hegemonie von kulturellen Deutungsmustern und Handlungsformen,<br />
innerhalb <strong>der</strong>er gesellschaftliche Beziehungen gelebt<br />
werden, son<strong>der</strong>n auch eine Verschiebung staatlicher Herrschaftspraktiken<br />
(vgl. Atzmüller 1997). Das betrifft vor allem<br />
zwei Aspekte:<br />
Die politisch-ideologische Bedeutung im Kontext sozialarbeiterischer<br />
Praxis liegt vor allem zum einen in <strong>der</strong> »Verwarung«
Recht und Wettbewerb 229<br />
sozialer <strong>Arbeit</strong>, also <strong>der</strong> reellen (!) Subsumtion sozialer <strong>Arbeit</strong><br />
unter die Verwertungsinteressen eines sich sukzessive als<br />
Unternehmen gebärdenden Staates. Wie die soziale<br />
Dienstleistung nunmehr als »Produkt« und eben nicht mehr als<br />
co-produzierte Inklusionsleistung beschrieben wird, so wird<br />
auch die soziale <strong>Arbeit</strong> als Tauschwerteigenschaft dieses<br />
Produktes subsumiert. Indem sie primär über ihren Preis,<br />
sekundär über ihren Output und erst zuletzt über ihren Outcome<br />
gehandelt wird, verschwindet die spezifische Qualität <strong>der</strong> sozialen<br />
<strong>Arbeit</strong>s- und Austauschbeziehung, nämlich ihr sozietaler<br />
Gebrauchswert, in <strong>der</strong> von Marx hinreichend beschriebenen<br />
rechtsförmigen Hülle <strong>der</strong> Austauschbeziehungen zwischen den<br />
EigentümerInnen von Ware und Geld. Die mit ihrer Verwarung<br />
verbundene tendenzielle Fetischisierung <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong><br />
löst indes ihren emanzipatorischen, strukturell antihegemonialen<br />
Charakter tendenziell auf. »At the end of the day« kann als<br />
soziale <strong>Arbeit</strong> überhaupt nur noch jene erscheinen, die sich im<br />
Wechselspiel von Angebot und Nachfrage als »Tauschwert«<br />
verkaufen kann.<br />
Die zweite wesentliche Bedeutung dieser Totalmobilmachung<br />
liegt in <strong>der</strong> fortschreitenden Re-Kommodifikation <strong>der</strong><br />
Beziehungen zwischen Citoyen (StaatsbürgerIn) und Staat.<br />
Der/die KlientIn eines wie auch immer kritisierbaren paternalistischen<br />
Wohlfahrtsstaates wird durch die eherne Form des/r<br />
Kunden/in verdrängt. Die Paradoxie dieses Vorgangs, nämlich<br />
die Verwandlung des/r Klienten/in in eine/n Kunden/in, <strong>der</strong><br />
Dienstleistungen einkauft, wird deutlich, wenn man sich die<br />
Handlungsoptionen <strong>der</strong> Beteiligten im Wohlfahrtsdreieck vergegenwärtigt,<br />
worin <strong>der</strong>/die phantasierte Kunde/in über keine<br />
KonsumentInnensouveränität, kein Wahlrecht und keinen<br />
Gewährleistungsanspruch, kein Preisverhandlungspouvoir verfügt.<br />
Gänzlich ausgeblendet wird dabei, dass noch immer ein<br />
Gutteil sozialer <strong>Arbeit</strong> behördlich/gerichtlich angeordnet ist, in<br />
<strong>der</strong> Maßnahmen <strong>der</strong> Sozialdisziplinierung, sozialen Kontrolle,<br />
»surveillance« (Überwachungsleistungen) und direktive
230<br />
Eingriffe in die individuelle Lebensführung auch gegen den<br />
Willen <strong>der</strong> Betroffenen durchgesetzt werden. Dieser Wi<strong>der</strong>spruch<br />
zwischen <strong>der</strong> immanenten Logik sozialarbeiterischer<br />
Funktion/Praxis und den Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Vermarktlichung<br />
wohlfahrtsstaatlicher Sozialdienstleistungen kann wohl nur<br />
dadurch aufgelöst werden, dass die befähigende Dimension<br />
sozialer <strong>Arbeit</strong> kategorial als Kernbestandteil ihrer Qualität verstanden<br />
und finanziert wird.<br />
Anmerkungen<br />
1 Die gen<strong>der</strong>sensitive Schreibweise erstreckt sich im Weiteren ausschließlich<br />
auf natürliche Personen.<br />
2 Freilich ist unverkennbar, dass auch hier die durchgesetzten<br />
Marktparadigmen »KundInnennähe«, »Serviceorientierung« o<strong>der</strong> die<br />
»Co-Produktion von Dienstleistungen auf Bestellung« im Grunde<br />
genommen als mehrschichtiges Herrschaftsinstrument verstanden<br />
werden müssen, welches sowohl KlientInnen als auch<br />
DienstleisterInnen bestimmte Vorverständnisse und Verhaltensformen<br />
aufzwingt.<br />
Literatur<br />
Recht und Wettbewerb<br />
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Winter, Thomas (1997): Sozialpolitische Interessen. Konstituierung, politische<br />
Repräsentation und Beteiligung an Entscheidungsprozessen,<br />
Baden-Baden.
Sozialraum und Governance<br />
Marc Diebäcker<br />
Die Rezeption und Popularität von Sozialraum als soziologische<br />
Theorie, von Governance als politisches Konzept und von<br />
Sozialraumorientierung als Zugang in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> fallen<br />
nicht zufällig in die Zeit <strong>der</strong> 1980er und 1990er Jahre. Ihre<br />
Konzeptualisierung und Anwendung muss auf gewandelte<br />
Formen von Herrschaft, Regieren und Staatlichkeit bezogen werden.<br />
Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft hat sich im<br />
Rahmen von Globalisierungsstrategien und neoliberalen<br />
Politiken in <strong>der</strong> Hinsicht verän<strong>der</strong>t, dass nationale<br />
Interventionsspielräume in Wirtschafts- und Sozialpolitik aufgrund<br />
von Deregulierungspolitiken massiv eingeschränkt werden,<br />
wodurch sich sozialräumliche Ungleichheiten und<br />
Spaltungen in <strong>der</strong> Gesellschaft beschleunigen. In dieser Situation<br />
erscheint <strong>der</strong> Staat nur mehr »als Mo<strong>der</strong>ator und Koordinator<br />
innerhalb eines Geflechts relativ unabhängiger gesellschaftlicher<br />
Akteure und Gruppen« (Hirsch 2001a, 118) und politische<br />
Entscheidungen werden stärker in staatlich-private Verhandlungssysteme<br />
verlagert. Im »verhandelnden« Staat gewinnt die<br />
lokal-regionale Ebene in <strong>der</strong> politischen Regulierung an<br />
Bedeutung: Aus ökonomischer Perspektive vollzieht sich dort<br />
die neoliberal-inspirierte Standortdebatte in Form von<br />
Städtekonkurrenz und auch die sozialen Auswirkungen gesellschaftlicher<br />
Spaltungs- und Marginalisierungstendenzen verorten<br />
sich lokal und werden dort sichtbar. Aufgrund des sozialstaatlichen<br />
Rückbaus und dem Mangel an Integrationsressourcen<br />
und -leistungen wird den Städten und Gemeinden zunehmend<br />
die Problembewältigung überlassen, wobei das Herstellen von<br />
Ordnung und Sicherheit sich zu einem zentralen Feld politischer<br />
Intervention entwickelt (vgl.; Hirsch 2001b, 200-203; Stenson<br />
2007) Vor diesem Hintergrund werden im folgenden die
234<br />
Konzepte von Sozialraum und Governance reflektiert und auf<br />
ihre Brauchbarkeit für die Weiterentwicklung <strong>der</strong> sozialraumorientierten<br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> geprüft.<br />
Das Konzept <strong>der</strong> Sozialraumorientierung erfreut sich seit den<br />
1990er Jahren in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> wachsen<strong>der</strong> Aufmerksamkeit<br />
und hat als theoretischer Bezugspunkt und als Methode<br />
Eingang in Ausbildung und Praxis gefunden. Spezialisierungen<br />
von SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen finden ihren<br />
Nie<strong>der</strong>schlag in »sozialraumorientierten« Lehr- o<strong>der</strong> Studiengängen<br />
und vielerorts hat Sozialraumorientierung das<br />
<strong>Arbeit</strong>sprinzip »Gemeinwesenarbeit« als Bezug im Stadtteil<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gemeinde abgelöst. Aber das Paradigma <strong>der</strong><br />
Sozialraumorientierung stößt inzwischen nicht nur in <strong>der</strong> Stadtund<br />
Gemeindeentwicklung auf Akzeptanz, son<strong>der</strong>n gilt auch in<br />
<strong>der</strong> Jugendarbeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe als fachliches<br />
Konzept. (siehe Beiträge in Kessl et al 2005 o<strong>der</strong><br />
Galuske/Schoneville 2007)<br />
Zur Theorie des Sozialraums<br />
Sozialraum und Governance<br />
Der Begriff Sozialraum wurde Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts im<br />
Rahmen <strong>der</strong> Ausdifferenzierung <strong>der</strong> Human- und Sozialwissenschaften<br />
von Emile Durkheim und Georg Simmel eingeführt,<br />
um räumlich-soziale Organisation nicht länger statischen<br />
Zugängen <strong>der</strong> Politischen Geographie zu überlassen, die behaupteten,<br />
dass <strong>der</strong> physisch-geographische Raum die soziale<br />
Ordnung bestimmt. Das Beson<strong>der</strong>e dieser frühen sozialwissenschaftlichen<br />
Zugänge liegt u.a. in <strong>der</strong> Trennung von physischem<br />
Raum und sozialer Organisation, was bedeutet, dass das, was<br />
sich an einem Ort konkret sozial manifestiert, Folge gesellschaftlicher<br />
Strukturen ist und soziale Phänomene nicht als statisch<br />
und unverän<strong>der</strong>lich betrachtet werden können. (vgl. Dünne<br />
2006, 289f) Seit den 1970er Jahren im Anschluss an den französischen<br />
Philosophen Henri Lefebvre hat sich ein Verständnis her-
Sozialraum und Governance 235<br />
ausgebildet, dass eine verän<strong>der</strong>liche Wechselbeziehung von physischem<br />
und sozialem Raum unterstellt und die zeitliche<br />
Perspektive stärker wahrnimmt. Dabei wird auch <strong>der</strong> physische<br />
Raum als gesellschaftlich strukturiert und verän<strong>der</strong>bar anerkannt<br />
als auch umgekehrt als gesellschaftsstrukturierend und -verän<strong>der</strong>nd<br />
verstanden. (vgl. Löw/Sturm 2005, 32-42)<br />
Aktuell wird – auch in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> – häufig auf das<br />
Modell des Sozialraums von Pierre Bourdieu Bezug genommen,<br />
welches den Dualismus von Struktur und Handeln – also<br />
Mikro- und Makroperspektive – zu verbinden versucht, um<br />
über die Begriffe Feld/Sozialraum (Strukturierendes Kräftefeld),<br />
Habitus (Handlungsmuster des Individuums) und einem<br />
weit gefassten Kapitalbegriff (Handlungsressourcen des<br />
Individuums) die soziale Praxis im Raum analysieren zu können.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e Bourdieus Klassifizierung des Kapitalbegriffs<br />
in ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches<br />
Kapital (vgl. Bourdieu 1987 [1979]; Bourdieu 1993, einführend<br />
dazu Rehbein 2006, 79-109) wird bei <strong>der</strong> Abbildung von<br />
Klassenstrukturen und Milieus breit angewendet.<br />
Bourdieu macht in seiner Konzeption des Sozialraums deutlich,<br />
dass <strong>der</strong> Ort lediglich ein Punkt ist, an dem ein »Akteur o<strong>der</strong> ein<br />
Ding sich platziert findet« (Bourdieu 1993, 160) – also im physischen<br />
Raum lokalisiert ist. Zugleich geht er davon aus, dass<br />
sich die Beziehungen gesellschaftlicher Akteure im Sozialraum<br />
und die damit verbundenen sozialen Positionen (die<br />
Klassenlage) im physischen Raum ausdrücken und einschreiben.<br />
Der Bourdieusche Ansatz entfaltet seine Bedeutung für die<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> darin, dass er auf die enge Verbindung von<br />
objektiven Strukturen und subjektiven Orientierungen verweist<br />
und die Alltagspraxis des Menschen in den Vor<strong>der</strong>grund rückt.<br />
Zugleich aber wird Bourdieu nicht müde die Begrenzungen hierarchisch<br />
strukturierter Sozialräume und die damit verbundenen<br />
Kräfteverhältnisse zu betonen, die den Handlungsspielraum<br />
von Menschen stark einschränken. (zum Überblick vgl.<br />
Treibel 2006, 219-243; Joas/Knöbl 2004, 518-557)
236<br />
Sozialraum und Governance<br />
Bezug nehmend auch auf aktuelle Diskussionen <strong>der</strong><br />
Raumsoziologie lässt sich festhalten, dass ein sozialräumlicher<br />
Blick auf Gesellschaft nicht allein nach sichtbaren (und unsichtbaren)<br />
Platzierungen und Verknüpfungen von Dingen und<br />
Menschen fragt, son<strong>der</strong>n diese Phänomene in regionale, nationalstaatliche<br />
o<strong>der</strong> globale Strukturen und Prozesse einbettet.<br />
(vgl. Löw 2005, 42-46) Bourdieu et al (1993) haben in »Das<br />
Elend <strong>der</strong> Welt« anhand qualitativer Interviews die Produktivität<br />
des sozialräumlichen Zugangs eindrucksvoll konkretisiert. (für<br />
Österreich vgl. Katschnig-Fasch, 2003) Die beson<strong>der</strong>e Aktualität<br />
des Werkes liegt darin, dass im Fallverstehen <strong>der</strong> dort versammelten<br />
Biographien die Folgen neoliberaler Politiken und des<br />
staatlichen Rückzuges aufgedeckt und Manifestierungen zum<br />
individuellen Leiden – sei es <strong>der</strong> Verlust des <strong>Arbeit</strong>splatzes o<strong>der</strong><br />
auch des Lebenssinns – abgebildet werden. Margareta<br />
Steinrücke hält diesbezüglich fest, dass auch »das relative<br />
Leiden <strong>der</strong> sogenannten ›linken Hand‹ des Staates, des nie<strong>der</strong>en<br />
Staatsadels aus Sozialarbeitern, Lehrern etc., <strong>der</strong> infolge <strong>der</strong><br />
Restriktionen <strong>der</strong> ›rechten Hand‹ des Staates, <strong>der</strong> Finanz- und<br />
Verwaltungsbürokratie, seine ständig wachsenden Aufgaben<br />
immer weniger erfüllen kann« (1997, 12 f.) nicht aus dem Blick<br />
<strong>der</strong> Analyse von Bourdieu et al gerät.<br />
Zur Sozialraumorientierung in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
Die Konjunktur <strong>der</strong> Sozialraumorientierung in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> seit den 1990er Jahre ließe eine starke Bezugnahme auf<br />
soziologische Theorien des <strong>Sozialen</strong> Raums vermuten. Jedoch<br />
ist <strong>der</strong> fachliche Diskurs in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> überwiegend<br />
von einem Sozialraumverständnis geprägt, das seine Anleihen<br />
bei <strong>der</strong> Gemeinwesenarbeit bezieht und auf die Entwicklung<br />
<strong>der</strong> endogenen Ressourcen im Sozialraum abzielt.<br />
Wolfgang Hinte, als ein Protagonist dieser Auffassung, vertritt<br />
die Überzeugung, dass von Problemlagen betroffene Menschen
Sozialraum und Governance 237<br />
ihre Lebensbedingungen mit ihren zur Verfügung stehenden<br />
Ressourcen im Quartier selbst und eigenverantwortlich verbessern<br />
können. Die Orientierung an den geäußerten Interessen <strong>der</strong><br />
Wohnbevölkerung, die Unterstützung <strong>der</strong> Eigeninitiative o<strong>der</strong><br />
die Kooperation und Koordination werden als zentrale<br />
Prinzipien genannt. Ausgehend von <strong>der</strong> These, dass die<br />
Selbsthilfekräfte <strong>der</strong> Menschen häufig unterschätzt werden,<br />
wird unter dem Stichwort <strong>der</strong> »Prävention« weitestgehend für<br />
eine Auflösung von fallspezifischer <strong>Arbeit</strong> argumentiert und auf<br />
die »Aktivierung« <strong>der</strong> Betroffenen abgezielt. (vgl. Hinte/Kreft<br />
2005; Hinte/Litges/Springer 2000) Dieses Sozialraumverständnis<br />
wird von den VertreterInnen aber auch auf das<br />
Handlungsfeld <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe übertragen und in<br />
deutschen sowie österreichischen Kommunen implementiert.<br />
Ein etwas an<strong>der</strong>s gelagerter Ansatz <strong>der</strong> Sozialraumorientierung<br />
hat sich in den 1990ern in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit entwickelt,<br />
<strong>der</strong> – anknüpfend an das Paradigma <strong>der</strong> Lebensweltorientierung<br />
von einem subjektiv-lebensweltlichen<br />
Raumbegriff ausgeht. Im Ansatz <strong>der</strong> flexiblen Erziehungshilfen<br />
wird »als Antwort auf die Individualisierung von Lebensläufen<br />
und Pluralisierung von Lebenswelten« (Galuske/Schoneville<br />
2007, 282) eine Alternative zu den verfestigten Angebotsformen<br />
<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe entwickelt. Auch in diesem<br />
Zugang wird die Nutzung <strong>der</strong> Ressourcen des Sozialraums und<br />
fallübergreifende <strong>Arbeit</strong> betont, allerdings bleibt die (flexible)<br />
Orientierung am Einzelfall charakteristisch. (vgl. Galuske/<br />
Schoneville 2007, 284-285)<br />
Zur Kritik an <strong>der</strong> Sozialraumorientierung<br />
in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
Die Kritik an Konzepten <strong>der</strong> Sozialraumorientierung in <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ist inzwischen vielfältig, wobei eine mangelnde<br />
theoretische Reflexion <strong>der</strong> soziologischen Raumtheorie
238<br />
Sozialraum und Governance<br />
unmittelbar ins Blickfeld gerät. Bezug nehmend auf die Theorie<br />
des Sozialraums lassen sich u.a. zwei Verkürzungen orten:<br />
Erstens, beziehen sich die meisten »pragmatischen Sozialraumvarianten«<br />
in <strong>der</strong> Praxis auf ein abgegrenztes Territorium. Die<br />
Konstitution des Raums wird dabei (in <strong>der</strong> Regel von außen) als<br />
absolut festgelegt, womit an<strong>der</strong>e Raumvorstellungen nicht<br />
beachtet und damit das Handeln von Menschen o<strong>der</strong> Gruppen<br />
nicht richtig verstehbar werden. (vgl. Löw 2001, 64) So können<br />
beispielsweise stadtteilbezogene Programme in so genannten<br />
»benachteiligten« Gebieten, die aufgrund sozialstruktureller<br />
Indikatoren von außen als defizitär definiert werden, sich mit<br />
den Sichtweisen dort lokalisierter Gruppen nicht im geringsten<br />
decken und sogar mit negativen Wahrnehmungsän<strong>der</strong>ungen<br />
von Orten und Stigmatisierungen dieser Gruppen verbunden<br />
sein kann.<br />
Zweitens, führt <strong>der</strong> in <strong>der</strong> sozialraumorientierten <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> weit verbreitete Fokus auf die vorhandenen<br />
Handlungsressourcen von KlientInnen o<strong>der</strong> Gruppen mit dem<br />
Ziel <strong>der</strong> produktiven Nutzbarmachung o<strong>der</strong> Funktionalisierung<br />
dazu, dass die Strukturen – also die Kräftverhältnisse hierarchisch-strukturierter<br />
Sozialräume – völlig aus dem Blick gerät.<br />
Gerade das nicht zur Verfügung stehende ökonomische, kulturelle<br />
o<strong>der</strong> soziale Kapital bestimmt die soziale Position und ist<br />
die Ursache für die Verfestigung sozialer Ungleichheiten. Die<br />
Vorstellung des schnellen Nutzbarmachens zentraler<br />
Handlungsressourcen von Menschen aus <strong>der</strong> Nachbarschaft<br />
o<strong>der</strong> dem Quartier muss in dieser Hinsicht als naiv bezeichnet<br />
werden.<br />
Heinz-Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt glauben, dass die<br />
aktuelle Sozialraumorientierung »sich bei näherer Betrachtung<br />
als ein Hebel <strong>der</strong> umfassenden Reorganisation sozialer<br />
Dienste« (2005, 263) erweist und halten die Sozialraumbudgetierung<br />
für ein betriebswirtschaftliches Instrument <strong>der</strong><br />
Kostenkontrolle einer »mo<strong>der</strong>nisierten« Verwaltung. Da kommunales<br />
Handeln Ursachen von <strong>Arbeit</strong>slosigkeit o<strong>der</strong> wachsen-
Sozialraum und Governance 239<br />
<strong>der</strong> Armut nur schwer beeinflussen kann, sind aktuelle Ansätze<br />
<strong>der</strong> Sozialraumorientierung einer aktivierenden Sozialpolitik<br />
des »För<strong>der</strong>n und For<strong>der</strong>n« zuzuordnen, in denen Menschen<br />
aktiviert werden, sich selbst zu helfen. (vgl. Dahme/Wohlfahrt<br />
2005, 272-277)<br />
In <strong>der</strong> Diskussion um Sozialraumorientierung ist auffällig, dass<br />
Strukturen und Prozesse globaler, nationalstaatlicher o<strong>der</strong><br />
regionaler Ebenen, die soziale Probleme verursachen und lokalisieren,<br />
nicht in ausreichendem Maße mitgedacht werden und<br />
innerhalb <strong>der</strong> Profession entwe<strong>der</strong> zur Überschätzung sozialraumorientierter<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> führen o<strong>der</strong> lediglich als alltagsbewältigende,<br />
kompensatorische Strategie <strong>der</strong> Anpassung<br />
unter Politiken einer sich verän<strong>der</strong>nden Staatlichkeit verstanden<br />
werden. Es wird auch deutlich, dass politische Dimensionen in<br />
<strong>der</strong> sozialraumorientierten <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> kaum reflektiert<br />
werden. Beispielsweise vermittelt <strong>der</strong> Hinte’sche Ansatz mit<br />
dem Fokus auf intermediäre Instanzen in sozialen Fragen<br />
»Neutralität« und »Unparteilichkeit« und entledigt sich damit<br />
sozialpolitischeren Perspektiven <strong>der</strong> Gemeinwesenarbeit wie<br />
sie beispielsweise Dieter Oelschlägel vertritt. (vgl. Hinte/<br />
Oelschlägel 2001, 17-36) Herrschaftsfragen werden damit<br />
bewusst ausgegrenzt, was im Gegenzug seine Anschlussfähigkeit<br />
an neoliberale Politiken <strong>der</strong> Flexibilität und Selbstverantwortung<br />
sichert.<br />
Zum Diskurs um Governance<br />
Der Begriff Governance hat in <strong>der</strong> Politikwissenschaft einen<br />
ähnlichen Rezeptionsverlauf genommen wie <strong>der</strong> Sozialraumbegriff<br />
in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Seit den 1980ern taucht das<br />
Konzept in politikwissenschaftlichen Fachdiskussionen auf und<br />
hat sich vor allem in den 1990er Jahren zu einem Schlagwort<br />
entwickelt, das in verschiedenen Gesellschaftssphären eine<br />
neue Qualität politische Steuerung propagiert und unter dem
240<br />
Sozialraum und Governance<br />
Stichwort »from government zu governance« besseres<br />
Regieren verspricht. Der Governance-Diskurs mit seiner zentralen<br />
Prämisse »es sei effizienter Probleme kooperativ und dialogisch<br />
zu bearbeiten« (Brand 2004,112) bezieht sich auf<br />
Netzwerke als zentrale Ordnungsmuster von Politik.<br />
Im sozialwissenschaftlichen Diskurs dominieren zwei<br />
Zugänge: einerseits werden mehrere räumlich-konstitutiven<br />
Ebenen unterschieden (local, regional, national und global<br />
governance) und die Integration dieser Ebenen (multi-levelgovernance)<br />
soll dann gesellschaftliche Problemlösungen erreichen.<br />
An<strong>der</strong>erseits wird mit akteursbezogenen Ansätzen, die oft<br />
stark auf die lokale Ebene fokussieren, ein Mehr an horizontaler<br />
Netzwerksteuerung o<strong>der</strong> Partizipation und ein Weniger an<br />
hierarchisch-organisierter Regulierung <strong>der</strong> formalisierten<br />
repräsentativen Demokratie gefor<strong>der</strong>t. Diesbezüglich wird die<br />
Dominanz des öffentlichen Sektors und seine fehlende<br />
Offenheit gegenüber BürgerInnen o<strong>der</strong> wirtschaftlichen<br />
AkteurInnen kritisiert. Das Governance-Konzept ist aufgrund<br />
<strong>der</strong> suggerierten stärkeren Einflussnahme von gesellschaftlichen<br />
AkteurInnen sowohl für wirtschaftsliberale als auch für<br />
links-identitäre Gruppen anschlussfähig, wobei letztere<br />
Partizipation, Demokratisierung o<strong>der</strong> Teilhabe mit Governance<br />
verbinden. (vgl. Diebäcker 2008; Brunnengräber et al 2004)<br />
In den letzten Jahren wird zunehmend Kritik am undifferenzierten<br />
Governance-Diskurs laut. Das angestrebte »neue«<br />
Verhältnis von Staat, Markt und Zivilgesellschaft wird problematisiert<br />
und die postulierte hohe demokratische Qualität <strong>der</strong><br />
nichthierarchischen, dezentralen und nicht-dirigistischen<br />
Formen des Regierens wird öfter in Frage gestellt.<br />
Erstens gehen laut Ulrich Brand die meisten Governance-<br />
Ansätze von <strong>der</strong> Annahme aus, dass es keine grundsätzlichen<br />
Interessengegensätze zwischen sozialen Gruppen, Milieus o<strong>der</strong><br />
Klassen mehr gäbe. Er kritisiert, dass »Governance für ein dialogisches<br />
und kooperatives Politikmodell [stehe], das nicht nur<br />
Interessensgegensätze, son<strong>der</strong>n auch die ungleiche
Sozialraum und Governance 241<br />
Ressourcenverteilung <strong>der</strong> in den Verhandlungsprozess einbezogenen<br />
Akteure sowie asymmetrische Machtverhältnisse ausblendet«<br />
(Brand 2004: 114). Ein Verständnis von Governance<br />
als ein harmonistisch-kooperatives Modell läuft also Gefahr<br />
Fragen sozialer Ungleichheit und politische Konflikte zu verschleiern<br />
und von <strong>der</strong> gesellschaftlichen Regelung auszuschließen.<br />
Zweitens, werden die neuen Netzwerke politischer Steuerung –<br />
auch wenn sie bezüglich ihrer Organisation und Einflussnahme<br />
nur selten Gegenstand <strong>der</strong> Analysen sind (vgl. Fraser 2003,<br />
256) – hinsichtlich ihrer demokratischen Qualität skeptisch<br />
beurteilt. Denn, ob »alte« Machtasymmetrien <strong>der</strong> repräsentativen<br />
Demokratie sich zugunsten einer pluralen und öffentlichen<br />
Politik verschoben haben, wird grundsätzlich in Frage gestellt.<br />
Stattdessen ist davon auszugehen, dass sich <strong>der</strong> Einfluss des<br />
Marktes auf Entscheidungen des Staates zunehmend durchsetzt<br />
und politisch-emanzipatorische Positionen weiter an Einfluss<br />
verlieren, was Erik Swyngedouw als »system of governance<br />
beyond the state« (Swyngedouw 2005) bezeichnet. (vgl. Hirsch<br />
2001a, 118)<br />
Drittens wird <strong>der</strong> Wechsel von Government zu Governance<br />
auch mit einer angeblich effektiveren Steuerung von<br />
Gesellschaft begründet. Die Integration von Ressourcen (wie<br />
Wissen o<strong>der</strong> Zeit) <strong>der</strong> zu beteiligenden BürgerInnen o<strong>der</strong><br />
AkteurInnen in Entscheidungsprozesse wird dabei als zentrales<br />
Mittel zur Problemlösung angesehen. Netzwerkartige Prozesse<br />
o<strong>der</strong> partizipative Verfahren werden damit über ihre Zweckmäßigkeit<br />
und Effektivität hinsichtlich <strong>der</strong> Problemstellung<br />
definiert und auf diese verkürzt. Aussagen zum Eigenwert politischer<br />
Beteiligung finden sich nur selten, um das neue institutionelle<br />
Arrangement zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft<br />
zu legitimieren.<br />
Viertens orientieren sich die Governance-Konzepte an marktförmigen<br />
Ordnungsmechanismen. Dabei wird unter dem<br />
Schlagwort des »kooperativen Staates« entsprechend eines neo-
242<br />
Sozialraum und Governance<br />
liberalen o<strong>der</strong> neokonservativen Menschenbildes an »AktivbürgerInnen«<br />
appelliert, sich im Sinne ihres Eigeninteresses<br />
o<strong>der</strong> ihrer gemeinschaftlichen Verpflichtung, ihre Lebenssituation<br />
durch eigene Beteiligung zu verbessern – mit dem<br />
Ergebnis, dass sich »aktivierte« Individuen (o<strong>der</strong> auch<br />
Institutionen) in Zukunft »Kosten und Folgelasten selbst<br />
zurechnen lassen müssen«. (Brand 2004, 115; vgl. Fraser 2003,<br />
255)<br />
Es wird deutlich, dass <strong>der</strong> Terminus Governance aufgrund <strong>der</strong><br />
mit ihm verbundenen Zuschreibungen und Wertsetzungen –<br />
seien sie wirtschaftsliberal o<strong>der</strong> politisch-emanzipatorisch<br />
inspiriert – als hybrid verstanden werden muss. Aufgrund dieser<br />
breiten gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit entfaltet er<br />
unter <strong>der</strong> Dominanz neoliberaler Politiken seine ideologische<br />
Wirkung – gerade weil er soziale Ungleichheiten und<br />
Machtverhältnisse tendenziell verschleiert und mit <strong>der</strong><br />
Anrufung <strong>der</strong>/des aktive/n »BürgerIn« Symbiosen mit dem flexiblen,<br />
eigenverantwortlichen, selbstkontrollierenden, rationalen<br />
und männlich strukturierten Menschenbild radikal-liberaler<br />
Prägung eingehen kann.<br />
In seiner Anwendung entfalten sich unter dem »Deckmantel«<br />
von Governance vor allem ökonomische Zielorientierungen,<br />
<strong>der</strong> gesellschaftliche Hierarchien und Machtverhältnisse weitestgehend<br />
unberührt lässt. Birgit Sauer hält aus Sicht <strong>der</strong> feministischen<br />
Staatstheorie fest, dass Governance eine neue<br />
Technologie des Regierens darstellt und »nicht Ausdruck eines<br />
herrschaftsfreien Diskurses, son<strong>der</strong>n im Gegenteil die Re-<br />
Artikulation von patriarchaler Steuerung und Herrschaft [ist].«<br />
(Sauer 2004, 125)
Sozialraum und Governance 243<br />
Die politische Regulierung des Lokalen<br />
und Herausfor<strong>der</strong>ungen für eine kritische<br />
sozialraumorientierte Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
Hinsichtlich <strong>der</strong> notwendigen politischen Fundierung von sozialraumorientierter<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong> bietet das Governance-<br />
Konzept aufgrund seines demokratietheoretischen Defizits keinen<br />
Nutzen. Governance muss vielmehr als Technologie <strong>der</strong><br />
politischen Regulierung verstanden werden, die insbeson<strong>der</strong>e<br />
auf <strong>der</strong> lokalen Ebene ihre Bedeutung entfaltet. Im Zusammendenken<br />
von Politischem und Sozialem Raum ist Governance<br />
mit <strong>der</strong> Sozialraumorientierung eng verwoben, denn das<br />
Lokale 1 ist auch die wesentliche Interventionsebene Sozialer<br />
<strong>Arbeit</strong>. Die hier angerissene vergleichende Perspektive weist<br />
auf ähnliche Inhalte und Problematiken von Governance und<br />
Sozialraumorientierung hin. Beide Konzepte vertragen sich mit<br />
marktförmigen Ordnungsmechanismen des Staates und <strong>der</strong><br />
damit verbundenen Ausweitung ökonomischer Rationalität auf<br />
alle Lebensbereiche, um soziale o<strong>der</strong> ökonomische Ressourcen<br />
für die gesellschaftliche Regulierung nutzbar zu machen. Sie<br />
neigen dazu Ursachen und Dynamisierungstendenzen sozialer<br />
Ungleichheit nicht genügend in den Blick zu nehmen und mit<br />
ihrem »kooperativ-harmonisierenden« Zugang gesellschaftliche<br />
Konflikte und Machtverhältnisse zu ignorieren, wobei sie<br />
weitestgehend auf horizontale Prozesse <strong>der</strong> Vernetzung abzielen<br />
und vertikale Entscheidungsprozesse oftmals unberücksichtigt<br />
lassen.<br />
Im Lokalen drückt sich – wie in <strong>der</strong> Einleitung angesprochen –<br />
die scheinbare Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit einer verän<strong>der</strong>ten Staatlichkeit<br />
deutlich aus und stellt enorme Herausfor<strong>der</strong>ungen für die<br />
Sozialraumorientierung in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> dar. Aus politischer<br />
und fachlicher Perspektive gilt es daher aktuelle Konzepte<br />
und Methoden in mehrfacher Hinsicht kritisch zu prüfen:<br />
Erstens ist die Soziale <strong>Arbeit</strong> selbst Adressatin von<br />
Deregulierungs- und Privatisierungstendenzen des öffentlichen
244<br />
Sozialraum und Governance<br />
Sektors und wird daher einer Einsparungspolitik und<br />
Kostenkontrolle unterworfen. Aus diesem Blickwinkel entpuppt<br />
sich die Zentralisierung und Deckelung von Finanzen<br />
durch Sozialraumbudgets als kontraproduktiv. Auch <strong>der</strong> inhaltliche<br />
Fokus vom »Fall zum Feld« (vgl. Hinte/Litges/Springer<br />
2000) forciert – zumindest in <strong>der</strong> Logik auf Kostenreduktion<br />
abzielen<strong>der</strong> Financiers – die Konkurrenz zwischen Einzelfallund<br />
Sozialraumorientierung in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> und könnte<br />
zur weiteren Ausdünnung <strong>der</strong> sozialen Infrastruktur führen.<br />
Zweitens, ist die Soziale <strong>Arbeit</strong> zur Agentin eine neuen<br />
»Partizipationskultur« aufgestiegen, die auf Integration von<br />
AktivbürgerInnen und die Herstellung lokaler Gemeinschaftlichkeit<br />
abzielt bzw. diese suggeriert. Denn in den Stadtteilo<strong>der</strong><br />
Quartiersprogrammen offenbart sich meist, dass <strong>der</strong> politischen<br />
Einflussnahme enge Grenzen gesetzt sind und sich die<br />
materiellen Lebensbedingungen <strong>der</strong> Bevölkerung in <strong>der</strong> Regel<br />
nicht verbessern, wie Evaluierungen aus dem deutschen Bund-<br />
Län<strong>der</strong>-Programm »Soziale Stadt« zu belegen scheinen. (vgl.<br />
Reutlinger et al 2005, 13) Wenn die Prozesse hinsichtlich des<br />
ökonomischen, kulturellen o<strong>der</strong> sozialen Kapitals weitestgehend<br />
»leer laufen« und BewohnerInnen dann lediglich aufgrund<br />
ihrer Aktivität Zufriedenheit verspüren, kommt sozialraumorientierte<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> in den Ruf nur zur Inszenierung<br />
kollektiver Zufriedenheit beizutragen.<br />
Drittens ist die Soziale <strong>Arbeit</strong> als Herrschaftsinstrument damit<br />
konfrontiert, dass sich ihre ordnungs- und sicherheitspolitischen<br />
Agenden verstärken und sie bei <strong>der</strong> Kontrolle und<br />
Disziplinierung von kriminellem, sozial abweichendem bzw.<br />
unerwünschtem Verhalten zunehmend beteiligt sein wird. 2 Vor<br />
diesem Hintergrund muss darauf hingewiesen werden, dass die<br />
sozialraumorientierte Soziale <strong>Arbeit</strong> sich mit ihrem »Präventivcharakter«<br />
im Rahmen des neoliberalen »Sozialmodells«<br />
zur Territorialisierung, Stigmatisierung und Kulturalisierung<br />
von Ursachen sozialer Ungleichheit eignet sowie für die soziale<br />
Ausschließung von Bevölkerungsgruppen funktionalisiert
Sozialraum und Governance 245<br />
werden kann. Bezug nehmend auf die aktuellen Kriminalisierungstendenzen<br />
besteht zudem die Gefahr, dass die<br />
gebildeten sozialen Netzwerke im Stadtteil o<strong>der</strong> in<br />
Nachbarschaften zur gegenseitigen sozialen Kontrolle instrumentalisiert<br />
werden.<br />
Angesichts dieser Tendenzen steht die sozialraumorientierte<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> vor <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung, auch um die Theorie<br />
des <strong>Sozialen</strong> Raums für die Praxis nutzbar zu machen, politisch-theoretische<br />
Perspektiven stärker mitzudenken. Nur mit<br />
<strong>der</strong> Reflexion einer verän<strong>der</strong>ten Staatlichkeit kann sie ein kritisches<br />
Potenzial entwickeln, um trotz <strong>der</strong> Hegemonie neoliberaler<br />
Diskurse und Politiken ihrer eigenen »Einverleibung«<br />
reflektiert zu begegnen. In dieser zu führenden Debatte plädiere<br />
ich für die Konzeptualisierung politischer Theorien, die<br />
einen stärker konfliktorientierten Ansatz vertreten, da so<br />
Interessenskonflikte, Formen <strong>der</strong> Aneignung und Machtkämpfe<br />
stärker in den Blick geraten.<br />
Perspektivisch gesehen muss die sozialraumorientierte Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> eine räumlich-reflexive Haltung (Kessl/Reutlinger<br />
2007) und eine fachlich-fundierte Praxis entwickeln, die in <strong>der</strong><br />
Bezugnahme zur soziologischen Theorie des Sozialraums<br />
inhaltlich weiterentwickelt werden sollte. Denn gerade das<br />
Erfassen <strong>der</strong> Rationalitäten von Menschen in marginalisierten<br />
o<strong>der</strong> gesellschaftlich entkoppelten Lebenssituationen gilt es<br />
analytisch zu erschließen und Möglichkeiten <strong>der</strong> Re-<br />
Artikulation zu eröffnen. Diesbezüglich wird die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
auch weiterhin gefor<strong>der</strong>t sein, aus einer kritisch-reflexiven<br />
Perspektive zur Solidarisierung und Organisation kollektiven<br />
Handelns unterstützend beizutragen. Zudem gilt es eine vertikal<br />
ausgerichtete Praxis politischer Kommunikation im Staat zu<br />
entwickeln, um für materielle, soziale, kulturelle, politische<br />
Rechte und gegen soziale Ausschließung einstehen zu können.<br />
(vgl. Stövesand 2007, 292f)<br />
Angesichts <strong>der</strong> Dominanz neoliberaler Rationalitäten und<br />
Politiken muss daraufhin hingewiesen werden, dass Hegemonie
246<br />
»kein kohärentes und geschlossenes, <strong>der</strong> Gesellschaft quasi von<br />
oben aufgestülptes Konstrukt« (Hirsch 2001b, 209) ist, son<strong>der</strong>n<br />
das Resultat politisch-sozialer Auseinan<strong>der</strong>setzung. Eine sozialraumorientierte<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> wird sich in Zukunft daran<br />
messen lassen müssen, inwieweit sie antihegemoniales Wissen<br />
erfassen und politisch vermitteln kann. Für die «paradoxe<br />
Intervention antistaatlicher Politik mit staatlichen Akteuren«<br />
(Sauer 2004, 125) ist die Soziale <strong>Arbeit</strong> historisch vorbereitet,<br />
ihre kritische Kraft im Zeitalter des Neoliberalismus muss sie<br />
aber erst entwickeln.<br />
Anmerkungen<br />
Sozialraum und Governance<br />
1 Die Dimension des Lokalen wird hier als Bezugssystem zu an<strong>der</strong>en<br />
räumlichen Ebenen wie dem Nationalen o<strong>der</strong> Globalen verstanden,<br />
denn Prozesse auf diesen Ebenen verlaufen parallel bzw. gleichzeitig<br />
und sind miteinan<strong>der</strong> verwoben. Das Lokale besitzt zudem auch einen<br />
spezifizierbaren Ort – also eine weitere räumliche Ausprägung, wobei<br />
diese nie rein lokal ist. vgl. Löw/Steets/Stoetzer 2007, 77f.<br />
2 Es muss darauf hingewiesen werden, dass bei <strong>der</strong> Suche nach politischer<br />
Legitimation sich jene Politikfel<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s eignen, die auf<br />
Unsicherheit und Ängste <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft abzielen und die<br />
Bedrohung durch eine zu regulierende Min<strong>der</strong>heit unterstellen wie es<br />
beispielsweise in Migrations- bzw. Einwan<strong>der</strong>ungspolitiken o<strong>der</strong><br />
»Politiken innerer Sicherheit« <strong>der</strong> Fall ist und damit die öffentlichen<br />
Debatten bestimmen. Die Konstruktion o<strong>der</strong> »Entdeckung« von<br />
Problemgruppen – o<strong>der</strong> auch sozialarbeiterischer Zielgruppen –<br />
erweist sich angesichts öffentlicher Skandalisierungen und<br />
Ausschlussmechanismen in hohem Maße als problematisch.
Sozialraum und Governance 247<br />
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System und Subjekt<br />
Fabian Kessl<br />
»Letztlich ist es die Praxis,<br />
die die einzige Kontinuität<br />
zwischen <strong>der</strong> Vergangenheit und <strong>der</strong> Gegenwart bildet,<br />
o<strong>der</strong> umgekehrt die Weise,<br />
in <strong>der</strong> die Gegenwart die Vergangenheit erklärt.«<br />
(Gilles Deleuze Foucault: 162)<br />
Einleitung: Zur Ausblendung subjektkritischer<br />
Einwände in den Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
Das Subjekt hat es schwer am Anfang des 21. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />
Denn es wird ihm im fortgeschrittenen Liberalismus so viel<br />
zugemutet, wie noch nie in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (vgl. Bröckling 2007;<br />
Reckwitz 2006: 441ff.). Nikolas Rose (2000: 14) diagnostiziert,<br />
die Einzelnen würden heute angehalten, so zu leben, »als ob sie<br />
ein Projekt aus sich selbst machten«. Im Leben in <strong>der</strong> flüchtigen<br />
Mo<strong>der</strong>ne: »geht es (somit) zuallererst und vor allem darum,<br />
in Bewegung zu bleiben« (Bauman 2007: 149; Hervorh. im<br />
Orig.). Für die Soziale <strong>Arbeit</strong> haben Maria Bitzan, Eberhard<br />
Bolay und Hans Thiersch (2006²: 260) diesen Sachverhalt<br />
jüngst folgen<strong>der</strong>maßen übersetzt: »Die Einzelnen erfahren sich<br />
auf sich selbst geworfen«. Die Dominanz aktivieren<strong>der</strong><br />
Interventionsstrategien in verschiedenen Fel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> und <strong>der</strong> Sozialpolitik sind Ausdruck dieser Eigenverantwortungs-Anrufung<br />
<strong>der</strong> Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> (vgl.<br />
Dollinger/Raithel 2006; Kessl 2006). Aktivierungspropagandisten<br />
folgern für die Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe dementsprechend,<br />
die bisherige sozialpädagogische Handlungsmaxime <strong>der</strong><br />
Unterstützungsorientierung müsse grundlegend überdacht wer-
System und Subjekt 251<br />
den und stattdessen müsse nun <strong>der</strong> neuen Formel<br />
»Handlungsdruck statt Übernahmegarantie« gefolgt werden<br />
(Esch et al. 2001: 522). Diese Zuschreibung von Lebensgestaltungsverantwortung<br />
an – individuelle (einzelne Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong>)<br />
wie kollektive (Familien, Nachbarschaften,<br />
Stadtteilbevölkerungen) – Subjekte geschieht in einer Phase, in<br />
<strong>der</strong> parallel eine grundlegende Infragestellung <strong>der</strong> Idee des<br />
Subjekts Raum gegriffen hat: Vor allem (post)strukturalistische<br />
und (sozial)konstruktivistische Perspektiven stellen die seit <strong>der</strong><br />
Aufklärung dominierende humanwissenschaftliche Idee »des<br />
Subjekts« als einer relativ autonom agierenden leiblichen<br />
Einheit in Frage: »Das Subjekt als eine mit sich selbst identische<br />
Entität gibt es aber nicht mehr« (Butler 1997: 315; vgl.<br />
Luhmann 1987: 593ff.).<br />
Zwar haben sich die zum Teil heftig geführten Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />
um einen vermeintlichen »Tod des Subjekts« o<strong>der</strong><br />
dessen schon wie<strong>der</strong> zu proklamierende »Wie<strong>der</strong>kehr« nach<br />
den ersten Aufregungen seit Ende <strong>der</strong> 1960er Jahre, die vor<br />
allem die französischsprachigen Beiträge im Anschluss an<br />
Nietzsches, Freuds und Heideggers Überlegungen ausgelöst<br />
hatten, inzwischen wie<strong>der</strong> deutlich beruhigt. Dennoch bleibt<br />
die subjektkritische Herausfor<strong>der</strong>ung gerade für eine<br />
(sozial)pädagogische Perspektive bestehen. Schließlich geht es<br />
in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> nach weit verbreitetem Selbstverständnis<br />
darum, dass das Subjekt lernt, »über sich selbst zu verfügen,<br />
seine eigenen Perspektiven zu fassen und zu verfolgen«<br />
(Winkler 1988: 335). Eine sozialpädagogische Intervention<br />
wird dementsprechend als erfolgreich bestimmt, wenn das<br />
Subjekt »imstande wird, sich selbst zu erziehen«, wie es<br />
Michael Winkler vor knapp 20 Jahren in einem <strong>der</strong> seltenen<br />
deutschsprachigen Versuche einer theorie-systematischen<br />
Bestimmung Sozialer <strong>Arbeit</strong> formuliert hat. Vor dem<br />
Hintergrund eines solchen Selbstverständnisses müsste eine<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den vielfältigen und grundsätzlichen<br />
subjektkritischen Einwänden (vgl. Meyer-Drawe 1991) nur
252<br />
System und Subjekt<br />
allzu nahe liegend sein. Überraschen<strong>der</strong>weise fehlen diese aber<br />
bisher weitgehend – eine <strong>der</strong> Ausnahmen stellen bemerkenswerterweise<br />
die jüngeren <strong>Arbeit</strong>en des eben zitierten Autors dar<br />
(vgl. Winkler 2006: 119ff.).<br />
Die weitgehende Nicht- o<strong>der</strong> De-Thematisierung subjektkritischer<br />
Einwände in den Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong> ist noch<br />
aus zwei weiteren Gründen überraschend. Zum einen haben<br />
innerhalb <strong>der</strong> Debatten um Soziale <strong>Arbeit</strong> gerade subjektzentrierte<br />
Motive als Teil von handlungskonzeptionellen Reformprogrammen<br />
(adressaten-, kunden- und nutzerorientierte<br />
Ansätze) und jüngst auch als Teil neuer methodologischer<br />
Bestimmungsversuche (Adressaten-, Konsumenten- und<br />
Nutzerforschung) zunehmend an Einfluss gewonnen (vgl. Kap<br />
1). 1 Zum an<strong>der</strong>en wurden in den letzten Jahren eine ganze<br />
Reihe, vor allem systemtheoretisch (vgl. zum Überblick<br />
Merten/Scherr 2004), aber auch einzelne machtanalytisch argumentierende<br />
<strong>Arbeit</strong>en (vgl. zum Überblick Kessl 2007) im Feld<br />
<strong>der</strong> Wissenschaft Sozialer <strong>Arbeit</strong> vorgelegt – also <strong>Arbeit</strong>en, die<br />
sich an konstitutiv subjektkritischen Methodologien ausrichten<br />
(vgl. Kap. 2). In den Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong> ist somit<br />
die gleichzeitige Konjunktur subjektzentrierter Bestimmungen,<br />
in denen die Akteursfigur »des Subjekts« als konzeptioneller<br />
Ausgangspunkt gesetzt wird, und subjektkritischer Methodologien,<br />
vor allem in systemtheoretischer Variante, zu konstatieren.<br />
Dass angesichts dieser Situation explizite Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />
mit den subjektkritischen Einwänden – auch in den<br />
eben solche Einwände umfassenden Methodologien – fast<br />
komplett fehlen bzw. diese im Fall ihrer Diskussion umgehend<br />
wie<strong>der</strong> als unzureichend verworfen werden, ist erklärungsbedürftig.<br />
Um diese verblüffende Gleichzeitigkeit von Subjektzentrierung<br />
und subjektkritischer Methodologie einerseits und Nicht- bzw.<br />
De-Thematisierung subjektkritischer Einwände an<strong>der</strong>erseits zu<br />
erklären, wird im Folgenden im ersten Schritt am Beispiel <strong>der</strong><br />
adressaten- bzw. nutzerorientierten Handlungskonzeptionen
System und Subjekt 253<br />
und Methodologien die Präsenz subjektzentrierter Annahmen<br />
innerhalb <strong>der</strong> Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong> skizziert und<br />
nach den Gründen <strong>der</strong> hierbei weitgehend ausbleibenden<br />
Thematisierung subjektkritischer Einwände – o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en De-<br />
Thematisierung – gefragt. Daran anschließend werden zentrale<br />
Aspekte <strong>der</strong> einflussreichsten subjektkritischen Methodologie,<br />
<strong>der</strong> Luhmannschen Systemtheorie, und <strong>der</strong>en Rezeption diskutiert.<br />
Auf dieser Basis kann dann deutlich gemacht werden, dass<br />
die weitgehende Aus- und Überblendung des subjektkritischen<br />
Potenzials in <strong>der</strong> sozialpädagogischen Rezeption einerseits auf<br />
grundlegende Theorieprobleme dieser Bezugstheorie und an<strong>der</strong>erseits<br />
stellvertretend auf die immense Verstrickung sozialpädagogischer<br />
Konzepte mit subjektzentrierten Vorstellungen<br />
verweist. Vor diesem Hintergrund wird abschließend eine praxistheoretische<br />
Erweiterung subjektkritischer Perspektiven –<br />
allerdings weniger im Anschluss an die systemtheoretischen<br />
denn die machtanalytischen Formate – angedeutet. Ein solcher<br />
Zugang bietet Ansatzpunkte an für eine angemessene – wissenschaftlich-analytische<br />
wie fachlich-professionelle – Reaktion<br />
auf die subjektkritischen Einwände <strong>der</strong> letzten Jahre an, so die<br />
hier vertretene These.<br />
<strong>Aktuelle</strong> Subjekt-Konjunktur(en)<br />
in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
Adressaten-, konsumenten- und nutzerorientierte Ansätze und<br />
Methodologien stellen die Annahme eines zumindest potenziell<br />
einheitlichen Subjekts an den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen.<br />
In diesem Sinne setzen entsprechende Konzeptionen sozialpädagogischer<br />
Intervention »das Subjekt« als Startpunkt voraus<br />
– sie unterstellen damit das Modell eines zentrierten<br />
Subjekts. Soziale <strong>Arbeit</strong> habe es »in <strong>der</strong> Regel mit Menschen zu<br />
tun«, so formulieren Bitzan, Bolay und Thiersch (2006: 7) diese<br />
Annahme in ihrer einführenden Darstellung zu ihrem aktuellen
254<br />
System und Subjekt<br />
Sammelband Die Stimme <strong>der</strong> Adressaten. Für ein dementsprechendes<br />
fachliches Handeln sei daher, so schließen sie an, ein<br />
»Wissen aus <strong>der</strong> ›Innenperspektive‹ <strong>der</strong> Subjekte« erfor<strong>der</strong>lich<br />
(ebd.). Gertrud Oelerich und Andreas Schaarschuch schreiben<br />
in ihrem Versuch <strong>der</strong> Grundlegung einer sozialpädagogischen<br />
Nutzerforschung in analoger Weise davon, dass innerhalb <strong>der</strong><br />
sozialpädagogischen Nutzerforschung »die Nutzerinnen und<br />
Nutzer als aktive Subjekte konzipiert« würden (Schaarschuch/<br />
Oelerich 2005: 16). 2<br />
Für die Autorinnen und Autoren dieser Ansätze scheinen somit<br />
Mensch, Nutzer und Subjekt synonyme Begriffsbestimmungen<br />
für den als einheitlichen Aktanten angenommenen direkten<br />
Adressaten/die direkte Nutzerin sozialpädagogischer Dienstleistungsangebote.<br />
Vor dem Hintergrund <strong>der</strong> zeitgleichen<br />
Fokussierung und Infragestellung einer solchen zentrierten und<br />
präskriptiven Subjektfigur ruft eine solche Setzung aktuell nach<br />
Erläuterung. Denn gerät die dringend notwendige fachpolitische<br />
Abgrenzung sozialpädagogischer Strategien von den semantisch<br />
und konzeptionell häufig analogen neo-sozialen und neo-liberalen<br />
Subjektivierungsprogrammen (Versprechen einer Allzugänglichkeit<br />
differenter Lebensstile und Aktivierung von Eigenverantwortung)<br />
nicht manches Mal zum Problem, wenn nun<br />
sozialpädagogisch wie »aktivierungspädagogisch« (Kessl 2006)<br />
die Selbsttätigkeit »des Subjekts« zum Ausgangs- wie Zielpunkt<br />
<strong>der</strong> jeweiligen Interventionsprogramme erklärt wird? Dieses<br />
Dilemma ist den Autoren/innen adressaten- o<strong>der</strong> nutzerorientierter<br />
Programme durchaus bewusst. So betonen Bitzan, Bolay und<br />
Thiersch in ihren abschließenden Überlegungen zur Adressatenforschung,<br />
dass »die Subjektperspektive in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
nicht ein Medium <strong>der</strong> noch zielgenaueren Bemächtigung <strong>der</strong><br />
AdressatInnen werden (dürfe)« (Bitzan/Bolay/Thiersch 2006²:<br />
284; vgl. Schaarschuch/ Oelerich 2005: 14ff.). Doch dieser<br />
Hinweis steht in einer eigenartigen Spannung zu <strong>der</strong> bereits<br />
zitierten adressatenorientierten Ausgangsannahme <strong>der</strong>selben<br />
Autoren/innen. 3 Wie ist das zu erklären?
System und Subjekt 255<br />
Zum einen scheint das Phänomen <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>sprüchlichen o<strong>der</strong><br />
sogar <strong>der</strong> De- und Nicht-Thematisierung subjektkritischer<br />
Einwände dem diesen Ansätzen unterliegenden politischen und<br />
berufsethischen Postulat geschuldet, das sich einer emanzipatorischen<br />
Perspektive verpflichtet sieht: Schaarschuch und<br />
Oelerich (2005: 19; vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch 2006 1 : 7) markieren<br />
das für ihr Modell einer sozialpädagogischen<br />
Nutzerforschung mit den Worten, es gehe um den »moralischen<br />
Anspruch <strong>der</strong> Nutzerinnen auf Anerkennung als aktiv handelnde<br />
Subjekte«. Diese Emanzipationspostulate basieren zum<br />
an<strong>der</strong>en auf spezifischen neo-marxistischen Denktraditionen,<br />
auf <strong>der</strong>en Basis diese Autoren/innen in verschiedenen praxis-,<br />
alltags- und aneignungstheoretischen Varianten argumentieren:<br />
Ihre argumentative Basis konkretisiert sich dementsprechend in<br />
Annahmen einer »Pseudokonkretheit« <strong>der</strong> Praxis (Kosik<br />
19896: 217; vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch 2006²: 260ff.) o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
nur »einseitig(en) und unvollständig(en)« Aneignungsmöglichkeiten<br />
menschlicher Wirklichkeit (Leontjew 1971: 236; vgl.<br />
Schaarschuch/Oelerich 2005: 11). 4<br />
Die damit skizzierte aktuelle Konjunktur subjektzentrierter<br />
Annahmen in den Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong> ist also vor<br />
allem <strong>der</strong> spezifischen humanistischen Denktradition geschuldet,<br />
die das Subjekt als konstitutive autonome Handlungseinheit<br />
zugleich voraussetzt und durch emanzipatorische<br />
Interventionsstrategien freisetzen will. Ganz im Sinne des<br />
Vorwurfs, den vor allem Axel Honneth (vgl. 1985: 194f.) und<br />
Jürgen Habermas (1985/1998) Mitte <strong>der</strong> 1980er Jahre mit<br />
Verweis auf Michel Foucaults Überlegungen formuliert hatten,<br />
dass nämlich subjektkritische Überlegungen sich durch ihre<br />
machttheoretische Verkürzung auszeichneten, »vergesellschaftete<br />
Individuen nur als (...) die standardisierten Erzeugnisse<br />
einer Diskursformation« wahrzunehmen (ebd.: 343), scheinen<br />
auch diese Ansätze in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> das Projekt <strong>der</strong><br />
Aufklärung als subjektzentriertes pädagogisches Programm<br />
verteidigen zu wollen. Subjektkritische Einwände werden von
256<br />
System und Subjekt<br />
solchen Standpunkten aus schnell als Bedrohung dieser subjektkritischen<br />
Emanzipations- und Befreiungsprogramme angesehen.<br />
Auch manchen explizit machtanalytisch argumentierenden<br />
Autoren/innen im Feld <strong>der</strong> Wissenschaft Sozialer <strong>Arbeit</strong> ist<br />
es angesichts <strong>der</strong> vor allem Foucault zu gerechneten<br />
Subjektkritik nicht ganz geheuer. Sie plädieren zwar dafür, das<br />
machtanalytische Potenzial zu nutzen, wenden aber zugleich<br />
ein, dass man damit allzu schnell in die Gefahr gerate, (politische)<br />
Rationalitäten und (Subjekt)Praktiken in eins zu setzen<br />
und damit die »Eigensinnigkeit des Handelns gegenüber den<br />
Programmatiken« auszublenden (Stövesand 2007: 286).<br />
System und Subjekt, so könnte man diese Lesart zuspitzen, fielen<br />
aber eben nicht in eins, was eine solche totalisierende<br />
Machtperspektive aber allzu leicht nahelege, wie beispielsweise<br />
die Studien zur Gouvernementalität vorlegten (kritisch<br />
dazu: Kessl 2007: 217ff.). Daher sei auch nicht weniger als eine<br />
subjekttheoretische Re-Lektüre machtanalytischer Vorgehensweisen<br />
notwendig (vgl. auch Horlacher 2007).<br />
So berechtigt die Kritik im Einzelnen und gegenüber einzelnen<br />
Aspekten machtanalytischer Studien ist, so problematisch ist<br />
sie zugleich. Denn solche Positionen kommen zugleich in die<br />
Gefahr, die konstitutive Relationalität »<strong>der</strong> Natur« zu übersehen<br />
bzw. analytisch nicht fassen zu können – o<strong>der</strong> wie es<br />
Etienne Balibar (1991: 63) in seiner vergleichenden Lektüre<br />
Marxscher und Foucaultscher Überlegungen mit Blick auf die<br />
marxistischen Denktraditionen verdeutlicht, allzu schnell »von<br />
<strong>der</strong> Materialität <strong>der</strong> Körper« auf die »Idealität des Lebens«<br />
überzugehen.<br />
Nicht zuletzt fehlt bereits in den sozialphilosophischen<br />
Einwänden, wie sie hier mit dem Verweis auf Honneth und<br />
Habermas angedeutet werden, eine explizite Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit dem post-aufklärerischen, post-kritischen und posthumanistischen<br />
Anspruch und dem entsprechenden Transformations-<br />
und Subversionspotenzial solcher Perspektiven: 5<br />
Dieser Hinweis könnte nun nicht nur miss-, son<strong>der</strong>n auch als
System und Subjekt 257<br />
deutlich verkürzt verstanden werden, wenn er nicht auch mit<br />
einer Problematisierung solcher subjektkritischen Deutungsangebote<br />
selbst verbunden würde. Denn diese können zum<br />
einen in die Gefahr geraten, das Potenzial <strong>der</strong> Aufklärung allzu<br />
schnell zu verschenken und zum an<strong>der</strong>en lösen sie den – von<br />
uns im Anschluss an erkenntnis- und subjektkritische Herangehensweisen<br />
– beanspruchten radikal relationalen und praxisanalytischen<br />
Zugang keineswegs per se ein. Das soll im<br />
Folgenden, wie bereits angedeutet, am Beispiel <strong>der</strong> in den<br />
Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong> in den letzten Jahren beson<strong>der</strong>s<br />
einflussreichen subjektkritischen, nämlich systemtheoretischen<br />
Methodologie verdeutlicht werden.<br />
Vom handelnden Subjekt zum handelnden System<br />
Niklas Luhmann for<strong>der</strong>t in seinen Überlegungen zur<br />
Grundlegung einer konstruktivistischen Weltordnung eine<br />
generelle Aufgabe <strong>der</strong> »Denkfigur Subjekt«. Der Mensch sei<br />
nur mehr als Umwelt sozialer Systeme – das heißt einzelner<br />
Funktionssysteme, wie Wirtschaft, Recht o<strong>der</strong> Bildung – zu<br />
erfassen und dabei selbst in eine dreifache Systemaufteilung zu<br />
splitten: in ein physisches, ein psychisches und ein soziales<br />
System (vgl. Luhmann 2002: 256). Für eine sozialpolitische<br />
und damit auch sozialpädagogische Perspektive entscheidend<br />
sei diese Annahme, weil damit die Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong><br />
»letztlich für keines <strong>der</strong> Funktionssysteme mehr als Personen<br />
relevant« seien (Hillebrandt 2004: 132). Das Individuum ist<br />
vielmehr nur mehr hinsichtlich des spezifischen Aspekts eines<br />
einzelnen Funktionssystems teil-integriert (Inklusion) und<br />
damit hinsichtlich dieses Aspekts zugleich aus an<strong>der</strong>en<br />
Teilsystemen ausgeschlossen (Exklusion). In den mo<strong>der</strong>nen,<br />
funktional differenzierten Gesellschaften ist somit, nach<br />
Luhmann, das Individuum nie mehr in ein Funktionssystem<br />
komplett inkludiert, da Funktionssysteme eben immer nur noch
258<br />
System und Subjekt<br />
spezifische, einzelne Bedürfnisse als relevant anerkennen und<br />
an<strong>der</strong>e Bedürfnisse in alternative, dafür zuständige Systeme<br />
verweisen (vgl. Scherr 2004: 57ff.). Diese auf den ersten Blick<br />
scheinbar radikal innovative Theoriearchitektur auf dem<br />
Fundament einer Annahme funktional differenzierter, mo<strong>der</strong>ner<br />
Gesellschaften erweist sich auf den zweiten Blick allerdings als<br />
ein, wenn auch beeindrucken<strong>der</strong> Taschenspielertrick: Luhmann<br />
überträgt nämlich die bisherige Figur des Subjekts, aber auch<br />
die damit verbundenen systematischen Probleme »einfach« auf<br />
die Figur des Systems.<br />
Luhmanns Denkmodell unterliegt eine relativ schlichte und<br />
wohl gerade deshalb so überzeugungskräftige analytische<br />
Operation: Mit <strong>der</strong> System/Umwelt-Unterscheidung macht er<br />
soziale Zusammenhänge auf einer erhöhten Abstraktionsebene<br />
neu kategorisierbar (vgl. Luhmann 2005: 7). Damit scheint es<br />
Luhmann möglich, »zahlreiche Denkgewohnheiten« zu durchschneiden,<br />
indem er systemtheoretisch <strong>der</strong>en Anteile auf die<br />
»eine bzw. die an<strong>der</strong>e Seite dieser (systemischen; F.K.)<br />
Grenzlinien verteilt« (ebd.). 6 Nicht nur das damit mögliche<br />
»totalisierende Ordnungsdenken« (vgl. Demirovic 2001: 16) ist<br />
theorie-architektonisch beeindruckend, son<strong>der</strong>n vor allem auch<br />
die damit verbundene Möglichkeit, das »Eigentliche« <strong>der</strong><br />
Soziologie freizulegen und zu reinigen: das soziale System. Nie<br />
zuvor schien es so pur präsentiert werden zu können – frei von<br />
damit verbundenem o<strong>der</strong> gar eingewobenem »humanistischen,<br />
leiblichen, ästhetischen o<strong>der</strong> psychischen Ballast«. Die<br />
Möglichkeit eines solchen soziologischen Purismus, einer<br />
»purifizierte(n) Soziologie«, wie auch systemtheoretische<br />
Denker in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> formulieren (Scherr 2000: 71),<br />
scheint Luhmanns zentrale Motivation, wenn er seine<br />
Einwände gegen eine theoretische Integration <strong>der</strong> Subjektfigur<br />
formuliert (vgl. Luhmann 2002: 256).<br />
Diese »Befreiung« <strong>der</strong> Subjekte gelingt Luhmann aber eben nur<br />
dadurch, dass er nun die »Systeme« statt <strong>der</strong> »Subjekte« zu den<br />
bestimmenden Handlungseinheiten erklärt. »Das System« wird
System und Subjekt 259<br />
zum theorie-konzeptionellen Ausgangs- und Endpunkt: Statt<br />
<strong>der</strong> von Luhmann unseres Erachtens zurecht kritisierten, die<br />
Philosophie und anschließend die Human- und Sozialwissenschaften<br />
seit <strong>der</strong> die Aufklärung konstituierenden subjektzentrierten<br />
Perspektive haben wir es nun mit einer systemzentrierten<br />
zu tun. In Luhmanns Theoriekonstruktion handeln<br />
zwar nicht mehr die »Subjekte«, aber dafür die »Systeme« –<br />
auch wenn Luhmann den Handlungsbegriff durch die relativ<br />
schlichte semantische Transformation in den Begriff <strong>der</strong><br />
»Operation« zu überwinden sucht.<br />
Die zentrale Frage während <strong>der</strong> ersten Rezeptionsphase <strong>der</strong><br />
Luhmannschen Systemtheorie in den theorie-systematischen<br />
Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong> war daher auch diejenige nach<br />
<strong>der</strong> Möglichkeit einer Bestimmung Sozialer <strong>Arbeit</strong> als eines<br />
eigenständigen Funktionssystems (vgl. Baecker 1994; Merten<br />
1997: 86ff.; kritisch dazu: Bommes/Scherr 2000). Diese<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung scheint trotz <strong>der</strong> heftig geführten Debatten<br />
allerdings inzwischen ohne merklichen Wi<strong>der</strong>hall weitgehend<br />
verklungen. Stattdessen wurde aber eine zweite Rezeptionsphase<br />
eingeläutet. 7 Im Zentrum steht nun, so lässt sich aus <strong>der</strong><br />
hier interessierenden Perspektive formulieren, eine Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit <strong>der</strong> Luhmannschen For<strong>der</strong>ung nach einer radikalen<br />
Auflösung des Subjekts. Diese For<strong>der</strong>ung geht die<br />
Mehrheit <strong>der</strong> systemtheoretisch argumentierenden AutorInnen<br />
so nicht mit (vgl. Merten 1997: 49ff.). Stattdessen erweitern<br />
diese Luhmanns funktionale Differenzierungstheorie um eine<br />
Perspektive auf soziale Ungleichheitsphänomene (vgl. Merten<br />
2004: 108, daran anschließend Kleve 2004: 173ff.) bzw. auf die<br />
Bedingungen von Exklusions- und Inklusionsprozessen (vgl.<br />
Scherr 2004: 69ff.; vgl. Bommes/Scherr 2000: 97). So schlägt<br />
Roland Merten die Einführung eines Begriffs <strong>der</strong> »Nicht-<br />
Inklusion« vor, womit er nichts an<strong>der</strong>es meint als den<br />
Ausschluss von Menschen aus allen relevanten Teilsystemen –<br />
eine für Luhmanns Systemtheorie an sich gar nicht denkbare<br />
Konstruktion (vgl. Kronauer 2002: 126ff.; Hillebrandt 2004:
260<br />
System und Subjekt<br />
132). Dass sich eine ganze Reihe <strong>der</strong> sozialpädagogischen<br />
Systemtheoretiker darüber hinwegsetzen, ist kein Zufall. Sie<br />
reagieren damit erstens auf einen Schwachpunkt <strong>der</strong><br />
Luhmannschen Systemtheorie selbst. Denn Luhmann neigt in<br />
seinen Überlegungen dazu, wie Peter Zima (2000: 331) verdeutlicht,<br />
»den Subjektbegriff mit dem individuellen o<strong>der</strong><br />
transzendentalen Subjekt zu identifizieren«. Damit verengt er<br />
die Subjektfigur aber kategorial in einer Weise, wie sie nicht<br />
einmal von explizit subjektzentrierten Ansätzen in Anspruch<br />
genommen wird. Diese individualistische Subjektkonstruktion<br />
scheint zugleich theorie-immanent konsequent, da Luhmann<br />
einen »radikalen Individualismus« (Luhmann 2002: 257) unterstellt,<br />
den gerade die <strong>Verlag</strong>erung <strong>der</strong> psychischen wie physischen<br />
Systeme als zentrale Bestandteile menschlicher Akteure<br />
in die Umwelt <strong>der</strong> Sozialsysteme möglich mache (kritisch dazu<br />
Merten 1997: 49).<br />
Das sich damit für eine Wissenschaft Sozialer <strong>Arbeit</strong> zweitens<br />
andeutende Problem ist die von Systemtheoretikern als immenser<br />
Vorteil präsentierte »unglaubliche Realitätsfähigkeit <strong>der</strong><br />
Systemtheorie« (Stichweh 1999: 62, zit. nach Demirovic 2001:<br />
24). Die Behauptung lautet, mit Luhmanns Systemtheorie<br />
könne man sich von kritisch-theoretischen Zugängen absetzen<br />
und diese »als ein Unterfangen vorwiegend normativen<br />
Gehalts« ausweisen (ebd.). Ohne nun an dieser Stelle auf das<br />
damit angedeutete Werturteilsproblem weiter einzugehen (vgl.<br />
dazu Ritsert 1996: 30ff.), ist festzuhalten, dass Luhmanns<br />
Systemtheorie gegenüber Positionen, die sich durch eine eingelagerte<br />
und nicht-explizierte Normativität ausweisen, zumindest<br />
auf den ersten Blick als radikal-kritischer Gegenentwurf<br />
gelesen werden könnte. 8 Könnten damit gerade für eine<br />
Wissenschaft Sozialer <strong>Arbeit</strong>, in <strong>der</strong>en Mittelpunkt die skeptische<br />
Rekonstruktion dieser Instanz <strong>der</strong> Lebensführungsregulierung<br />
und –regierung gehen sollte, systemtheoretische<br />
Ansätze von entscheidendem Wert sein? Denn einer<br />
Wissenschaft Sozialer <strong>Arbeit</strong> muss es um die sozialen Praktiken
System und Subjekt 261<br />
<strong>der</strong> beteiligten Akteure gehen, und zwar hinsichtlich ihrer<br />
Regulierung und Regierung, denn genau das ist <strong>der</strong> Auftrag<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong>. Und könnten daher systemtheoretische<br />
Instrumente, wie »Formbegriffe, die auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Relationierung<br />
von Relationen angesiedelt sind« (Luhmann 1987: 26)<br />
nicht sehr hilfreich sein? Erinnert Luhmanns Hinweis, dass<br />
Systeme wie <strong>der</strong>en Umwelt jeweils nur das sein können, was<br />
sie »im Bezug auf das jeweils an<strong>der</strong>e (sind)« (ebd.: 244) nicht<br />
deutlich an relationale und eben auch explizit macht- und herrschaftssensible<br />
Zugänge (vgl. Appadurai 1996)? Tatsächlich<br />
weist diese systemtheoretische Annahme – zumindest auf den<br />
ersten Blick – durchaus Strukturanalogien zu explizit machtund<br />
herrschaftssensiblen Ansätzen auf, in denen davon ausgegangen<br />
wird, dass Herrschaftsverhältnisse nur in Form von<br />
»materiell verdichteten Kräfteverhältnissen«, so Poulantzas<br />
(2002) Bestimmung des Staats, bzw. als ein Feld blockierter<br />
Machtbeziehungen (Foucault 1984: 11), angemessen zu erfassen<br />
seien. Und definiert nicht Luhmann »Herrschaftspositionen«<br />
als »Grenzstellen des Systems«, von denen aus<br />
»eine entsprechende Ausstattung mit Macht und mit<br />
Kompetenzen legitimier(t werde)« (Luhmann 1987: 280)?<br />
Die Schwierigkeit, Luhmanns Überlegungen als theorie-systematische<br />
Grundlage für eine radikal relationale und damit<br />
macht- und herrschaftssensible Perspektive zu nutzen, ist, dass<br />
systemtheoretisch nicht nur eine relationales, son<strong>der</strong>n auch ein<br />
relativistisches Deutungsangebot gemacht wird. Und damit<br />
beginnt das systematische Problem: Das Phänomen einer, wenn<br />
auch nur historisch-spezifischen Fixierung <strong>der</strong> Systemgrenzen,<br />
einer Herrschaftspositionierung also, wird von Luhmann theorie-architektonisch<br />
ausgeschlossen: »Erst wenn die Sinngrenzen<br />
die Differenz von System und Umwelt verfügbar halten,<br />
kann es die Welt geben« (ebd.: 283). Diese gegen einen<br />
Parsonianischen Strukturfunktionalismus zwar überzeugend<br />
argumentierende For<strong>der</strong>ung, die ein Modell flexibler Grenzen<br />
beansprucht, verschattet aber zugleich den analytischen Blick
262<br />
System und Subjekt<br />
auf Herrschaftsverhältnisse. Denn diese realisieren sich gerade<br />
als Fixierung von historisch-spezifischen Formaten eines<br />
bestimmten Musters von Systemgrenzen. Luhmanns Begründung<br />
für diese Annahme ist, dass er das Prinzip <strong>der</strong><br />
Selbstreferentialität absolut setzt, die Systemtheorie also auf<br />
<strong>der</strong> Annahme einer »autopoietischen Abkapselung« basiert<br />
(Zima 2000: 342). Entscheidend und konstitutiv für die Welt<br />
sind demnach die Logiken <strong>der</strong> Einzelsysteme und nicht <strong>der</strong>en<br />
Verschränkung o<strong>der</strong> Verkopplung (vgl. Luhmann 1995: 174).<br />
Gerade in diesen Verschränkungen, Grenzfixierungen o<strong>der</strong> -<br />
verän<strong>der</strong>ungen zeigen sich aber die historisch-spezifischen<br />
Macht- und Herrschaftsverhältnisse.<br />
Damit verweigert sich Luhmann einer macht- und herrschaftskritischen<br />
Perspektive und sein Relationalitätspostulat wird eindimensional,<br />
weil Relationen in seiner Theorie autopoietischer<br />
Systeme in diesen und <strong>der</strong>en konstitutiven Selbstreproduktionslogik<br />
ihren Ausgangspunkt nehmen und immer wie<strong>der</strong><br />
an diese zurückgebunden bleiben. Ganz im Gegensatz zu herrschaftskritischen<br />
Zugängen, beispielsweise in machtanalytischer<br />
o<strong>der</strong> neo-marxistischer Variante. Denn diese fokussieren gerade<br />
auf den »Gesamteffekt dieser Beweglichkeiten« (Foucault 1999:<br />
114), das heißt gerade die Gestalt und vor allem die<br />
Gestaltungsformierung <strong>der</strong> Herrschaftspositionen: Die Grenzstellen,<br />
die Grenzreproduktionen und damit die Bearbeitung <strong>der</strong><br />
Grenzen »<strong>der</strong> Systeme«, um nochmals Luhmanns Terminologie<br />
zu verwenden, rücken dann in den analytischen Fokus. »Situationen<br />
<strong>der</strong> Missachtung«, wie sie für die Soziale <strong>Arbeit</strong> konstitutiv<br />
sind, weil diese das Ergebnis frem<strong>der</strong> und eigener Regulierungs-<br />
und Regierungsstrategien darstellen, entstehen eben<br />
genau dann, »wenn es soziale Akteure gibt, die die Macht haben,<br />
bestimmten Bevölkerungsgruppen die soziale Anerkennung zu<br />
verweigern« (Hillebrandt 2004: 136). Systemtheoretisch ist<br />
durch den Verweis auf die je »eigene Gesellschaftsbeschreibung«<br />
<strong>der</strong> einzelnen Funktionssysteme eine solche<br />
Analyseperspektive ausgeschlossen (Luhmann 1995: 147).
System und Subjekt 263<br />
System, Subjekt und Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
Gemeinsam ist konstruktivistischen wie machtanalytischen<br />
Zugängen also, dass sie auf die Notwendigkeit einer radikalen<br />
Dezentrierung des zentrierten Subjektmodells aufmerksam<br />
machen können: Das Subjekt ist nicht mehr »Herr im eigenen<br />
Haus« (®i¾ek 2004). Dieser Hinweis ist gerade angesichts <strong>der</strong><br />
konstitutiven Einlagerung subjektzentrierter Annahmen in traditionelle<br />
wie aktuelle Konzepte Sozialer <strong>Arbeit</strong> entscheidend –<br />
und findet bisher, wie <strong>der</strong> Verweis auf jüngere adressaten- und<br />
nutzerbezogene Konzepte gezeigt hat, zu wenig Berücksichtigung.<br />
Während allerdings konstruktivistische Zugänge im<br />
Sinne <strong>der</strong> Luhmannschen Systemtheorie aus dieser Einsicht<br />
eine Verschiebung <strong>der</strong> menschlichen Akteure in die Außenwelt<br />
<strong>der</strong> Funktionssysteme und zugleich die Rollenübernahme durch<br />
die Systeme vorschlagen, geht es machtanalytischen<br />
Vorgehensweisen um den Hinweis auf die differenten, historisch-spezifischen<br />
Konstruktionsmodi <strong>der</strong> Subjektivierung<br />
selbst. Machtanalytische – wie auch dekonstruktive – Ansätze<br />
basieren also auf <strong>der</strong> Annahme, dass man das »Subjekt nicht als<br />
schlechthin Erstes ansetzen« kann, denn es »gehorcht vielleicht<br />
einem Subjektprinzip, ist aber keines« (Waldenfels 1987: 115)<br />
– und genau dieses Prinzip gilt es jeweils historisch-spezifisch<br />
zu rekonstruieren. Für die Wissenschaft Sozialer <strong>Arbeit</strong> heißt<br />
das aktuell, die in den entstehenden post-wohlfahrtsstaatlichen<br />
Gesellschaften (vgl. Beiträge in Bütow/Chassé/Hirt 2007;<br />
Kessl/Otto 2008/i.E.) dominierenden Subjektivierungsweisen<br />
in den Blick zu nehmen und <strong>der</strong>en Regelmäßigkeiten nachvollziehbar<br />
und transparent deutlich zu machen – vor allem in<br />
Bezug auf die damit verbundene Ermöglichung o<strong>der</strong><br />
Verunmöglichung von Handlungsoptionen für die direkten<br />
Nutzerinnen und Adressaten. Für die Soziale <strong>Arbeit</strong> als professionelle<br />
– und damit als pädagogische wie politische – Akteurin<br />
sollte das unseres Erachtens heißen, sich ihrer selbst als Instanz<br />
<strong>der</strong> (Re)Produktion dieser Subjektivierungsweisen zu begreifen
264<br />
und das eigene Tun dementsprechend skeptisch auf die eigenen<br />
Regulierungs- und Regierungsaktivitäten zu befragen.<br />
Einer sich (gesellschafts)kritisch verstehenden Soziale <strong>Arbeit</strong>,<br />
wie sie dieses Handbuch zu beför<strong>der</strong>n versucht, kann es daher<br />
nicht um die Vermittlung eines scheinbar gegebenen Verhältnisses<br />
von System und Subjekt (Individuum und Gesellschaft),<br />
nicht um einen scheinbar eindeutigen Perspektivwechsel von<br />
<strong>der</strong> systemischen auf die subjektive Ebene (Subjektorientierung),<br />
nicht um eine Substitution <strong>der</strong> autonomen Subjektfigur<br />
durch die (Funktions)Systemfigur (Systemtheorie), son<strong>der</strong>n<br />
sollte es um die analytische wie professionelle<br />
Inblicknahme und Bearbeitung <strong>der</strong> historisch-spezifischen<br />
Formate <strong>der</strong> Subjektivierung gehen.<br />
Anmerkungen<br />
System und Subjekt<br />
1 Mit dem Begriff <strong>der</strong> Subjektzentrierung werden im Folgenden<br />
Deutungsweisen kategorisiert, die das Subjekt als gegebenen, relativ<br />
autonom aktionsfähigen Einzel-Aktanten theorie-systematisch<br />
(Descartsches Cogito Ergo Sum) wie -politisch (klassischer<br />
Humanismus) voraussetzen. Demgegenüber wenden subjektkritische<br />
Perspektiven in <strong>der</strong> erkenntniskritischen Denktradition von Friedrich<br />
Nietzsche, Sigmund Freud und Martin Heidegger ein, dass eine solche<br />
Annahme in ihrer immanenten Metaphysik stecken bleibe (vgl.<br />
Derrida 1976: 21ff.) und demgegenüber ein de-zentrierter<br />
Subjektbegriff gedacht werden müsse: »Es kommt also dazu, daß die<br />
Gegenwart (...) nicht mehr als die absolute Matrixform des Seins,<br />
son<strong>der</strong>n als eine ›Bestimmung‹ und ein ›Effekt‹ gesetzt wird« (ebd.:<br />
23).<br />
2 Ähnliches ist auch für die jüngsten Versuche <strong>der</strong> Etablierung einer<br />
sozialpädagogischen Agency-Forschung zu konstatieren, wenn die<br />
Vertreter/innen davon sprechen, dass »Personen (...) UrheberInnen<br />
ihrer Handlungen (sind)« (Hirschler/Homfeldt 2006: 46).<br />
3 In den aktuellen Versuchen zur Grundlegung einer sozialpädagogi-
System und Subjekt 265<br />
schen Agency-Forschung (vgl. Anmerkung 2) deutet sich die<br />
Diskussion des zugrunde gelegten Subjektbegriffs zwar an manchen<br />
Stellen an, wenn beispielsweise Hans-Günther Homfeldt, Wolfgang<br />
Schröer und Cornelia Schweppe (2007: 245) aktuell im Anschluss an<br />
Christian Reutlingers <strong>Arbeit</strong>en für eine kritische Perspektive auf soziale<br />
Entwicklung plädieren, die nicht nur die Selbstentwicklung, son<strong>der</strong>n<br />
auch das »Entwickelt-Werden« <strong>der</strong> Menschen in den Blick nehme, und<br />
außerdem die Begrenzung <strong>der</strong> sozialpädagogischen Biografie- und<br />
Nutzerforschung auf »die biografische Verarbeitung von sozialpädagogischen<br />
Programmen« kritisieren (ebd.: 247). Allerdings ist <strong>der</strong> von<br />
ihnen beanspruchte Analysefokus auf eine soziale Einbettung <strong>der</strong><br />
Akteure statt eines Fokus auf »immanente individuelle Fähigkeiten«<br />
eine zugespitzte Dichotomie, die nicht nur hinter die immanenten subjekttheoretischen<br />
Grundannahmen <strong>der</strong> meisten vorliegenden Biografieund<br />
Nutzerforschungsprojekte zurückfällt, son<strong>der</strong>n auch für eine<br />
Aufnahme subjektkritischer Einwände unzureichend bleibt – das illustriert<br />
die gleichzeitige Formulierung subjektzentrierter Annahmen <strong>der</strong><br />
Agency-Protagonisten selbst (vgl. Anmerkung 2).<br />
4 Die Frage nach möglichen Gründen wird noch dadurch provoziert,<br />
dass einzelne <strong>der</strong> benannten AutorInnen bereits vor fast 20 Jahren<br />
selbst wegweisende, wenn auch (bisher) wenig rezipierte, <strong>Arbeit</strong>en zu<br />
einer subjektkritischen Perspektive in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> vorgelegt<br />
haben (vgl. Bolay/Trieb 1988).<br />
5 Anspruch dieser Perspektiven ist es, die Ereignishaftigkeit von<br />
Praktiken und die Regelmäßigkeiten des Sag- und Sichtbaren zu<br />
rekonstruieren (vgl. Waldenfels 2004), um dessen nur regionale<br />
Gültigkeit auszuweisen, seine immanenten Ausschlussformen aufzudecken<br />
und die Grenzen zu markieren, an denen manches als Fremdes<br />
zurückgewiesen wird, um <strong>der</strong> Identität des Einheimischen seine<br />
Legitimität zu verleihen.<br />
Mindestens in Bezug auf die <strong>Arbeit</strong>en von Axel Honneth ist die<br />
Einschätzung <strong>der</strong> Ausblendung dieser Perspektiven inzwischen zu<br />
modifizieren, da er sich in den letzten Jahren explizit mit <strong>der</strong> jüngeren<br />
Rezeption machtanalytischer Vorgehensweisen auseinan<strong>der</strong>gesetzt<br />
hat (vgl. Honneth/Saar 2003).
266<br />
System und Subjekt<br />
6 Luhmanns selbst gestellte analytische Aufgabe ist enorm. Denn ihn<br />
treibt nicht weniger um, als die Erarbeitung einer universalen Theorie<br />
für das Soziale. Es gehe ihm, so formuliert er in <strong>der</strong> Einleitung zu<br />
Soziale Systeme, seines Grundrisses einer allgemeinen Theorie (sic!),<br />
um die »Universalität <strong>der</strong> Gegenstandserfassung in dem Sinne, daß<br />
sie als soziologische Theorie alles Soziale behandelt und nicht nur<br />
Ausschnitte« (Luhmann 1987: 9). Luhmanns Entwurf einer<br />
Systemtheorie ist daher auch in die Gruppe <strong>der</strong> »Supertheorien« einzuordnen,<br />
einem Theorietypus, <strong>der</strong> »totalisierend verfährt«<br />
(Demirovic 2001: 25), indem theoretische Gegenpositionen gleich<br />
integriert und re-interpretiert werden, das heißt »sich selbst und ihren<br />
Gegensatz selbst erklärt« (Luhmann 1978: 18, zit. nach Demirovic<br />
2001: 25). Auch diese Totalisierung kann theorie-architektonisch faszinieren,<br />
bleibt damit doch – zumindest dem eigenen Anspruch nach<br />
– keine systematische Lücke offen.<br />
7 Die vorgeschlagene Differenzierung in zwei Rezeptionsphasen ist<br />
nicht als eindeutige Chronologie <strong>der</strong> systemtheoretischen Debatten in<br />
<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zu verstehen, son<strong>der</strong>n als analytische<br />
Differenzierung und Klarstellung. Denn die beiden unterschiedenen<br />
Rezeptionsstränge verlaufen teilweise parallel nebeneinan<strong>der</strong> her<br />
bzw. in gegenseitiger Verschränkung zum gleichen Zeitpunkt.<br />
8 Der konstitutive Ausgangspunkt einer radikal-relationalen Analyseperspektive<br />
sind die konfliktiven, ambivalenten, heterogenen und<br />
miteinan<strong>der</strong> verstrickten sozialen Praktiken, die zwischen Akteuren<br />
und Akteuren und »Dingen« (Bruno Latour) in ihrer permanenten<br />
(Re)Produktion existent werden. Theorie-systematisch knüpfen praxistheoretische<br />
Perspektiven (vgl. Reckwitz 2003) vor allem an neomarxistische<br />
Zugänge (Althusser; Poulantzas), machtanalytische<br />
Ansätze (Foucault; Studien zur Gouvernementalität), hegemonietheoretische<br />
Entwürfe (Laclau/Mouffe) und sprachanalytische Deutungsmuster<br />
(Wittgenstein; Derrida; Butler) an.
System und Subjekt 267<br />
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Michael Opielka<br />
Das Begriffspaar »Vorsorge und Fürsorge« erinnert in seiner<br />
Anwendung auf das Feld <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> heute an ein weiteres,<br />
zeitgemäßer erscheinendes Begriffspaar, nämlich<br />
»Prävention und Kompensation«. Im Sinne eines sozialökologischen<br />
Nachhaltigkeitsdiskurses kommt dabei <strong>der</strong> Prävention<br />
(ex ante) ein höheres Prestige zu als <strong>der</strong> Kompensation (ex<br />
post), da erstere eine Kosten- wie eine Leidensverringerung<br />
erhoffen lässt. In <strong>der</strong> sozialpolitischen Begriffsgeschichte (dazu<br />
Kaufmann 2003) kommen »Vorsorge und Fürsorge« ganz ähnliche<br />
Bedeutungen, wenngleich sehr unterschiedliche Verwendungen<br />
zu. Üblicherweise wird am deutschen Fall eine<br />
institutionelle Trias von »Sozial-/Versicherung, Versorgung,<br />
Fürsorge« diskutiert, unterdessen von einigen AutorInnen um<br />
den vierten Institutionentyp <strong>der</strong> »BürgerInnenversicherung«<br />
erweitert (Opielka 2004). »Fürsorge« gilt dabei häufig als <strong>der</strong><br />
älteste Sozialpolitiktyp, zurückgehend auf frühneuzeitliche<br />
Versuche, die vor allem religiös basierte Armenfürsorge unter<br />
kommunal- o<strong>der</strong> zentralstaatlicher Aufsicht zu rationalisieren<br />
(z.B. Poor Laws, Speenhamland, Elberfel<strong>der</strong> System, Straßburger<br />
System). Der Begriff »Vorsorge« findet sich in <strong>der</strong><br />
Begriffsgeschichte bislang nicht systematisch eingeführt, kann<br />
aber einerseits mit den Systemprinzipien Sozialversicherung<br />
und Versorgung verknüpft werden, an<strong>der</strong>erseits aber auch diffus<br />
mit marktbasierten Ansparstrategien (z.B. Lebensversicherung)<br />
o<strong>der</strong> öffentlichen Infrastrukturinvestitionen. Das<br />
insoweit schillernde Begriffspaar »Vorsorge und Fürsorge« soll<br />
daher im Folgenden analytisch als Spannungsfeld nicht nur in<br />
einer Zeitachse vorher – nachher, son<strong>der</strong>n vor allem als analytische<br />
Kategorie zur Untersuchung des Spannungsverhältnisses<br />
von Sozialpolitik und Sozialer <strong>Arbeit</strong> gefasst werden: in beiden
272<br />
Vorsorge und Fürsorge<br />
Bereichen ist die Spannung von Prävention und Kompensation<br />
angelegt.<br />
Der Zusammenhang von Sozialpolitik und Sozialer <strong>Arbeit</strong> ist<br />
komplex. Zugleich nimmt die Soziale <strong>Arbeit</strong> im Gesamtgefüge<br />
des mo<strong>der</strong>nen Sozialstaats eine noch immer unterschätzte Rolle<br />
ein. In einem beeindruckenden Vergleich <strong>der</strong> Entwicklung sozialer<br />
Dienste in Deutschland, Frankreich und Großbritannien<br />
gelangt Thomas Bahle zu einem Ergebnis, das diese Unterschätzung<br />
auf den ersten Blick revidieren kann: »Ohne Zweifel<br />
beginnen sich überall die Beziehungen zwischen den wohlfahrtsstaatlichen<br />
Sicherungen und <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>swelt zu lösen, die<br />
als zentrales Erbe <strong>der</strong> Industriegesellschaft für den<br />
Wohlfahrtsstaat betrachtet werden können. Die sozialen<br />
Dienste spielen in dieser Hinsicht eine Pionierrolle, auch deshalb,<br />
weil sie niemals eng mit den Erwerbsstrukturen verbunden<br />
waren. Insofern können die Sicherungsformen, die sich<br />
heute in diesem Bereich ausprägen, durchaus modellgebend für<br />
an<strong>der</strong>e Bereiche des Wohlfahrtsstaates sein. (…) Nicht<br />
Klassenkonflikte und Statussicherung, son<strong>der</strong>n die Kooperation<br />
zwischen Akteuren und das Ziel <strong>der</strong> Gleichheit haben die sozialen<br />
Dienstleistungen langfristig geprägt. Auf dieser Grundlage<br />
könnte es dem Wohlfahrtsstaat gelingen, eine neue institutionelle<br />
Basis für das gegenwärtige Jahrhun<strong>der</strong>t zu finden.«<br />
(Bahle 2007, 31) Soziale <strong>Arbeit</strong> als Dienstleistung, genauer: als<br />
personenbezogene soziale Dienstleistungsarbeit (Olk/Otto<br />
2003) wird in dieser mo<strong>der</strong>nisierungstheoretischen Perspektive<br />
sozialpolitisch zentral und optimistisch positioniert. Allerdings<br />
zeigt ein genauerer Blick in Bahles Studie, dass die von ihm<br />
verwendete Typologie sozialer Dienste – stationär, teilstationär,<br />
Tageseinrichtung, ambulant mit den Funktionen Heilen,<br />
Pflegen, Wohnen, Betreuen, Erziehen, Beraten, Haushalt,<br />
Mobilität, Verpflegung – vor allem hoch standardisierte Dienste<br />
erfasst und ausdrücklich »nicht (…) die klassische ›multifunktionale‹<br />
und ›offene‹ Sozialarbeit, die von ihrem Grundverständnis<br />
her we<strong>der</strong> auf bestimmte Funktionen spezialisiert ist
Vorsorge und Fürsorge 273<br />
noch regelmäßig an einem festen Ort stattfindet« (Bahle 2007,<br />
37). Dieser Beschränkung des Begriffs <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
muss man jedoch aus zwei Gründen nicht folgen: ihr unterliegt<br />
eine Engführung, die mit <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> als Disziplin und<br />
Profession heute nicht mehr verbunden werden kann<br />
(Otto/Thiersch 2001); sie entspricht aber auch nicht einer vor<br />
allem im englischsprachigen Raum vertretenen Konzeption <strong>der</strong><br />
systematischen Verknüpfung von Sozialer <strong>Arbeit</strong> (social work)<br />
und »Sozialer Wohlfahrtspolitik« (Gilbert/Terrell 2005), einer<br />
Politik sozialer Dienste, die von Funktionen ausgeht und nicht<br />
von einem materialen Professionsmodell. Es erscheint daher<br />
möglich, Bahles politisch-analytisches Resümee als Ausgangspunkt<br />
für die folgenden Überlegungen heranzuziehen, zumal er<br />
sich in seiner <strong>Arbeit</strong> nicht mehr weiter mit <strong>der</strong> Professionsdimension<br />
beschäftigt. Dass »Kooperation zwischen Akteuren<br />
und das Ziel <strong>der</strong> Gleichheit« den Bereich sozialer Dienste prägen<br />
und diese damit eine Zukunftssignatur für die Sozialpolitik<br />
setzen, erscheint nämlich vielen BeobachterInnen hoch<br />
bedroht.<br />
Dies gilt vor allem dann, wenn seit Mitte <strong>der</strong> 1990er Jahre in<br />
<strong>der</strong> Sozialpolitik ein Wandel hin zu einer Politik <strong>der</strong><br />
»Aktivierung« beobachtet wird, <strong>der</strong> zunehmend zu einer<br />
Sozialpädagogisierung <strong>der</strong> Sozialpolitik zu führen scheint,<br />
allerdings weniger im Sinne eines emanzipativen, an<br />
Teilhaberechten orientierten Politikkonzepts, vielmehr als<br />
Maßgabe einer sozial-psychischen Steuerungsstrategie, die<br />
individuelle Einstellungen und habituelle Orientierungen einer<br />
umfassenden Marktorientierung unterwerfen möchte.<br />
Prävention wird dann als sozialtechnokratische Disziplinierung<br />
gefasst. Dabei wird ein neuer sozialpolitischer Gouvernementalismus,<br />
eine Reorientierung <strong>der</strong> Staatstätigkeit hin zu einem<br />
»manageriellen Staat« (Rüb 2003) wahrgenommen, <strong>der</strong> die<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> selbst auf die Durchsetzung von Marktstrategien<br />
hin diszipliniert (Kessl 2005). Diese umfassende »Transformation<br />
of the Welfare State« (Gilbert 2002) lässt freilich fra-
274<br />
Vorsorge und Fürsorge<br />
gen, ob es nicht doch Sozialpolitikkonzepte geben könnte und<br />
ob möglicherweise bereits Anzeichen hierfür zu erkennen sind,<br />
die <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> nicht nur quantitativen Zuwachs, son<strong>der</strong>n<br />
auch teilhabeorientierte Qualitäten versprechen.<br />
Ich möchte dieser Problemstellung in drei Schritten nachgehen.<br />
Im ersten Schritt werde ich die ambivalente Beziehung von<br />
Sozialpolitik und Sozialer <strong>Arbeit</strong> untersuchen und eine<br />
Triangulation <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> aus sozialpolitischer und<br />
soziologischer Sicht vorschlagen. Im zweiten Schritt werde ich<br />
dies für die sozialpolitische Perspektive durchführen und im<br />
dritten einige Anfor<strong>der</strong>ungen an die Professionalität Sozialer<br />
<strong>Arbeit</strong> in einer Bürgergesellschaft skizzieren. Der Optimismus<br />
<strong>der</strong> folgenden Überlegungen speist sich aus einer analytischen<br />
Differenzierung. Ich schlage vor, die in <strong>der</strong> bisherigen<br />
Diskussion zum Verhältnis von Sozialpolitik und Sozialer<br />
<strong>Arbeit</strong> vorherrschende Dichotomisierung Markt-Staat bzw.<br />
Trias von Markt-Staat-Gemeinschaft (wobei statt dem soziologischen<br />
Steuerungsmodus Gemeinschaft auch von Kooperation,<br />
Solidarität o<strong>der</strong> »Dritter Sektor« die Rede ist), die sich<br />
auch in <strong>der</strong> Wohlfahrtsregimetypologie Gøsta Esping-<br />
En<strong>der</strong>sens (liberal-sozialdemokratisch-konservativ) nie<strong>der</strong>schlägt<br />
(Esping-An<strong>der</strong>sen 1990), zu erweitern: um einen vierten<br />
Regimetyp des »Garantismus«, <strong>der</strong> sich um Menschen- und<br />
Teilhaberechte und den Steuerungsmodus Ethik konstituiert<br />
(Opielka 2004, 2006). Die Frage lautet, ob ein solcher<br />
Regimetyp nicht nur eine sozialpolitische Perspektive aufweist,<br />
son<strong>der</strong>n hier vor allem, ob er einer <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> <strong>der</strong> Zukunft<br />
nützt. Die <strong>der</strong>zeit verwendeten Zukunftsbegriffe einer »aktivierenden«<br />
o<strong>der</strong> »investiven« Sozialpolitik werden im Licht <strong>der</strong><br />
»garantistischen« Wohlfahrtsregimekonzeption jedenfalls vorsichtig<br />
zu verwenden sein.
Vorsorge und Fürsorge 275<br />
1. Sozialpolitik und Soziale <strong>Arbeit</strong>:<br />
eine ambivalente Beziehung<br />
Die sozialpolitische Konstituierung <strong>der</strong> Sozialpädagogik hat<br />
Lothar Böhnisch bereits 1982 ziemlich genau formuliert: »Die<br />
Sozialpolitik bildet den historisch-politischen Horizont, vor<br />
dem sich die institutionelle Sozialpädagogik entfaltet und <strong>der</strong><br />
sie gleichzeitig begrenzt.« (Böhnisch 1982, 1) Zugleich diagnostizierte<br />
er: »Dass die Sozialpolitik <strong>der</strong> Zukunft über die<br />
›alte soziale Frage‹ hinaus zu einem verallgemeinerten<br />
Lebenslagenbezug und zu einer materiellen Politik sozialer<br />
Rechte werden muss und dann nicht mehr im Korsett sozialstaatlicher<br />
Balance agieren kann, ist eine historische<br />
Notwendigkeit.« (ebd., 153; Herv. M.O.) Jener mehr als ein<br />
Vierteljahrhun<strong>der</strong>t alte Optimismus aus <strong>der</strong> Frühzeit universitärer<br />
Sozialpädagogik erscheint heute gebrochen. So ruht<br />
Galuskes »Flexible Sozialpädagogik« (Galuske 2002) zwar auf<br />
einer systematischen Analyse <strong>der</strong> Sozialpolitik auf. Deutlich<br />
wird hier allerdings eine gegenüber dem frühen Böhnisch markant<br />
pessimistischere Zukunftsperspektive <strong>der</strong> Sozialpolitik,<br />
die um Codes wie Neoliberalismus und Bürgerarbeit kreist und<br />
<strong>der</strong> Sozialpädagogik wenig Positives ankündigt, eine sozialpolitische<br />
Konstituierung <strong>der</strong> Sozialpädagogik scheint wenig vorstellbar.<br />
Betrachten wir zur Überprüfung dieser Beobachtung<br />
den Diskurs um das Verhältnis von Sozialpädagogik und<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong>.<br />
Während die Soziale <strong>Arbeit</strong> zumindest theoretisch – und praktisch<br />
in vielen Län<strong>der</strong>n (Skandinavien, Großbritannien, teils in<br />
den USA) – ihren systematischen Bezug zur Sozialpolitik nicht<br />
verhehlt, scheint die Sozialpädagogik als erziehungswissenschaftliche<br />
Subdisziplin staatsfern: wie ihre große Schwester,<br />
die Schulpädagogik, verleugnet sie vor allem in Deutschland<br />
ihre Staats- und damit Politikkonstituierung und vergibt sich<br />
damit die Chance einer wahrheitsnäheren, also wissenschaftlichen<br />
Reflexion ihrer Konstituierung. Eine denkbare Lösung,
276<br />
Vorsorge und Fürsorge<br />
nämlich die Integration von Fachhochschul- und Universitätsausbildung<br />
in Professional Schools <strong>der</strong> Universitäten, unter<br />
mehr o<strong>der</strong> weniger dauerhafter Mitwirkung <strong>der</strong> Fachhochschulstrukturen,<br />
wird hierzulande noch wenig angedacht. Ein positives<br />
Beispiel ist das von Fabian Kessl als drittes Szenario einer<br />
Nach-Bologna-Entwicklung skizzierte Modell: »Fachhochschulen<br />
und Universitäten koordinieren ihre Bachelor- und<br />
Masterstudiengänge bundes- und landesweit. Die jeweils konkreten<br />
Kooperationsformen zwischen den beteiligten<br />
Hochschulen werden regional ausgehandelt und umgesetzt.<br />
(…) Der gemeinsam formulierte Slogan lautet: Für das kämpfen,<br />
was Wohlfahrtsstaatlichkeit sein könnte.« (Kessl 2006, 82)<br />
Kessl kann sich dabei auf die »Münsteraner Erklärung« des 6.<br />
Bundeskongresses Soziale <strong>Arbeit</strong> 2005 beziehen, in <strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>t<br />
wird, die »Qualifizierung des beruflichen Nachwuchses<br />
und die gemeinsame Weiterentwicklung Sozialer <strong>Arbeit</strong> durch<br />
›Schools‹ o<strong>der</strong> ›Departments‹ auf universitärem Niveau zu<br />
gewährleisten« (Münsteraner Erklärung 2005, 2). Dass Kessl<br />
diesem Szenario »am wenigsten Realisierungschancen« (Kessl<br />
2006, 83) gibt, liegt auch an <strong>der</strong> geringen Forschungsbasis <strong>der</strong><br />
Fachhochschulen, so dass die universitären Vertreter <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> Reputationsmin<strong>der</strong>ungen fürchten. Letztlich<br />
würde das Szenario bedeuten, die Fachhochschulen – zumindest<br />
<strong>der</strong>en Bereiche <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> – in diese Schools aufzulösen.<br />
Die österreichische und auch die schweizerische<br />
Hochschulpolitiken wie<strong>der</strong>holen seit den 1990er Jahren lei<strong>der</strong><br />
die deutschen Erfahrungen, sie bauen einseitig auf<br />
Fachhochschulen und vernachlässigen damit die akademische<br />
Präsenz <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>.
Vorsorge und Fürsorge 277<br />
2. Vorsorge und Fürsorge:<br />
Sozialpolitische Reflexion<br />
Sozialpolitik wurde und wird mit präventiven, also vorsorgenden<br />
Wirkungen begründet. Sie soll Kriminalität verhin<strong>der</strong>n,<br />
Demokratie und Frieden bewahren und Fundamentalismen<br />
überflüssig machen. Zudem soll sie nachgehende, reparierende<br />
und insoweit fürsorgende Interventionen vermeiden. Dahinter<br />
stehen zwei starke Annahmen, eine empirische und eine theoretische.<br />
Die starke empirische Annahme besteht darin, dass<br />
sozialpolitische Interventionen soziale Wirkungen haben. Die<br />
starke theoretische Annahme besteht in einem Standardkonzept<br />
gleichheitsorientierter Normalität, dessen Abweichungen<br />
Intervention begründen, wobei sich dabei noch eine sozialtechnokratische<br />
und eine sozialutopische Variante unterscheiden<br />
lassen. Befürworter und Kritiker bei<strong>der</strong> Annahmen finden sich<br />
in <strong>der</strong> sozialpolitischen, sozialpädagogischen und soziologischen<br />
Literatur.<br />
Eine Neuorientierung <strong>der</strong> Diskussionslage dürfte sich nach<br />
1989, dem Zusammenbruch <strong>der</strong> klassischen Kapitalismus-<br />
Kommunismus-Dualität, insoweit ergeben haben, als die<br />
Standardkonzepte von Normalität neu justiert wurden. Die<br />
sozialutopische Wirkungsvariante scheint erschöpft, <strong>der</strong><br />
Fortfall des kompetitiv sozialistischen Musters führte zu einer<br />
Reformulierung sozialreformerischer Programmatiken (»Workfare<br />
statt Welfare«, Mindest- statt Lebensstandardsicherungen,<br />
Marktsteuerung, investive Sozialpolitik usf.). Sie lassen sich als<br />
eine Konzentration sozialpolitischer Interventionen zugunsten<br />
von mehr o<strong>der</strong> eben weniger voraussetzungsvollen sozialen<br />
Garantien beschreiben. Allerdings müssen sich auch diese <strong>der</strong><br />
genannten empirischen und theoretischen Kritik stellen.<br />
Prävention wird dabei methodisch von Intervention abgegrenzt,<br />
unterliegt allerdings einem »generellen Gefährdungsverdacht«<br />
(Böllert 2001, 1397), weil Handlungs- und Verursachungsketten<br />
sozialer Probleme meist nicht eindeutig, Präventions-
278<br />
Vorsorge und Fürsorge<br />
bemühungen damit häufig unspezifisch angelegt sind. Am<br />
Beispiel von zwei Politikfel<strong>der</strong>n – Gesundheit und Armut –<br />
werden nun empirische und theoretische Annahmen kontrastiert:<br />
was genau wird unter sozialen Garantien bzw. sozialen<br />
Grundrechten in diesen Politikfel<strong>der</strong>n diskursiv verhandelt?<br />
Welche Präventionswirkungen werden damit jeweils verknüpft?<br />
Welche empirischen und welche theoretischen Evidenzen<br />
werden in den Diskursen vorgetragen? Welche Rolle<br />
spielen sozialpolitische Diskurse in diesem Zusammenhang?<br />
Im Gesundheitsbereich, <strong>der</strong> unterdessen (einschließlich <strong>der</strong><br />
Rehabilitation) zum zweitgrößten sozialpädagogischen<br />
<strong>Arbeit</strong>sfeld nach <strong>der</strong> Jugendhilfe wuchs (Schröer/Sting 2006,<br />
25ff.), lassen sich die stärksten Traditionen des Themas<br />
Prävention beobachten. Die Erwartungen an Leistungssteigerungen<br />
und Kostensenkungen durch Prävention sind<br />
hoch. Zugleich soll »hohe Lebensqualität« gesichert, wie eine<br />
Reduzierung von »20 bis 30 Prozent <strong>der</strong> heutigen<br />
Gesundheitsausgaben in Deutschland« (Klotz u.a. 2006, 608)<br />
ermöglicht werden. Der Präventionsdiskurs wird im Diskurs<br />
<strong>der</strong> neueren Medizin und Gesundheitswissenschaft als<br />
»Gesundheitsför<strong>der</strong>ung« geführt (Hurrelmann u.a. 2004), entfernt<br />
sich damit von verhaltensmoralischen und punitiven<br />
Diskursen, die auch in <strong>der</strong> sozialpädagogischen Literatur als<br />
körperbezogene Sozialdisziplinierung kritisch reflektiert wurden<br />
und werden (Hirschler/Homfeldt 2006). Möglicherweise<br />
hat <strong>der</strong> sozial- und gesundheitspolitische Diskurs auf jene<br />
Kritik reagiert und die individualistische Perspektive <strong>der</strong><br />
Lebensqualität dagegen in Anschlag gebracht. Allerdings haben<br />
sich seitdem auch die gesundheitspolitischen Koordinaten verschoben.<br />
Zunehmend erscheint das Problem <strong>der</strong> Rationierung,<br />
einer institutionalisierten Dauer-Triage die sozialpolitischen<br />
Garantien auf eine bestmögliche Gesundheitsversorgung für<br />
jede und jeden zu unterminieren. Bezogen auf unsere<br />
Fragestellung heißt das:
Vorsorge und Fürsorge 279<br />
• Der sozialpolitische Diskurs fokussiert auf Kostenbegrenzung;<br />
• Gesundheitsför<strong>der</strong>ung und Prävention sollen zugleich individuelle<br />
Lebensqualität und kollektive Kostensenkung<br />
organisieren. Eine Skalierung bei<strong>der</strong> Ziele und eine systematische<br />
Diskussion ihrer Optimierung geschieht kaum;<br />
• empirische und theoretische Evidenzen für die Wirksamkeit<br />
von Prävention sind hoch. Dies gilt allerdings eher<br />
für die Zieldimension Lebensqualität als für diejenige <strong>der</strong><br />
Kostensenkung;<br />
• sozialpolitische Diskurse scheinen von erheblicher Bedeutung.<br />
Die Integration beispielsweise <strong>der</strong> Gesundheitsför<strong>der</strong>ung<br />
in die Ausbildungsordnungen <strong>der</strong> medizinischen<br />
Profession (Hurrelmann u.a. 2004) kann als Langzeitergebnis<br />
<strong>der</strong> Präventionsdiskurse <strong>der</strong> 1970er und 1980er<br />
Jahre gelten.<br />
Die deutsche Dominanz von arbeitnehmerfinanzierten<br />
Sozialversicherungen und die Möglichkeit <strong>der</strong>en Mittel zu verteilen<br />
ohne in den sichtbareren Steuerhaushalt eingreifen zu<br />
müssen, reduzieren zwangsläufig die Reichweite von Prävention.<br />
Empirisch erweisen sich hier Systeme <strong>der</strong> Bürgerversicherung<br />
– wie in <strong>der</strong> österreichischen und schweizerischen<br />
Kassenfinanzierung (Opielka 2004, Carigiet/Opielka 2006) –<br />
o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> Steuerfinanzierung – wie in Großbritannien – als<br />
überlegen.<br />
Bereits das weiter oben genannte Zitat von Böhnisch zu einer<br />
»materiellen Politik sozialer Rechte« (Böhnisch 1982, 1) bezog<br />
sich auf soziale Garantien gegen Armut. Seitdem haben sich die<br />
Diskurse ausdifferenziert. Im sozialdemokratischen Mainstream<br />
<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Sozialpädagogik wird zwar die Exklusionsneigung<br />
des lohnarbeitszentrierten Sozialstaatsmodells<br />
reflektiert. Allerdings verbleiben die Konzepte sozialer<br />
Garantien gewöhnlich innerhalb dieses Modells, dessen mangelhafte<br />
armutspräventive Wirkung nicht zuletzt mit dem
280<br />
Vorsorge und Fürsorge<br />
Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht <strong>der</strong> deutschen<br />
Bundesregierung (2005) evident wurde.<br />
Starke Annahmen über präventive Wirkungen wurden mit den<br />
sozialdemokratischen Konzepten des »aktivierenden<br />
Sozialstaats« verbunden. Aktivierungskonzepte existieren<br />
jedoch in allen politischen Lagern, gleichwohl mit sehr unterschiedlichen<br />
Annahmen und Effekten. Die von Esping-<br />
An<strong>der</strong>sen mit dem Begriff <strong>der</strong> »Dekommodifizierung«<br />
beschriebene Zentralfunktion des mo<strong>der</strong>nen Wohlfahrtsstaates<br />
– die Reduzierung <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>smarktabhängigkeit <strong>der</strong> Ware<br />
(commodity) <strong>Arbeit</strong>skraft durch arbeitsmarktexterne<br />
Existenzsicherungsoptionen – (Esping-An<strong>der</strong>sen 1990), wurde<br />
durch die Aktivierungs-Agenda in eine Re-Kommodifizierung<br />
verdreht (<strong>der</strong>s. 2002).<br />
Entscheidend erscheint dabei die Alternativlosigkeit, mit <strong>der</strong><br />
diese Agenda im politischen wie im sozialpolitikwissenschaftlichen<br />
Kontext behauptet wird. Bezogen auf unsere<br />
Fragestellung heißt das:<br />
• Der Mainstream des neueren Armutsdiskurses rekonstruiert<br />
Armut im Wesentlichen als Mangel existenzsichern<strong>der</strong><br />
<strong>Arbeit</strong>splätze. Durch »Aktivierung« und »workfare« soll<br />
eine umfassende Teilnahme bzw. Teilhabe am <strong>Arbeit</strong>smarkt<br />
und darüber die Beseitigung von Armut erreicht werden.<br />
Der hierzu alternative, »garantistische« Diskurs um<br />
Grundeinkommen bezweifelt mit dem Verweis auf die<br />
»Working Poor« die behauptete Integrationskraft des<br />
<strong>Arbeit</strong>smarktes für die Gesamtbevölkerung und empfiehlt<br />
auch deshalb eine Lockerung des <strong>Arbeit</strong>sbegriffs;<br />
• die Präventionswirkungen des »Aktivierungs«-Diskurses<br />
zielen auf die Wie<strong>der</strong>herstellung von Vollbeschäftigung,<br />
diejenigen des konkurrierenden Grundeinkommensdiskurses<br />
auf die Universalisierung sozialer Bürgerrechte;<br />
• empirische Evidenzen sind für beide Positionen wi<strong>der</strong>sprüchlich.<br />
Theoretische Evidenzen sprechen eher für die
Vorsorge und Fürsorge 281<br />
»garantistische« Position, da diese mit einer individualistischen<br />
und expressiven Sozialmoral mo<strong>der</strong>ner Bürger eher<br />
übereinstimmt;<br />
• sozialpolitische Diskurse konstituieren auch hier die politische<br />
Wirklichkeit.<br />
Insoweit sich die Soziale <strong>Arbeit</strong> dem Rekommodifizierungsprogramm<br />
wi<strong>der</strong>setzt, geschieht dies unter dem<br />
Verweis auf die Verletzung von Grundrechten. Irritieren<strong>der</strong>weise<br />
übersehen die meisten ihrer kritischen Vertreter (z.B.<br />
Cremer-Schäfer 2006, Dahme u.a. 2003), dass die von ihnen<br />
postulierte o<strong>der</strong> zumindest als verschwindend bedauerte »alte«,<br />
nämlich sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatlichkeit selbst<br />
fundamental an die Lohnarbeitszentrierung gebunden war. Die<br />
nun verstärkte Kopplung von <strong>Arbeit</strong>smarkt- und Sozialpolitik<br />
stellt insoweit nur eine Neuakzentuierung des <strong>Arbeit</strong>s- und<br />
Leistungsethos <strong>der</strong> produktivistischen <strong>Arbeit</strong>erbewegung um<br />
eine liberale Annahme des »Sieges des Kapitalismus« nach<br />
1989-90 dar. Eine wohlfahrtsregimetheoretische Verortung dieser<br />
Diskurse kann diese Unklarheiten min<strong>der</strong>n. Sie zeigt, dass<br />
die Garantie von Grundrechten bisher im Sozialstaat zu wenig<br />
entwickelt wurde. Amartya Sens in <strong>der</strong> Sozialpolitikdebatte<br />
zunehmend reüssieren<strong>der</strong> Fähigkeitenansatz (»capability<br />
approach«) erscheint vor diesem Hintergrund nicht einfach nur<br />
als eine Auflistung kluger Teilhabeansprüche ohne systematische<br />
Rangordnung (so Hirschler/Homfeldt 2006, 50), son<strong>der</strong>n<br />
als »garantistisches« Programm (Opielka 2004, 232), das gegen<br />
die Dominanz <strong>der</strong> etablierten Trias <strong>der</strong> Wohlfahrtsregime (sozialdemokratisch,<br />
liberal, konservativ) stark gemacht werden<br />
sollte.
282<br />
Vorsorge und Fürsorge<br />
3. Professionalität Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />
in <strong>der</strong> Bürgergesellschaft<br />
In einem wi<strong>der</strong>sprüchlichen, keineswegs immer linearen,<br />
mo<strong>der</strong>nisierungstheoretischen Annahmen folgenden Prozess<br />
haben sich soziale Grundrechte auf die Agenda geschoben,<br />
meist bewusst intendiert durch soziale Akteure, nicht selten<br />
freilich als Nebenfolge rein funktional gedachter Entscheidungen.<br />
Es ist dieser komplexe Prozess, den »Neo-<br />
Institutionalisten« in <strong>der</strong> Soziologie und den Politikwissenschaften<br />
fokussieren und dabei feststellen, wie eine<br />
»Weltkultur« (Meyer 2005) entstand, die den Kern des<br />
»Europäischen Sozialmodells« kulturell einschließt – trotz<br />
scheinbarer Gegenbewegungen. Jener Kern ist die Gleichheit<br />
des Menschen, sind Freiheit und Solidarität, gleichsam die<br />
Werte <strong>der</strong> Französischen Revolution, von Christentum und<br />
Aufklärung, die sich in den Menschenrechten universalisierten<br />
und in an<strong>der</strong>en Kultur- und Religionskreisen auch deshalb auf<br />
Resonanz stoßen, weil sie die Wirklichkeit auf den Begriff bringen.<br />
Die beiden diskutierten Fragestellungen (Gesundheit,<br />
Armut) rekonstruierten sozialpolitische Wertkonflikte, die nicht<br />
nur zwischen individuellen und kollektiven Akteuren, son<strong>der</strong>n<br />
auch je in ihnen selbst beobachtet werden können (Meyer 2004,<br />
73; Opielka 2007).<br />
Die Soziale <strong>Arbeit</strong> befindet sich heute in einer unerfreulichen<br />
Opferrolle gegenüber Sozialreformen, die den sozialen Status<br />
ihrer Klienten abwerten. Der Grund für dieses tendenzielle<br />
Versagen liegt in ihrer Depolitisierung und ihrer Deprofessionalisierung.<br />
Depolitisierung deshalb, weil we<strong>der</strong> die<br />
praktischen noch die akademischen VertreterInnen <strong>der</strong><br />
Disziplin bewusst die Abwertung ihrer KlientInnen wollen,<br />
zugleich aber zu wenig politische Reflexivität gelehrt und kommuniziert<br />
wird. Deprofessionalisierung deshalb, weil die<br />
deutschsprachige Soziale <strong>Arbeit</strong> – ganz an<strong>der</strong>s als bspw. Social<br />
Work in den USA – ihre fehlende, auf die eher forschungs-
Vorsorge und Fürsorge 283<br />
schwachen Fachhochschulen begrenzte Akademisierung oft<br />
auch noch mit dem naiven Verweis auf Praxisnähe begrüßt. In<br />
einer Wissensgesellschaft ist damit die systemische Bedeutungsarmut<br />
programmiert.<br />
Der Trend zur Personenzentrierung, wie er in <strong>der</strong><br />
Sozialpsychiatrie und teils <strong>der</strong> Jugendhilfe zu beobachten ist,<br />
bietet daher unter dem Fokus Vorsorge und Prävention Chancen<br />
für eine kontextuierte und zugleich individualisierte Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong>. Eine Reihe neuer, auch in <strong>der</strong> Sozialgesetzgebung verankerter<br />
Instrumente wie <strong>der</strong> »Integrierte Behandlungs- und<br />
Rehabilitationsplan (IBRP)«, »Individuelle Hilfepläne (IHP)«,<br />
»Persönliche Budgets (PB)« und die »Hilfeplankonferenz<br />
(HPK)« sind Bestandteil einer Neuorientierung sozialer und<br />
gesundheitlicher Dienstleistungen, die von vielen Beobachtern<br />
als Ausdruck einer zunehmenden Marktorientierung verstanden<br />
werden, teils eingebaut in »Neue Steuerungsmodelle« vor<br />
allem <strong>der</strong> kommunalen Sozialpolitik wie »New Public<br />
Management (NPM)« und einer zielgesteuerten Unternehmensführung<br />
(Management by Objectives, MBO; Qualitätsmanagement)<br />
in sozialen Einrichtungen (Seim 2000, Otto/Schnur<br />
2000). Kritiker rechnen das Konzept <strong>der</strong> »Evidenzbasierten<br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>« umstandslos in die Kategorie <strong>der</strong> neoliberalen<br />
Refigurationen des <strong>Sozialen</strong> (Ziegler 2006). Doch lassen sich<br />
die Diskurse um eine Wirkungsorientierung <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
keineswegs ausschließlich neo-bürokratisch und neoliberal verorten,<br />
sie beinhalten auch die Chancen zu einer Neuformulierung<br />
von Professionalität Sozialer <strong>Arbeit</strong> (Otto 2007).<br />
Von beson<strong>der</strong>er Bedeutung für die Soziale <strong>Arbeit</strong> erscheint<br />
dabei das Instrument <strong>der</strong> Evaluation, insbeson<strong>der</strong>e in seiner<br />
Ausprägung als qualitative Evaluationsforschung (Opielka u.a.<br />
2007).<br />
Die gegenwärtig spürbare Beunruhigung unter den MitarbeiterInnen<br />
<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> hat ihre Ursache darin, dass<br />
hinter den neuen Entwicklungen letztlich fiskalische<br />
Sparinteressen stehen. Effizienzsteigerung durch bürokratische
284<br />
Vorsorge und Fürsorge<br />
Prozeduren wird bezweifelt. Der Grund liegt in einem<br />
Misstrauen gegenüber <strong>der</strong> »großen« Sozialpolitik. Dieses<br />
Misstrauen ist nicht unberechtigt. Seit Mitte <strong>der</strong> 1990er Jahre,<br />
nicht zufällig auch seit dem Ende <strong>der</strong> Ost-/West-Blockkonfrontation<br />
und dem weltweiten »Sieg des Kapitalismus«,<br />
hat sich in den westlichen Wohlfahrtsstaaten die Rhetorik<br />
»from welfare to workfare«, ein Paradigma <strong>der</strong> »Aktivierung«,<br />
eines »aktivierenden Sozialstaats« durchgesetzt (Opielka<br />
2004). Diese »Transformation des Wohlfahrtsstaats« (Gilbert<br />
2002) zielt darauf hin, die Erwerbs- o<strong>der</strong> besser: Lohnarbeitszentrierung<br />
<strong>der</strong> Sozialpolitik wie<strong>der</strong> verschärft durchzusetzen.<br />
Die VertreterInnen dieser Transformation wollen die<br />
Prozesse sozialpolitischer »Dekommodifizierung« rückgängig<br />
machen. Was in den politischen Diskursen als »neoliberal«<br />
bezeichnet wird, meint in <strong>der</strong> Regel den Kampf für ein möglichst<br />
liberales Wohlfahrtsregime, das auf Leistungsgerechtigkeit<br />
(am Markt) abhebt und die Idee <strong>der</strong> »Eigenverantwortung«<br />
verallgemeinert, auch wenn die Eigenkräfte<br />
ungleich verteilt sind.<br />
Hier liegt nun <strong>der</strong> Grund für das Unbehagen vieler politisch<br />
sensibler Mitarbeiter und Betroffener im Sozialbereich. Man<br />
spürt, dass die Legitimität sozialpolitischer Investitionen immer<br />
wie<strong>der</strong> neu erkämpft werden muss. Wer sich advokatorisch,<br />
anwaltlich auf die Seite <strong>der</strong> sozial Schwächsten stellt, benötigt<br />
einen gesellschaftspolitisch sensiblen und kenntnisreichen<br />
Blick. Zur professionellen Dienstleistungskunst gehört, die<br />
Teilhaberechte <strong>der</strong> KlientInnen mit an<strong>der</strong>en Rechten und<br />
Pflichten abzuwägen. Sie, die Professionellen, »müssen lernen,<br />
eine feine Linie zu ziehen zwischen zu offen formulierten<br />
Kontrakten einerseits, in denen Profitmotive einfließen und<br />
durch Qualitätsmin<strong>der</strong>ung Kostenersparnisse erzwungen werden<br />
können, und den zu restriktiv formulierten Kontrakten<br />
an<strong>der</strong>erseits, durch die eine Kommodifizierung sozialer Hilfen<br />
entsteht, welche die Rolle professioneller Praxis schwächt und<br />
die Qualität sozialer Dienste min<strong>der</strong>t.« (Gilbert 2000, 153)
Vorsorge und Fürsorge 285<br />
Die sozialpolitische Konfiguration, die für die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
zukunftsträchtig erscheint, kann dabei als »garantistisch«<br />
bezeichnet werden. Der Fokus auf das Individuum wird darin<br />
selbst systemisch, funktional gefasst, Individualisierung also<br />
gesellschaftlich kontextuiert. »Garantismus« heißt zunächst,<br />
dass wohlfahrtsstaatliche Sicherung im Kern an Grundrechten<br />
gebunden ist und nicht an das Erwerbssystem. Dass dies historisch<br />
auch die Agenda sozialer Dienste und damit <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />
<strong>Arbeit</strong> bildet, sollte als motivierende Erkenntnis für die Zukunft<br />
des Sozialstaats gelten können.<br />
Literatur<br />
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2006, 17-30
288<br />
Vorsorge und Fürsorge<br />
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Praktiken in neo-bürokratischen Organisationen, in: Schweppe/Sting<br />
2006, 139-155
AutorInnen<br />
Baig, Samira, Mag.a, Studium <strong>der</strong> Psychologie, Lektorin am Studiengang<br />
Sozialarbeit <strong>der</strong> FH Campus Wien, Supervisorin & Coach in freier Praxis,<br />
Stv. Leitung des arbeitspsychologischen Zentrums <strong>der</strong> Health Consult<br />
Ges.m.b.H.<br />
Forschungsschwerpunkte: Diversitykompetenz in Supervision, Coaching<br />
und Beratung; sozialpsychologische Aspekte von Managing Diversity und<br />
Interkulturalität.<br />
Bakic, Josef, Dr., Studium <strong>der</strong> Pädagogik und Psychologie, Studiengang<br />
Soziale <strong>Arbeit</strong> an <strong>der</strong> FH Campus Wien, Nebenberuflicher Lektor am<br />
Institut für Bildungswissenschaften <strong>der</strong> Universität Wien. Mitbegrün<strong>der</strong><br />
des Vereins KriSo – Kritische Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />
Forschungsschwerpunkte: Beruf und Bildung, Theorien Sozialer <strong>Arbeit</strong>,<br />
aktuelle Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Sozialarbeit und Sozialpädagogik.<br />
Bettinger, Frank, Prof. Dr., Studium <strong>der</strong> Pädagogik, Sozialpädagogik und<br />
Sozialwissenschaften, Fachbereich Sozialpädagogik/Sozialarbeit an <strong>der</strong><br />
EFH Darmstadt, Vorstandsmitglied im Bremer Institut für Soziale <strong>Arbeit</strong><br />
und Entwicklung (BISA+E) an <strong>der</strong> Hochschule Bremen; Mitarbeit im<br />
<strong>Arbeit</strong>skreis Kritische Soziale <strong>Arbeit</strong> (AKS);<br />
Forschungsschwerpunkte: Kritische Kriminologie und Soziale <strong>Arbeit</strong>;<br />
Sozialer Ausschluss und Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />
Brückner, Margrit, Prof.in Dr.in, Studium <strong>der</strong> Soziologie,<br />
Gruppenanalytikerin und Supervisorin (DGSv), Fachbereich Soziale<br />
<strong>Arbeit</strong> und Gesundheit an <strong>der</strong> Fachhochschule Frankfurt.<br />
Forschungsschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse; Frauen und Geschlechterforschung<br />
Häusliche Gewalt; das Unbewusste in Institutionen;<br />
Internationale Care-Debatte.<br />
Diebäcker, Marc, Dipl.-Soz.-Wiss., Studium <strong>der</strong> Politikwissenschaft,<br />
Geschichte und <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, Studiengang Soziale <strong>Arbeit</strong> an <strong>der</strong> FH
290<br />
AutorInnen<br />
Campus Wien. Mitbegrün<strong>der</strong> des Vereins KriSo – Kritische Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />
Forschungsschwerpunkte: Politische Theorien, Staat und Soziale <strong>Arbeit</strong>;<br />
Sozialpolitik; Sozialraum & Politischer Raum; Stadtentwicklung und<br />
Gemeinwesenarbeit.<br />
Dimmel, Nikolaus, Prof. DDr., Studium <strong>der</strong> Rechtswissenschaften,<br />
Politikwissenschaft und Soziologie, Diplomierter Sozialmanager,<br />
Rechtswissenschaftliche Fakultät an <strong>der</strong> Universität Salzburg, Leiter <strong>der</strong><br />
Lehrgänge für Sozialmanagement und Migrationsmanagement an <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Universität Salzburg.<br />
Forschungsschwerpunkte: Wohlfahrtsstaat; Sozialpolitik und Sozialrecht;<br />
Sozialmanagement und Soziale Dienste; Armut und soziale Kontrolle;<br />
<strong>Arbeit</strong>smarktpolitik & Workfare.<br />
Dzierzbicka, Agnieszka, Univ.-Ass.in Dr.in, Studium <strong>der</strong> Pädagogik,<br />
Soziologie und Politikwissenschaft, Institut für Bildungswissenschaft <strong>der</strong><br />
Universität Wien.<br />
Forschungsschwerpunkte: Vertrags- und Vereinbarungskultur; Cultural<br />
Studies und Gouvernementalität.<br />
Egger, Rudolf, Ao.Univ.-Prof. Dr., Studium <strong>der</strong> Pädagogik, Soziologie und<br />
Betriebswirtschaftslehre, Institut für Erziehungswissenschaft an <strong>der</strong> Karl-<br />
Franzens-Universität Graz.<br />
Forschungsschwerpunkte: Biographie- und Evaluationsforschung;<br />
Wissenschaftstheorie; Interpretative Sozialforschung; Methoden <strong>der</strong><br />
Erziehungswissenschaft.<br />
Fürst, Roland, Mag.(FH) DSA, Studium <strong>der</strong> Sozialarbeit und<br />
Sozialwissenschaften, Department Soziale <strong>Arbeit</strong> an <strong>der</strong> FH Campus<br />
Wien.<br />
Forschungsschwerpunkte: Methoden und Theorie <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>;<br />
Sozialmanagement & Öffentlichkeitsarbeit; Soziale <strong>Arbeit</strong> im<br />
Zwangskontext/Kontrollauftrag; aktuelle Diskurse in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />
und Sozialpolitik.
AutorInnen 291<br />
Galuske, Michael, Prof. Dr. phil., Studium <strong>der</strong> Sozialpädagogik und<br />
Germanistik, Institut für Sozialpädagogik und Soziologie <strong>der</strong> Lebensalter<br />
an <strong>der</strong> Universität Kassel.<br />
Forschungsschwerpunkte: Mo<strong>der</strong>nisierungstheorie; <strong>Arbeit</strong>slosigkeit und<br />
arbeitsgesellschaftlicher Wandel; Armut und Ausgrenzung; Methoden<br />
Sozialer <strong>Arbeit</strong>; Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe.<br />
Hammer, Elisabeth, DSAin, Mag.a, Studium <strong>der</strong> Sozialarbeit und Ökonomie,<br />
Studiengang Soziale <strong>Arbeit</strong> an <strong>der</strong> FH Campus Wien. Mitbegrün<strong>der</strong>in<br />
des Vereins KriSo – Kritische Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />
Forschungsschwerpunkte: Sozialpolitik und Ökonomie; Armut und soziale<br />
Sicherung, aktuelle Diskurse in Sozialpolitik und Sozialer <strong>Arbeit</strong>.<br />
Kessl, Fabian, M.A. Dr., Studium <strong>der</strong> Erziehungswissenschaften und<br />
Politikwissenschaften, Fakultät für Pädagogik <strong>der</strong> Universität Bielefeld.<br />
Forschungsschwerpunkte: (Politische) Theorie Sozialer <strong>Arbeit</strong>, Empirie<br />
<strong>der</strong> Lebensführung, Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit.<br />
Kolland, Franz, Ao.-Prof. Dr., Studium <strong>der</strong> Soziologie, Universitätsprofessor<br />
am Institut für Soziologie <strong>der</strong> Universität Wien;<br />
Forschungsschwerpunkte: Alterns- und Lebenslaufforschung; Entwicklungssoziologie.<br />
Opielka, Michael, Prof. Dr. rer. soc, Studium <strong>der</strong> Rechtswissenschaften,<br />
Erziehungswissenschaften, Ethnologie/Anthropologie, Philosophie und<br />
Soziologie, Fachbereich Sozialwesen an <strong>der</strong> Fachhochschule Jena,<br />
Lehrbeauftragter an <strong>der</strong> Universität Bonn (Master Sozialmanagement);<br />
Geschäftsführer des Instituts für Sozialökologie in Königswinter.<br />
Forschungsschwerpunkte: Sozialpolitik, soziologische Theorie,<br />
Psychoanalyse, Religions- und Kultursoziologie.<br />
Rosenbauer, Nicole, Dr.in, Studium <strong>der</strong> Erziehungswissenschaft,<br />
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik,<br />
Erwachsenenbildung und Pädagogik <strong>der</strong> Frühen Kindheit (ISEP) an <strong>der</strong><br />
Technischen Universität Dortmund.
292<br />
AutorInnen<br />
Forschungsschwerpunkte: Organisationstheorie und -forschung;<br />
Professionalisierung Sozialer <strong>Arbeit</strong>; Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfeforschung;<br />
Hilfen zur Erziehung.<br />
Scherr, Albert, Prof. Dr., Studium <strong>der</strong> Soziologie, Direktor des Instituts für<br />
Sozialwissenschaften an <strong>der</strong> Pädagogischen Hochschule Freiburg.<br />
Forschungsschwerpunkte: Gesellschafts- und Subjekttheorie; Theorien <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>; Bildungsforschung; Fremdheitskonstruktionen und<br />
Rassismus in <strong>der</strong> Einwan<strong>der</strong>ungsgesellschaft.<br />
Stelzer-Orthofer, Christine, Ass.-Prof.in Dr.in, Studium <strong>der</strong> Sozialwirtschaft,<br />
Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik an <strong>der</strong> Johannes<br />
Kepler Universität Linz.<br />
Forschungsschwerpunkte: Armut; <strong>Arbeit</strong>slosigkeit; <strong>Arbeit</strong>smarkt- und<br />
Sozialpolitik;<br />
Winkler, Michael, Prof. Dr., Studium <strong>der</strong> Pädagogik, Germanistik,<br />
Geschichte und Philosophie, Institut für Erziehungswissenschaft, Lehrstuhlinhaber<br />
für Allgemeine Pädagogik und Theorie <strong>der</strong> Sozialpädagogik<br />
an <strong>der</strong> Friedrich Schiller-Universität Jena.<br />
Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte <strong>der</strong> Pädagogik und <strong>der</strong><br />
Sozialpädagogik; pädagogische Gegenwartsdiagnose; Hilfen zur<br />
Erziehung; Übergänge von Ausbildung in Beruf.