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Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit - Löcker Verlag

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<strong>Aktuelle</strong> <strong>Leitbegriffe</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>


Josef Bakic, Marc Diebäcker,<br />

Elisabeth Hammer (Hg.)<br />

<strong>Aktuelle</strong> <strong>Leitbegriffe</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Ein kritisches Handbuch<br />

<strong>Löcker</strong>


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums<br />

für Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie des Magistrats<br />

<strong>der</strong> Stadt Wien, MA 7, Wissenschafts- und Forschungsför<strong>der</strong>ung.<br />

© Erhard <strong>Löcker</strong> GesmbH, Wien 2008<br />

Herstellung: Gemi S.R.O., Prag<br />

ISBN 3-85409-477-7


Inhalt<br />

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

Aktivierung und soziale Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

Christine Stelzer-Orthofer<br />

Auftrag und Mandat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />

Frank Bettinger<br />

Biografie und Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />

Rudolf Egger<br />

Case Management und Clearing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56<br />

Roland Fürst<br />

Diagnose und Sozialtechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />

Michael Galuske, Nicole Rosenbauer<br />

Diversity und Ausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />

Samira Baig<br />

Ideologiekritik und Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . 106<br />

Albert Scherr<br />

Management und Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120<br />

Michael Winkler<br />

Neue Unterschicht und soziale Sicherung . . . . . . . . . . . 137<br />

Elisabeth Hammer<br />

Norm und Abweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154<br />

Franz Kolland<br />

Prävention und Disziplinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170<br />

Agnieszka Dzierzbicka<br />

Profession und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185<br />

Margrit Brückner<br />

Qualität und Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200<br />

Josef Bakic


Recht und Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217<br />

Nikolaus Dimmel<br />

Sozialraum und Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233<br />

Marc Diebäcker<br />

System und Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250<br />

Fabian Kessel<br />

Vorsorge und Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271<br />

Michael Opielka<br />

AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289


<strong>Aktuelle</strong> <strong>Leitbegriffe</strong> <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Ein kritisches Handbuch<br />

Vorwort<br />

»Das Verzweifelte, daß die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist,<br />

gewährt paradox die Atempause zum Denken,<br />

die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre«<br />

(Theodor W. Adorno 1975 [1966], 243)<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> ist eng an gesellschaftliche, ökonomische und<br />

staatliche Bedingungen gekoppelt und hat sich im Laufe <strong>der</strong><br />

Geschichte zu einem vielschichtigen Feld sozialer Praxis entwickelt.<br />

Die gegenwärtigen Transformationsprozesse sind von<br />

einer ökonomisierenden Logik gekennzeichnet, die Ungleichheiten<br />

und Marginalisierungsprozesse verschärfen. Über den<br />

Staat, <strong>der</strong> einer neoliberalen Regierungsrationalität folgt, wird<br />

auch das Feld <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> geprägt und verfremdet. Vor<br />

dem Hintergrund des Abbaus staatlicher Unterstützungssysteme<br />

und <strong>der</strong> Kürzung bzw. Nichtanpassung sozialer<br />

Ausgaben verän<strong>der</strong>n sich Inhalte und Formen sozialarbeiterischer<br />

Handlungsbezüge u.a. im Sinne ökonomisierter und ordnungs-<br />

bzw. sicherheitspolitischer Logiken.<br />

Wir – die HerausgeberInnen – haben uns die letzten Jahre intensiv<br />

mit diesen Transformationsprozessen auseinan<strong>der</strong>gesetzt<br />

und unter an<strong>der</strong>em die »Wiener Erklärung zur Ökonomisierung<br />

und Fachlichkeit in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>« (Bakic/Diebäcker/<br />

Hammer 2007) in die Diskussion eingebracht. Wir sind angesichts<br />

<strong>der</strong> aktuellen Bedingungen <strong>der</strong> Überzeugung, dass sich<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> mit ihren gesellschaftlichen Aufträgen bzw.<br />

Aufgaben in ihrer politischen Bedeutung kritisch auseinan<strong>der</strong>setzen<br />

und eine selbstbestimmte kritisch-reflexive Theorie und<br />

Praxis entwickeln muss, die ihr eigenes Verwobensein in neoliberale<br />

Politiken erkennt. Dann wird Soziale <strong>Arbeit</strong> dazu beitra-


8<br />

Vorwort<br />

gen können, gesellschaftliche Wi<strong>der</strong>sprüche und Interessenskonflikte<br />

sowie soziale Ungleichheiten und Ausschließungsprozesse<br />

aufzudecken und das Soziale auch im Sinne von<br />

KlientInnen mitzugestalten. Diese politische Dimension ist<br />

unseres Erachtens untrennbarer Teil eines fachlichen Selbstverständnisses<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong>, die sich <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

menschlichen Entwicklung verpflichtet fühlt, sich schwerpunktmäßig<br />

mit individuellen Krisen und sozialen Problemlagen<br />

beschäftigt, sie sichert und soziale Bedingungen dort<br />

strukturiert, wo die Anfor<strong>der</strong>ungen gesellschaftlichen Lebens<br />

die Möglichkeiten <strong>der</strong> Selbstbehauptung von Einzelnen o<strong>der</strong><br />

Gruppen übersteigen.<br />

In diesem Kontext war es für uns logische Folge, dass es mehr<br />

denn je notwendig ist, jene Begrifflichkeiten kritisch zu analysieren,<br />

die in Theorie und Praxis Sozialer <strong>Arbeit</strong> Konjunktur<br />

haben. Denn angesichts einer Hegemonie neoliberalen Regierens<br />

werden fachliche Konzepte o<strong>der</strong> Diskurse von einer,<br />

auf den ersten Blick nicht wahrnehmbaren, ideologischen<br />

Folie eingehüllt. Der Anspruch <strong>der</strong> vorliegenden Sammlung<br />

ist es daher, ausgewählte Diskurse o<strong>der</strong> Konzepte kritisch auf<br />

ihr theoretisches wie ideologisches Fundament hin zu analysieren<br />

sowie ihre gesellschaftspolitische Bedeutsamkeit mit<br />

Bezügen zu den <strong>Arbeit</strong>sbereichen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zu veranschaulichen.<br />

Die Integration von unterschiedlichen wissenschaftlichen<br />

Perspektiven und Expertisen aus Fel<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> war hierfür nötig und soll dazu beitragen, eine<br />

Lücke in <strong>der</strong> deutschsprachigen Auseinan<strong>der</strong>setzung zu<br />

schließen.<br />

Angeregt durch aktuelle Glossarabhandlungen in den Sozialwissenschaften<br />

wie dem 2004 erschienenen Band »Glossar <strong>der</strong><br />

Gegenwart«, herausgegeben von Ulrich Bröckling, Susanne<br />

Krasmann und Thomas Lemke bzw. <strong>der</strong> z.T. direkten<br />

Mitwirkung beim bildungswissenschaftlichen Pendant »Pädagogisches<br />

Glossar <strong>der</strong> Gegenwart«, herausgegeben von<br />

Agnieszka Dzierzbicka und Alfred Schirlbauer 2006, lag eine


Vorwort 9<br />

Strukturierung durch <strong>Leitbegriffe</strong> auf <strong>der</strong> Hand. Bei <strong>der</strong><br />

Auswahl <strong>der</strong> Begriffe war es uns aber ein Anliegen – Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> als junge Disziplin muss ›innovativ‹ sein –, diese nicht<br />

nur aneinan<strong>der</strong>zureihen, son<strong>der</strong>n in einem Spannungsfeld<br />

zweier Begrifflichkeiten abbilden und aufarbeiten zu lassen.<br />

Die AutorInnen wurden von uns also zur Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

genötigt, immer zwei aktuell wirkmächtige, sich aufeinan<strong>der</strong><br />

beziehende Begriffe parallel zu analysieren und ihre Verflechtung<br />

aufzuzeigen. In jedem Fall sind die ausgewählten Begrifflichkeiten,<br />

angesichts ihrer <strong>der</strong>zeitigen ideologischen<br />

Bedeutungszuweisung und Verwendung, als hybrid zu bezeichnen.<br />

Eine erste Sondierung in Frage kommen<strong>der</strong> Begrifflichkeiten<br />

brachte eine erschreckend große Zahl zu Tage. Aufgrund <strong>der</strong><br />

Zielsetzung ein handliches Buch zu machen, musste jedoch<br />

eine Fokussierung und Einschränkung vorgenommen werden –<br />

die vorliegende Sammlung ist insofern als exemplarische zu<br />

verstehen.<br />

Wir wollten dem Gegenstand Soziale <strong>Arbeit</strong> entsprechend eine<br />

multiperspektivische Behandlung <strong>der</strong> ausgewählten Begriffe<br />

erreichen, und freuen uns sehr, dass es uns gelungen ist, namhafte<br />

TheoretikerInnen und ExpertInnen in einem Band zu vereinen.<br />

Die AutorInnen wurden eingeladen, in kurzer Form in<br />

die Terminologie einzuführen, ihre Verwendung in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> zu skizzieren und auf ihre ideologischen Ansprüche hin<br />

kritisch zu prüfen.<br />

Dieses Handbuch möchte anhand einer Analyse von <strong>Leitbegriffe</strong>n<br />

<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zu einem kritischen, theoriebezogenen<br />

Selbstverständnis <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> beitragen, das sich<br />

auch angesichts gegenwärtiger Rahmenbedingungen bewähren<br />

kann. ProfessionistInnen, Studierenden und Lehrenden im Feld<br />

<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> soll es als kritische Einführung in jene zentralen<br />

Diskurse <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> dienen, die gegenwärtig als<br />

Mainstream in <strong>der</strong> konkreten Praxis Bedeutung und Umsetzung<br />

finden. Allen Akteuren des <strong>Sozialen</strong> soll mit dieser Publikation


10<br />

die Möglichkeit eröffnet werden, politische Prozesse aus einer<br />

aufgeklärten Haltung heraus mitzugestalten.<br />

Das Schreiben ist getan, nun frisch und flink ans Lesewerk.<br />

Wien, Jänner 2008<br />

Josef Bakic, Marc Diebäcker und Elisabeth Hammer<br />

Literatur<br />

Vorwort<br />

Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2007): Wiener<br />

Erklärung zur Ökonomisierung und Fachlichkeit in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>. Wien. Online unter: www.sozialearbeit.at/petition.php<br />

[06.01.2008]<br />

Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.) (2004):<br />

Glossar <strong>der</strong> Gegenwart. Frankfurt am Main<br />

Dzierzbicka, Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (Hg.) (2006): Pädagogisches<br />

Glossar <strong>der</strong> Gegenwart. Wien


Aktivierung und soziale Kontrolle<br />

Christine Stelzer-Orthofer<br />

Die Begriffe Aktivierung und aktivieren<strong>der</strong> Staat finden seit<br />

mehr als zehn Jahren immer häufiger Eingang in die politische<br />

und sozialwissenschaftliche Diskussion. Sie stehen als Symbol<br />

und Leitbild für einen Paradigmenwechsel zur Gestaltung sozialstaatlicher<br />

Sicherung. Sie sind Schlüsselbegriffe für ein neues<br />

Sozialmodell, für eine neue Balance von Rechten und Pflichten<br />

und signalisieren Mo<strong>der</strong>nisierung, Verän<strong>der</strong>ung und Erneuerung<br />

(vgl. Dahme et al. 2003, 9).<br />

Gemeint ist damit zum einen, dass Politik sich nicht damit<br />

begnügen kann, soziale Leistungen in Form von monetären<br />

Transfers zur Verfügung zu stellen, son<strong>der</strong>n aufgefor<strong>der</strong>t ist,<br />

Instrumente, Programme und Maßnahmen für eine erfolgreiche<br />

Sozial- und <strong>Arbeit</strong>smarktintegration von gesellschaftlich ausgegrenzten<br />

Gruppen zu entwickeln. Zum an<strong>der</strong>en geht es dabei<br />

aber auch um die Neujustierung <strong>der</strong> Frage, unter welchen<br />

Bedingungen arbeitsfähige Menschen sozialstaatliches Einkommen<br />

beziehen dürfen. Es wird dabei ein wohlfahrtsstaatlicher<br />

Grundkonflikt thematisiert, <strong>der</strong> auf die Organisation und<br />

das Verhältnis von <strong>Arbeit</strong>smarkt und Sozialstaat abzielt (vgl.<br />

Vobruba 2000, 5). Es geht um das Verhältnis <strong>der</strong> Einzelnen zur<br />

Gesellschaft, es geht um <strong>der</strong>en Rechte, aber auch <strong>der</strong>en<br />

Pflichten; »For<strong>der</strong>n und För<strong>der</strong>n« sowie »Hilfe zur Selbsthilfe«<br />

stehen auf dem Programm.<br />

Ein aktivieren<strong>der</strong> Staat wird von vielen als <strong>der</strong> »dritte« Weg<br />

eines neuen Sozialstaatsmodells beschrieben, <strong>der</strong> zwischen<br />

einer minimalen und einer umfassendem Absicherung liegt. Es<br />

soll daher nachfolgend dargelegt und den Fragen nachgegangen<br />

werden, welche konträren Zielsetzungen mit Aktivierung verbunden<br />

sind, ob und wie sich soziale Kontrolle und Aktivierung<br />

in idealtypischen wohlfahrtsstaatlichen Konzepten verorten las-


12<br />

Aktivierung und soziale Kontrolle<br />

sen und ob ein aktivieren<strong>der</strong> Staat als Wohlfahrtsstaat Modell<br />

sein kann.<br />

Dabei sollte deutlich werden, dass Aktivierung kein neutrales<br />

wohlfahrtsstaatliches Instrument ist, son<strong>der</strong>n sowohl »als<br />

repressives und autoritäres« (Hammer 2006) als auch als emanzipatorisches<br />

Element in <strong>der</strong> sozialer Sicherungslandschaft und<br />

in den Handlungsfel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> fungieren kann.<br />

Aktivierung – ein ambivalenter Begriff<br />

Aktivierung ist ein Sammelbegriff für eine sozialstaatliche<br />

Strategie, die verschiedene Ebenen verfolgt. Aktivierung kann<br />

helfen, Marginalisierung, Wohlfahrtsabhängigkeit und Ausgrenzung<br />

zu verhin<strong>der</strong>n sowie Armut zu bekämpfen; sie soll die<br />

gesellschaftliche Einbindung för<strong>der</strong>n und somit die soziale<br />

Position <strong>der</strong> Einzelnen verbessern. Die (Wie<strong>der</strong>-)Entdeckung des<br />

aus <strong>der</strong> Sozialpädagogik bekannten Prinzips Empowerment, <strong>der</strong><br />

Stärkung von Selbstkompetenz und Eigeninitiative, als sozialstaatliche<br />

Strategie fällt nicht zufällig in jene Phase, in <strong>der</strong> eine<br />

steigende Anzahl von SozialtransfersbezieherInnen und überlastete<br />

Sozialbudgets beklagt werden. Aktivierung muss daher<br />

auch als ökonomische Strategie angesehen werden, die darauf<br />

abzielt, öffentliche Budgets durch die Reduzierung von KlientInnen<br />

und Sozialleistungen zu entlasten. Wenn aktivierende<br />

Maßnahmen – wie die Praxis in den europäischen Sozialstaaten<br />

zeigt (vgl. z.B. Heikkilä/Keskitalo 2001) – so angelegt sind, dass<br />

<strong>der</strong> Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen erschwert o<strong>der</strong> verweigert<br />

wird, tragen sie zu einer gesellschaftlichen Polarisierung<br />

und individuellen Ausgrenzung bei. Aktivierung ist demnach ein<br />

ambivalenter Begriff, <strong>der</strong> kontrovers diskutiert wird. Aktivierung<br />

wird daher von den einen als Mittel zur gerechten Verteilung von<br />

Chancen und zur Armutsbekämpfung angesehen, für an<strong>der</strong>e<br />

wie<strong>der</strong>um steht er als Synonym für Sanktion, Zwang, <strong>Arbeit</strong>spflicht<br />

und verstärkte soziale Kontrolle.


Aktivierung und soziale Kontrolle 13<br />

Wohlfahrtsstaat und soziale Kontrolle<br />

Während dem Begriff <strong>der</strong> Aktivierung zumindest dem Grunde<br />

nach eine positive Konnotation innewohnt, da er den Gegenpol<br />

zu Lethargie und Passivität impliziert, sind mit dem Begriff<br />

Kontrolle, unabhängig davon, ob auf individueller o<strong>der</strong> gesellschaftlicher<br />

Ebene, eher negative Assoziationen verbunden.<br />

Dennoch ist auch <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> sozialen Kontrolle mehrdeutig.<br />

Soziale Kontrolle subsumiert die Gesamtheit aller<br />

Mechanismen, Prozesse und Strukturen, »mit <strong>der</strong>en Hilfe eine<br />

Gesellschaft versucht, ihre Mitglie<strong>der</strong> zu Verhaltensweisen zu<br />

bringen, die im Rahmen dieser Gesellschaft positiv bewertet<br />

werden.« (Fuchs-Heinritz et al. 1995, 368). Soziale Kontrolle<br />

steht daher in einem engen Zusammenhang mit <strong>der</strong><br />

Durchsetzung von gesellschaftlichen und sozialen Normen. Sie<br />

för<strong>der</strong>t durch die Internalisierung gewünschter Verhaltensweisen<br />

die gesellschaftliche Integration und wirkt zugleich disziplinierend:<br />

Für jene, die sich diesen Werten und gewünschten<br />

Verhaltensweisen entziehen, diese verletzen o<strong>der</strong> sie nicht<br />

beachten und sich dementsprechend »abweichend« verhalten,<br />

entsteht in Form von negativen Sanktionen zum Teil enormer<br />

Druck, <strong>der</strong> zu Stigmatisierung und sozialer Ausschließung führen<br />

kann.<br />

Nicht nur die Familie als primäre Sozialisationsinstanz, son<strong>der</strong>n<br />

auch Schule, Peer-Gruppen etc. wirken auf soziale<br />

Normen und sozial akzeptiertes Verhalten prägend. Lange Zeit<br />

nicht beachtet, hat im Beson<strong>der</strong>en die kritische Sozialstaatsforschung<br />

<strong>der</strong> 1970er Jahre darauf hingewiesen, wie z.B.<br />

im Band »Sozialpolitik als soziale Kontrolle« <strong>der</strong> Starnberger<br />

Studien (1978), dass Sozialpolitik »niemals nur soziale Hilfe<br />

ist, son<strong>der</strong>n ihr immer auch ein Moment sozialer Kontrolle und<br />

Disziplinierung inne wohnt« (Mohr 2007, 57). Neben <strong>der</strong><br />

Kompensations- und Konstitutionsfunktion, die zu Stabilisierung,<br />

Legitimierung, Umverteilung und Integration <strong>der</strong><br />

Gesellschaft beitragen, wird sozialstaatlichem Wirken daher


14<br />

Aktivierung und soziale Kontrolle<br />

auch eine Kontroll- und Disziplinierungsfunktion zugeschrieben.<br />

Sozialpolitik dient dazu Klassenkonflikte zu entschärfen, da<br />

durch kompensatorische Sozialtransfers Lohnarbeit gegen spezifische<br />

Risiken abgesichert wird. Sie trägt somit auch zur politischen<br />

Stabilität sowie zur sozialen Integration bei. Die<br />

Konstitutionsfunktion betont, dass erst durch sozialpolitische<br />

Maßnahmen, wie z.B. durch Ausbildung und Qualifizierung<br />

von <strong>Arbeit</strong>nehmerInnen und Maßnahmen <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>smarktpolitik,<br />

»die Voraussetzung für die Nutzung von <strong>Arbeit</strong>skräften<br />

in einzelkapitalistischen Produktionsprozessen« hergestellt<br />

wird (Rödel/Guldimann 1978, 22). Die <strong>der</strong> Organisation sozialer<br />

Sicherheit zugeschriebene disziplinierende und kontrollierende<br />

Funktion bezieht sich auf »die Zurichtung <strong>der</strong> Individuen<br />

auf die Erfor<strong>der</strong>nisse <strong>der</strong> Marktgesellschaft« (Mohr 2007, 16)<br />

durch die Verfestigung und Durchsetzung von Wert- und<br />

Handlungsprinzipien (z.B. Motivation und Leistungsorientierung),<br />

die, so Rödel und Guldimann (1978, 27f), »erstens<br />

sicherstellen, dass die Lohnarbeiter regelmäßig als individuelle<br />

Anbieter ihrer <strong>Arbeit</strong>skraft auf dem <strong>Arbeit</strong>smarkt auftreten, und<br />

zweitens gewährleisten, dass die <strong>Arbeit</strong>er die Disziplinierungen,<br />

Belastungen und Risiken des <strong>Arbeit</strong>s- und Produktionsprozesses<br />

als normal hinnehmen.« Ähnlich argumentieren Sachße<br />

und Tennstedt (1986, 12), die »disziplinierende Verhaltenszumutungen<br />

(als) notwendige Begleiterscheinungen bzw.<br />

Voraussetzungen einer spezifischen Form sozialer Sicherheit«<br />

betrachten.<br />

Piven und Cloward (1977 zit. nach Mohr 2007, 58ff) analysieren<br />

am Beispiel <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Sozialhilfepolitik <strong>der</strong> USA<br />

wechselnde Phasen <strong>der</strong> Ausweitung bzw. Einschränkung sozialer<br />

Leistungen, die sie mit <strong>der</strong> systemimmanenten Notwendigkeit<br />

<strong>der</strong> Aufrechterhaltung <strong>der</strong> kapitalistischen Sozial- und<br />

Wirtschaftsordnung in Zusammenhang bringen. Zum einen<br />

wird durch die Verteilung von Sozialleistungen eine politische<br />

Stabilisierung erzeugt, zum an<strong>der</strong>en wird bei <strong>der</strong> Organisation


Aktivierung und soziale Kontrolle 15<br />

und Ausgestaltung des sozialen Systems darauf Bedacht<br />

genommen, dass trotz sozialer Hilfe <strong>der</strong> Druck zum Verkauf <strong>der</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>skraft am <strong>Arbeit</strong>smarkt aufrecht bleibt, meist durch<br />

Zugangsbarrieren, niedrige Leistungen, die Bereitschaft und<br />

die Pflicht zur Erwerbstätigkeit sowie gegebenenfalls durch<br />

Androhen o<strong>der</strong> Verhängen von Sanktionen (vgl. Mohr 2007,<br />

58f). Als ein sozialstaatliches Paradoxon ist hier jenes<br />

Phänomen zu verorten, dass es gerade in Zeiten wirtschaftlichen<br />

Aufschwungs und zunehmenden Wohlstands eher zum<br />

Ausbau sozialer Leistungen kommt, aber »(i)n <strong>der</strong> Krise, dann<br />

wenn sie am nötigsten sind, werden soziale Leistungen abgebaut.«<br />

(Sachße/Tennstedt 1986, 12).<br />

Eine abgeschwächte und modifizierte Version <strong>der</strong> sozialstaatlichen<br />

Kontroll- und Disziplinierungsfunktion wird auch durch<br />

jene Ansätze deutlich, die <strong>der</strong> Sozialpolitik »einen formenden<br />

Zugriff auf die zeitliche Ordnung des Lebens« bescheinigen<br />

(Leibfried et al. 1995, 24). Sozialpolitik und Sozialrecht sind<br />

Struktur gebende Komponenten im individuellen Lebenslauf,<br />

von <strong>der</strong> Wiege bis ins Grab. Sie beeinflussen explizit o<strong>der</strong><br />

implizit private Lebensformen, Entscheidungen, wie z.B.<br />

Heirat, Scheidung o<strong>der</strong> Kündigung, werden auch im Hinblick<br />

auf die damit verbundenen Rechtsfolgen getroffen (vgl. u.a.<br />

Kaufmann 1997). Unbestritten eröffnen sie Handlungsmöglichkeiten,<br />

schaffen zugleich aber auch Zwänge. Sie wirken rechtlich<br />

normierend und somit Lebenslauf bestimmend, da sie beispielsweise<br />

vorgeben, ab welchem Alter und nach wie vielen<br />

Jahren <strong>der</strong> Erwerbstätigkeit wir in Pension gehen können o<strong>der</strong><br />

müssen, in welchen Phasen unseres Lebens wir uns – staatlich<br />

unterstützt – ausbilden können o<strong>der</strong> ob bzw. welche Sozialleistungen<br />

bei einer längerer Phase <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>smarktabstinenz<br />

mittels welcher Vorleistungen zu gewähren sind.<br />

Wiewohl normierende und disziplinierende Funktionen jedem<br />

staatlichen Wirken immanent ist, sind Art, Ausmaß und Folgen<br />

sozialer Kontrolle in nicht unmaßgeblicher Weise davon beeinflusst,<br />

von welcher Staatskonzeption ausgegangen wird.


16<br />

Aktivierung und soziale Kontrolle<br />

Aktivierung und soziale Kontrolle<br />

in wohlfahrtsstaatlichen Konzepten<br />

Das angeführte Beispiel, welche Leistungen im Falle <strong>der</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>smarktabsenz zur Verfügung gestellt werden, schließt<br />

unmittelbar an die Begriffe Aktivierung und soziale Kontrolle<br />

an. Es stellt sich daher die Frage, ob und wie diese sich in unterschiedlichen<br />

wohlfahrtsstaatlichen Konzepten finden und welche<br />

(sozial-)politischen Maßnahmen sich daraus ableiten lassen.<br />

Sind Aktivierungskonzepte unterstützende Maßnahmen,<br />

Qualifizierung und Empowerment für jene, die den gegenwärtigen<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen einer immer flexibleren und entgrenzten<br />

<strong>Arbeit</strong>swelt wenig o<strong>der</strong> gar nicht gerecht werden? Sind sie ein<br />

legitimes Mittel gegen Müßiggang und Missbrauch sozialer<br />

Unterstützung? O<strong>der</strong> sind sie »disziplinierende Verhaltenszumutungen«<br />

und »arbeitsmarktpolitische Herrschaftsinstrumente<br />

in einer flexibilisierten Wirtschaft« (Zilian 2000, 567ff),<br />

primär darauf gerichtet, sozialstaatliche Leistungen zu reduzieren,<br />

Kontrollmechanismen zu installieren und <strong>Arbeit</strong>sbereitschaft<br />

aufrecht zu erhalten?<br />

Entsprechend <strong>der</strong> Krisendiagnostik eines neoliberalen Staatsmodells<br />

wird <strong>Arbeit</strong>slosigkeit als Individualschuld interpretiert,<br />

die sich aus fehlen<strong>der</strong> Marktfähigkeit, unredlichem Verhalten<br />

und mangeln<strong>der</strong> Motivation ergibt. <strong>Arbeit</strong>slosigkeit ist – ausgehend<br />

vom Menschenbild des »homo oeconomicus« und dem<br />

Prinzip <strong>der</strong> Vertragsfreiheit – freiwillig gewählt. Mangelnde<br />

Motivation und mangelnde <strong>Arbeit</strong>sanreize führen zu einem<br />

weiteren Erklärungsansatz von Nicht-Erwerbstätigkeit, <strong>der</strong> im<br />

Versagen wohlfahrtsstaatlicher Politik liegt: Zu großzügige und<br />

im Sinne <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>smarktintegration kontraproduktive Sozialleistungen<br />

<strong>der</strong> europäischen Wohlfahrtsstaaten stünden einer<br />

<strong>Arbeit</strong>saufnahme im Wege. Gerade im Niedriglohnbereich<br />

rechne sich das aus legaler Erwerbsarbeit zu erzielende und mit<br />

Abgaben belastete Einkommen nicht. Viel eher würden soziale<br />

Leistungen in Anspruch genommen, die allenfalls mit Einkom-


Aktivierung und soziale Kontrolle 17<br />

men aus Schwarzarbeit aufgebessert würden. <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />

bleibe daher auf einem hohen Niveau, so die Argumentationslinie,<br />

da durch zu hohe Sozialunterstützungen die Aufnahme<br />

von Erwerbstätigkeit nicht geför<strong>der</strong>t, son<strong>der</strong>n im Gegenteil verhin<strong>der</strong>t<br />

werde. Wohlfahrtsstaatlich bedingte, nicht vorhandene<br />

Lohnflexibilität nach unten führe zu zusätzlicher <strong>Arbeit</strong>slosigkeit.<br />

<strong>Arbeit</strong>slosigkeit wird demnach als Produkt des Versagens<br />

wohlfahrtsstaatlicher Politik, individueller Antriebslosigkeit<br />

und Motivation interpretiert: Der »Wohlfahrtsstaat wird als<br />

För<strong>der</strong>er von Unmoral, Missbrauch und sozialer Devianz«<br />

gebrandmarkt und mit ihm werden arbeitslose TransfersbezieherInnen<br />

als SozialschmarotzerInnen stigmatisiert (vgl.<br />

Butterwege 2005,104f).<br />

Konsequenterweise wird aus dieser Sicht im Konzept des aktivierenden<br />

Staates ein »Weniger« an sozialstaatlichem<br />

Engagement und ein »Mehr« des/<strong>der</strong> Einzelnen favorisiert. Ziel<br />

ist es, Eigeninitiative zu för<strong>der</strong>n, Selbstverantwortung zu steigern,<br />

Selbsthilfe anzuregen. Kurzum, am Programm eines aus<br />

<strong>der</strong> neoliberalen Kritik konzipierten aktivierenden Staates stehen<br />

die Rücknahme gesamtgesellschaftlicher Verantwortung<br />

durch Privatisierung und Entstaatlichung und die individuelle<br />

Verantwortungssteigerung durch For<strong>der</strong>n und För<strong>der</strong>n, durch<br />

Leistung und Gegenleistung, wobei die Akzentuierung auf <strong>der</strong><br />

Gegenleistung liegt. Der Begriff <strong>der</strong> Aktivierung zielt hier primär<br />

auf den <strong>Arbeit</strong>smarkt ab, es gilt, <strong>Arbeit</strong>sanreize und<br />

<strong>Arbeit</strong>smotivation zu erhöhen, sei es durch Sanktionen, reduzierte<br />

Sozialtransfers, <strong>Arbeit</strong>szwang und zunehmen<strong>der</strong> sozialer<br />

Kontrolle. Betont werden dabei nicht die Rechte <strong>der</strong> Einzelnen,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>en Pflichten dem Gemeinwesen gegenüber.<br />

Kollektive Lebensrisiken werden individualisiert, Aktivierung<br />

zu »einer neo-liberalen Verpflichtungserklärung des Einzelnen<br />

gegenüber <strong>der</strong> Gesellschaft« (Dahme et al. 2003, 10), die<br />

zudem verdecken hilft, dass es dabei um einen massiven Abbau<br />

sozialer Absicherung geht.


18<br />

Aktivierung und soziale Kontrolle<br />

Abbildung 1: Aktivierung und wohlfahrtsstaatliche<br />

Konzeptionen<br />

Am an<strong>der</strong>en Pol wohlfahrtsstaatlicher Konzeptionen steht <strong>der</strong><br />

universalistische Sozialstaat. <strong>Arbeit</strong>slosigkeit wird als Produkt<br />

des ökonomischen Wandels wahrgenommen, bedingt durch<br />

strukturelle Verän<strong>der</strong>ungen des Wirtschaftens unter globalisierten<br />

Bedingungen. Diese erhöhen das Risiko, aus dem <strong>Arbeit</strong>smarkt<br />

heraus zu fallen, ebenso wie diskontinuierliche<br />

Beschäftigungskarrieren und die im Vormarsch befindlichen<br />

atypischen Beschäftigungsformen zu Prekarisierung und<br />

Ausgrenzung beitragen. Gesellschaftliche Verantwortung für<br />

Menschen mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten und in ihrer<br />

gesellschaftlichen Einbettung stehen hier im Vor<strong>der</strong>grund. Ziel<br />

ist es, gesellschaftliche Teilhabe für alle zu ermöglichen, und<br />

diese wird noch immer, o<strong>der</strong> besser gesagt, immer mehr über<br />

Erwerbsarbeit erreicht. Anstelle des »homo oeconomicus« tritt<br />

in Anlehnung an Hannah Arendt <strong>der</strong>»homo activus«, <strong>der</strong> tätige<br />

Mensch, als engagiert partizipativer Akteur, dem Solidarität ein<br />

maßgebliches Handlungsprinzip ist. Beson<strong>der</strong>e Unterstützung


Aktivierung und soziale Kontrolle 19<br />

zu einer verbesserten Sozial- und <strong>Arbeit</strong>smarktintegration ist<br />

daher für Benachteiligte vorzusehen, um eine Einbindung an<br />

soziale Sicherungssysteme und in den <strong>Arbeit</strong>smarkt zu erreichen.<br />

Es geht um eine Verbesserung <strong>der</strong> sozialen Partizipation<br />

und um die Erhöhung <strong>der</strong> Chancen am <strong>Arbeit</strong>smarkt durch die<br />

Erhöhung <strong>der</strong> Beschäftigungsfähigkeit (Qualifizierung,<br />

<strong>Arbeit</strong>straining etc.). Sozial- und <strong>Arbeit</strong>smarktintegration stellen<br />

gleichberechtigte Ziele von sozialer Aktivierung dar. Nicht<br />

Pflicht, son<strong>der</strong>n gesellschaftliche, sprich staatliche Verantwortung<br />

und Recht werden hier betont.<br />

Folgt man diesen idealtypischen Konzeptionen, ist das Leitbild<br />

des aktivierenden Staats als Konsens o<strong>der</strong> als »dritter« Weg<br />

zwischen dem marktliberalen und dem universalistischen<br />

Modell nicht aufrecht zu erhalten. Es kann nicht gleichzeitig<br />

ein »Mehr« und ein »Weniger« an gesamtgesellschaftlicher<br />

Verantwortung umgesetzt werden. Es ist demnach bei <strong>der</strong><br />

Bewertung des Begriffs <strong>der</strong> Aktivierung sowie des aktivierenden<br />

Staats sowie <strong>der</strong> damit verbundenen Strategien zu klären,<br />

welche Probleme – und wie diese – wahrgenommen werden<br />

und von welcher wohlfahrtsstaatlichen Konzeption und dem<br />

damit zugrunde liegendem Menschenbild Aktivierungsmaßnahmen<br />

ihren Ausgangspunkt nehmen. Hält man an bisherigen<br />

wohlfahrtsstaatlichen Prinzipien und Leistungen fest o<strong>der</strong> ist<br />

das Menschenbild durch einen faulen, Nutzen maximierenden<br />

homo oeconomicus geprägt, den es durch »negative<br />

Aktivierung« zu bestrafen gilt? Sozialpolitische Strategien können<br />

daher nicht isoliert betrachtet werden, son<strong>der</strong>n verkörpern<br />

bestimmte Welt- und Menschbil<strong>der</strong>.<br />

Der politische Diskurs und die Praxis von Aktivierungsmaßnahmen<br />

orientieren sich in <strong>der</strong> Regel nicht an Wohlfahrtsstaatskonzeptionen.<br />

Übereinstimmung herrscht im Allgemeinen<br />

weitgehend darin, soziale Ausgrenzung und Armut zu<br />

verhin<strong>der</strong>n, während sich die Ziele und Instrumente, um dies zu<br />

erreichen, deutlich unterscheiden. Dem eines minimalistischen,<br />

neoliberalen Staates und dessen zugrunde liegendem


20<br />

Aktivierung und soziale Kontrolle<br />

Menschenbild stehen Umverteilungs- und Inklusionsdiskurse<br />

und <strong>der</strong>en Ansätze zur Aktivierung gegenüber (vgl. Aust/Arriba<br />

2004, 19ff). Im letztgenannten wird sowohl die gesellschaftliche<br />

als auch die individuelle Verantwortung angesprochen.<br />

Kritisiert wird, dass wohlfahrtsstaatliches Engagement durch<br />

Sozialtransfers (auch) zu negativen Anreizen, Wohlfahrtsabhängigkeit<br />

und Armutsfallen führen kann.<br />

Ich gehe davon aus, dass, solange es nicht zu einer Präzisierung<br />

des Begriffs Aktivierung sowie des ebenso ambivalenten<br />

Leitbildes eines aktivierenden Staats kommt, eine analytische<br />

Interpretation notwendig und eine normative Abgrenzung in<br />

»positive« und »negative« Aktivierung unumgänglich ist.<br />

Möglicherweise wäre eine Unterscheidung in suppressive und<br />

emanzipatorische Aktivierung hilfreich.<br />

Unter den Begriff suppressiver Aktivierung subsumiere ich alle<br />

jene Maßnahmen, die in <strong>der</strong> Ideologie eines minimalistischen<br />

Staates mit <strong>der</strong> primären Zielsetzung Sozialbudgets zu senken<br />

durch die Einschränkung von Sozialleistungen, durch<br />

Repression, Sanktion, Zwang und Druck, soziale Normen für<br />

alle gleichermaßen, wie z.B. den Zwang zur Verwertung <strong>der</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>skraft, durchzusetzen versuchen, ohne Berücksichtigung<br />

<strong>der</strong> individuellen noch <strong>der</strong> strukturelle Lage. Legistische<br />

Maßnahmen, wie beispielsweise die restriktiven Novellierungen<br />

im österreichischen <strong>Arbeit</strong>slosenversicherungsgesetz in<br />

den letzten zehn Jahren, gekennzeichnet durch einen erschwerten<br />

Leistungszugang und die Senkung des Niveaus <strong>der</strong> Leistung<br />

(vgl. Artner 2001), zählen ebenso dazu wie Androhung von<br />

Sperren <strong>der</strong> Geldleistung sowie ganz generell eine Politik, die<br />

gesamtgesellschaftliche Ursachen bestimmter Problemlagen<br />

negiert und die Verantwortung auf bestimmtes individuelles<br />

Verhalten reduziert und damit delegiert (vgl. Stelzer-Orthofer<br />

2001).<br />

Demgegenüber steht meiner Ansicht nach die emanzipatorische<br />

Aktivierung, die in <strong>der</strong> Tradition eines umfassenden Wohlfahrtsstaats<br />

Zugänge eröffnen hilft, die sowohl auf <strong>der</strong> indivi-


Aktivierung und soziale Kontrolle 21<br />

duellen Ebene als auch auf <strong>der</strong> strukturellen Ebene ansetzen.<br />

Zugänge eröffnen bedeutet gesellschaftliche Teilhabechancen<br />

erhöhen. Dies kann durch den Zutritt in den ersten o<strong>der</strong> zweiten<br />

<strong>Arbeit</strong>smarkt, durch Möglichkeiten Kompetenzen und neue<br />

Qualifikationen zu erwerben erfolgen o<strong>der</strong> aber auch durch<br />

finanzielle Absicherung und die Anbindung an soziale<br />

Sicherheit, die als Minimalziel soziale Teilhabe ermöglicht.<br />

Aktivierende Soziale <strong>Arbeit</strong> zwischen Kontrolle<br />

und Empowerment<br />

Ein aktivieren<strong>der</strong> Staat – unabhängig davon, ob in neoliberaler<br />

o<strong>der</strong> universalistischer Tradition – bleibt nicht ohne Folgen für<br />

die Positionierung von Sozialer <strong>Arbeit</strong>, da sie hinsichtlich ihrer<br />

Funktionen eng mit Sozialpolitik, demnach wohlfahrtsstaatlichen<br />

Konzeptionen, verknüpft ist (vgl. Hammer 2006). Das<br />

Handlungsfeld ist zumindest im letzten Jahrzehnt durch eine<br />

zunehmende Ökonomisierung geprägt. Die Ausglie<strong>der</strong>ung von<br />

sozialen Dienstleistungen aus <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltung, <strong>der</strong><br />

Druck, Dienstleistungen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> verkaufen zu müssen,<br />

führen zu einem »Wandel <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> Organisation und<br />

Kontrolle von Leistungserbringungen in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>«<br />

(Spatschek 2007, 53). Durch administrative Vorgaben und<br />

zunehmende finanzielle Restriktionen wird die Zeit für die<br />

KlientInnen knapper, <strong>der</strong> Handlungsspielraum enger. Dokumentationspflichten<br />

für Auftraggeber und Finanziers erschweren<br />

die tägliche Praxis. Ein Interessenskonflikt entsteht dann,<br />

wenn »die legitimen Interessen <strong>der</strong> Zielgruppen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> den Interessen <strong>der</strong> öffentlichen Anbieter entgegenstehen«<br />

(Spatschek 2007, 54).<br />

Wenn sozialstaatlichem Wirken eine disziplinierende und kontrollierende<br />

Funktion zukommt, gilt dies erst recht für Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong>. Soziale <strong>Arbeit</strong> war schon bisher gefor<strong>der</strong>t, mit dem ihr<br />

immanenten – und mit dem Begriff des »doppelten Mandats«


22<br />

Aktivierung und soziale Kontrolle<br />

umschriebenen – teils wi<strong>der</strong>sprüchlichen Verhältnis von sozialarbeiterischer<br />

Hilfe und Unterstützung für den und die Einzelne<br />

einerseits sowie dem mehr o<strong>der</strong> weniger expliziten gesellschaftlichen<br />

Auftrag <strong>der</strong> sozialer Normierung, Disziplinierung<br />

und Kontrolle an<strong>der</strong>erseits (vgl. Hammer 2006) zurechtzukommen,<br />

demnach den Spagat zwischen Hilfe und sozialer<br />

Kontrolle zu meistern. In einem neoliberalen Konstrukt eines<br />

aktivierenden Staats neigt sich »die Waage (...) wie<strong>der</strong> deutlicher<br />

und stärker zur Kontrollseite« (Galuske 2007, 25). Somit<br />

erhöht sich die Gefahr <strong>der</strong> Instrumentalisierung <strong>der</strong> sozialen<br />

<strong>Arbeit</strong>, die als »eine Art Trojanisches Pferd« eingesetzt wird:<br />

»Professionelle Sozialarbeit wird in Anspruch genommen, um<br />

professionsfremde Ziele zu verfolgen: Kostenersparnis statt<br />

bedarfsgerechter Hilfe zur Führung eines menschwürdigen<br />

Lebens.« (Stark 2007, 404). Aktivierende soziale <strong>Arbeit</strong>, im<br />

Sinne einer suppressiven Aktivierung, wird hier zum<br />

Erfüllungsgehilfen für die Rücknahme sozialstaatlicher<br />

Leistungen und den Abbau von Sozialtransfers.<br />

Demgegenüber steht <strong>der</strong> eingangs erwähnte Empowerment-<br />

Ansatz, <strong>der</strong> sofern er nicht als Deckmantel <strong>der</strong> suppressiven<br />

Aktivierung dient, einer emanzipatorischen Aktivierung entspricht.<br />

Ziel hierbei es ist, »die Menschen zur Entdeckung ihrer<br />

eigenen (vielfach verschütteten) Stärken zu ermutigen, ihre<br />

Fähigkeiten zu Selbstbestimmung und Selbstverän<strong>der</strong>ung zu<br />

stärken und sie bei <strong>der</strong> Suche nach Lebensräumen und<br />

Lebenszukünften zu unterstützen, die einen Zugewinn von<br />

Autonomie, sozialer Teilhabe und eigenbestimmter Lebensregie<br />

versprechen.« (Herringer 1997, 7). Kritische Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> hat hier zum einen auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Individuen<br />

Möglichkeiten auszuloten und motivierend auf die KlientInnen<br />

einzuwirken. Zum an<strong>der</strong>en ist sie auf <strong>der</strong> Ebene des Politischen<br />

gefor<strong>der</strong>t, sich aktiv in eine demokratische und gerechte<br />

Ausgestaltung <strong>der</strong> sozialen Sicherheit einzubringen.


Aktivierung und soziale Kontrolle 23<br />

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Aktivierung und soziale Kontrolle<br />

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Auftrag und Mandat<br />

Frank Bettinger<br />

Überlegungen bezüglich – <strong>der</strong> im weiteren Verlauf synonym<br />

verwendeten Begriffe – »Auftrag« bzw. »Mandat« Sozialer<br />

<strong>Arbeit</strong> gestalten sich schwierig. Ein eindeutiger, expliziter<br />

Auftrag »<strong>der</strong>« <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ist ohne weiteres nicht identifizierbar,<br />

son<strong>der</strong>n variiert räumlich und historisch, aber auch je<br />

nach <strong>Arbeit</strong>sfeld, nach ideologischen, partei- und ordnungspolitischen<br />

Präferenzen von EntscheidungsträgerInnen, nach<br />

(wissenschafts-)theoretischer Ausrichtung <strong>der</strong> SozialarbeiterInnen<br />

und SozialpädagogInnen usw. Im Folgenden wird <strong>der</strong><br />

Versuch unternommen, mit Blick insbeson<strong>der</strong>e auf das sozialpädagogische<br />

<strong>Arbeit</strong>sfeld <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit,<br />

Möglichkeiten und Notwendigkeiten autonomerer Gegenstands-<br />

und Funktionsbestimmung als Voraussetzung selbstbestimmterer<br />

sozialpädagogischer Praxis zu skizzieren.<br />

Der Staat, das Recht und die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

Die gesellschaftliche Funktion Sozialer <strong>Arbeit</strong> ist nach wie vor<br />

umstritten. Grundsätzlich lassen sich Soziale <strong>Arbeit</strong> bzw. die an<br />

sie gerichteten Aufgaben und Aufträge nur verstehen, wenn<br />

zugleich die historische Entwicklung sowie die gesellschaftlichen,<br />

politischen, rechtlichen und ökonomischen Bedingungen<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> rekonstruiert werden – was nur vereinzelt<br />

hier geleistet werden kann. So entwickelte sich Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

»als tragendes Element eines ambivalenten wohlfahrtsstaatlichen<br />

Auftrags. Sie verdankt ihre Entstehung den Ligaturen<br />

jener Rationalisierungs-, Säkularisierungs- und Bürokratisierungsprozesse,<br />

die Habermas formschön als Kolonialisierung<br />

<strong>der</strong> Lebenswelt beschrieben hat« (Dimmel, 2005, 65).


26<br />

Auftrag und Mandat<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> war in ihrem Handeln von Beginn an orientiert<br />

an ihr vorgegebene gesellschaftliche Ordnungsmodelle, an<br />

Vorstellungen von »Normalität«, »Devianz« und »sozialen<br />

Problemen«, also Gegenständen, die als Bezugsrahmen bis zum<br />

heutigen Tage Bestand haben. Spätestens mit <strong>der</strong><br />

Verberuflichung Sozialer <strong>Arbeit</strong> entwickelten sich die neuen<br />

Professionellen »zu Sachwaltern für richtig erfolgte Erziehung,<br />

für korrekte Haushalts- und Lebensführung, kurz: zu Experten<br />

und Garanten für Normalität« (Merten/Olk, 1999, 966), in<br />

<strong>der</strong>en beruflichem Handeln sich eine Orientierung an vermeintlich<br />

fachlichem, häufig jedoch alltagstheoretischem Wissen und<br />

berufspraktischem Können mit <strong>der</strong> Orientierung an gesellschaftlichen<br />

Normalitätsstandards verschränken, die in <strong>der</strong><br />

Struktur <strong>der</strong> Institutionen wie ihren Aufgabendefinitionen eingelassen<br />

sind (vgl. Dewe/Ferchhoff/Scherr/Stüwe, 1995, 20).<br />

Hier kommt eine Asymmetrie (vgl. Gängler 2001) zum<br />

Ausdruck: eine doppelte Verpflichtung sowohl gegenüber den<br />

Ansprüchen gesellschaftlicher bzw. staatlicher Vorgaben, als<br />

auch gegenüber einem eigenen professionellen und gegenstandsbezogenen<br />

Selbstverständnis; eine Asymmetrie, die – als<br />

»doppeltes Mandat« begrifflich gefasst – in allen <strong>Arbeit</strong>sfel<strong>der</strong>n<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> bezüglich <strong>der</strong> jeweiligen Dominanz einer <strong>der</strong><br />

beiden Verpflichtungen zu reflektieren und gegebenenfalls<br />

zugunsten fachlicher Ansprüche zu verän<strong>der</strong>n ist.<br />

Es ist einerseits <strong>der</strong> Staat, <strong>der</strong> seine Macht <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

delegiert und dessen normativer, sozialrechtlicher Rahmen den<br />

Handlungsspielraum <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> begrenzt, was an<strong>der</strong>erseits<br />

dazu führt, dass Soziale <strong>Arbeit</strong> häufig Verwaltungshandeln<br />

ist, also Vollzug von Recht; gleichwohl Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

(zumindest grundsätzlich) trotz weitgehen<strong>der</strong> rechtlicher<br />

Verregelung, deutlich mehr als das Kodifizierte umfasst,<br />

umfassen sollte: und zwar ein professionelles, auf einen<br />

Gegenstand bezogenes Selbstverständnis, das den rechtlich<br />

vorgegebenen Rahmen sehr wohl zu ergänzen, gar zu verän<strong>der</strong>n<br />

vermag (vgl. Dimmel, 2005, 70; Hammerschmidt 2005). Die


Auftrag und Mandat 27<br />

Sozialgesetzgebung generiert zwar einen konstitutiven Rahmen<br />

<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, for<strong>der</strong>t aber an<strong>der</strong>erseits – so die optimistische<br />

Formulierung von Gedrath und Schröer – einen kontroversen<br />

Diskurs in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> heraus und ist in Bezug<br />

auf Reformperspektiven von diesem selbst abhängig. Gerade<br />

die Entwicklung des Rechts und <strong>der</strong> relevanten Gegenstände<br />

dokumentiert, dass insbeson<strong>der</strong>e »die Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe<br />

ohne Bezug auf die kontroversen Sozialdiskurse um die<br />

Vergesellschaftung von Kindheit und Jugend in <strong>der</strong> industriekapitalistischen<br />

Mo<strong>der</strong>ne kaum zu begreifen ist. Nur wenn die<br />

rechtlichen Vorgaben – als ein Kernbestandteil <strong>der</strong> sozialstaatlichen<br />

Vergesellschaftung von Kindheit und Jugend – zu einem<br />

diskursiven Brennpunkt <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfediskussion<br />

werden, kann die Soziale <strong>Arbeit</strong> eine eigenständige Position in<br />

Bezug auf die sozialpädagogischen Herausfor<strong>der</strong>ungen von<br />

Kindheit und Jugend im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t finden«<br />

(Gedrath/Schröer, 2002, 663).<br />

Die Produktion von Wissen, Wahrheit<br />

und Gegenstand<br />

Allerdings würde es zu kurz greifen, ausschließlich die rechtlichen<br />

Vorgaben in den Blick zu nehmen. Für ein weiteres<br />

Verständnis <strong>der</strong> Aufgaben und Funktionen Sozialer <strong>Arbeit</strong> bedarf<br />

viel mehr <strong>der</strong> Gegenstand und in <strong>der</strong> Folge die Funktion Sozialer<br />

<strong>Arbeit</strong>, somit die Produktion von Wissen und Wahrheit gerade<br />

auch in <strong>Arbeit</strong>sfel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe, in denen das<br />

sozialpädagogische Bemühen jungen Menschen gilt, mehr<br />

Aufmerksamkeit. Dies in dem Bemühen, sich von einem naiven,<br />

objektivistischen Verständnis von »Gegenstand«, »Funktion«,<br />

»Auftrag« zu verabschieden, das seit jeher Wegbegleiter Sozialer<br />

<strong>Arbeit</strong> war und wesentlich dazu beigetragen hat, Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

als das zu konturieren, was sie nach wie vor ist: untertänige<br />

Handlangerin und Bearbeiterin ihr vorgegebener »Probleme«.


28<br />

Auftrag und Mandat<br />

So ist davon auszugehen, dass die Kategorie »Jugend« eine<br />

soziokulturelle Konstruktion ist, die unter ganz bestimmten<br />

gesellschaftlichen Bedingungen – nämlich im Zuge <strong>der</strong><br />

Industrialisierung im späten 19. und frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>t –<br />

entstanden ist, und darüber hinaus einem historischen Wandel<br />

unterliegt. M.a.W., Jugend als eigene Lebensphase zwischen<br />

Kindheit und Erwachsensein ist ein Produkt und Projekt <strong>der</strong><br />

europäischen Mo<strong>der</strong>ne (vgl. Münchmeier 2001), und als »soziales<br />

Problem« seit jeher Gegenstand sozialpädagogischen<br />

Bemühens <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe.<br />

Anhorn skizziert die Entstehungsbedingungen von Jugend als<br />

ein normatives Konstrukt in <strong>der</strong> Weise, dass die »Erfindung des<br />

Jugendlichen« (Roth) als dem An<strong>der</strong>en, Defizitären,<br />

Gefährdeten und Gefährlichen, zugleich <strong>der</strong> Entmachtung und<br />

Ausgrenzung von Jugendlichen dient, da es die Voraussetzungen<br />

und Legitimationen für eine (sozial- und kriminal-)<br />

politische und sozialpädagogische Intensivierung und Ausweitung<br />

<strong>der</strong> Kontrolle und Disziplinierung von Jugendlichen<br />

schafft (vgl. Anhorn 2002, S. 48). Mit den im Zuge <strong>der</strong><br />

Industrialisierung stetig steigenden Qualifikationserfor<strong>der</strong>nissen,<br />

dehnte sich die Lebensphase Jugend als eigenständige<br />

Übergangs- und Entwicklungsphase zwischen Kindheit und<br />

Erwachsenenstatus tendenziell auf alle sozialen Klassen und<br />

Schichten aus. Der Begriff »Jugendlicher« löste sich nach und<br />

nach aus dem sozialen Bedeutungshorizont von proletarischen,<br />

verwahrlosten und kriminellen jungen Menschen, insbeson<strong>der</strong>e<br />

im Zuge <strong>der</strong> Institutionalisierung von Jugendhilfe und<br />

Jugendarbeit. »Am Ende dieser Entwicklung stand nicht nur ein<br />

Konzept, das die Jugend im politisch-wissenschaftlich-massenmedialen<br />

Diskurs als eigenständige und einer eigenen<br />

Entwicklungslogik mit jugendspezifischen Beson<strong>der</strong>heiten<br />

gehorchenden Lebensphase etablierte, und die Jugendlichen –<br />

ungeachtet aller sozioökonomischen und geschlechtsspezifischen<br />

Unterschiede – zu einer deutlich eingrenzbaren, homogenen<br />

sozialen Gruppe stilisierte; darüber hinaus resultierte aus


Auftrag und Mandat 29<br />

<strong>der</strong> Verschmelzung dieser beiden Entwicklungslinien bereits in<br />

<strong>der</strong> Konstitutionsphase des mo<strong>der</strong>nen Konzepts Jugend jenes<br />

wi<strong>der</strong>sprüchliche Konglomerat aus positiven wie negativen<br />

Bedeutungselementen, das bis auf den heutigen Tag seinen<br />

Ausdruck in einer tief greifenden Ambivalenz, in <strong>der</strong><br />

Typisierung und den gesellschaftlichen Reaktionen auf<br />

Jugend/Jugendliche findet« (Anhorn 2002, S. 50).<br />

Mit <strong>der</strong> Produktion des Gegenstandes »Jugend« und in <strong>der</strong><br />

Folge »Jugend als problematische Lebensphase« gehen bis zum<br />

heutigen Tage negative Konnotationen einher, die einen grundsätzlichen<br />

Zusammenhang von Jugend mit Phänomenen wie<br />

Gefährlichkeit, Gefährdung, Abweichung unterstellen, die<br />

wie<strong>der</strong>um präventives o<strong>der</strong> reaktives, regelmäßig jedoch (sozial)pädagogisches<br />

Eingreifen zu erfor<strong>der</strong>n und zu legitimieren<br />

scheinen. Dieser, seit Jahrzehnten reproduzierte negative<br />

Konnex von »Jugend als Problem« liegt – darauf weist Hartmut<br />

Griese hin – nicht zuletzt darin begründet, »dass <strong>der</strong><br />

Mainstream <strong>der</strong> Jugendforschung seit ihren Anfängen bis in<br />

unsere Gegenwart hinein die Beschreibung und Erklärung ihres<br />

Gegenstandes (Jugend) primär in den Kategorien von (biologischen,<br />

entwicklungspsychologischen, sozialisatorischen …)<br />

Defiziten und Störungen konzipiert hat und damit im wesentlichen<br />

Problemforschung geblieben ist« (Griese 1999, S. 463).<br />

Mit <strong>der</strong> diskursiven Produktion des Gegenstandes Jugend wird<br />

eine kategoriale Differenz zwischen Jugendlichen und<br />

Erwachsenen konstituiert; und die Etablierung dieser Differenz,<br />

bzw. des Wissens um diese Differenz, bietet die Legitimation,<br />

Jugend als soziale Gruppe zum Gegenstand ordnungs- und<br />

sozialpolitischen Bemühens sowie insbeson<strong>der</strong>e sozialpädagogischer<br />

Intervention und Kontrolle zu machen. Sämtliche politischen<br />

und (sozial)pädagogischen Anstrengungen und<br />

Maßnahmen finden ihre Rechtfertigung in <strong>der</strong> Anpassung<br />

Jugendlicher an die normativen Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />

Erwachsenenrolle und die Integration <strong>der</strong> Jugend in die<br />

Gesellschaft (Sozialintegration). Der Jugenddiskurs ist seit


30<br />

Auftrag und Mandat<br />

jeher ein Diskurs über Moral und Abweichung. Die in Politik,<br />

Medien, Öffentlichkeit immer wie<strong>der</strong> kehrenden Debatten über<br />

gefährliche und gefährdete Jugendliche greifen auf solche<br />

historisch-kulturell und gesellschaftlich verankerten Vorstellungen<br />

von Jugend zurück. Die in den Diskursen generierten<br />

Deutungen dienen als kollektive Erklärung für soziale<br />

Phänomene bzw. Probleme und werden von den Akteuren zur<br />

Herstellung von Sinn und Begründung ihrer Handlungen subjektiv<br />

aufgegriffen und reproduziert (vgl. Althoff 2002;<br />

Bettinger 2002; Anhorn/Bettinger 2002).<br />

Damit soll vereinzelt erlebbares, häufig aber doch nur rhetorisches<br />

sozialpädagogisches Bemühen um eine emanzipatorische,<br />

an den Bedürfnissen <strong>der</strong> Subjekte ansetzende Jugendarbeit<br />

nicht geleugnet werden. Allerdings »(ist) die Ambivalenz<br />

zwischen den Autonomie-, Selbstvertretungs- und Partizipationsansprüchen<br />

von Heranwachsenden und dem gesellschaftlichen<br />

Auftrag <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit, die soziale<br />

Integration <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen zu för<strong>der</strong>n und im<br />

Konfliktfall auch mit massiven Interventionen einzuklagen, im<br />

Kern auch heute noch aktuell« (Thole, 2000, 32), zumal<br />

Studierende und PraktikerInnen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> sich nach<br />

wie vor an altruistischen und technologischen Konzepten und<br />

Methoden orientieren, und versuchen so den gesellschaftlichen<br />

Erwartungen, die an die Soziale <strong>Arbeit</strong> in Form von Aufgaben<br />

und Aufträgen herangetragen werden, gerecht zu werden;<br />

Erwartungen bezüglich <strong>der</strong> Identifizierung und in <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong><br />

Bewältigung «sozialer Probleme«. Das Interesse gilt regelmäßig<br />

<strong>der</strong> Bewältigung einer konkreten, bearbeitbaren Praxis,<br />

unter Bezugnahme auf alltagstheoretisches Wissen und<br />

Erfahrungen, unter Ausschluss wissenschaftlicher Wissensbestände.


Auftrag und Mandat 31<br />

Beschränkungen traditioneller Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />

Die hier zum Ausdruck kommende fehlende fachliche<br />

Autonomie resultiert ohne Zweifel auch aus dem Eingebundensein<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> in rechtliche und bürokratische<br />

Entscheidungs- und Handlungszusammenhänge. D.h. nach wie<br />

vor dominieren und strukturieren rechtliche, gesellschaftliche,<br />

politische, ökonomische Vorgaben und Funktionszuweisungen<br />

die Praxis <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>; an<strong>der</strong>erseits nehmen sozialpädagogische<br />

PraktikerInnen nahezu ausschließlich das Wissen<br />

bzw. die Wahrheiten zur Kenntnis und somit zur Grundlage<br />

ihres Handelns, die mit den tradierten Evidenzen und vor allem<br />

den Erwartungen politischer EntscheidungsträgerInnen und<br />

GeldgeberInnen kompatibel erscheinen. – Solchermaßen<br />

»funktioniert« Soziale <strong>Arbeit</strong> also, orientiert an einer Ordnung<br />

des <strong>Sozialen</strong>, <strong>der</strong> sie sich in gleichem Maße unterwirft, wie sie<br />

jene als objektiv gegeben voraussetzt. Eine solche, von uns als<br />

»traditionelle« (vgl. Anhorn/Bettinger 2005; Anhorn/Bettinger/<br />

Stehr 2008) bezeichnete Soziale <strong>Arbeit</strong> funktioniert somit im<br />

Kontext neoliberaler, ordnungspolitischer Rahmungen,<br />

• weil sie sich in den Beschränkungen eines objektivistischen<br />

Wissenschaftsverständnisses eingenistet hat,<br />

• weil sie ihren Gegenstand nicht selbst bestimmt, son<strong>der</strong>n<br />

• theorielos, offizielle Definitionen «sozialer Probleme« zu<br />

bearbeiten sucht und<br />

• sich fremde Kategorien und Begrifflichkeiten zu Eigen<br />

macht, ferner<br />

• weil sie in Prozesse <strong>der</strong> Kriminalisierung und Stigmatisierung<br />

involviert ist,<br />

• weil sie strukturelle Faktoren in individuelle Defizite und<br />

Schwächen transformiert und diese individualisierend zu<br />

kompensieren sucht sowie<br />

• eigene Formen <strong>der</strong> sozialen Ausschließung erzeugt und<br />

reproduziert und


32<br />

Auftrag und Mandat<br />

• weil sie – trotz aller Partizipations-Rhetorik – ihren<br />

AdressatInnen regelmäßig lediglich einen Objektstatus<br />

zugesteht.<br />

Die im »doppelten Mandat« zum Ausdruck kommende<br />

Asymmetrie durch das Eingebundensein in rechtliche und<br />

bürokratische Kontexte sowie den daraus resultierenden<br />

Aufträgen einerseits, dem fachlichen Selbstverständnis an<strong>der</strong>erseits,<br />

scheint zunächst nicht auflösbar, denn »jede<br />

Profession ist in den staatlichen Macht- und Herrschaftsapparat<br />

und sein hoheitsstaatliches Verwaltungshandeln in<br />

erheblichem Umfang einbezogen. Sie vollzieht selbst Verwaltungshandlungen<br />

im Auftrag des Staates (…), muss sich an<br />

den Vorgaben <strong>der</strong> staatlichen Verwaltung abarbeiten (…) [und]<br />

ist über ihre staatlichen Auftragshandlungen auch in die globale<br />

Kontrollfunktion, die globale Selektionsfunktion, die globale<br />

Sanktionsfunktion und die globale Ausgrenzungsfunktion<br />

staatlichen Handelns eingebunden« (Schütze, 1997, 243).<br />

Möglichkeitsräume selbstbestimmten Handelns<br />

Und dennoch gibt es Möglichkeiten, die Dominanz staatlicher<br />

und rechtlicher Vorgaben zurück zu drängen und die Anteile<br />

selbst bestimmten Handelns zu erweitern. So gilt es zunächst<br />

zu klären, »über welche Möglichkeitsräume professionellen<br />

Handelns Sozialarbeiter und Sozialpädagogen in den unterschiedlichen<br />

<strong>Arbeit</strong>sfel<strong>der</strong>n und Organisationsstrukturen<br />

sowie in jeweiligen lokalen Kontexten trotz hoheitsstaatlicher<br />

Kontroll- und Sanktionsvorgaben verfügen, sowie ob und ggf.<br />

wie diese von Professionellen auch tatsächlich genutzt werden«<br />

(Scherr, 2006, 142). Dass diese Möglichkeitsräume von<br />

<strong>Arbeit</strong>sfeld zu <strong>Arbeit</strong>sfeld nicht unerheblich variieren ist evident.<br />

Optionen selbstbestimmten Handelns sind in stark reglementierten<br />

Bereichen wie <strong>der</strong> Jugendgerichtshilfe, <strong>der</strong>


Auftrag und Mandat 33<br />

Sozialarbeit im Strafvollzug o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Psychiatrie reduzierter,<br />

als in wenig reglementierten Bereichen, wie <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>und<br />

Jugendarbeit. Dennoch lassen sich grundsätzlich und in<br />

jedem Bereich Möglichkeitsräume erweitern: »Sozialarbeiterinnen<br />

würden den Zugzwängen und dem vielfältigen<br />

Druck des hoheitsstaatlichen Verwaltungs- und Herrschaftsapparates<br />

weniger schutzlos ausgeliefert sein, wenn sie ihre<br />

unabweislichen hoheitsstaatlichen Verwaltungs- und Herrschaftsaufgaben<br />

aktiv und beherzt, mit Augenmaß, staatskritisch,<br />

organisationskritisch und selbstkritisch angehen und<br />

gestalten würden« (Schütze, 1997, 247). Hierzu bedarf es<br />

allerdings eines Bezugssystems, einer wissenschaftlichen<br />

Theorie als Basis <strong>der</strong> Reflexion, <strong>der</strong> Kritik und des selbstbestimmten<br />

Handelns. Solche wissenschaftlichen Bezugssysteme,<br />

die insbeson<strong>der</strong>e die gesellschaftlichen und strukturellen<br />

Bedingungen sozialarbeiterischer und sozialpädagogischer<br />

Praxis reflektieren, liegen für die Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit<br />

seit den 1960er Jahren vor; allerdings ohne Chance Einlass in<br />

die Praxen traditioneller Sozialer <strong>Arbeit</strong> gewährt zu bekommen.(vgl.<br />

zur Theorieresistenz sozialpädagogischer PraktikerInnen<br />

Ackermann/Seeck (2000) und Thole/Küster-Schapfl<br />

(1997).Gerade in formell weniger reglementierten <strong>Arbeit</strong>sfel<strong>der</strong>n<br />

wie <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit provoziert die regelmäßig<br />

zu konstatierende Theorie- aber auch Konzeptionslosigkeit<br />

und in <strong>der</strong> Folge die Bereitschaft zu vorauseilendem<br />

Gehorsam bezüglich <strong>der</strong> Bearbeitung »sozialer Probleme«<br />

bzw. <strong>der</strong> sozialpädagogischen Beglückung von »Problem-<br />

Jugendlichen«, Fassungslosigkeit; insbeson<strong>der</strong>e auch dann,<br />

wenn zumindest die Möglichkeitsräume, die <strong>der</strong> (sozial-<br />

)rechtliche Rahmen offeriert zur fachlichen Ausgestaltung<br />

sozialpädagogischer Praxis nicht genutzt werden. Zwar sind<br />

Normen und Gesetze grundsätzlich zu reflektieren und zu kritisieren<br />

und nicht vorbehaltlos zur Grundlage eigenen<br />

Handelns zu machen; an<strong>der</strong>erseits ist immer wie<strong>der</strong> daran zu<br />

erinnern, dass Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe – und somit auch


34<br />

Auftrag und Mandat<br />

Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit – dazu beizutragen haben,<br />

Benachteiligungen zu vermeiden o<strong>der</strong> abzubauen sowie positive<br />

Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre<br />

Familien sowie eine kin<strong>der</strong>- und familienfreundliche Umwelt<br />

zu erhalten o<strong>der</strong> zu schaffen (§ 1 Abs. 3 SGB VIII). Hier wird<br />

Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe explizit dazu aufgefor<strong>der</strong>t, sich aktiv<br />

an <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> Lebensbedingungen junger Menschen –<br />

also offensiv (als Querschnittspolitik) – zu beteiligen. Trotz<br />

immer wie<strong>der</strong> artikulierter Bedenken gibt es sehr wohl<br />

Ansatzpunkte <strong>der</strong> Bearbeitung gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen,<br />

gibt es Möglichkeiten auch im Rahmen von<br />

Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit, am Ziel, Benachteiligungen zu vermeiden<br />

o<strong>der</strong> abzubauen und positive Lebensbedingungen für<br />

junge Menschen und ihre Familien sowie eine kin<strong>der</strong>- und<br />

familienfreundliche Umwelt zu erhalten o<strong>der</strong> zu schaffen, festzuhalten.<br />

So kann Soziale <strong>Arbeit</strong> zumindest partiell auf die<br />

sozialen, kulturellen und individuellen Bedingungen <strong>der</strong><br />

Möglichkeiten und Fähigkeiten ihrer Adressaten Einfluss nehmen<br />

(Otto/Ziegler 2005) und sich als (sozial-)politische<br />

Akteurin in <strong>der</strong> Arena des Staates verstehen und dabei politisch<br />

werden (Schaarschuch 1999). Letztlich – und dies kann<br />

als bedeuten<strong>der</strong>, wenn auch mittelbarer Ansatzpunkt sozialpädagogischer<br />

Praxis verstanden werden – ist die Frage zu stellen,<br />

so Heinz Sünker, nach den Bedingungen <strong>der</strong> Möglichkeit<br />

von sozialen und kollektiven Lernprozessen zum Zwecke <strong>der</strong><br />

Verän<strong>der</strong>ung gesellschaftlicher Verhältnisse und <strong>der</strong> Beför<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Selbsttätigkeit <strong>der</strong> Subjekte. Grundsätzlich ist<br />

eine Soziale <strong>Arbeit</strong> gefor<strong>der</strong>t, »die sich in Theorie, Praxis und<br />

analytischer Kompetenz ihrer gesellschaftstheoretischen und<br />

ihrer gesellschaftspolitischen Kontexte wie ihrer professionellen<br />

Perspektiven bewusst ist, um substantielle gesellschaftliche<br />

Verän<strong>der</strong>ungsprozesse erneut zu ihrem Thema zu machen«<br />

(Sünker 2000, S. 217), und zwar gerade in Anbetracht eines<br />

tief greifenden Strukturwandels, neoliberaler Zumutungen,<br />

systematischer Reproduktion von Ungleichheit, sich verschär-


Auftrag und Mandat 35<br />

fen<strong>der</strong> Ausgrenzungsverhältnisse, Subjektivierungspraxen in<br />

Bildungsinstitutionen, die sich als solche <strong>der</strong> Untertanenproduktion<br />

bezeichnen lassen.<br />

Perspektiven kritischer Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />

Was aber sind die Bedingungen einer autonomeren, einer<br />

selbstbestimmteren und politischen Praxis Sozialer <strong>Arbeit</strong>, die<br />

bemüht ist, sich von den Funktions- und Auftragszuschreibungen<br />

durch Staat, Recht, Politik und Kapital zu emanzipieren?<br />

Wir haben – in Distanzierung von <strong>der</strong> Praxis traditioneller<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> – einige Bausteine einer Theorie und<br />

Praxis kritischer Sozialer <strong>Arbeit</strong> benannt, die einer reflexiven,<br />

selbstbestimmteren Praxis Sozialer <strong>Arbeit</strong> den Weg ebnen<br />

könnten. In Anlehnung an unsere Überlegungen zeichnet sich<br />

eine kritische Soziale <strong>Arbeit</strong> dadurch aus, dass sie ihren<br />

Gegenstand eigenständig benennt und sich auf diesen im<br />

Kontext <strong>der</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> sozialpädagogischen Praxis<br />

auch tatsächlich bezieht. Gegenstand Sozialer <strong>Arbeit</strong> sind u.E.<br />

Prozesse und Auswirkungen sozialer Ausschließung. Bezug<br />

nehmend auf diesen Gegenstand können als Aufgaben Sozialer<br />

<strong>Arbeit</strong> u.a. benannt werden die Realisierung gesellschaftlicher<br />

Teilhabe und Chancengleichheit sowie die Ermöglichung sozialer,<br />

ökonomischer, kultureller und politischer Partizipation<br />

(vgl. Anhorn/Bettinger 2005 und Anhorn/Bettinger/Stehr<br />

2008). Darüber hinaus und Bezug nehmend auf ihren Gegenstand<br />

zeichnet sich eine kritische Soziale <strong>Arbeit</strong> dadurch aus,<br />

• dass sie in einer kritisch-reflexiven Grundhaltung über<br />

strukturelle Zusammenhänge und Folgen – bezogen beispielsweise<br />

auf soziale Ungleichheit o<strong>der</strong> Prozesse <strong>der</strong><br />

sozialen Ausschließung – aufklärt und auf das eigene<br />

Selbstverständnis und die angetragenen Erwartungen von<br />

Politik und Gesellschaft bezieht;


36<br />

Auftrag und Mandat<br />

• dass sie die Verfestigung und Legitimation von sozialer<br />

Ungleichheit (auch durch Kriminalisierungen und an<strong>der</strong>e<br />

personalisierende Negativzuschreibungen) deutlich macht<br />

und damit gesellschaftliche Interessenkonflikte und<br />

Machtunterschiede – nicht zuletzt bezogen auf die<br />

Kategorie Geschlecht – aufdeckt;<br />

• dass sie sich nicht als Lösung o<strong>der</strong> Bearbeitung von<br />

Devianz, Kriminalität, Gewalt o<strong>der</strong> sonstigen »sozialen<br />

Problemen« anbietet,<br />

• sie zeichnet sich ferner dadurch aus, dass sie sich von den<br />

Zumutungen ordnungspolitischer Problemlösungen distanziert<br />

und sich über die Thematisierung und politisierende<br />

Bearbeitung von sozialer Ungleichheit, sozialem<br />

Ausschluss, Unterdrückung und Diskriminierung zu<br />

begründen versucht;<br />

• sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Macht- und<br />

Herrschaftsstrukturen (entlang <strong>der</strong> Trennlinie von Klasse,<br />

Geschlecht, Rasse, Ethnizität und Alter) analysiert und<br />

kritisiert;<br />

• sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Diskurse als herrschaftslegitimierende<br />

Techniken <strong>der</strong> Wirklichkeitsproduktion<br />

und somit von gesellschaftlichen Ordnungen in<br />

<strong>der</strong> bürgerlich-kapitalistischen mo<strong>der</strong>nen Industriegesellschaft<br />

erkennt und diese analysiert,<br />

• und letztlich zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie –<br />

orientiert an den Prinzipien <strong>der</strong> Aufklärung und<br />

Emanzipation – Bildungsprozesse in Richtung auf eine<br />

selbstbewusstere und selbstbestimmtere Lebenspraxis,<br />

letztlich in Richtung <strong>der</strong> (politischen) Mündigkeit <strong>der</strong><br />

Subjekte ermöglicht.


Auftrag und Mandat 37<br />

Literatur<br />

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zwischen Studium und Beruf. Wissen und Können in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

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<strong>Arbeit</strong>. Impulse für professionelles Selbstverständnis und kritischreflexive<br />

Handlungskompetenz, Weinheim und München<br />

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Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer<br />

<strong>Arbeit</strong>, Wiesbaden<br />

Anhorn, R./Bettinger, F./Stehr, J: (2007): Foucaults Machtanalytik und<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong>. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme,<br />

Wiesbaden<br />

Anhorn, R./Bettinger, F./Stehr, J. (2008): Sozialer Ausschluss und Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong>. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis<br />

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Gängler, H. (2001): Hilfe, in: Otto, H.-U./Thiersch, H., Handbuch<br />

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38<br />

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<strong>Arbeit</strong> bis zum 20. Jahrhun<strong>der</strong>t, in: Thole, W., Grundriss Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong>, S. 637-646, Opladen<br />

Merten, R./Olk, Th. (1999): Soziale Dienstleistungsberufe und Professionalisierung,<br />

in: Albrecht, A/ Groenemeyer, A. u.a., Handbuch Soziale<br />

Probleme, S. 955-982, Opladen und Wiesbaden<br />

Münchmeier, R. (2001): Jugend. in: Otto, H.-U./Thiersch, H., Handbuch<br />

Sozialarbeit/Sozialpädagogik, S. 816-830, Neuwied<br />

Peukert, J.K.//Münchmeier, R. (1990): Historische Entwicklungsstrukturen<br />

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München<br />

Scherr, A. (2006): Soziale <strong>Arbeit</strong> und die Ambivalenz sozialer<br />

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gestalten, 135-148, Wiesbaden<br />

Schütze, F. (1997): Organisationszwänge und hoheitsstaatliche<br />

Rahmenbedingungen im Sozialwesen: Ihre Auswirkung auf die<br />

Paradoxien des professionellen Handelns, in: Vombe, A./Helsper, W,<br />

Pädagogische Professionalität, S. 183-275, Frankfurt am Main<br />

Sünker, Heinz (2000): Gesellschaftliche Perspektiven Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />

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<strong>Arbeit</strong>. Gesellschaftliche Bedingungen und professionelle Perspektiven,<br />

S. 209-225, Neuwied und Kriftel<br />

Thole, W./Küster-Schapfl, E.-U. (1997): Sozialpädagogische Profis.


Auftrag und Mandat 39<br />

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Thole, W. (2000): Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit. Eine Einführung,<br />

Weinheim und München<br />

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Ausschluss. Die analytische Ordnung neo-sozialer Integrationsrationalitäten<br />

in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, in: Anhorn, R./Bettinger,<br />

F./Stehr, J., Soziale <strong>Arbeit</strong> und Sozialer Ausschluss, S. 115-145,<br />

Wiesbaden


Biografie und Lebenswelt<br />

Möglichkeiten und Grenzen <strong>der</strong> Biografie- und<br />

Lebensweltorientierung in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Rudolf Egger<br />

»Und mache ihn wie<strong>der</strong> / normal / damit er / zu dieser / Welt passt«<br />

Wie elend dieser Auftrag ist / das hängt davon ab / wie blutig<br />

die Welt ist /und wie menschenfeindlich /die Norm<br />

Denn keiner soll passen / zu dieser Welt /<br />

wie das Brennholz / zur Flamme<br />

Son<strong>der</strong>n nur / wie <strong>der</strong> / <strong>der</strong> ihn löscht / zum Brand.<br />

(Erich Fried: Heilungsvollzug)<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> zwischen Normalisierung<br />

und Emanzipation<br />

Eine Beschreibung <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen gesellschaftlichen Vorgänge<br />

könnte an zwei Stichworten festgemacht werden: Beschleunigung<br />

und Entgrenzung. Wo und wie Menschen leben, war<br />

noch nie etwas Statisches, aber die heutigen verschärften sozialen,<br />

kulturellen o<strong>der</strong> religiösen Än<strong>der</strong>ungsimpulse haben vieles<br />

davon, was uns Orientierung zu geben vermag, gleichzeitig<br />

erfasst: Menschen und ihre Beziehungen, Waren und ihre<br />

Distributionsmöglichkeiten, Dienstleistungen und ihre sozialen<br />

Bezüge, Grundbedürfnisse und ihre Absicherungen. Alle diese<br />

Umgestaltungen in <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>swelt, <strong>der</strong> Familie, den Institutionen<br />

und auch in den kulturellen Leitbil<strong>der</strong>n und den sozialen<br />

Bezugsgrößen erzeugen dabei permanent neue Zonen <strong>der</strong><br />

In- und Exklusion. Immer mehr Menschen kämpfen hier<br />

darum, sich in diesen großflächigen Prozessen <strong>der</strong> Entbettung<br />

(vgl. Giddens 1995) eine würdige Lebensgeschichte zu erschaf-


Biografie und Lebenswelt 41<br />

fen, die ihnen in ihrem Streben Orientierung und Sinn geben<br />

kann. Von diesen Prozessen <strong>der</strong> hier unablässig zu verhandelnden<br />

Teilhabe und des Ausschlusses von Individuen wird auch<br />

das Bezugssystem <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> stark beeinflusst. Dies<br />

betrifft dabei sowohl die konkreten Tätigkeiten, als auch den<br />

gesellschaftlich-normativen Bezugsrahmen <strong>der</strong> »Wie<strong>der</strong>-<br />

Herstellung von Normalität« durch die Sozialarbeit. Abseits <strong>der</strong><br />

privaten, lebensweltlichen Unterstützungsformen <strong>der</strong> Familienverbände<br />

und Formen <strong>der</strong> informellen Solidarität haben sich in<br />

den letzten Jahrzehnten diesbezüglich die wohlfahrtsstaatlichen<br />

Interventionen in allen Ebenen unseres Lebens drastisch<br />

erweitert. Der Zunahme <strong>der</strong> »Phänomene <strong>der</strong> Rätselhaftigkeit<br />

und Verschlossenheit <strong>der</strong> Lebensrealität« (Schütze 1994, S.<br />

193) sollte vor allem die Soziale <strong>Arbeit</strong> mit ihren lebensnahen<br />

Interventionen entgegenwirken. Eine gesellschaftlich verantwortungsvolle<br />

und emanzipatorisch ausgerichtete Sozialarbeit<br />

sollte hier vor allem auch durch eine biografie- und lebensweltorientierte<br />

Zuwendung zum prekären Subjekt etabliert werden.<br />

Disziplingeschichtlich ist die Nähe <strong>der</strong> Fel<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> zu biografischen und lebensweltlichen Ansätzen groß.<br />

Die <strong>Arbeit</strong> an »Fällen«, anhand <strong>der</strong>er die Bedingungsstrukturen<br />

von Lebenswelten und KlientInnen analysiert und mit<br />

Interventionsmöglichkeiten verbunden werden können, sind<br />

kein neues Phänomen. In <strong>der</strong> Sozialarbeit wurde schon sehr<br />

früh mit (auto-)biografischem, lebensweltbezogenem Material<br />

gearbeitet. Die Erstellung von Fallbeschreibungen gehört solcherart<br />

zum unabdingbaren Repertoire dieser Zunft. Die<br />

Versuche, <strong>der</strong> fallorientierten <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> eine wissenschaftliche<br />

Orientierung und Fundierung zu geben, setzten in<br />

den 30er Jahren des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts an (vgl. Müller 1993). In<br />

<strong>der</strong> psychoanalytischen Sozialpädagogik wurde z. B. die<br />

Aufmerksamkeit schon recht zeitig auf die biografischen<br />

Dimensionen von Erziehungsprozessen gelenkt und machte so<br />

auch versteckte und unbewusste Faktoren des Erziehungsgeschehens<br />

zum erforschbaren und handlungsunterstützenden


42<br />

Biografie und Lebenswelt<br />

Bestandteil <strong>der</strong> sozialarbeiterischen Wirklichkeit (vgl. dazu u.<br />

a. Körner/Ludwig-Körner 1997, Rauchfleisch 1996). Wichtige<br />

Impulse gingen auch von <strong>der</strong> Chicago School of Sociology aus<br />

(vgl. Bulmer 1984), indem sie den Fokus auf krisenhafte und<br />

verinstitutionalisierte Lebensläufe richtete. Die daraus sich bis<br />

heute entwickelnden Ansätze eröffnen diesbezüglich ein breites<br />

Feld an Zugängen. Einmal geht es vorwiegend um biographische<br />

Fallanalysen (vgl. Schütze 1993) o<strong>der</strong> um Fallrekonstruktion<br />

(vgl. Kraimer 2000), bzw. um eine vorwiegend sozialpädagogische<br />

(vgl. Uhlendorf 1997) o<strong>der</strong> eine biografische<br />

Diagnostik (vgl. Hanses 2004). Darüber hinaus sind auch ethnographische<br />

Aspekte (vgl. Schütze 1994) in <strong>der</strong> sozialarbeiterischen<br />

Praxis von Interesse. Der zentrale gemeinsame Nenner<br />

liegt dabei in einem stark adressatenorientierten und rekonstruktiven<br />

konzeptionellen Umgang mit den jeweiligen Fällen<br />

in <strong>der</strong> Praxis. In den hier entwickelten Konzeptionen zur<br />

Analyse von biografisch erhobenen krisenhaften Phänomenen<br />

von Personen und Gruppen sollte die Dynamik zwischen sozialer<br />

Umwelt und individueller Entwicklung besser nachvollziehbar<br />

gemacht werden. Grundlegend für die Analyse des<br />

»<strong>Sozialen</strong>« sind dabei die Fragen, welche Interpretationsleistungen<br />

Subjekte zur Herstellung ihrer Welt erbringen müssen.<br />

Dazu wird vor allem an <strong>der</strong> Alltagswelt <strong>der</strong> Betroffenen<br />

angesetzt, denn dieses Handeln ist zentral für die Herstellung<br />

von Sinn und Bedeutung. Menschen verleihen ihren<br />

Wahrnehmungen in Prozessen <strong>der</strong> immer schon ablaufenden<br />

Interpretation und Selektion die für sie relevante Bedeutung.<br />

Neben die Kategorien Ursache und Wirkung wird dabei <strong>der</strong><br />

Begriff Sinnhaftigkeit für das Verständnis von sozialem<br />

Handeln wesentlich. Die Intention dabei ist, gesellschaftliche<br />

Tatsachen über die Bedeutungszuschreibung und die Wirklichkeitskonzeption<br />

<strong>der</strong> Handelnden zu erschließen.<br />

Viele dieser Versuche blieben aber entwe<strong>der</strong> zu stark an einer<br />

Idee <strong>der</strong> »Kunstlehre« zur richtigen Auslegung von Fällen<br />

orientiert, o<strong>der</strong> fußten auf einer zu expertokratischen Per-


Biografie und Lebenswelt 43<br />

spektive innerhalb eines zu kontrollierenden Interaktionsverhältnisses.<br />

Mit <strong>der</strong> in den 70er Jahren verstärkt einsetzenden<br />

biografietheoretischen und -praktischen Perspektive wurden<br />

diese Prozesse <strong>der</strong> Subjektbildung und des Mitgliedwerdens in<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft wie<strong>der</strong> an eine emanzipatorische<br />

Interessenslage angebunden (vgl. Egger 1995). Grundlegende<br />

Aspekte <strong>der</strong> Aneignung und <strong>der</strong> Konstruktion, <strong>der</strong> Temporalität,<br />

<strong>der</strong> (Selbst-)Reflexivität und Strukturbildung sollten<br />

hier sowohl für die Sozialarbeitswissenschaft als auch für <strong>der</strong>en<br />

Praxis systematisch Berücksichtigung finden. In diesem Sinne<br />

wurde die lebensweltorientierte Soziale <strong>Arbeit</strong> von <strong>der</strong><br />

»Tübinger Schule« um Hans Thiersch entwickelt. Durch die<br />

Hinwendung zu den konkreten Lebensverhältnissen und den<br />

alltägliche Erfahrungen <strong>der</strong> Menschen sollte hier disziplinkritisch<br />

zu <strong>der</strong> fortwährenden Spezialisierung <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

und <strong>der</strong> Arroganz <strong>der</strong> »Expertokratie« ein Gegengewicht aufgebaut<br />

werden (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, S. 14). Vor dem<br />

Hintergrund gesellschaftlicher Tendenzen <strong>der</strong> Individualisierung<br />

und Pluralisierung von Lebenslagen und <strong>der</strong> zunehmenden<br />

Erosion bestehen<strong>der</strong> Lebensstrukturen wurde dabei<br />

eine neue gesellschaftspolitisch anspruchsvolle Perspektive<br />

entwickelt, die den Klientels <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zu einem<br />

»gelingen<strong>der</strong>en Alltag« (ebd., S 23) verhelfen sollte.<br />

Der entscheidende Ausgangspunkt all dieser Bestrebungen<br />

einer alltagsorientierten <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ist dabei die<br />

Rekonstruktion <strong>der</strong> Lebenswelt, <strong>der</strong>en Routinen und Typisierungen,<br />

die den Alltag als feines Gewebe durchziehen, und<br />

die es Menschen ermöglicht, die eigenen Lebensverhältnisse zu<br />

bewältigen. Dabei soll <strong>der</strong> normative Aspekt erst einmal ausgeklammert<br />

werden, denn auch abweichendes Verhalten hat hier<br />

seine erfahrbare Wirklichkeit, indem es z. B. als Versuch<br />

bewertet wird, mit den konkreten Lebensverhältnissen zurecht<br />

zu kommen. Dieser Nachvollzug <strong>der</strong> Bewältigungsleistungen<br />

im Alltag wird innerhalb von drei großen Phasen mit dem<br />

Helfersystem verknüpft. Ausgehend von <strong>der</strong> Situationsanalyse


44<br />

Biografie und Lebenswelt<br />

und einer darauf aufbauenden Diagnose wird ein Lösungsentwurf<br />

mit den AdressatInnen erarbeitet und dessen schrittweise<br />

Realisierung und Überprüfung eingeleitet. Die hier<br />

lebensnah und biografisch sensibel entwickelten Erkenntnisse<br />

und die daraus abgeleiteten Handlungsschritte haben in diesem<br />

Konzept auch auf die Selbstinterpretation und die daraus resultierenden<br />

Deutungs- und Handlungskonsequenzen <strong>der</strong> Betroffenen<br />

große Auswirkung. Da hier nichts »von außen darübergestülpt«<br />

wird, soll Soziale <strong>Arbeit</strong> demnach als Hilfe zur<br />

Selbsthilfe, als Empowerment-Strategie, wirken. Das Helfersystem<br />

beschränkt sich darauf, vor allem auf die Strukturen und<br />

Dimensionen <strong>der</strong> Zeit (die Bedeutung <strong>der</strong> Gegenwart im<br />

»Horizont <strong>der</strong> offenen, immer riskanten Zukunft«), des Raumes<br />

(die Lebensverhältnisse <strong>der</strong> AdressatInnen) und <strong>der</strong> sozialen<br />

Bezüge (dem Aufbau von verlässlichen und belastbaren<br />

Beziehungen) zu achten (vgl. ebd., S. 28 – 36).<br />

So ansprechend und wichtig die Ideen <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong> mit lebensnahen<br />

Geschichten von KlientInnen im Sinne partizipieren<strong>der</strong><br />

und »empowerter« Konzepte auch sind, so voraussetzungsreich<br />

sind sie aber in <strong>der</strong> konkreten <strong>Arbeit</strong>. Bei vielen Ausführungen<br />

zu einer solchen Biografie- und Lebensweltorientierung hat es<br />

den Anschein, dass die Sozialarbeit durch ihre vor<strong>der</strong>gründige<br />

»Interventionsaskese« einen »beson<strong>der</strong>en« Bezug zur konkreten<br />

Alltagswelt <strong>der</strong> Betroffenen per se hat, und dass sich<br />

Probleme, sofern sie nur lebensnah »angepackt« werden, schon<br />

»lösen« lassen. Dass dies ein Wunschbild ist, und dass auch die<br />

konsequenteste Hinwendung zur Lebenswelt z. B. die Härten<br />

<strong>der</strong> freien Marktwirtschaft und <strong>der</strong> Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft<br />

keineswegs außer Kraft setzen kann, ist evident.<br />

Es ist danach zu fragen, wie die hier Tätigen sich jenes<br />

idiographische Wissen über die Lebenswelt ihrer KlientInnen<br />

aneignen können, das sie in die Lage versetzt, ihrer Aufgabe <strong>der</strong><br />

Stabilisierung und Integration nachzukommen, und welche spezifischen<br />

Risiken hier auftreten. Es muss auch darüber diskutiert<br />

werden, welche Bedingungen in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> gege-


Biografie und Lebenswelt 45<br />

ben sein müssen, damit die biographische Hinwendung zum<br />

Subjekt nicht dazu führt, dass die gesellschaftliche Relevanz in<br />

einer rein lebensweltorientierten Individualhilfe aufgeht. Die<br />

Fragen die es dabei zu stellen gilt sind: Wie gehen<br />

SozialarbeiterInnen mit lebensnahem, »biographischem<br />

Material« um, wie fließt dieses in die alltägliche <strong>Arbeit</strong> ein,<br />

bzw., welche »Verwendungskompetenzen« sind hier daran<br />

gebunden? Was geschieht bei <strong>der</strong> Entwicklung lebensgeschichtlich<br />

relevanter Perspektiven und Handlungsoptionen in<br />

<strong>der</strong> Sozialarbeit? Wie werden die hier in den Interaktionsprozessen<br />

erschlossenen biographischen Wissensbestände und<br />

Sinnhorizonte an die institutionellen Angebote <strong>der</strong> Sozialarbeit<br />

angekoppelt? Wie und wodurch kann es zu einer Passung zwischen<br />

dem Bedarf, den Sinnhorizonten und den Erfahrungen<br />

<strong>der</strong> AkteurInnen und den Auffor<strong>der</strong>ungsstrukturen <strong>der</strong> Institutionen<br />

kommen, damit die KlientInnen überhaupt »ProduzentInnen<br />

personenbezogener Dienstleistungen« werden können?<br />

Wie begegnet man <strong>der</strong> Gefahr, dass sich »passgenaue<br />

Hilfsangebote« als Sparpaket entpuppen, und die Maxime <strong>der</strong><br />

»Alltagsnähe« zur Vermeidung aufwändiger sozialpolitischer<br />

Maßnahmen vorgeschoben wird? Und letztlich stellt sich die<br />

einleitend zitierte Frage von Erich Fried, wie »elend dieser<br />

Auftrag ist«, wenn die Integration nur als Anpassung an die<br />

herrschenden Normen zu sehen ist. Erst wenn diese<br />

Fragestellungen bearbeitet sind, wenn sichergestellt ist, wie die<br />

Aushandlung <strong>der</strong> Geschichten und die daraus folgenden<br />

Angebote biographisch angeeignet werden können, haben die<br />

AdressatInnen Sozialer <strong>Arbeit</strong> auch tatsächlich die Chance, zu<br />

NutzerInnen <strong>der</strong> professionellen Angebotsstrukturen (und dies<br />

nicht nur per Definition, son<strong>der</strong>n auch konkret in ihren<br />

Handlungen) zu werden.


46<br />

Biografie und Lebenswelt<br />

Lebensweltlich wirkende Ordnungsverfahren<br />

Es spricht vieles dafür, dass biografie- und lebensweltorientierte<br />

Ansätze wichtige Beiträge zu einer klientInnenzentrierten,<br />

milieusensiblen und ressourcenorientierten <strong>Arbeit</strong> betragen<br />

können. Dennoch bleibt hier zu klären, wie mit Hilfe von<br />

Biographen eine dem »Fall« zugrundeliegende »Logik« aufgespürt<br />

werden kann, die nicht nur eine strategische Rechtfertigungs-Erzählung<br />

(für Professionelle und AdressatInnen)<br />

ist. Es gilt weiters zu bedenken, welche Rolle die Kontextbedingungen<br />

dieser Prozesse bei <strong>der</strong> »Erhebung <strong>der</strong> tatsächlich<br />

erlebten Lebensgeschichte« spielen, und es bleibt abzuwägen,<br />

wie dabei mit dem gesellschaftlichen und institutionellen<br />

Auftrag <strong>der</strong> Sozialarbeit umgegangen wird? Gerade hier ist die<br />

Biografieorientierung in den <strong>Sozialen</strong> Berufen und den<br />

Sozialwissenschaften kritisch zu beleuchten, sollen nicht die<br />

Fehler <strong>der</strong> Ethnomethodologie des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts wie<strong>der</strong>holt<br />

werden. Auch damals wurde viel erwartet und noch mehr<br />

versprochen. Was dann allerdings bald sichtbar wurde, kann<br />

durchaus als ein subjektivistisches Desaster bezeichnet werden.<br />

Die situativen Kontextualisierungen konnten kaum durchgehalten<br />

werden, zu oft wurden die hier auftauchenden Leerstellen<br />

beinahe beliebig mit eigenen Überlegungen, Ideen, Thesen und<br />

fertigen Deutungen überdeckt, statt diese sorgfältig zu reflektieren<br />

und als Lernfel<strong>der</strong> in den Prozess zurückzuführen. Diese<br />

Gefahr besteht auch in den biografieorientierten Diskursen <strong>der</strong><br />

Sozialarbeit. Zu schnell werden auch hier unter dem Praxisdruck<br />

Interpretate verabsolutiert, ohne dass <strong>der</strong>en Zustandekommen<br />

und ihre Implikationen ausreichend berücksichtigt<br />

werden. Ausgehend von einem meist fiktiv angenommenen<br />

narrativen Bündnis zwischen den an <strong>der</strong> Biografie<br />

Interessierten und den BiografieträgerInnen, wird hier ein<br />

gemeinsames Interesse an und auch eine gemeinsame<br />

Gewissheit über die erlebte und nun zu erzählende Lebensgeschichte<br />

vorausgesetzt. In <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong> mit Biografien ist ein


Biografie und Lebenswelt 47<br />

solches narratives Bündnis aber keineswegs neutral zu denken,<br />

denn dabei finden permanent (bewusst und unbewusst)<br />

Prozesse des Aushandelns statt. Hier werden quasi andauernd<br />

(und von allen Beteiligten) das Programm und die Perspektiven<br />

verhandelt, die jene Form <strong>der</strong> Konsistenz <strong>der</strong> Geschichte<br />

sicherstellen müssen, die tragfähig für die weitere <strong>Arbeit</strong> sein<br />

sollen. Die hier »produzierten« Lebensgeschichten sind als solche<br />

nicht voraussetzungslos, denn jede im Erkundungs- o<strong>der</strong><br />

Interventionsprozess erzählte Lebensgeschichte repräsentiert<br />

auch die wirkungsvollen sozialen Prozesse und <strong>der</strong>en<br />

Entstehung. SozialarbeiterInnen und KlientInnen, Fragende<br />

und Befragte, produzieren hier gleichsam gemeinsam das, was<br />

als Biografie schließlich zur »Anwendung« kommt. In solchen,<br />

nach den sozialen Regeln des Alltags hergestellten Lebensgeschichten<br />

spielen natürlich auch Fragen von Macht und<br />

Hierarchie eine große Rolle. Der Großteil dieser Implikationen<br />

wird dabei aber (sowohl in den Interventions- und auch den<br />

Erkundungsstrategien) beiseite geschoben, um den festen<br />

Boden in <strong>der</strong> konkreten Handlungsabsicht nicht zu verlieren.<br />

Diese Geschichten sind dabei ein umstrittenes Terrain, da hierin<br />

die Wege und die Dimensionen <strong>der</strong> »inneren Landkarte« von<br />

Individuen (bzw. <strong>der</strong>en individuelle und gesellschaftliche<br />

Bedeutungszuschreibung <strong>der</strong> Realität) festgelegt werden. Der<br />

hier ausverhandelte Erfahrungs- und Erinnerungsraum bestimmt<br />

die Zuschreibungen von Relevanz, innerhalb <strong>der</strong>er einem<br />

Ereignis Bedeutung beigemessen wird. Auch hier zeigt sich wie<strong>der</strong>,<br />

dass in diesem Aushandlungs- und Strukturierungsprozess<br />

von Lebensgeschichten, unterschiedliche Macht- und Durchsetzungsmodi<br />

herrschen. Gerade Institutionen (wie z. B. die<br />

Sozialarbeit o<strong>der</strong> das Gericht) werden für die KlientInnen zu<br />

einem <strong>der</strong> wichtigsten Kontrollinstanzen <strong>der</strong> von ihnen gefor<strong>der</strong>ten<br />

Vergesellschaftung. Die hier eingebrachten und bearbeiteten<br />

Biografien sind deshalb immer im Referenzrahmen von<br />

institutionalisierten Interaktionserfahrungen, in denen spezifische<br />

Ordnungen und Rahmen wirken, zu verstehen.


48<br />

Biografie und Lebenswelt<br />

Bei den in <strong>der</strong> alltäglichen sozialarbeiterischen Praxis präsentierten<br />

Erzählungen und biographischen Details handelt es sich<br />

deshalb stets um Konstruktionsleistungen auf mehreren<br />

Ebenen. Einmal geht es um die Legitimation von als bedeutungsvoll<br />

erachteten Aspekten und <strong>der</strong>en Absicherung durch<br />

Erzählungen. Wie das relevante Geschehen hier erzählt, hergeleitet<br />

und abgesichert wird, gibt den Interventionen (sozialarbeiterisch,<br />

richterlich, etc.) ihre Perspektive. Manchmal genügt<br />

es, einen Fall nur an<strong>der</strong>s zu erzählen, das heißt, an<strong>der</strong>e<br />

Umstände heraus- und an<strong>der</strong>e Beziehungen herzustellen, o<strong>der</strong><br />

den Zeithorizont, also das Vorher und Nachher, enger o<strong>der</strong> weiter<br />

zu fassen, um die Erfahrung zu machen, dass »die Sache in<br />

einem neuen Licht« erscheint. Das bedeutet nicht, dass die<br />

Geschichte willkürlich erzählt werden könnte, um die<br />

gewünschte Entscheidung herbeizuführen, denn die hier<br />

zugrundeliegenden Normen sind ihrerseits wie<strong>der</strong>um in<br />

Erzählungen eingebettet. Nicht jede Erzählung passt demnach<br />

gleichermaßen gut zu einer zugrundeliegenden Norm.<br />

Erzählungen besitzen zudem selbst eine innere Struktur, die den<br />

Variationsspielraum des Erzählbaren einschränkt (vgl. Egger<br />

1995). Schließlich erregt eine Geschichte nur dann Aufmerksamkeit,<br />

wenn sie »passend« erzählt wird, wenn sie den<br />

gefor<strong>der</strong>ten Mustern und Typen grundsätzlich entspricht. Aus<br />

all diesen Schritten wird in <strong>der</strong> Folge von den damit betrauten<br />

professionellen SozialarbeiterInnen o<strong>der</strong> RichterInnen aus<br />

einer Menge von alternativen Fallgeschichten <strong>der</strong> »Fall« hergestellt.<br />

Dieser Prozess, in dem manche Umstände relevant, an<strong>der</strong>e<br />

dagegen irrelevant werden, lässt sich nicht trennen von <strong>der</strong><br />

(impliziten o<strong>der</strong> expliziten) Norm, nach <strong>der</strong> die Entscheidung<br />

des Falles gewichtet wird. Dabei ist die Wahl <strong>der</strong> Normen<br />

bestimmt von den erlernten und habitualisierten Vorstellungen<br />

möglicher Fälle, auf die sie anwendbar sind.<br />

Darüber hinaus ist aber auch eine stringent erzählte<br />

Lebensgeschichte selbst nicht das »Geschehene« an sich, son<strong>der</strong>n<br />

nur ein retrospektiver Entwurf, <strong>der</strong> sich dem Augenblick


Biografie und Lebenswelt 49<br />

<strong>der</strong> Entstehung dieses Entwurfs verdankt. Das, was in den<br />

Geschichten dabei zum Vorschein kommt, ist eine aktuelle<br />

Konstruktion, die die subjektiv erlebte und gesellschaftlich verortete<br />

Vergangenheit im Erzählen entwirft (vgl. Alheit 2003).<br />

Die Erzählenden vergewissern sich hierin gewissermaßen <strong>der</strong><br />

Vergangenheit um die Gegenwart zu erklären und die Zukunft<br />

zu perspektivieren. Solche Vorgänge sind immer durch<br />

Kommunikation und Interaktion geprägt. Sinn entsteht dabei<br />

durch einen permanenten Differenzierungsprozess, <strong>der</strong> sowohl<br />

durch die »Erschaffung« <strong>der</strong> Erzählung, als auch durch <strong>der</strong>en<br />

Rezeption und den hier eingelagerten Erwartungsraum geprägt<br />

wird. In den Praxen und Theoriefel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Humanwissenschaften<br />

wandelt sich dabei <strong>der</strong> Gegenstand kommunikativ.<br />

Was hierbei gut erfasst werden kann, sind jene von den<br />

Beteiligten verwendeten Diskurse zur Ordnung <strong>der</strong> je spezifischen<br />

Lebenssituationen. Das »Hineinschauen« von SozialarbeiterInnen<br />

(o<strong>der</strong> auch von ForscherInnen) in die hier biografisch<br />

wirkenden Ordnungsverfahren geschieht demnach immer<br />

dadurch, dass man selbst an ihnen aktiv teilnimmt. Hier ist <strong>der</strong><br />

Topos des »doing biography« in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> (und auch<br />

<strong>der</strong> Sozialforschung) den Bedingungen <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne unterworfen.<br />

Glückt dieses narrative Bündnis (und dies kann es nur,<br />

wenn es innerhalb eines konkreten abgesicherten Lebensbezugs<br />

stattfindet), wird die biografische (Un)Ordnung in ihrer konkreten<br />

Situiertheit erkennbar. Es kann dann einsichtig werden,<br />

wie die Vorstellungen von z. B. Normalität von einem vielschichtigen<br />

Geflecht aus biografischen, kulturellen, sozialen<br />

o<strong>der</strong> sozialpsychologischen Bezügen durchwoben sind. Der<br />

Vorgang <strong>der</strong> Problembearbeitung, <strong>der</strong> Normalisierung,<br />

beschreibt dabei den Prozess <strong>der</strong> Aufnahmebereitschaft, des<br />

Findens, Begründens und Reflektierens von Bezugspunkten <strong>der</strong><br />

Interpretation von KlientInnen. Soziale <strong>Arbeit</strong> erzeugt hier<br />

quasi gemeinsam erst jenen Diskurs und jene biografischen<br />

Folien, in <strong>der</strong> die als relevant eingeschätzten problembehafteten<br />

Aspekte <strong>der</strong> Vergangenheit vergegenwärtigt und reorganisiert


50<br />

Biografie und Lebenswelt<br />

werden. Die hier ausgehandelte(n) Geschichte(n), die biografisch<br />

sichtbar werdende Realität, ist also ein Resultat dieses<br />

ordnenden Rahmens. In <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> werden dabei die<br />

Ordnungstendenzen stärker als z. B. in <strong>der</strong> Forschung sichtbar,<br />

da die Sozialarbeit auftragsgemäß zur Lösung eines virulenten<br />

Konflikts herangezogen wird. Sowohl die Sozialforschung als<br />

auch die Soziale <strong>Arbeit</strong> sind aber unabwendbar verwoben in<br />

diesen Aushandlungs- und Ordnungsprozesses. Innerhalb dieser<br />

Kontextualisierungsverfahren hängt es von einem spezifischen<br />

Anlass, einem gemeinsamen Interesse ab, ob und wie<br />

lebensgeschichtliche Bausteine und Kontexte in die<br />

Deutungsarbeit gelangen. Es ist hier von eminenter Bedeutung,<br />

innerhalb welcher Bedingungen die Lebensgeschichte<br />

»entsteht« (ob im Rahmen von Bewerbungen, <strong>der</strong> Forschung<br />

o<strong>der</strong> einer Gerichtsverhandlung), denn die in diesem Kontext<br />

geltenden (o<strong>der</strong> antizipierten) Vorstellungen und Erwartungen<br />

generieren das Bezugssystem, das die entsprechenden<br />

Reaktionen auslöst (vgl. dazu Bukow et al. 2001). Sowohl<br />

SozialforscherInnen als auch SozialarbeiterInnen sollten sich<br />

hier bewusst machen, dass sie zwar Personen mit beson<strong>der</strong>en<br />

Gestaltungsbefugnissen <strong>der</strong> Vergangenheit und <strong>der</strong> Gegenwart<br />

ihrer KlientInnen sind, dass das Balancieren und Kontextualisieren<br />

dieser Biografien aber auf beiden Seiten Teile von<br />

Selbstvergewisserungs- und Ordnungsverfahren sind. Hier<br />

zeigt sich, dass Geschichte, die eigene und die an<strong>der</strong>e, niemals<br />

neutral ist, son<strong>der</strong>n stets innerhalb von Großgeschichten und<br />

den hier eingeschriebenen Strukturen ihre Gestalt erhält. Die<br />

Geschichten, die Menschen über ihre <strong>Arbeit</strong>, o<strong>der</strong> über die Orte<br />

an denen sie leben erzählen, sind vieldeutig und wir sollten das<br />

soziale Moment <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> Erkenntnis nicht außer<br />

Acht lassen.


Biografie und Lebenswelt 51<br />

Biografie und Lebensweltbezug:<br />

Mehr als ein neues Label?<br />

Es ist offensichtlich, dass die Idee einer professionalisierten<br />

Alltagspraxis nicht ohne den Lebensweltbezug auskommt. Die<br />

Selbstdefinitionen <strong>der</strong> beteiligten Personen sind von wesentlicher<br />

Bedeutung, denn auch gesellschaftliche Bezüge erlangen<br />

erst im alltäglichen Handeln ihre Gestalt und Wirksamkeit.<br />

Eine Missachtung biographischer und sozialer Sinnhorizonte<br />

kann z. B. die psychosoziale und gesundheitliche Destabilisierung<br />

von KlientInnen weitertreiben. Eine Folge davon sind<br />

die gut bekannten institutionellen Drehtürsituationen (vgl.<br />

Hanses/Börgartz 2001). Biografie- und subjektorientierte<br />

Sozialarbeit kann also durchaus helfen, zwischen <strong>der</strong> Scylla <strong>der</strong><br />

Objektivität und <strong>der</strong> Charybdis des Relativismus hindurchzusteuern.<br />

Sie lässt uns jene Prozesse nachvollziehen, wie<br />

Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> ihre Welt als real erleben, während sie<br />

diese selbst interpretativ mitbauen. Sie lässt uns hinter den<br />

»harten Strukturen«, den Daten und Statistiken, in denen wir<br />

unsere Gesellschaft und die Subjekte wahrnehmen, lebendige<br />

Menschen mit ihren vielfältigen Geschichten begreifen. Die<br />

Hinwendung zum »Fall«, zur Lebensgeschichte darf aber niemals<br />

die gesellschaftlichen Dimensionen vergessen. Lebensgeschichten,<br />

<strong>der</strong>en Konstruktionen und Rekonstruktionen sind<br />

immer auch verdeckte Referenzen an die strukturellen<br />

Bedingungen, in denen wir leben. Darauf hinzuweisen scheint<br />

umso wichtiger, als mit <strong>der</strong> biographischen Wende gleichzeitig<br />

eine Perspektive etabliert wurde, <strong>der</strong>en Auswüchse zu oft dazu<br />

dienen, die Welt mit Betroffenheitsprosa zu »heilen« und zu<br />

verkitschen. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass es so etwas<br />

wie eine kohärente Lebensgeschichte in allen Phasen tatsächlich<br />

gibt (vgl. Bourdieu 1990), und es ist auch unkritisch anzunehmen,<br />

dass jede/r sich nur ausgiebig bemühen müsste, um<br />

eine stringente Lebenserfolgsgeschichte zu kreieren, um den<br />

Platz in <strong>der</strong> Gesellschaft zu erreichen, <strong>der</strong> ihr/ihm zustehe.


52<br />

Biografie und Lebenswelt<br />

Auch die Wunschvorstellung, dass es genügt, sich »die Sache«<br />

einmal aus <strong>der</strong> Nähe anzusehen, ist eine trügerische, denn das<br />

Wesentliche des vor Ort zu Erlebenden und zu Sehenden hat<br />

seinen Kern oft ganz woan<strong>der</strong>s. Der Weg über die Biografie<br />

führt dabei immer wie<strong>der</strong> auf den Umweg des Staates, <strong>der</strong><br />

Politik, um die Wechselbeziehungen zwischen den Strukturen<br />

des Sozialraums und jenen des physischen Raums sichtbar zu<br />

machen. Der sozialarbeiterische Traum von <strong>der</strong> perfekten<br />

lebensweltlich-abgesicherten Intervention ist auch mit einer<br />

verstärkten Biografieorientierung nicht zu retten. Eine weitere<br />

Gefahr besteht darin, dass mit dieser praktischen Zugriffsweise<br />

zum »echten, wirklichen gelebten Leben« nur noch Wissen<br />

generiert wird, das lediglich dazu dient, den betreffenden<br />

Menschen besser »helfen« zu können. Gerade aber aus dem<br />

Kontrast des Einzelschicksals mit dem es umgebenden<br />

Gesellschaftssystem entsteht erst ein unsentimentales, professionelles<br />

Verständnis von Sozialarbeit.<br />

Noch einmal sei deshalb auf die institutionelle Verankerung <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> hingewiesen, die die im Helfersystem Tätigen<br />

bestimmt. Alltägliches Leben erfolgt inmitten eines steten<br />

Stroms von Handlungen in spezifischen Situationen, die den<br />

Einzelpersonen ein je spezifisches Feedback geben. Die Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> gibt hier auch ständig Rückmeldung darüber, wie das<br />

Verhalten <strong>der</strong> jeweiligen KlientInnen innerhalb gesellschaftlich<br />

erwünschter Bahnen aussehen soll. Auch die noch so sensibelste<br />

Bezugnahme auf die »Realität« von gelebtem Leben muss<br />

anerkennen, dass es einerseits für jede biografische Facette<br />

mehrere Interpretationsmöglichkeiten gibt, und dass alle diese<br />

Interpretationen auch stets im Modus <strong>der</strong> Ausübung von sozialer<br />

Kontrolle gesehen werden müssen. Das sozialarbeiterische<br />

Wirken kann nicht per Definition von den es umgebenden<br />

Institutionen und den hier wirkenden Normalitätsstandards<br />

abgelöst werden. Eine Profession, die sich dieses Umstands<br />

durch ein vermeintliches Aufgehen in den je individuellen<br />

Problemlagen <strong>der</strong> AdressatInnen zu entledigen versucht, hat ein


Biografie und Lebenswelt 53<br />

großes legitimatorisches Problem. Die Idee <strong>der</strong> »Herstellung«<br />

einer passgenauen Handlungsfähigkeit von KlientInnen durch<br />

die verstärkte Hinwendung zu einer umfassenden Biografiearbeit<br />

ist in diesem Sinne genauso einfältig, wie Münchhausens<br />

Versuch, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.<br />

Das Erzeugen eines Passungsverhältnisses zwischen Professionellen<br />

und NutzerInnen ist ein störrischer und von unterschiedlichen<br />

gesellschaftlichen Diskursen imprägnierter Raum.<br />

Die hier geschil<strong>der</strong>ten Gesichtspunkte einer verstärkten<br />

Orientierung an den lebensgeschichtlichen Bedeutungszuweisungen<br />

<strong>der</strong> AdressatInnen von Sozialer <strong>Arbeit</strong> sollten deutlich<br />

machen, dass sich diese immer innerhalb des Kräftefeldes<br />

von individuellen und institutionellen Interpretations- und<br />

Entscheidungsschemata bewegen. Biografische Bezüge sind<br />

dabei wesentlich, um die gemeinsamen und wechselseitigen<br />

Handlungen begreifbar zu machen. Die hierbei entwickelten<br />

nutzbringenden Perspektiven werden dabei im Alltagshandeln<br />

<strong>der</strong> Professionellen in ihren Institutionen o<strong>der</strong> im Austausch mit<br />

den KlientInnen erzeugt und als Wirklichkeitsordnungen aufrechterhalten.<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> operiert hier auch in einem biografie-<br />

und lebensweltrelevanten Bezug in den Funktion des<br />

Helfens und des Kontrollierens. Wenn sie tatsächlich emanzipatorisch<br />

greifen soll, dann ist es wesentlich, dass es den<br />

Professionellen hier ermöglicht wird, die eigenen diesbezüglichen<br />

Rollenbil<strong>der</strong> in ihren institutionellen und gesellschaftlichen<br />

Bezügen zu hinterfragen und dadurch die eigene Praxis<br />

einer selbstkritischen Kontrolle zu unterziehen. Dabei geht es<br />

vorrangig um die Befähigung, individuelle Strategien und<br />

gesellschaftlich vorgegebene Sozialstrukturen aufeinan<strong>der</strong> zu<br />

beziehen, um das Handeln in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> auch gesellschaftlich<br />

zu legitimieren.


54<br />

Literatur<br />

Biografie und Lebenswelt<br />

Alheit, P. (2003): Biografizität. In: Bohnsack, R./Marotzki, W./Meuser, M.<br />

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Böhnisch, L. (2001): Sozialpädagogik <strong>der</strong> Lebensalter. Eine Einführung,<br />

Weinheim und München, 3. Aufl.<br />

Bourdieu, P. (1990): Die biographische Illusion. In: Bios, Jg.3, H.1, S. 75-<br />

81<br />

Bukow W.-D./Nikodem, C./Schulze, E./Yildiz, E. (2001): Die multikulturelle<br />

Stadt. Von <strong>der</strong> Selbstverständlichkeit im städtischen Alltag.<br />

Opladen.<br />

Bulmer, M. (1984): The Chicago School of Sociology. Institutionalization,<br />

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Egger, R. (1995): Biografie und Bildungsrelevanz. Eine empirische Studie<br />

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Giddens A. (1995): Konsequenzen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Frankfurt/M.<br />

Grunwald K./Tiersch, H (2004): Das Konzept lebensweltorientierte<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> – einleitende Bemerkungen. In: Grunwald,<br />

K./Thiersch, H. (Hg): Praxis lebensweltorientierter Sozialer <strong>Arbeit</strong>.<br />

Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen <strong>Arbeit</strong>sfel<strong>der</strong>n.<br />

Weinheim/München<br />

Hanses, A. (Hg.) (2004). Biografie und Soziale <strong>Arbeit</strong>. Institutionelle und<br />

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Hanses, A./Börgartz, H. (2001): Soziale <strong>Arbeit</strong> im Krankenhaus. Eine biographische<br />

Patientenstudie zur Praxis klinischer Sozialarbeit. In: neue<br />

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31. Neuwied, S. 573 – 595<br />

Körner, J./Ludwig-Körner, Ch. (1997): Psychoanalytische Sozialpädagogik.<br />

Eine Einführung in vier Fallgeschichten. Freiburg i. Br.<br />

Kraimer, K. (2000): Die Fallrekonstruktion – Bezüge, Konzepte,<br />

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23-57<br />

Krauß, E. J./Möller, M./Münchmeier, R. (Hg.) 2007: Soziale <strong>Arbeit</strong> zwischen<br />

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Biografie und Lebenswelt 55<br />

Müller, B. (1993): Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen<br />

Fallarbeit. Freiburg i. Br.<br />

Rauchfleisch, U. (1996): Menschen in psychosozialer Not. Beratung –<br />

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Schütze F. (1994): Ethnographie und sozialwissenschaftliche Methoden<br />

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Ausbildung und Praxis <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. In: Groddeck,<br />

N./Schumann, M. (Hg.), Mo<strong>der</strong>nisierung Sozialer <strong>Arbeit</strong> durch<br />

Methodenentwicklung und -reflexion. Freiburg, S. 189-297<br />

Schütze, F. (1993). Die Fallanalyse. Zur wissenschaftlichen Fundierung<br />

einer klassischen Methode <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. In Rauschenbach,<br />

T./Ortmann, F./Karsten, M.-E. (Hg.): Der sozialpädagogische Blick.<br />

Lebensweltorientierte Methoden in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> (S.191-221).<br />

Weinheim.<br />

Thiersch, H. (2005): Lebensweltorientierte Soziale <strong>Arbeit</strong>. Aufgaben <strong>der</strong><br />

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Uhlendorff, U. (1997): Sozialpädagogische Diagnosen III. Ein sozialpädagogischhermeneutisches<br />

Diagnoseverfahren für die Hilfeplanung.<br />

Weinheim/München


Case Management und Clearing<br />

Roland Fürst<br />

Die Soziale <strong>Arbeit</strong> ist mit <strong>der</strong> Entwicklung einer neuen<br />

Sozialstaatlichkeit einem politisch wie ökonomisch verursachten<br />

Verän<strong>der</strong>ungsdruck unterworfen und durchläuft einen<br />

Transformationsprozess (vgl. z.B. Ziegler 2003, 101ff.), sie ist<br />

sozialstaatlich als mitkonstituierte Profession vom neo-liberalen<br />

Mainstream unmittelbar betroffen und soll helfen, dementsprechende<br />

Normen in die Gesellschaft zu implementieren (vgl.<br />

Kleve 2006, 14). Effektivität und Effizienz sind die neuen<br />

Instanzen, die nicht nur die Organisation, son<strong>der</strong>n auch die<br />

Durchführung und Methoden Sozialer <strong>Arbeit</strong> beeinflussen.<br />

Damit dieser bittere Befund keine allzu große Unruhe in <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> verursacht, bedient man sich mo<strong>der</strong>ner<br />

Methoden, Modelle und Fachbegriffe, die den »missing link«<br />

zwischen ideologischem Überbau (Stichwort: Neue Steuerung)<br />

und den AkteurInnen Sozialer <strong>Arbeit</strong> herstellen sollen. Die für<br />

diese Entwicklung stehenden Schlagwörter werden aus <strong>der</strong><br />

Sicht von ProfessionistInnen nicht unbedingt sofort negativ<br />

konnotiert, son<strong>der</strong>n ihnen wird zunächst eine Vereinbarkeit mit<br />

professioneller und qualitätsvoller Sozialarbeit zugeschrieben<br />

(vgl. Schöppl 2006, 107).<br />

Das in diesem Beitrag zu bearbeitende Begriffspaar Clearing<br />

und Case Management steht nach sorgfältiger Diagnose des<br />

aktuellen Ist-Zustandes unter »dringendem Tatverdacht«, als<br />

ein Diener dieser neuen neoliberalen Programmatik zu fungieren<br />

o<strong>der</strong> zumindest als solcher missbraucht zu werden.<br />

Nachdem es sich um ein kritisches Handbuch handelt, verzichtet<br />

dieser Beitrag bewusst auf die nützlichen Aspekte von Case<br />

Management und dem Clearing-Modell, die bei gutem Willen<br />

sicherlich zu nennen wären (z.B. durchgängige Fallverantwortung).


Case Management und Clearing 57<br />

Bei <strong>der</strong> Bearbeitung dieser beiden Methoden/Konzepte kristallisierte<br />

sich <strong>der</strong> Clearing-Begriff als sehr diffus heraus, da wohl<br />

etliche zentrale Aspekte <strong>der</strong> Clearing-Intention im umfassen<strong>der</strong>en<br />

Konzept des Case Managements aufgehen (z.B. im Intake<br />

o<strong>der</strong> im Assessment; vgl. Neuffer 2005, 51 ff.). So wird im<br />

ersten Teil <strong>der</strong> Versuch unternommen, den Clearing-Begriff zu<br />

klären und zu verorten, danach erfolgt eine kritische<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Case Management. Der Fokus in<br />

<strong>der</strong> zusammenfassenden Analyse wird auf die Auswirkungen<br />

dieser sozialtechnischen Methoden auf die Profession gelegt.<br />

Mit dem Einzug des Sozialmanagements als zusätzlicher<br />

Facette in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> Mitte <strong>der</strong> 80er Jahre (vgl.<br />

Galuske 2003, 313), brach nicht nur das Zeitalter <strong>der</strong> »Ökonomisierung«<br />

in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> an, son<strong>der</strong>n es schwappte<br />

auch eine Welle von neuen Begrifflichkeiten, Methoden,<br />

Techniken und Konzepten auf die Profession nie<strong>der</strong>. Auf einmal<br />

wurde <strong>der</strong> Begriff »Management« vielfach als »Wun<strong>der</strong>terminus«<br />

gebraucht: Qualitätsmanagement, Unterstützungsmanagement,<br />

Kontraktmanagement, Netzwerkmanagement<br />

und ähnliches mehr. Diese Managementphase hält bis dato an<br />

und »tritt prononciert unter <strong>der</strong> gesellschaftlichen Bedingung<br />

neo-liberaler Markt-Orientierung und <strong>der</strong> schärfer werdenden<br />

Verteilungskämpfe auf.« (Karlusch 2005, 12). Die Vermittlung<br />

von Kompetenzen des Sozialmanagements zur Steuerung und<br />

Führung sozialer Einrichtungen wurde Bestandteil von Aus-,<br />

Fort – und Weiterbildung. Mystisch klingende Anglizismen wie<br />

Evaluation, Controlling, Sponsoring, Output-Steuerung,<br />

Controlling, usw. bestimmten ab nun auch den <strong>Arbeit</strong>salltag in<br />

den Führungsebenen von sozialen Organisationen. Der Bezug<br />

auf die »neuen« Ansätze von Clearing sowie Case Management<br />

entspringt ebenfalls dieser Phase, wobei folgend <strong>der</strong> Versuch<br />

unternommen wird, den Wirkungsgrad dieser Begrifflichkeit<br />

und den dahinter liegenden Inhalt kritisch auszuleuchten und zu<br />

verorten.


58<br />

Case Management und Clearing<br />

Ungeklärter »Clearing-Begriff« in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> – nun vor einer Klärung?<br />

Der Begriff »Clearing« ist in <strong>der</strong> Praxis Sozialer <strong>Arbeit</strong> ein<br />

geläufiger und man möchte meinen, dass die AkteurInnen<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> unter diesem Terminus etwas Ähnliches assoziieren,<br />

vermutlich Abklärung bzw. Klärung von Klienteninteressen<br />

o<strong>der</strong> -ansprüchen. Die Abklärung – bzw. die »Ermittlungstätigkeiten«<br />

(vgl. Müller 1991, 115) wie es zu Mary<br />

Richmonds Zeiten hieß – <strong>der</strong> jeweiligen Problemsituation war<br />

schon immer Bestandteil Sozialer <strong>Arbeit</strong>. Eine eingehende<br />

Beschäftigung mit diesem Begriff ergibt allerdings kein klares<br />

Bild, eine ausführliche Differenzierung und Verortung des<br />

Begriffs bzw. <strong>der</strong> jeweiligen Intention wurde bis dato nicht vorgenommen.<br />

Für eine anschlussfähige Auseinan<strong>der</strong>setzung wäre<br />

dies allerdings durchaus dienlich, kann in diesem Rahmen<br />

allerdings nur in Form einer Skizze geleistet werden.<br />

Ohne etymologisch ins Detail gehen zu wollen, überrascht es<br />

im Ökonomisierungs-Kontext nicht, dass <strong>der</strong> Begriff<br />

»Clearing« über die Betriebswirtschaft (Wertpapier- und<br />

Cashclearing als Wertpapier- bzw. Cashabrechnung) den<br />

Einzug in die Soziale <strong>Arbeit</strong> gefunden hat. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit<br />

etablierte sich <strong>der</strong> Begriff in den unterschiedlichsten<br />

Handlungsfel<strong>der</strong>n (für Österreich: Jugendwohlfahrt, materielle<br />

Grundsicherung, Straffälligenhilfe, <strong>Arbeit</strong>, usw.) und unterlag<br />

den jeweilig unterschiedlichen Rezeptionen. So verwun<strong>der</strong>t es<br />

nicht, dass sich hinter diesem »Clearing-Begriff« differenzierte<br />

Konzeptionen und Intentionen verbergen. Im Folgenden wird<br />

<strong>der</strong> Versuch unternommen, diese unterschiedlichen ideologischen<br />

Zugänge zu identifizieren und in drei Kategorien zu glie<strong>der</strong>n<br />

1. Organisatorisches Clearing<br />

2. Psychosoziales Clearing<br />

3. Clearing zur Abklärung materieller Ansprüche


Case Management und Clearing 59<br />

Ad 1: In dieser Kategorie könnten alle organisatorischen<br />

Vorgänge und Handlungen subsumiert werden, die rasch und<br />

fachlich klären, welche soziale Institution o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Ressource sich für die präsentierte Problemstellung <strong>der</strong><br />

KlientInnen als adäquat erweist. Als ein Beispiel für das »organisatorische<br />

Clearing« kann das Clearing-Team in österreichischen<br />

Justizanstalten 1 angeführt werden. Das Team besteht aus<br />

VertreterInnen des <strong>Sozialen</strong> Dienstes <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Justizanstalt, VertreterInnen <strong>der</strong> Straffälligenhilfe wie z.B.<br />

BewährungshelferInnen, dem/<strong>der</strong> zuständigen JustizwachebamtIn<br />

für Entlassungen und diversen an<strong>der</strong>en Betreuungseinrichtungen<br />

(Suchthilfe, Auslän<strong>der</strong>Innenhilfe etc.). Ziel dieses<br />

Clearing-Teams ist die Abklärung, welche Ressourcen bzw.<br />

Organisationen und Institutionen den KlientInnen, die zur<br />

Entlassung anstehen, vermittelt werden können.<br />

Ad 2: Das psychosoziale Clearing ist überall dort zu verorten,<br />

wo aufgrund einer längeren zeitlichen Einschätzung <strong>der</strong><br />

Problemsituation eine Abklärungsphase festzulegen ist. Hier<br />

kann es zum Aufbau eines KlientInnen-SozialarbeiterInnen-<br />

Interaktionssystems ähnlich wie in <strong>der</strong> lebensweltorientierten<br />

Individualhilfe (Phase als sog. »Intake« 2 ) kommen. Dieses<br />

Modell findet sich vor allem dort wie<strong>der</strong>, wo es um längerfristige<br />

Betreuungsphasen geht, wie zum Beispiel im Verein<br />

NEUSTART (Straffälligenhilfeorganisation). Eine <strong>der</strong>artige<br />

Umsetzung von Clearing ist nach wie vor Bestandteil im<br />

Rahmen <strong>der</strong> fachlichen Standards bei NEUSTART, was auch<br />

die Beschreibung von »neueren« sozialarbeiterischen<br />

Leistungen wie beispielsweise die Vermittlung von diversionellen<br />

Maßnahmen zeigt (vgl. Neustart 2007, 1 ff).<br />

Ad 3: Mit dem »Clearing zur Abklärung materieller Ansprüche«<br />

müssen sich SozialarbeiterInnen auseinan<strong>der</strong>setzen,<br />

die vorwiegend im Bereich <strong>der</strong> Hoheits-Verwaltung wie <strong>der</strong><br />

Jugendwohlfahrt o<strong>der</strong> <strong>der</strong> materiellen Grundsicherung tätig<br />

sind. So werden in den Wiener Sozialzentren Clearinggespräche<br />

von SozialarbeiterInnen durchgeführt, die neben <strong>der</strong>


60<br />

Case Management und Clearing<br />

Beratung und Information vorrangig <strong>der</strong> Anspruchsprüfung<br />

bzw. Bedarfsabklärung dienen (vgl. Emprechtinger et al. 2007,<br />

23). »In einem Erstgespräch gilt es dabei, eine umfassende<br />

Sozialanamnese durchzuführen, die Situation zu erfassen und<br />

den Anspruch auf eine Geldleistung zu prüfen« (Emprechtinger<br />

et al. 2007, 22). Hinter dem Clearing zur Abklärung materieller<br />

Ansprüche, wo eindeutig <strong>der</strong> sozio-ökonomische Aspekt im<br />

Vor<strong>der</strong>grund steht, liegt ganz klar das Konzept des New Public<br />

Managements, welches nach betriebswirtschaftlicher Prägung<br />

ausgerichtet ist: »Mit <strong>der</strong> Umstrukturierung des Sozialhilfevollzuges,<br />

<strong>der</strong> (sic!) am Konzept des New Public Management<br />

(NPM) orientiert ist, mag eine Optimierung im Sinne von<br />

KundInnenorientierung, Effektivierung und Leistungen und des<br />

Leistungsspektrums intendiert gewesen sein.« (Emprechtinger<br />

et al. 2007, 11).<br />

Mit diesen Aufgaben (Sozialanamnese, Anspruchsprüfung)<br />

sind somit auch Grundfunktionen des Case Managements thematisiert,<br />

die einen gezielten Wandel zur Aktivierung anstreben.<br />

Entscheidend ist das Junktim, das zwischen <strong>der</strong> Dienstleistung,<br />

d.h. dem Case- o<strong>der</strong> Kontraktmanagement einerseits<br />

und an<strong>der</strong>erseits dem Erhalt <strong>der</strong> Transferleistung formuliert<br />

wird (vgl. Trube 2005, 5).<br />

Von den Geistern, die die Soziale <strong>Arbeit</strong> rief,<br />

für die Zukunft lernen<br />

Je nach inhaltlicher Umsetzung und gutem Willen des/<strong>der</strong><br />

BetrachterIn, kann hinter den beschriebenen Modellen des<br />

organisatorischen und psychosozialen Clearings die Handlungsmaxime<br />

<strong>der</strong> lebensweltorientierten <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> verortet<br />

werden, also ein sozialarbeiterisches Agieren nach den allgemeinen<br />

Prinzipien <strong>der</strong> Prävention, Alltagsnähe, <strong>der</strong><br />

Integration, <strong>der</strong> Partizipation und <strong>der</strong> Dezentralisierung/<br />

Regionalisierung bzw. Vernetzung (vgl. Thiersch 1992). Hinter


Case Management und Clearing 61<br />

dem Clearing-Modell zur Abklärung materieller Ansprüche<br />

steht eindeutig das Konzept des aktivierenden Changemanagements,<br />

dessen Basis die Verän<strong>der</strong>ung sozialpolitischer<br />

Logiken darstellt. Diese Verän<strong>der</strong>ung erzeugt allerdings nicht<br />

Integration, son<strong>der</strong>n vielmehr Exklusion und Marginalisierung<br />

(vgl. Trube 2005, 7).<br />

Die Philosophie des Clearings wurde vielfach in ein schönes<br />

Konzept verpackt – die Implementierung des Clearinggespräches<br />

in den Wiener Sozialzentren wurde ursprünglich von<br />

den SozialarbeiterInnen begrüßt 3 . Man sah darin einen großen<br />

Vorteil, weil sich diese SozialarbeiterInnen von <strong>der</strong> Problemlage<br />

<strong>der</strong> jeweiligen Person selbst ein Urteil bilden konnten und<br />

eine weitere Betreuung nach eigenen Kriterien angedacht werden<br />

konnte o<strong>der</strong> auch nicht. (vgl. Emprechtinger et al. 2007,<br />

23). Inzwischen ist die Situation so, dass sich einzelne<br />

SozialarbeiterInnen wünschen, die Anspruchsprüfung nicht<br />

mehr durchführen zu müssen, weil es aufgrund <strong>der</strong> verwaltungsrechtlichen<br />

Mehrbelastung immer schwieriger wird, den<br />

professionellen Anspruch in <strong>der</strong> täglichen <strong>Arbeit</strong> umzusetzen<br />

(vgl. ebenda, 21). Dies erinnert entfernt an den berühmten<br />

Zauberlehrling, <strong>der</strong> nicht mehr in <strong>der</strong> Lage ist, jene Geister (in<br />

diesem Fall die »sozialarbeiterischen« Methoden des<br />

Managements) wie<strong>der</strong> einzufangen, die er gerufen hat, weil die<br />

Regie des wohlfahrtsstaatlichen Changemanagements in an<strong>der</strong>en<br />

Händen liegt (vgl. Trube 2005, 10). Diese Metapher gilt im<br />

Beson<strong>der</strong>en auch für das Case Management.<br />

Was ist drin, wenn Case Management drauf steht?<br />

Analog zur Rezeption des »Clearing-Begriffes« verhält es sich<br />

mit dem Case Management, mit dem sich <strong>der</strong>zeit auch die<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> in Österreich 4 auseinan<strong>der</strong>setzt, wohingegen <strong>der</strong><br />

Diskurs über Case o<strong>der</strong> Care Management in Deutschland seit<br />

nunmehr über 12 Jahren geführt wird. In Deutschland wie in


62<br />

Case Management und Clearing<br />

Österreich internalisieren VertreterInnen von Profession und<br />

Disziplin, sowie Politik und Verwaltung schon aufgrund ihrer<br />

eigenen berufsspezifischen Intention und Sprachcodes unterschiedliche<br />

Zuschreibungen, was genau unter Case Management<br />

zu verstehen ist. »In vielen Konzepten, Veröffentlichungen<br />

und Institutionen ist zu lesen und zu hören:<br />

›Wir arbeiten jetzt mit Case Management.‹ Eine Nachfrage<br />

o<strong>der</strong> genauere Überprüfung zeigt z.B. in Krankenhaussozialdiensten,<br />

dass damit nur eine Art Lotsenfunktion für weitere<br />

Maßnahmen innerhalb und außerhalb <strong>der</strong> stationären<br />

Behandlung gemeint ist. Diese wird zwar systematisch und<br />

damit besser gesteuert, endet aber in <strong>der</strong> Regel beim Verlassen<br />

des Krankenhauses nach dem Assessment o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Serviceplanung« (Remmel-Faßben<strong>der</strong> 2005, 80). Wendt (2005,<br />

14) konstatiert zu diesem Thema: »Aber oft ist dort, wo Case<br />

Management drauf steht, Case Management nicht drin. Seine<br />

Einführung bedeutet und verlangt Systemverän<strong>der</strong>ung; erfolgt<br />

sie nicht, setzt sich das Case Management nicht durch.« Bei<br />

Kenntnis <strong>der</strong> österreichischen Situation kann durchaus Skepsis<br />

angebracht werden, ob <strong>der</strong> »von oben diktierte große Wurf«<br />

(Neuffer 2005, 46) überhaupt gelingt. Möglichweise führt eine<br />

schleichende Übernahme von im Case Management-Konzept<br />

vorgeschlagenen <strong>Arbeit</strong>sweisen schneller zu kleineren strukturellen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen (ebenda, 46).<br />

Case Management: Ein Export aus den USA<br />

Das Case Management als Methode von Sozialdiensten wurde<br />

Ende <strong>der</strong> 70er Jahre in den USA entwickelt (Galuske 2003,<br />

201) und begann mit <strong>der</strong> Reorganisation <strong>der</strong> sozialen und<br />

gesundheitlichen Versorgung. Aufgrund <strong>der</strong> Deinstitutionalisierung<br />

in den USA, aber auch in an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n entließ man<br />

chronisch psychisch kranke, geistig behin<strong>der</strong>te und pflegebedürftige<br />

Menschen in großer Zahl aus <strong>der</strong> stationären<br />

Unterbringung, was nun die Notwendigkeit mit sich brachte,<br />

für die Entlassenen eine hinreichende ambulante Betreuung


Case Management und Clearing 63<br />

durch soziale und medizinische Dienste zu organisieren. Im<br />

darauf folgenden unkoordinierten Nebeneinan<strong>der</strong> von Hilfeangeboten<br />

beispielsweise bei behin<strong>der</strong>ten Menschen wurde mit<br />

dem Case Management ein Dienst eingesetzt, <strong>der</strong> die notwendigen<br />

sozialen, medizinischen und erzieherischen Unterstützungen<br />

organisiert und diese dann koordiniert (vgl. Wendt<br />

2001, 14ff.). Ende <strong>der</strong> 80er Jahre wurde Case Management in<br />

Deutschland rezipiert, wobei Wendt die zunehmende<br />

Differenzierung und Spezialisierung <strong>der</strong> Dienstleistungen, die<br />

eine Kooperation <strong>der</strong> Angebote notwendig machen, als Gründe<br />

für die Rezeption des Case Managements anführt (vgl. Wendt<br />

1991, 11). Bisher hat sich diese methodische <strong>Arbeit</strong>sform in<br />

Deutschland als erweiterte, ressourcen- und sozialräumlich<br />

orientierte Einzelfallhilfe in vielen <strong>Arbeit</strong>sbereichen als<br />

Neuorientierung (z.B.: Altenarbeit, Pflege und Gesundheit,<br />

Kin<strong>der</strong>-, Jugend- Familienhilfe, Straffälligenhilfe, chronische<br />

Suchtkranke etc.) etabliert (vgl. Remmel-Faßben<strong>der</strong> 2005, 67;<br />

ausführlich Wendt 2005, 24 ff).<br />

Begriffe und Merkmale von Case Management<br />

Der aus dem US-amerikanischen Sprachraum übernommene<br />

Begriff »Case Management« (Fallmanagement) wirkt nicht nur<br />

in <strong>der</strong> deutschen Konnotation missverständlich (vgl. Hansen<br />

2005, 107). »Seine problematische Auslegung trägt dazu bei,<br />

die ohnehin nicht präzise zu fassende konzeptionelle und<br />

methodische Rahmung <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>sweise weiter verschwimmen<br />

zu lassen« (Ewers 2000, 53). »Case« steht hier nicht für den<br />

Menschen, son<strong>der</strong>n für eine problematische Situation, die es zu<br />

bewältigen gilt. Sie ist <strong>der</strong> Fall und Gegenstand <strong>der</strong> sozialarbeiterischen<br />

ziel- und lösungsorientierten professionellen<br />

Bemühungen (vgl. Wendt 2005, 15). Dieses Problem einer<br />

direkten Übernahme von US-amerikanischen Terminologien in<br />

einen an<strong>der</strong>en nationalen und kulturellen Kontext wurde unter<br />

britischen Verhältnissen rechtzeitig erkannt. Vom britischen<br />

Gesundheitsministerium wurde bereits 1991 darauf hingewie-


64<br />

Case Management und Clearing<br />

sen, dass die Verwendung des Begriffs »Case Management« für<br />

NutzerInnen personenbezogener Sozialer Dienstleistungen<br />

erniedrigend wirken kann (vgl. Hansen 2005, 107), in<br />

Großbritannien spricht man in <strong>der</strong> Folge von »Care<br />

Management«. Auch Wendt (2005, 15) sieht im »Fallmanagement«<br />

im Gesundheitsbereich ein »Care Management«,<br />

welches für die überindividuelle Versorgungssteuerung und -<br />

gestaltung als administrative Aufgabenstellung steht. Überdies<br />

hat sich für die Steuerung <strong>der</strong> Gesundheitsversorgung <strong>der</strong> amerikanische<br />

Begriff »Managed Care« etabliert. Dieser kurze<br />

Auszug zeigt deutlich, dass für die zukünftige Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit dem »Case Management« im Gesundheits- und<br />

Sozialalbereich eine begriffliche Klarheit geschaffen werden<br />

muss. Auch in Österreich stößt das Case Management-Konzept<br />

bei vielen Dienstleistungsorganisationen des Sozial- und<br />

Gesundheitswesens auf zunehmendes Interesse und eine jeweilige<br />

Klärung <strong>der</strong> Intention wäre den PerzipientInnen dringend<br />

anzuraten.<br />

Unabhängig von den begrifflichen Wirrungen offenbart sich <strong>der</strong><br />

Wesenskern von Case Management in »beeindrucken<strong>der</strong><br />

Schlichtheit« (Ewers 2000, 54). Der Kernprozess des Unterstützungsmanagements<br />

besteht aus verschiedenen Phasen,<br />

wobei sich in <strong>der</strong> Literatur zum Case Management unterschiedliche<br />

Phasierungsmodelle finden, die den Hilfeprozess in eine<br />

sinnvolle Abfolge von Handlungsschritten zu bringen versuchen<br />

(vgl. Galuske 2003, 204). Ohne auf die einzelnen Phasen<br />

und <strong>der</strong>en Umsetzungsprobleme (ausführlich dazu Hansen<br />

2005, 112ff) an dieser Stelle ausführlicher eingehen zu können,<br />

seien sie doch kurz skizziert: Im (1) Assessment sind die diversen<br />

Bedarfslagen zu identifizieren, darauf aufbauend werden<br />

(2) Hilfe- und Leistungspläne erstellt (planning), danach werden<br />

die (3) Dienstleistungen organisiert (intervention/brokering),<br />

in <strong>der</strong> Folge wird <strong>der</strong> Leistungs- und Unterstützungsprozess<br />

von dem/<strong>der</strong> Case ManagerIn (4) kontrolliert<br />

(Controlling/Monitoring) und schließlich auch (5) evaluiert


Case Management und Clearing 65<br />

(Evaluation) (vgl. Neuffer 2002, 51ff; Moxley 1989, 18). Dem<br />

Anspruch nach ist das Case Management längerfristig angelegt<br />

und behält den gesamten Betreuungsverlauf im Blick.<br />

Case Management pur – o<strong>der</strong> aber mit<br />

Beziehungsarbeit?<br />

Case Management wird von vielen VertreterInnen als eine<br />

Weiterentwicklung o<strong>der</strong> »qualifizierte Fortschreibung«<br />

(Neuffer 2005, 19) <strong>der</strong> Einzelfallhilfe verstanden. Allerdings<br />

verlagert sich damit das Aufgabenspektrum des Helfers von <strong>der</strong><br />

psychosozialen Beziehungsarbeit zur organisierenden, planenden,<br />

koordinierenden und kontrollierenden Abstimmung von<br />

Angebot und Nachfrage nach Unterstützung (vgl. Wendt 1991,<br />

11). Unter den Case Management-Lobbyisten gibt es durchaus<br />

unterschiedliche Vorstellungen, inwieweit die psycho-soziale<br />

Beziehungsarbeit im Case Management eine Rolle spielt bzw.<br />

ist dies Gegenstand kritischer Erörterungen (vgl. Remmel-<br />

Faßben<strong>der</strong> 2005, 71 ff.; Löcherbach 2000, 104). Während für<br />

Wendt (2001, 9) die helfende Beziehung im Case Management<br />

»keine Vorbedingung für ein erfolgsversprechendes berufliches<br />

Handeln« ist, sieht Neuffer diese Beziehungsarbeit auch nicht<br />

in Konkurrenz zu effektiver und effizienter Fallarbeit. Er wi<strong>der</strong>spricht<br />

Wendt m.E. zu Recht, wenn er meint, »dass eine durchgehende<br />

Fallverantwortung Beziehungsarbeit erfor<strong>der</strong>t, um das<br />

Vertrauen <strong>der</strong> KlientInnen zu erreichen (…)« (Neuffer 2005,<br />

43). Egal, welcher ideologische Zugang im Case Management<br />

als sozialarbeiterische Methode vorzufinden ist, eint nach meiner<br />

Einschätzung die Case Management-Lobbyisten <strong>der</strong><br />

Wunsch, die Soziale <strong>Arbeit</strong> endlich auf Augenhöhe zu an<strong>der</strong>en<br />

Vollprofessionen betreiben zu können. Effektivität und<br />

Effizienz sind die – aus <strong>der</strong> Ökonomie bekannten –<br />

Wun<strong>der</strong>begrifflichkeiten, die offenbar diese gewünschte<br />

»Professionalität« signalisieren sollen.


66<br />

Case Management und Clearing<br />

Case Management als Instrument des Neoliberalismus<br />

Mit näherem Blick auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem<br />

Case Management etabliert wurde, muss Case Management als<br />

ein Instrument neoliberal orientierter Wohlfahrtsstaaten identifiziert<br />

werden (vgl. Hansen 2005, 108). Auch wenn die heutige<br />

Situation in Deutschland mehr als in Österreich <strong>der</strong> US-amerikanischen<br />

Entwicklung in einigen Aspekten gleicht (vgl. Kleve<br />

2006, 15) – und allerdings auch Österreich im Sinne einer neoliberalen-neokonservativen<br />

Wende diesem Entwicklungsmuster<br />

folgt (vgl. Talos/Fink 2001, 21) – darf nicht vergessen werden,<br />

dass <strong>der</strong> österreichische Sozialstaat konservativ-korporatistischer<br />

Prägung mit einem sozialstaatlichen Charakter auf einem<br />

völlig an<strong>der</strong>en Prinzip aufgebaut ist als die USA o<strong>der</strong> auch<br />

Großbritannien (vgl. Beriè/Fink 2000, 50). Im Kern zielt das<br />

neo-sozialstaatliche Modell des aktivierenden Sozialstaates, <strong>der</strong><br />

sich in Deutschland idealtypisch mit den Hartz-Gesetzen manifestiert<br />

hat, auf mehr Markt und weniger Staat. Für die Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> ist das Beispiel <strong>der</strong> Hartz-Reformen hüben wie drüben<br />

insofern bedeutsam, »als dass sich im Fallmanagement <strong>der</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>s- und Sozialverwaltung modellhaft nachlesen lässt, wie<br />

sich <strong>der</strong> aktivierende Sozialstaat »seine Soziale <strong>Arbeit</strong>« vorstellt:<br />

Als strengen, mit Sanktionsmacht ausgestatteten Berater,<br />

Begleiter, Kontrolleur und »Richter« auf dem Weg in einen<br />

<strong>Arbeit</strong>smarkt mit schwinden<strong>der</strong> Absorbtionsfähigkeit, »workfare<br />

statt welfare«, mit Zielvorgabe und Zwangsberatung.«<br />

(Galuske 2006, 14). Auch an<strong>der</strong>e Autoren können sich dieser<br />

Kritik anschließen: So identifiziert Achim Trube (2005, 43 ff.)<br />

das »aktivierende Casemanagement als ein Instrument des<br />

Changemanagements, ein Angebot, das <strong>der</strong> Adressat schlichtweg<br />

nicht ablehnen kann, da es nicht freiwillig auf Mitwirkung<br />

beruht.« Und mit Blick auf die Profession sind Dahme/<br />

Wohlfahrt (o.J., 11) <strong>der</strong> Meinung, dass durch den aktivierende<br />

Staat – und gerade eben auch mittels jener Konzepte, »die<br />

Fachlichkeit und die durch Expertise begründete Autonomie<br />

<strong>der</strong> Fallbearbeitung […] in Frage gestellt [wird].« Ziel ist dabei


Case Management und Clearing 67<br />

ein stärkeren Einfluss auf »Handlungsvollzüge in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> […], um letztlich die Fallbearbeitung optimaler steuern<br />

und reglementieren zu können.« (Dahme/Wohlfahrt o.J., 11).<br />

Im krassen Gegensatz dazu stehen die verlockenden Ausführungen<br />

vieler Case Management TheoretikerInnen, die mit<br />

Partizipation und Empowerment den Anschein von Handlungsmacht<br />

für die KlientInnen erwecken (vgl. Neuffer 2005, 22ff.)<br />

und es auch als professionelle Weiterentwicklung verstehen<br />

wollen. Unter den beschriebenen Umständen kann es sich nur<br />

um eine paternalistische Form von Partizipation handeln:<br />

»Ihrer kritischen Inhalte beraubt (Anm. Inhalte <strong>der</strong> Partizipation),<br />

degeneriert Partizipation so zu einer beson<strong>der</strong>es subtilen<br />

Form politischer Apathie (als wi<strong>der</strong>spruchslose Fügung in<br />

institutionellen Gegebenheiten)« (Gronemeyer 1973, 28).<br />

Case Management:<br />

Ein Glaubwürdigkeitsproblem für die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

Gegenwärtig findet nach meiner Einschätzung we<strong>der</strong> ein kritisches<br />

Hinterfragen, noch ein völliger Boykott des Case<br />

Management-Konzeptes statt. Dieser Umstand öffnet natürlich<br />

jenen Tür und Tor, die SozialarbeiterInnen – vielleicht auch nur<br />

implizit – mit <strong>der</strong> Gleichung »Case Management = mehr<br />

Professionalität = mehr Anerkennung« für dieses Konzept<br />

begeistern wollen. Wie oben allerdings ausgeführt wurde, vertraut<br />

und baut das Case Management-Konzept zu einseitig auf<br />

den vom Neoliberalismus angenommenen, vernunftbetonten,<br />

rational agierenden »homo oeconomicus«, <strong>der</strong> als<br />

Menschenbild quasi auf alle übertragen werden kann (ausführlich<br />

dazu Staub-Bernasconi 2005, 1ff.).<br />

Die Soziale <strong>Arbeit</strong> insgesamt hat ein Glaubwürdigkeitsproblem,<br />

wenn sie einerseits neoliberale Tendenzen in <strong>der</strong><br />

Sozialpolitik kategorisch als Beiträge zur Demontage des<br />

Sozialstaates wertet, sich an<strong>der</strong>erseits aber neoliberaler


68<br />

Case Management und Clearing<br />

Instrumente wie des Case/Care Managements (vgl. Hansen,<br />

120) und diverser Clearing Modelle bedient sowie diese auch in<br />

ihre Professionalisierungsstrategien einbaut. Dieses Glaubwürdigkeitsproblem<br />

wird sich noch erhöhen, wenn sich die<br />

Profession und die Disziplin angesichts <strong>der</strong> teils dramatischen<br />

sozialpolitischen Verän<strong>der</strong>ungen in Europa nicht ausreichend<br />

positionieren und einen an<strong>der</strong>en Weg <strong>der</strong> Professionalisierung<br />

einschlagen, <strong>der</strong> dem Proprium Sozialer <strong>Arbeit</strong> a la Silvia<br />

Staub-Bernasconi (vgl. Engelke 2002, 362 ff) näher ist.<br />

Die gegenwärtigen Entwicklungen haben für die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

weit reichende Folgen. Das »Feld« wird für die praktische<br />

<strong>Arbeit</strong> zur vernachlässigenden Größe, aber auch <strong>der</strong> »Fall«<br />

bleibt nicht, was er einmal war, denn Ursachensuche, hermeneutisches<br />

Fallverstehen und Lebensweltorientierung kommen<br />

abhanden. Mit je<strong>der</strong> bewussten und unbewussten Übernahme<br />

von klientInnenfeindlichen Aspekten in <strong>der</strong> Fallbearbeitung<br />

wird die fachliche Autonomie schrittweise eingeschränkt und<br />

führt auf absehbare Zeit möglicherweise zu einer grundsätzlich<br />

verän<strong>der</strong>ten Professionalität in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>.<br />

Verlockende Vokabeln wie Beteiligung, Autonomie, Selbststeuerung,<br />

Selbstverantwortung, Befähigen und Ermöglichen<br />

sind kennzeichnend für eine neosoziale Politik und sollen die<br />

Kunst effektiver Verhaltensbeeinflussung bei optimalem<br />

Ressourceneinsatz beför<strong>der</strong>n helfen (vgl. Dahme/Wohlfahrt<br />

o.J., 14). »Für eine professionelle, gesellschaftlich und politisch<br />

aufgeklärte Soziale <strong>Arbeit</strong> ist in diesem Szenario nur noch<br />

wenig Spielraum enthalten.« (ebenda, 15).<br />

Für alle VertreterInnen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> in Österreich, die<br />

sich pro futura mit <strong>der</strong> Implementierung von Case Management<br />

befassen o<strong>der</strong> weitere Clearing-Modelle umsetzen müssen bzw.<br />

wollen, wird es eine Gewissensentscheidung und Nagelprobe<br />

sein, diese Konzepte mit kritisch-reflexivem Blick in das eigene<br />

Methodenrepertoire zu übernehmen. Formalisierungen wie<br />

das Case Management müssen m.E. gestaltend angenommen<br />

werden, sie erduldend hinzunehmen, ist ein Akt <strong>der</strong> Selbst-


Case Management und Clearing 69<br />

aufgabe (vgl. Hansen 2005, 123). Wesentlich ist dabei allerdings<br />

die kritische inhaltliche Auseinan<strong>der</strong>setzung mit diesen<br />

Konzepten, denn »wer mit <strong>der</strong> Methode nicht vertraut ist, wird<br />

<strong>der</strong>en Missbrauch nicht erkennen können.« (Hansen 2005,<br />

122).<br />

Anmerkungen<br />

1 http://www.neustart.at/jasicher/?cmd=ja_item&ja_id=17&item=<br />

Freizeit<br />

2 Das Intake ist die erste systematische Beratung und Bestandsaufnahme<br />

<strong>der</strong> Problemsituation (Pantucek 1998, 130)<br />

3 Die Idee des Clearings entstand in einem <strong>Arbeit</strong>skreis aus<br />

SozialarbeiterInnen und Verwaltungsbediensteten im Jahr 1999/2000<br />

(vgl. Emprechtinger et al. 2007)<br />

4 Siehe Schwerpunktnummer <strong>der</strong> Zeitschrift SIÖ (Sozialarbeit in Österreich)<br />

»Was kann Case Management?«, Ausgabe 1/06<br />

Literatur<br />

Beriè, Hermann/Fink, Ulf (2000): Europas Sozialmodell – Die europäischen<br />

Sozialsysteme im<br />

Vergleich. Eine volkswirtschaftliche Analyse. Institut für Wirtschaft &<br />

Soziales GmbH. Berlin<br />

Dahme, Heinz-Jürgen/Wohlfahrt, Norbert (o.J.): Entwicklungstendenzen<br />

zu neuer Sozialstaatlichkeit in Europa und ihre Konsequenzen für die<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong>. Online unter: (Stand 17.1.2008)<br />

Eisenriegler, Adalbert (1993): Das 6-Varianten-Modell zur Durchführung<br />

<strong>der</strong> Bewährungshilfe. In: Sozialarbeit und Bewährungshilfe (SUB)<br />

1993, 21 – 30.<br />

Emprechtinger, Julia/Jöbst-<strong>Arbeit</strong>er, Maria/Hammer, Elisabeth/Krieger,<br />

Maria (2007): Sozialhilfe und Sozialarbeit zwischen öffentlichem<br />

Auftrag und professionellem Anspruch.


70<br />

Case Management und Clearing<br />

Die MA 15 <strong>der</strong> Stadt Wien. Fallbeispiel erstellt im Rahmen des<br />

Workpackage 3 des Projektmoduls 4 »Fachliche Standards in <strong>der</strong><br />

Sozialwirtschaft: gestern – heute – morgen« <strong>der</strong> EQUAL<br />

EntwicklungspartnerInnenschaft »Donau-Quality in Inclusion«. Wien<br />

Engelke, Ernst (2002): Theorien <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Eine Einführung.<br />

Freiburg im Breisgau<br />

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einer importierten Methode. In: Neue Praxis 2/2005, 107 – 126<br />

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effiziente Methode lebensweltlich und sozialräumlich orientierter<br />

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Case Management und Clearing 71<br />

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<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. München Basel, 67 – 88<br />

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als Teil einer neoliberalen Offensive. Inwiefern tragen Kontraktmanagement<br />

und KundInnenorientierung als Elemente <strong>der</strong> Neuen<br />

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<strong>der</strong>en KlientInnen bei? Wien: Diplomarbeit<br />

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<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> – gegenläufige Antworten auf die<br />

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<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Online unter: www. static.twoday.net/<br />

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Entwicklungen und Herausfor<strong>der</strong>ungen. Manuskript Feber<br />

2001.<br />

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Trube, Achim (2005): Case Management als Change Management? – Zur<br />

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Professionalisierung Sozialer <strong>Arbeit</strong> im aktivierenden Sozialstaat. In:<br />

Brinkmann, Volker (Hg.): Change Management in <strong>der</strong> Sozialwirtschaft.<br />

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Wendt, Wolf Rainer (2005): Case Management. Stand und Position in <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik. In: Löcherbach, Peter/Klug, Wolfgang/Remmel-<br />

Faßben<strong>der</strong>, Ruth/Wendt, Wolf Rainer (Hg): Case Management. Fallund<br />

Systemsteuerung in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. München Basel, 14 – 40<br />

Wendt, Wolf Rainer 2001: Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen.<br />

Eine Einführung. Freiburg im Breisgau.


72<br />

Case Management und Clearing<br />

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<strong>der</strong> Sozialarbeit, Freiburg im Breisgau.<br />

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Studienkurs Management in <strong>der</strong> Sozialwirtschaft. Baden-<br />

Baden<br />

Ziegler, Holger (2003): Diagnose, Macht, Wissen und »What works?« –<br />

Die Kunst, <strong>der</strong>maßen zu regieren. In: Wi<strong>der</strong>sprüche 2/2005, 101 – 116


Diagnose und Sozialtechnologie<br />

Michael Galuske<br />

Nicole Rosenbauer<br />

Ein konstitutiver, nicht hintergehbarer Bestandteil <strong>der</strong> alltäglichen<br />

Handlungsvollzüge von SozialpädagogInnen und<br />

SozialarbeiterInnen ist die Fähigkeit, sozialpädagogische<br />

Handlungssituationen in ihrer Komplexität zu ›entschlüsseln‹,<br />

sie zu ›lesen‹, zu verstehen und zu deuten. Eine fragende und<br />

›forschende‹ Haltung, die organisatorische, institutionelle und<br />

gesellschaftliche Rahmenbedingungen ebenso einbezieht wie<br />

Hypothesen über lebensgeschichtliche und situative Befindlichkeiten<br />

und <strong>der</strong>en kommunikative Validierung, ist die Basis<br />

einer reflexiven sozialpädagogischen Professionalität, wie es<br />

<strong>der</strong> Fachdiskurs als tragfähiges Leitbild fachlichen Handelns in<br />

<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit und Komplexität sozialpädagogischen<br />

Handelns am Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts entwickelt hat. Deren<br />

eigene Typik, ein ›sozialpädagogischer Blick‹ entfaltet sich in<br />

<strong>der</strong> Vermittlung von Subjekt- und Strukturperspektive, von<br />

institutionellen und individuellen Aspekten sowie eines Feldund<br />

Bildungsbezugs (vgl. Thole 2002, 37). Entsprechend<br />

begleitete die Soziale <strong>Arbeit</strong> immer schon die Frage, wie die<br />

»Fähigkeit zu schöpferischer Einsicht« (Salomon 1925, 44) und<br />

eine adäquate Erkenntnisgewinnung über Lebenssituationen<br />

methodisch unterstützt werden könne. Zwar wurden schon früh<br />

differenzierte Modelle einer ›<strong>Sozialen</strong> Diagnose‹ für das Feld<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> entwickelt, die auch bereits Fallstricke thematisierten<br />

– die Praxis jedoch schien weitestgehend beherrscht von<br />

Vorgehensweisen, die sich am medizinisch-klinischen Diagnostikmodell<br />

und Vokabular orientierten, die geprägt waren<br />

von Defizit-, Zuständigkeits- und Ausgrenzungsrhetorik.<br />

Der gegenwärtige diagnostische Boom in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ist<br />

insofern umso überraschen<strong>der</strong>, als entsprechende Verfahren im


74<br />

Diagnose und Sozialtechnologie<br />

Fahrwasser <strong>der</strong> Methodenkritik <strong>der</strong> 1970er-Jahre als »eine Kunst<br />

des Regierens« (vgl. Langhanky 2005) und Element zur Aufrechterhaltung<br />

gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse identifiziert<br />

und kritisiert wurden (vgl. Kunstreich 2003). Die Frage<br />

nach einer potentiellen ›Diagnostik‹ Sozialer <strong>Arbeit</strong> verschwand<br />

nach einer systematischen Diskussion <strong>der</strong> zugrundeliegenden<br />

Problematik schließlich in den 1980er-Jahren von <strong>der</strong> disziplinären<br />

Agenda. Heute erleben Erhebungs- und Klassifizierungsinstrumente,<br />

Testverfahren und Fragebögen in unterschiedlichsten<br />

Fel<strong>der</strong>n Sozialer <strong>Arbeit</strong> eine ungeahnte Konjunktur. Dem<br />

›Imperativ des Testens‹ unterliegen längst nicht mehr nur<br />

Individuen, son<strong>der</strong>n auch Sozial- und Bildungseinrichtungen wie<br />

Schulen und Universitäten in den diversen Ranking- o<strong>der</strong><br />

Evaluationsverfahren (vgl. Liessmann 2006, 74f.). Das<br />

»Paradigma <strong>der</strong> (Über-) Prüfung« hat den gesamten sozialen und<br />

kulturellen Raum ergriffen: »Es gibt heute nichts mehr, das nicht<br />

getestet werden o<strong>der</strong> Gegenstand von Testparametern sein könnte.<br />

(…) Wir sind umgeben von Diagnosemethoden, Nachweisverfahren,<br />

Untersuchungstechniken und Prüfapparaten, die<br />

uns mitteilen, über welche Kompetenzen wir verfügen, welchen<br />

Risiken wir ins Auge sehen müssen und welcher Gruppe wir<br />

zugehören« (Lemke 2004, 264). 1 Im Folgenden gehen wir dieser<br />

Entwicklung nach, indem zunächst strukturelle Merkmale von<br />

diagnostischen Verfahren nachgezeichnet werden. Der neuerliche<br />

Boom wird vor dem Hintergrund des aktuellen Effizienzdiskurses<br />

in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> diskutiert, und einige Hinweise<br />

auf potentielle Folgen bilden den Abschluss.<br />

Der gegenwärtige diagnostische Boom<br />

in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Wer sich dem disziplinären Diskurs um ›Diagnostik‹ in <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> anhand <strong>der</strong> seit Beginn <strong>der</strong> 1990er-Jahre zahlreichen,<br />

neu erschienenen Lehr- und Handbücher nähert, stößt


Diagnose und Sozialtechnologie 75<br />

zunächst auf einen ›Streit um die Begrifflichkeit‹. Die<br />

BefürworterInnen eines Begriffsimports und einer Adaption<br />

medizinischen und psychologischen Vokabulars verbinden<br />

hiermit die Hoffnung, dass ein wichtiger Beitrag zur<br />

Professionalisierung und zur Anerkennung Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />

durch an<strong>der</strong>e Professionen geleistet werde. KritikerInnen betonen<br />

hingegen die den medizinisch-klinischen Diagnostikmodellen<br />

inhärenten Degradierungs- und Etikettierungspotentiale,<br />

KlientInnen werde im Rahmen expertokratischer<br />

und defizitorientierter Diagnoseverfahren lediglich <strong>der</strong> Status<br />

passiver Objekte zugebilligt.<br />

Die Anfang <strong>der</strong> 1990er-Jahre entstandenen neuerlichen<br />

Versuche einer sozialpädagogischen Diagnostik nahmen diese<br />

Kritik auf. 2 Sie orientierten sich zwar weiterhin am klinischen<br />

Begriffsinventar, versuchten dieses allerdings neu zu füllen, so<br />

beispielsweise Burkhard Müller (1993) in seinem Entwurf<br />

einer multiperspektivischen Fallarbeit. Dieser Entwurf ist<br />

geprägt von dem Bestreben, die lebensweltliche und biographische<br />

Komplexität <strong>der</strong> Genese sozialpädagogischer Bedarfslagen<br />

zu erschließen, den sozialpädagogischen Blick zu schärfen<br />

und die SozialarbeiterInnen in die Lage zu versetzen, mit<br />

<strong>der</strong> Komplexität <strong>der</strong> Interaktion adäquat umzugehen. An hermeneutische<br />

Denktraditionen anschließend finden sich des<br />

Weiteren eine Reihe von Konzepten, die für ganzheitliche,<br />

rekonstruktive, biografisch und/o<strong>der</strong> narrative sowie inszenierende,<br />

gruppen- o<strong>der</strong> beziehungsanalytische Zugänge des (Fall-<br />

) Verstehens in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> votieren (vgl. Schrapper<br />

2005, 192f.). Diese Konzepte stellen die Selbstdeutungen und<br />

Selbstäußerungen <strong>der</strong> Menschen in den Mittelpunkt und gewinnen<br />

hieraus Material für Falldarstellungen und -analysen.<br />

Neuere <strong>Arbeit</strong>en betonen insbeson<strong>der</strong>e die Potentiale biografischer<br />

Verfahren für die Ausgestaltung einer adressatInnenorientierten<br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. 3<br />

Zwar wich das ›alte‹, simple klinische Dreischrittmodell<br />

Anamnese, Diagnose und Behandlung als eine Vorstellung line-


76<br />

Diagnose und Sozialtechnologie<br />

ar geordneter Abfolgen zunehmend zirkulären Modellen mit<br />

ineinan<strong>der</strong> verschränkten Phasen 4 , und ohne Zweifel haben<br />

sich auch medizinische und psychologische Verfahren weiterentwickelt,<br />

dennoch ist die Methodenentwicklung <strong>der</strong> letzten<br />

Jahre in weiten Teilen als Sozialtechnologisierung <strong>der</strong> sozialpädagogischen<br />

Praxis angelegt. Das heißt, »dass Instrumente und<br />

Modelle aus dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich<br />

herangezogen und zum Zwecke <strong>der</strong> Zielerreichung eingesetzt<br />

werden« (Knoblauch 2006, 1), dass ›das Soziale‹ durch den<br />

zunehmenden Einsatz sozialwissenschaftlichen Wissens bearbeitet<br />

und gestaltet wird und wir die »Integration sozialpädagogischer<br />

Definitions- und Handlungsvollzüge in ökonomischtechnologisch<br />

dominierte Zugänge« beobachten (Böhnisch et<br />

al. 2005, 236). Während die oben genannten Konzepte zunächst<br />

offene Erkenntnisprozesse anstreben, in denen es um die<br />

Gewinnung von »Wissen aus <strong>der</strong> ›Innenperspektive‹ <strong>der</strong><br />

Subjekte – über <strong>der</strong>en Selbstsichten, über Ressourcen und<br />

Schwierigkeiten zur Bewältigung und über die subjektiven<br />

Aneignungsprozesse angebotener Hilfen« geht (Bitzan et al.<br />

2006, 7), verfolgt die Wissensgenerierung in sozialtechnologisch<br />

angelegten Verfahren dezidiert einen Zweck im Rahmen<br />

einer Systemfunktion (vgl. Knoblauch 2006, 2): Im Kontext<br />

verrechtlichter Prozeduren und administrativer Formen <strong>der</strong><br />

wohlfahrtsstaatlich organisierten Hilfe werden in <strong>der</strong> Regel solche<br />

Verfahren favorisiert, die Wissen auf Basis systematischer<br />

Informationssammlung, Beobachtung und Befragung generieren,<br />

und dieses anhand von Konzepten <strong>der</strong> psychischen und<br />

sozialen Normalität analysieren. Die Prozesse <strong>der</strong><br />

Wissensgenerierung sind hierbei nicht offen angelegt, son<strong>der</strong>n<br />

durch den Verwendungszweck <strong>der</strong> Erkenntnisse gesteuert, die<br />

als ExpertInnen-Deutungen im Kontext sozialrechtlicher<br />

Entscheidungsfindung und Intervention instrumentalisiert werden<br />

(vgl. Cremer-Schäfer 2003, 57, Schrapper 2005, 191).<br />

Die in den 1980er-Jahren gehegte Hoffnung, dass diagnostische<br />

(Test-)Verfahren im Alltagsgeschäft Sozialer <strong>Arbeit</strong> im Zeichen


Diagnose und Sozialtechnologie 77<br />

von Lebenswelt- und Dienstleistungsorientierung zugunsten<br />

strukturierter, dialogischer Verständigungsprozesse sukzessive<br />

an Boden verlieren, scheint angesichts <strong>der</strong> aktuellen<br />

Renaissance standardisierter Test- und Diagnoseinstrumente<br />

enttäuscht: Neuere Ansätze wie etwa die Diagnosetabellen des<br />

bayrischen Landesjugendamtes (vgl. Hillmeier 2004),<br />

Indikatorenlisten zur Erfassung des (potentiell gefährdeten)<br />

Kindeswohls o<strong>der</strong> Screening-Instrumente, flächige Sprachtests<br />

(wie z.B. Delfin 4 in Nordrhein-Westfalen) 5 , internationale<br />

Bildungsrankings (wie PISA o<strong>der</strong> IGLU) und IT-gestütztes<br />

Profiling o<strong>der</strong> Assessment im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>svermittlung<br />

und –för<strong>der</strong>ung (vgl. Schumak 2003) zielen in allen Fel<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> von den Erziehungshilfen bis zur<br />

<strong>Arbeit</strong>sför<strong>der</strong>ung, von <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>tagesbetreuung bis zur<br />

Universität zuvör<strong>der</strong>st auf die Reduktion von Komplexität.<br />

Mithilfe von Fragebögen, Diagnosetabellen, Merk- und<br />

Indikatorenlisten sowie Testverfahren werden diffuse und<br />

unbestimmte Phänomene wie z.B. Kindeswohl, employability<br />

o<strong>der</strong> Sprachfähigkeit operationalisiert, in Faktoren zerlegt,<br />

anhand von Parametern und Kategorien bestimmt und gewichtet<br />

(vgl. Lemke 2004, 267).<br />

Dieser Diagnostikboom ist eine logische Folge <strong>der</strong><br />

Verbetriebswirtschaftlichung von Denkformen, Instrumenten<br />

und Strukturen des Alltags <strong>der</strong> Organisationen des<br />

Sozialsektors: Indem SozialarbeiterInnen anhand solcher<br />

Instrumente systematisch ›Material‹ erfassen sowie detailliertes<br />

und individualisiertes Wissen erheben, wird ein zielgenau(er)es<br />

Urteil über den ›Fall‹ ermöglicht und eine Grundlage geschaffen<br />

für eine qualitativ ›hochwertige‹, passgenaue Hilfeleistung,<br />

so die Ideologie <strong>der</strong> betriebswirtschaftlichen Reorganisation<br />

des <strong>Sozialen</strong> Sektors. In <strong>der</strong> Logik neuer Steuerungsmodelle<br />

kommt <strong>der</strong> genauen Analyse des Einzelfalls (Diagnostik) und<br />

<strong>der</strong> spezifischen Wirksamkeit unterschiedlicher Hilfen eine<br />

Schlüsselrolle zu, denn nur mit genügend entsprechendem<br />

Wissen kann die anvisierte Kalkulier- und Beherrschbarkeit


78<br />

Diagnose und Sozialtechnologie<br />

gesichert werden: Eine (zertifizierte) Qualität soll diejenige<br />

Transparenz <strong>der</strong> Leistungen herstellen, auf <strong>der</strong>en Basis erst<br />

AnbieterInnen in Konkurrenz zueinan<strong>der</strong> treten können, um im<br />

inszenierten Wettbewerb Effizienz, Innovation und<br />

Kundenorientierung zu steigern. Um Leistungen kalkulierbar<br />

und berechenbar zu machen, müssen die Wirkungen von<br />

Leistungen evaluiert (Ergebnisqualität) und Instrumente zur<br />

Einhaltung bestimmter Verfahrensstandards und -schritte<br />

installiert werden (Prozessqualität).<br />

Damit angesprochen ist eine qualitative Verän<strong>der</strong>ung von<br />

Technologien, die immer weniger auf Ergebnisprüfungen, son<strong>der</strong>n<br />

vielmehr auf Verlaufskontrollen abzielen (vgl. Lemke<br />

2004, 264). Doch solche Testverfahren operieren in einem<br />

Paradox, indem sie zwar Unterschiede und Differenzen voraussetzen,<br />

gleichsam jedoch Homogenität und Konformität produzieren<br />

(die vielbeschworene ›Vergleichbarkeit‹ von Leistungen)<br />

und mithin einer Standardisierung des Hilfeprozesses und gerade<br />

<strong>der</strong> Missachtung von Individualität Vorschub leisten. Denn<br />

die »Repräsentation des Selbst auf <strong>der</strong> Grundlage von standardisierten<br />

Testverfahren und dessen Einordnung in normierte<br />

Testparameter verdunkelt eben jene Realität, die sie erhellen<br />

soll. Denn es ist genau die Individualität, die Einmaligkeit und<br />

Unverwechselbarkeit <strong>der</strong> Einzelnen, die in diesem<br />

Testuniversum zugleich permanent beschworen und systematisch<br />

verworfen wird« (ebd., 269). Standardisierte Analyseinstrumente<br />

mit vorab festgelegten, als relevant erachteten<br />

Dimensionen im Sinne von subsumptionslogischen Vorentscheidungen<br />

beinhalten immer die Gefahr, »mitunter eine<br />

Verfahrensmechanik zu begründen, die für die Spezifik und<br />

Individualität des Einzelfalls blind ist« (Höpfner et al. 1999,<br />

202).<br />

Im Diskurs um ›Anwendbarkeit‹ wird kaum thematisiert, auf<br />

welches Wissen und welche Prämissen (z.B. erkenntnistheoretische<br />

Annahmen über Realität und Objektivität) bei <strong>der</strong><br />

Konstruktion von Instrumenten explizit wie implizit zurückge-


Diagnose und Sozialtechnologie 79<br />

griffen wird (vgl. Höhne 2006, 197) und dass jedes Raster und<br />

Kategoriensystem bereits Ergebnis eines Entscheidungsprozesses<br />

ist, dessen Übernahme immer auch eine Übernahme <strong>der</strong><br />

vorangegangenen Selektion impliziert, d.h. aktuelle Entscheidungen<br />

werden von vorher getroffenen Entscheidungen beeinflusst<br />

(vgl. BOAG 2000, 5). Damit erfüllen solche Instrumente<br />

für die Anwen<strong>der</strong>Innen zwar eine Entlastungsfunktion, da<br />

Handlungen standardisiert werden (›das Instrument sagt ja, was<br />

und was weiter getan werden soll‹). Sie sind jedoch immer auch<br />

mit spezifischen Mechanismen <strong>der</strong> Selektion verbunden, da sie<br />

Informationen für die Auswahl – und den Ausschluss – von präventiven,<br />

therapeutischen o<strong>der</strong> pädagogischen Interventionen<br />

liefern, obwohl in <strong>der</strong> Regel immer mehrere brauchbare und<br />

vertretbare Lösungen bei Entscheidungen vorhanden sind.<br />

Da die gängigen Instrumente Neutralität und Objektivität suggerieren,<br />

indem Phänomene und Merkmale scheinbar sachlich<br />

registriert und dargelegt werden, geraten ethische und normative<br />

Dimensionen des Handelns aus dem Blickfeld. Indem bereits<br />

stattgefundene Entscheidungsprozesse <strong>der</strong> Festlegung, was<br />

erhoben und ermittelt werden soll und was worauf hin folgt,<br />

durch den Rückgriff auf Instrumente übernommen werden, vollzieht<br />

sich gleichsam eine (unbemerkte) Reproduktion gesellschaftlicher<br />

Wertvorstellungen. 6 Diagnostische Verfahren operieren<br />

notwendigerweise an <strong>der</strong> Grenze zwischen Norm und<br />

Abweichung, denn als ›Normalisierungstechnologien‹ sind sie<br />

»konstitutives Element in <strong>der</strong> Herstellung des Normalen. Ihre<br />

Leistung besteht darin … zu entscheiden« (Lemke 2004, 267).<br />

Dies ist jedoch im gegenwärtigen ›Klassifizierungs-Hype‹ kaum<br />

kritisierbar. Bei unerwünschten Effekten wird in <strong>der</strong> Regel dem<br />

›Prinzip des Mehrdesselben‹ gefolgt, das heißt dem Glauben,<br />

die Instrumente seien schlichtweg noch zu undifferenziert, die<br />

Items noch zu ungenau usw. (vgl. Kunstreich 1995, 8) – die<br />

Angemessenheit an sich wird kaum in Frage gestellt. »Kritik<br />

darf geübt werden an den konkreten Maßstäben eines Tests,<br />

nicht an <strong>der</strong> Praxis des Testens selbst« (Lemke 2004, 268). 7


80<br />

Diagnose und Sozialtechnologie<br />

Die Suggestion von Neutralität und Objektivität etabliert eine<br />

Sozialtechnologie auf ›höherer Ebene‹: Da die Instrumente von<br />

konflikthaften und damit politisierbaren Zusammenhängen entkleidet<br />

sind (vgl. Kunstreich 1995, 9), werden soziale, ökonomische<br />

und gesellschaftliche Bedingungsfaktoren und Prozesse<br />

nicht wahrgenommen, »die als Entstehungs- und Verlaufskontext<br />

den Rahmen darstellen, in dem <strong>der</strong> Einzelfall als<br />

Einzelfall seine Beson<strong>der</strong>ung erfährt« (Höpfner et al. 1999,<br />

202). Dass alle kategorisierenden Verfahren »zwangsläufig<br />

unflexibel im Hinblick auf Neues und hoffnungslos unterkomplex<br />

im Hinblick auf Reales« (ebd. 203) sind, interessiert evidenzbasiert<br />

vorgehende SozialarbeiterInnen nicht, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

Fall wird nach erfolgreicher ›objektiver‹ Diagnose »dem profilspezifisch<br />

erwiesenermaßen effektivsten bzw. effizientesten<br />

Programm« zugeführt (Ziegler 2006, 265) – womit die<br />

›Steuerungsfantasien‹ des neuen manageriellen Denkens<br />

schließlich auch in den Organisationen des Sozialsektors ihre<br />

Vollendung finden.<br />

Die sozialtechnologische Umstrukturierung<br />

sozialer Organisationen<br />

Im Zuge <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong> öffentlichen Haushalte im Gefolge <strong>der</strong><br />

Verteilungskrise <strong>der</strong> flexiblen <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft (vgl. Galuske<br />

2002) ist <strong>der</strong> Rationalisierungsdruck auf Institutionen des<br />

öffentlichen Sektors gestiegen, bei weiterhin zunehmen<strong>der</strong><br />

Tendenz. Insofern ist <strong>der</strong> Neodiagnostik-Boom in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> keineswegs überraschend, da ohne eine Technisierung<br />

des Hilfeprozesses schon an dieser Schwelle die Logik <strong>der</strong><br />

Rationalisierung nicht aufrecht zu erhalten ist. Doch spätestens<br />

seit <strong>der</strong> Formel des ›strukturellen Technologiedefizits‹ wissen<br />

wir um die nicht aufhebbare Unsicherheit (sozial-) pädagogischen<br />

Handelns aufgrund seiner Komplexität und die<br />

Unmöglichkeit, funktionierende Technologien in diesem Feld


Diagnose und Sozialtechnologie 81<br />

zu entwickeln, da es keine eindeutigen Kenntnisse <strong>der</strong> Ursache-<br />

Wirkungs-Zusammenhänge (sozial-) pädagogischer Interventionen<br />

geben kann (vgl. Luhmann/Schorr 1979). Zwar zielen<br />

neuere Rationalisierungspraktiken insbeson<strong>der</strong>e auf die<br />

Ökonomisierung des ›menschlichen‹ Faktors, allerdings können<br />

sozialpädagogische Tätigkeiten und people processing<br />

organizations nicht zweckprogrammiert, d.h. in Rekurs auf<br />

Wenn-dann-Kausalitäten ausgestaltet werden – jedenfalls nicht<br />

ohne gravierende Nebenfolgen und Deformationen. Angesichts<br />

dieser Unsicherheit stellt sich das Problem potentieller<br />

Rationalität, das im hier diskutierten Zusammenhang schlicht<br />

»in ein Problem <strong>der</strong> Validität von Tests o<strong>der</strong> sonstigen diagnostischen<br />

Instrumenten umformuliert« wird (ebd., 330), umso<br />

deutlicher.<br />

In diesem Zusammenhang erfüllt nun die Installation diagnostischer<br />

Instrumente in den Organisation des Sozialsektors gerade<br />

als sozialer Mechanismus eine spezifische Funktion, nämlich<br />

die Beschaffung von ›Legitimation über Verfahren‹ (vgl.<br />

Luhmann 1975). Organisationen implementieren – unabhängig<br />

von einer spezifischen Wirksamkeit – generell verbreitete und<br />

wissenschaftlich legitimierte Verfahren, um durch die<br />

Befolgung gesellschaftlich verankerter Rationalitätsnormen die<br />

Unterstützung aus <strong>der</strong> Umwelt und die Zufuhr von Ressourcen<br />

(z.B. durch hohe Belegungszahlen) sicherzustellen (vgl. Kieser<br />

1997, 87). Dass die Implementierung diagnostischer Verfahren<br />

in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> nicht jenseits organisatorischer<br />

Relevanzen zu begreifen ist, zeigt bspw. <strong>der</strong> Umstand, dass<br />

gerade hermeneutische Verfahren häufig als zu aufwändig, zu<br />

zeitintensiv, zu langwierig, zu kompliziert, zu umständlich usw.<br />

– kurz: als ›nicht praxistauglich‹, und das heißt in diesem Fall<br />

als nicht organisationskonform verworfen werden. Nicht die<br />

grundsätzliche Sinnhaftigkeit <strong>der</strong> Verfahren, son<strong>der</strong>n ihre institutionelle<br />

Passung wird in Frage gestellt. Durch den starken<br />

Bezug zu den kulturellen Mythen <strong>der</strong> Wahrheit und<br />

Erkennbarkeit 8 trägt eine ›tickbox culture‹ – eine ›Kästchen-


82<br />

Diagnose und Sozialtechnologie<br />

Kultur‹ – in sehr viel höherem Maße zur Legitimitätssicherung<br />

bei, sie ist jedoch gleichsam manifester Ausdruck einer instrumentell-strategischen<br />

Rationalisierung und Technologisierung<br />

in den Organisationen Sozialer <strong>Arbeit</strong>. 9<br />

Der Siegeszug <strong>der</strong> Ökonomisierung und Rationalisierung<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> seit den 1990er-Jahren hat auch den Diskurs<br />

verän<strong>der</strong>t. War Sozialtechnologie in den Fachdiskussionen <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> in den 1970er- und 1980er-Jahren eine kritische<br />

Chiffre, um auf die Gefahr einer entpolitisierten, weitgehend<br />

auf positivistischen Verhaltenstechnologien reduzierten<br />

›Fachlichkeit‹ und instrumenteller Modelle des Handelns aufmerksam<br />

zu machen, scheint die Zeit des sensiblen Umgangs<br />

mit Begrifflichkeiten und <strong>der</strong> Ablehnung von Termini wie ›Fall‹<br />

(aufgrund <strong>der</strong> inhärenten Klientifizierung) o<strong>der</strong> ›Diagnose‹ zur<br />

bewussten Abgrenzung von an<strong>der</strong>en Professionen und<br />

Distanzierung von den technokratischen und expertokratischen<br />

psychiatrischen und behavioristischen Konzepten vorbei. Die<br />

›SozialtechnikerIn‹ o<strong>der</strong> ›SozialingenieurIn‹ (vgl. Meerkamp<br />

2007) scheint heute als Professionalisierungshabitus Sozialer<br />

<strong>Arbeit</strong> überaus attraktiv. Anhand <strong>der</strong> zeitgeistigen Effizienzund<br />

Effektivitätsrhetorik können nun Leistungsfähigkeit, ›professional<br />

skills‹, anerkanntes Problemlösungswissen, Verlaufskontrolle<br />

und Prozessbeherrschung inszeniert werden. Der<br />

zugrundeliegende Utilitarismus – also die Orientierung an<br />

›nützlichen‹ Handlungen und Sozialitäten – und die Reduktion<br />

von Rationalität auf eine bloße instrumentelle Rationalität bilden<br />

die Basis dafür, dass soziale in technische Probleme umdefiniert,<br />

einer öffentlichen Diskussion und Politisierung des<br />

Bestehenden entzogen und institutionelle und gesellschaftliche<br />

Dimensionen des ›Falls‹ ausgeblendet werden (können).<br />

Diagnostische Ansätze sind in <strong>der</strong> Regel personenorientiert,<br />

und – darauf weisen selbst die VertreterInnen entsprechen<strong>der</strong><br />

Verfahren hin – gerade nicht milieu- und sozialraumorientiert,<br />

eine reflexive Orientierung ist in <strong>der</strong> Regel unzureichend formalisiert<br />

und institutionalisiert (vgl. Heiner 2001, 264). Die


Diagnose und Sozialtechnologie 83<br />

ganz reale Gefahr dieser »Trivialisierung des Helfens«<br />

(Meerkamp 2007, 14), dieses auf Schematisierungsdenken, alltagstheoretischen<br />

Vorstellungen von Ursache-Wirkungszusammenhängen<br />

und einem auf affirmativ-unkritischer Rhetorik<br />

basierenden Habitus liegt in <strong>der</strong> Favorisierung von direktiven<br />

Interventionsstrategien und asymmetrischen Kommunikationsstrukturen:<br />

»Zur Missachtung <strong>der</strong> lebensweltlichen Autonomie<br />

<strong>der</strong> KlientInnen und zur Blindheit für die Ausübung von<br />

Definitions-, Normalisierungs- und, um mit M. Foucault zu<br />

sprechen, ›Disziplinarmacht‹ durch SozialarbeiterInnen ist es<br />

dann kein allzu weiter Schritt« (Ney 2006, 37).<br />

Sozialtechnologische Vorstellungen waren immer schon eng<br />

mit Vorstellungen von Beherrschbarkeit und (sozialer)<br />

Kontrolle verwoben. So verstand bspw. Paul Natorp unter<br />

›sozialen Techniken‹ die kausale (äußere und innere)<br />

Beherrschung <strong>der</strong> lebendigen Triebkräfte des Menschen zum<br />

Zwecke <strong>der</strong> Menschenbildung, und für Karl Mannheim sind sie<br />

Methoden zur Beeinflussung menschlichen Verhaltens und ein<br />

potentiell beson<strong>der</strong>s machtvolles Instrument sozialer Kontrolle<br />

(vgl. Knoblauch 2006, 5). Doch da »es keine für soziale<br />

Systeme ausreichende Kausalgesetzlichkeit, da es mit an<strong>der</strong>en<br />

Worten keine Kausalpläne <strong>der</strong> Natur gibt, gibt es auch keine<br />

objektiv richtige Technologie, die man nur erkennen und dann<br />

anwenden müsste. Es gibt lediglich operativ eingesetzte<br />

Komplexitätsreduktionen, verkürzte, eigentlich ›falsche‹<br />

Kausalpläne« (Luhmann/Schorr 1982, 19). Das Bemühen, sozialpolitisch<br />

und normativ gerahmte belastete und belastende<br />

Lebenssituationen und Lebenslagen mithilfe von Listen und<br />

Fragebögen in Kausalattributionen und den Nimbus <strong>der</strong> (Quasi-<br />

) Objektivität zu überführen, muss mithin als theoretisch verbrämte<br />

Ideologieproduktion und als (unreflektierte) Reproduktion<br />

eines Mythos <strong>der</strong> Beherrschbarkeit verstanden werden.<br />

10


84<br />

Diagnose und Sozialtechnologie<br />

Ein professionelles Abstiegsprojekt?<br />

Das technische Arsenal <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> hat sich im letzten<br />

Jahrzehnt zweifelsohne erweitert, ob damit allerdings lebensweltliche<br />

Verständigungsprozesse nachhaltig beför<strong>der</strong>t werden<br />

konnten, ob die neue, sozialtechnologisch gewandete Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> ihre Qualität gesteigert hat, zu einem ›gelingen<strong>der</strong>en‹<br />

Leben ihrer AdressatInnen beizutragen, darf angesichts <strong>der</strong><br />

skizzierten Zusammenhänge angezweifelt werden. Die gegebenen<br />

Verfahren mögen zwar den Anschein <strong>der</strong> Professionalisierung<br />

erzeugen, allerdings legen standardisierte Handlungsprogramme<br />

und die Eliminierung des subjektiven Faktors – im<br />

Sinne einer Verringerung <strong>der</strong> Spielräume eines professionellen<br />

›Ermessens‹ bzw. von professionell begründeten Entscheidungen<br />

– dann auch die Frage nahe, wofür man eigentlich noch<br />

Fachkräfte braucht. Plakativ und zugespitzt ausgedrückt: Um<br />

Diagnosetabellen auszufüllen, in Listen das statistisch wirksamste<br />

Angebot herauszusuchen und standardisierte, qualitätsgesicherte<br />

Handlungsprogramme abzuspulen, braucht man kein<br />

qualifiziertes, einer reflexiven Fachlichkeit verpflichtetes<br />

Fachpersonal, schon gar keine ›teuren‹ AkademikerInnen.<br />

Angesichts <strong>der</strong> Logik einer Re-Taylorisierung von <strong>Arbeit</strong>svollzügen<br />

und dem bislang unbekannten Ausmaß eines<br />

Mikromanagements im sozialen Dienstleistungssektor im<br />

Sinne einer Steuerung von Handlungsvollzügen ist eher von<br />

»einem ›dramatischen Entwertungsprozess‹ <strong>der</strong> Profession«<br />

auszugehen (Dahme/Wohlfahrt 2007, 23) – mithin einer<br />

Deprofessionalisierung, einer Verschlechterung von <strong>Arbeit</strong>sbedingungen<br />

für die Mehrzahl <strong>der</strong> in <strong>Sozialen</strong> Berufen Tätigen<br />

(vgl. Bauer 2004, 8) und – entgegen allen Verlautbarungen –<br />

weiteren administrativen und organisatorischen Überformung<br />

von Handlungsvollzügen. 11 Hierbei fallen dann all jene nicht<br />

messbaren, normierbaren und quantifizierbaren Faktoren wie<br />

Vertrauen und die Qualität einer Beziehung aus den Listen und<br />

Rastern heraus, eine ökonomistisch überformte Praxis kennt


Diagnose und Sozialtechnologie 85<br />

nur wenig Raum für Scheitern, Rückschritte, Ausbrüche und<br />

Unerwartetes. »Die reale lebensweltliche Komplexität, die<br />

Eigenlogiken und Sperrigkeiten von sozialen und pädagogischen<br />

Prozessen bleiben hier ausgeblendet – ebenso die hochgradig<br />

komplexen Prozesse, die in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> mit<br />

Begriffen wie Beziehung, Offenheit und Grenzen verknüpft<br />

sind« (Hafeneger 2001, 25).<br />

Ein kritisch-hermeneutisches Professionsverständnis kann sich<br />

nur in einem dialogischen Kommunikationsprozess zwischen<br />

Menschen entfalten. Jedoch sind konstitutive Machtverhältnisse<br />

we<strong>der</strong> durch lebenswelthermeneutische Sensibilität<br />

noch den Entwurf o<strong>der</strong> die Utopie einer ›an<strong>der</strong>en‹, nicht mehr<br />

institutionell konstituierten ›<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>‹ auflösbar, und<br />

auch Aushandlungs- und Partizipationsverfahren schaffen keinen<br />

herrschaftsfreien Raum. Die nichtaufhebbare Subjektivität<br />

von BeobachterIn und DeuterIn bleibt sowohl Risiko als auch<br />

Ressource, und begründet im sozialpädagogischen Handeln<br />

neben einer spezifischen Emotionalität im Kontext von Nähe<br />

und Distanz gleichsam eine beson<strong>der</strong>e professioneller Verantwortung<br />

(z.B. für eigene Deutungen, aber auch für die<br />

Verwendung von Daten und Deutungen). Diese Verantwortung<br />

heißt nicht notwendigerweise Expertokratie, und ihrer kann<br />

sich auch nicht qua Verfahren entledigt werden. Die Beson<strong>der</strong>heit<br />

sozialpädagogischer Professionalität liegt »in <strong>der</strong><br />

gestalteten Balance von professioneller Expertise und respektvoller<br />

Verständigungsbereitschaft« (Schrapper 2005, 194), und<br />

nicht zuletzt in <strong>der</strong> Beteiligung <strong>der</strong> AdressatInnen an allen sie<br />

betreffenden Entscheidungsvorgängen.<br />

Anmerkungen<br />

1 Liessmann (2006, 79) identifiziert für den Bildungsbereich eine fast<br />

schon »neurotische Fixierung auf Ranglisten aller Art«. »Wer einmal<br />

dem Mechanismus <strong>der</strong> Reihung verfallen ist, entwickelt rasch


86<br />

Diagnose und Sozialtechnologie<br />

Symptome, die an den aus <strong>der</strong> Psychoanalyse bekannten<br />

Zwangscharakter erinnern« (ebd., 83).<br />

2 Bei dieser Kritik handelte es sich um mehr als um Begriffsklauberei,<br />

denn: »Es ist keineswegs gleichgültig, wie man die Sachen nennt (...)<br />

. Der Name schon bringt eine Auffassungstendenz mit sich, kann<br />

glücklich treffen o<strong>der</strong> in die Irre führen. Er legt sich wie Schleier o<strong>der</strong><br />

Fessel um die Dinge« (Jaspers 1983, 428).<br />

3 Vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch (2006), für ein Modell ausgehend von<br />

jugendlichen Selbstdeutungsmuster z.B. Mollenhauer/Uhlendorff<br />

(1995). Zur Verwendung von Verfahren <strong>der</strong> qualitativen Sozialforschung<br />

für die Ausbildung und Alltagspraxis von SozialarbeiterInnen<br />

vgl. die Beiträge in Jakob/Wensierski (1997).<br />

4 So betonen bspw. SystemikerInnen die Verschränkung von Diagnose<br />

und Intervention, da sie Diagnosen als Interventionen im Prozess, und<br />

Interventionen als zugleich sondierende diagnostische Schritte<br />

begreifen (vgl. Ritscher 2004, 73).<br />

5 Im Bereich frühkindlicher Bildung absolvieren alle 4-jährigen im<br />

Bundesland Nordrhein-Westfalens den ›Delfin 4‹-Test zur Diagnose<br />

und För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Sprachkompetenz, für die SchülerInnen <strong>der</strong><br />

Dritten und Achten Klasse folgen regelmäßige Lernstandserhebungen<br />

in den Hauptfächern.<br />

6 Liessmann (2006, 86 f.) hat in diesem Sinne in Bezug auf die Inflation<br />

<strong>der</strong> Bildungsrankings vom Kin<strong>der</strong>garten bis zur Hochschule festgestellt:<br />

»Was in <strong>der</strong> Ideologie des Rankings als empirische<br />

Bestandsaufname vorhandener Qualitäten und Defizite aufscheint,<br />

hat bei genauerer Betrachtung einen durchwegs normativen<br />

Charakter. Über die Autorität <strong>der</strong> Rangliste werden jene Vorgaben<br />

gemacht, nach denen Wissenskulturen modifiziert und Bildungsräume<br />

reformiert werden, ohne dass diese Vorgaben je explizit<br />

gemacht worden wären.«<br />

7 Zwar weist Heiner (2001, 253) zu Recht auf entsprechende<br />

Weiterentwicklungen hin, bemerkt jedoch auch, dass etwa die<br />

psychologische Diagnostik bis heute im Wesentlichen eine<br />

Testdiagnostik ist, die mit standardisierten Kategorien operiert und<br />

einem positivistischen Erkenntnismodell folgt – und, sollten Zweifel


Diagnose und Sozialtechnologie 87<br />

aufkommen, nach dem angesprochenen Prinzip des ›Mehrdesselben‹<br />

operiert.<br />

8 »Testverfahren bspw. verleihen diesem Mythos eine ungerechtfertigte<br />

Glaubwürdigkeit, indem diese die Sprache des Mythos zur<br />

Beschreibung verwendet – und damit wird <strong>der</strong> Mythos ›realisiert‹<br />

(o<strong>der</strong> ›wahr/objektiv gemacht‹) durch die Technologie, die er hervorgebracht<br />

hat« (vgl. BOAG 2000, 45).<br />

9 Allen Fans <strong>der</strong> zeitgenössischen »Bekenntniskultur«, <strong>der</strong> permanenten<br />

»Selbstentzifferung« und dem »Zugang zur inneren Wirklichkeit<br />

und zur eigenen Identität« (Lemke 2004, 268f.) sei die Website<br />

http://de.tickle.com/ empfohlen. Hier können AnhängerInnen von<br />

Persönlichkeitstests, Checklisten und Fragebögen nahezu alle<br />

Bedürfnisse und Fragen befriedigen – zu Themen wie Karriere,<br />

Entertainment, Liebe, Wissen, IQ und schließlich allen erdenklichen<br />

Bereichen einer (vermeintlichen?) Persönlichkeit.<br />

10 Als Beispiel für eine solche Ideologieproduktion vgl. z.B. Luthe<br />

(2003). Bei <strong>der</strong> Lutheschen Bestimmung von Sozialer <strong>Arbeit</strong> als sozialtechnologisch<br />

optimierte Inklusionshilfe dürfen dann auch nicht alle<br />

mitmachen, denn »Leute, die Dilettantismus als Leitprinzip beruflicher<br />

Identität betrachten, wird man hierbei nicht gebrauchen können«<br />

(Luthe 2003, 44), und, nicht nur bei Euch, liebe NachbarInnen,<br />

muss scheinbar unbedingt nachgearbeitet werden! »Der in vielen<br />

Ausbildungsinstitutionen unter <strong>der</strong> Rubrik ›Sozialarbeitswissenschaft‹<br />

<strong>der</strong>zeit zu beobachtende Rückfall in die 70er Jahres des letzten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts (vor allem in Österreich) muß dagegen mit Sorge<br />

betrachtet werden« (ebd., 48).<br />

11 Indiz hierfür ist die Flut an Diagnose-, Qualitätserfassungs-,<br />

Evaluationsbögen usw., die über die Soziale <strong>Arbeit</strong> hereingebrochen<br />

ist und in <strong>der</strong> zum Teil banalste Alltagshandlungen (wie z.B. die<br />

Begrüßung eines neu ankommenden Jugendlichen) zum Gegenstand<br />

<strong>der</strong> Erfassung werden.


88<br />

Diagnose und Sozialtechnologie<br />

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Diversity und Ausschluss<br />

Samira Baig<br />

Im Folgenden wird die Entwicklung des Diversitybegriffs dargelegt<br />

und in Bezug auf soziale <strong>Arbeit</strong> diskutiert. Nachdem die<br />

Herkunft von Diversity und Diversity Management und <strong>der</strong>en<br />

Einzug in Europa kurz beschrieben wurden, werden meine<br />

Beobachtungen in Bezug auf das Thema im Bereich <strong>der</strong> sozialen<br />

<strong>Arbeit</strong> zur Diskussion gestellt. Im Zuge dessen soll auch<br />

aufgezeigt werden, wie ein reduktionistisches Verständnis von<br />

Diversität, die Gefahr in sich birgt, Ausschluss zu för<strong>der</strong>n<br />

anstatt diesem entgegen zu wirken.<br />

Diversity – ein vielfältiger Begriff<br />

Das Wort Diversity bedeutet per se nichts an<strong>der</strong>es als Vielfalt<br />

und hat als Schlagwort im Zeitalter <strong>der</strong> Globalisierung enorm<br />

an Bedeutung gewonnen. Mit diesem Begriff wird versucht die<br />

Heterogenität <strong>der</strong> Bevölkerung in einer Welt, die immer komplexer<br />

und pluralistischer geworden ist, zu beschreiben.<br />

Konkret bezieht sich <strong>der</strong> Begriff auf die Vielfalt von Menschen,<br />

die sich auf Grund ihrer Unterschiede, die sie zu Individuen<br />

machen, ergibt.<br />

Ganz im Sinne <strong>der</strong> Wortbedeutung gibt es aber vielfältige<br />

Zugänge und unterschiedliche Sichtweisen zu Diversität.<br />

Es wird davon ausgegangen, dass Menschen sich in vielerlei<br />

Hinsicht voneinan<strong>der</strong> unterscheiden und keineR <strong>der</strong>/dem an<strong>der</strong>en<br />

gleicht (vgl. Stuber 2004, S.15). In diesem Sinne betont<br />

Diversity die Individualität und somit die Unterschiedlichkeit<br />

je<strong>der</strong>/s einzelnen. Dieses breite Verständnis von Diversity birgt<br />

allerdings die Gefahr in sich, dass <strong>der</strong> Begriff wenig konkret<br />

bleibt. Es wurden daher unterschiedliche Aspekte formuliert,


92<br />

Diversity und Ausschluss<br />

die dabei unterstützen sollen, die Vielfalt bzw. Unterschiedlichkeiten<br />

von Individuen näher zu beschreiben. So werden<br />

zum Beispiel die zwei Kerndimensionen Geschlecht und<br />

Ethnizität herangezogen, o<strong>der</strong> es wird zwischen direkt wahrnehmbaren<br />

und indirekt wahrnehmbaren Unterschieden differenziert<br />

(vgl. Stuber 2004, S.17f; vgl. Finke 2005, S. 39f). Bei<br />

diesen Versuchen Vielfalt und Unterschiedlichkeit mit konkreten<br />

Aspekten zu beschreiben, besteht die Gefahr, <strong>der</strong> Komplexitätsreduktion<br />

und <strong>der</strong> Fokussierung auf Unterschiede anstatt<br />

auf Vielfalt (vgl. Stuber 2004, S.16). Somit steht nicht mehr die<br />

Individualität im Vor<strong>der</strong>grund, son<strong>der</strong>n die Kategorie- und<br />

Gruppenzugehörigkeit und Bil<strong>der</strong> von verallgemeinernden<br />

Identitäten entstehen. Es entwickeln sich stereotype Annahmen<br />

über die Angehörigen <strong>der</strong> jeweiligen Kategorie, wobei<br />

Unterschiede innerhalb <strong>der</strong> Kategorien ausgeblendet werden<br />

(Krell 2004, S. 42).<br />

Michael Stuber (2004), »Diversity Pionier« im deutschsprachigen<br />

Raum führt in diesem Zusammenhang an:<br />

»Ein beson<strong>der</strong>es Risiko besteht in <strong>der</strong> Reduzierung <strong>der</strong> ausgewählten<br />

Unterscheidungsfaktoren bei gleichzeitiger Betonung von<br />

Unterschiedlichkeit im Sinne von (trennendem) An<strong>der</strong>ssein. So entstehen<br />

allzu leicht klassische Feindbil<strong>der</strong> zwischen einigen wenigen<br />

Gruppen: diejenigen, die <strong>der</strong> Norm entsprechen, also ›normal‹ sind,<br />

und denen, die sich unterscheiden. Stattdessen erweisen sich Ansätze<br />

als vorteilhaft, die einerseits darauf verweisen, dass je<strong>der</strong> Mensch<br />

angesichts zahlloser Faktoren ein einmaliges Individuum darstellt,<br />

und gleichzeitig betonen, dass wir vieles gemeinsam haben, uns also<br />

in einigen Faktoren ähneln.« (S. 18).<br />

Lee Gardenswartz und Anita Rowe, zwei US Amerikanerinnen,<br />

die sich bereits seit den 70er Jahren sehr intensiv dem Thema<br />

widmen, haben ein Modell entwickelt, die »4 Layers of<br />

Diversity«, das einem Verständnis von Vielfalt als Unterschiede<br />

UND Gemeinsamkeiten gerecht wird, indem es Vielfalt mög-


Diversity und Ausschluss 93<br />

lichst differenziert abbildet und im gleichen Zuge auch hilft,<br />

Gemeinsamkeiten sichtbar zu machen (vgl. Gardenswartz<br />

/Rowe 2003, S. 31-65).<br />

Im Zentrum dieses Modells steht »Personality«, die<br />

Persönlichkeit, als einzigartige Kombination persönlicher<br />

Charakteristika, die uns alle voneinan<strong>der</strong> unterscheidet und die<br />

unsere Interaktion mit an<strong>der</strong>en auszeichnet. Neben dieser einzigartigen<br />

Individualität werden weitere Dimensionen<br />

beschrieben bezüglich <strong>der</strong>er sich Menschen unterscheiden: die<br />

»Internal Dimensions«, die »External Dimensions« und die<br />

»Organizational Dimensions«.<br />

Die am meisten beachteten Internal Dimensions stellen<br />

Kategorien dar, die wir selber nicht beeinflussen können, wie<br />

Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, physische Einschränkungen,<br />

ethnische Herkunft und Hautfarbe (vgl. Gardenswartz<br />

/Rowe 2003, S. 31-32).<br />

Die External Dimensions sind Faktoren, die ebenso die<br />

Persönlichkeit in ihrer Individualität prägen, aber von je<strong>der</strong>/m<br />

einzelnen mehr o<strong>der</strong> weniger beeinflussbar sind (vgl.<br />

Gardenswartz /Rowe 2003, S. 45). Hier werden Religionszugehörigkeit,<br />

Familienstand, Ausbildung, Einkommen,<br />

Elternschaft, Erscheinungsbild bzw. Aussehen, Gewohnheiten<br />

(wie rauchen, trinken, etc.), Hobbies, geografische Herkunft<br />

(wie Wohnort, Gegend <strong>der</strong> Kindheit, etc.) und <strong>Arbeit</strong>serfahrung<br />

(vgl. Gardenswartz /Rowe 2003, S. 45-52) hinzugezählt.<br />

Da Diversity bzw. das Management von Diversity, wie wir weiter<br />

unten noch sehen werden, ein zentrales wirtschaftliches<br />

Thema für Unternehmen darstellt, haben Lee Gardenswartz und<br />

Anita Rowe neben den persönlichen und sozialen Einflüssen<br />

auch Dimensionen auf organisatorischer Ebene formuliert, die<br />

einen Unterschied im <strong>Arbeit</strong>salltag machen: Funktion/Einstufung,<br />

<strong>Arbeit</strong>sinhalte/Tätigkeitsfeld, Abteilung/Einheit/<br />

Gruppe, Dauer <strong>der</strong> Zugehörigkeit, <strong>Arbeit</strong>sort, Gewerkschaftszugehörigkeit<br />

und Management Status (vgl. Gardenswartz<br />

/Rowe 2003, S. 53-57).


94<br />

Dieses Modell <strong>der</strong> 4 Layers of Diversity ist hilfreich, Vielfalt in<br />

ihren unterschiedlichen Aspekten sichtbar, benennbar und<br />

somit fassbar zu machen und gleichzeitig einer allzu großen<br />

Komplexitätsreduktion und <strong>der</strong> Gefahr von Stereotypisierung<br />

und Stigmatisierung entgegen zu wirken. Bei allen Gegensätzlichkeiten<br />

werden auch Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten<br />

aufgezeigt, was Vorraussetzung für eine Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit Unterschiedlichkeiten darstellt. Auch wenn sich<br />

allmählich die Haltung breit macht, dass Vielfalt eine Bereicherung<br />

darstellt, zieht sie per se keineswegs Harmonie nach<br />

sich, son<strong>der</strong>n ist viel mehr Ursache für Missverständnisse und<br />

Konflikte unterschiedlichster Art. Erst wenn diese geklärt sind,<br />

können sich die Vorteile von Vielfalt entfalten. In diesem<br />

Zusammenhang wurde Diversity Management zu einem zentralen<br />

Begriff.<br />

Diversity Management<br />

Diversity und Ausschluss<br />

Diversity Management bezeichnet das Managementkonzept,<br />

das zum Ziel hat, einen professionellen Umgang mit Diversity<br />

in Unternehmen zu etablieren und so ein produktives Miteinan<strong>der</strong><br />

im <strong>Arbeit</strong>salltag zu för<strong>der</strong>n (vgl. Finke 2005, S.13).<br />

Es geht darum, eine strukturelle und inhaltliche Flexibilität zu<br />

erlangen, die Raum für die Entfaltung von Diversität gibt und<br />

gleichzeitig hilft die Produktivität zu erhalten bzw. zu steigern<br />

(vgl. Stuber 2004, S. 244 f.). Diversity Management bedeutet<br />

somit auch personalwirtschaftliches und organisationales<br />

Managementhandeln, das vorhandene Privilegien und Benachteiligungen<br />

sichtbar macht und abbaut, um die Vielfalt <strong>der</strong><br />

MitarbeiterInnen betriebswirtschaftlich besser entwickeln und<br />

nutzen zu können. Dabei gilt es sowohl individuelle Unterschiede<br />

als auch Gruppenzugehörigkeiten (z.B. Zugehörigkeit<br />

zu den oben erwähnten Dimensionen) zu berücksichtigen.


Diversity und Ausschluss 95<br />

Diversity & Diversity Management –<br />

und ihre US amerikanische Herkunft<br />

Diversity und Diversity Management sind zwei Begriffe, die<br />

ursprünglich aus den USA kommen, einem traditionellen<br />

Einwan<strong>der</strong>ungsland, das auf Grund dessen immer mit <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit konfrontiert war ein Mit- o<strong>der</strong> zumindest<br />

Nebeneinan<strong>der</strong> auf Grund bzw. trotz <strong>der</strong> kulturellen und sozialen<br />

Vielfalt zu finden. Dieser Umstand in Kombination mit <strong>der</strong><br />

US amerikanischen Human Rights Bewegung führte dazu, dass<br />

die Antidiskriminierungsidee schon früh gesetzlich eingebunden<br />

und somit auch gerichtlich einfor<strong>der</strong>bar wurde (z.B. Civil<br />

Rights Act 1964; Equal Employment Opportunity Act 1972).<br />

Dadurch kam auch <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Risikominimierung bzw.<br />

Vermeidung von Klagen wegen individueller Diskriminierung<br />

als wesentlicher Grund für Unternehmen hinzu, ein<br />

Miteinan<strong>der</strong> trotz aller Unterschiedlichkeiten zu unterstützen.<br />

Diversity Management ist somit zwar nicht direkt, aber<br />

womöglich indirekt auch gesetzlich motiviert (vgl. Koall/<br />

Bruchhagen 2005, S. 17-20; Bendl, 2004).<br />

David A. Thomas und Robin J. Ely (1996) haben eine Reihe US<br />

amerikanischer Unternehmen und <strong>der</strong>en Umgang mit Diversity<br />

untersucht und in <strong>der</strong> historischen Betrachtung unterschiedliche<br />

Phasen in <strong>der</strong> Entwicklung von Diversity Management<br />

beschrieben. (vgl. Engel 2004, S.15-15; vgl. Koall/Bruchhagen<br />

2005, S. 22-24):<br />

Eine erste Phase zeichnet sich dadurch aus, dass die Norm <strong>der</strong><br />

Fairness und Gerechtigkeit besteht, sowie die Übereinkunft,<br />

dass niemand diskriminiert werden darf. Die tatsächliche<br />

Umsetzung dessen ist aber von <strong>der</strong> individuellen<br />

Konfliktbereitschaft und -fähigkeit abhängig. D.h. es existiert<br />

eine Dominanzkultur, die Normen und somit unhinterfragt<br />

Normalität vorgibt, in die sich sämtliche Minoritäten zu integrieren<br />

haben. An<strong>der</strong>ssein wird als Wi<strong>der</strong>stand o<strong>der</strong><br />

Unprofessionalität gewertet. Alle – Frauen, Farbige,


96<br />

Diversity und Ausschluss<br />

Homosexuelle, u.a. – haben die Möglichkeit in den Organisationen<br />

Fuß zu fassen, vorausgesetzt sie geben dem<br />

Anpassungszwang <strong>der</strong> Mehrheitsangehörigen 1 nach und ordnen<br />

sich den vorhandenen Standards unter. Zuwan<strong>der</strong>erInnen<br />

verleugnen ihre kulturelle Herkunft und passen sich den westlichen<br />

Werten an, homosexuelle Menschen, verheimlichen ihre<br />

sexuelle Orientierung, um als heterosexuell zu gelten, Frauen<br />

unterstützen patriarchale Strukturen und somit den Ausschluss<br />

von gleichgeschlechtlichen Personen, etc..<br />

In einem nächsten Schritt werden zum einen durch die amerikanische<br />

Gesetzgebung spezielle Tätigkeitsfel<strong>der</strong> für Min<strong>der</strong>heitenangehörige<br />

eingeführt, um Sanktionszahlungen zu vermeiden,<br />

an<strong>der</strong>erseits wird entdeckt, dass das An<strong>der</strong>e bzw. die<br />

An<strong>der</strong>en für den Ausbau von KundInnenmärkten eingesetzt<br />

werden kann. Angehörige von Min<strong>der</strong>heiten werden damit<br />

interessant für Unternehmen. In dieser zweiten Phase wird<br />

gezielt rekrutiert, wobei weiterhin von dem Beson<strong>der</strong>en, dem<br />

An<strong>der</strong>en ausgegangen und die Differenzen betont werden.<br />

Minoritätsangehörige sind für jeweils spezifische Zielgruppen<br />

zuständig, um neue KundInnenmärkte zu erschließen und zu<br />

betreuen, o<strong>der</strong> haben Aufgabenbereiche mit niedrigen sozialen<br />

Status inne. Wenn hier auch <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>e Nutzen von<br />

Minoritätsangehörigen sichtbar o<strong>der</strong> gar betont wird, so för<strong>der</strong>t<br />

das gleichzeitig die Bildung von Nischen und somit auch die<br />

(Re-)Produktion von Stereotypen.<br />

Erst in <strong>der</strong> dritten Phase geht es um ein Erlernen eines effizienten<br />

Umgangs mit Unterschiedlichkeiten. Hier wird die<br />

Integration minorisierter Personen angeregt, auch durch<br />

Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Organisationen und struktureller Rahmenbedingungen,<br />

wie <strong>der</strong> Kommunikationsbeziehungen und hierarchischer<br />

Positionierungen. An<strong>der</strong>ssein gilt nicht als Wi<strong>der</strong>stand<br />

gegen die Dominanzkultur o<strong>der</strong> fachliches Defizit, son<strong>der</strong>n<br />

wird unter dem Aspekt einer grenzerweiternden Perspektive<br />

wertgeschätzt. Das Managementkonzept »Diversity<br />

Management« ist entstanden.


Diversity und Ausschluss 97<br />

Entsprechend dem »american way of life« basiert dieses<br />

Konzept auf dem Leistungsgedanken. Die individuelle<br />

Leistung wird betont, denn sie ermöglicht gesellschaftliche<br />

Durchlässigkeit. (vgl. Koall/Bruchhagen 2005, S.17). Wenn die<br />

Leistung im Sinne <strong>der</strong> Wirtschaftlichkeit stimmt, ist die<br />

Gruppenzugehörigkeit per se unwesentlich und es gilt lediglich<br />

eine gemeinsame Basis zu finden im <strong>Arbeit</strong>salltag. Der politisch<br />

korrekte Anspruch Vielfalt nicht nur zu akzeptieren, son<strong>der</strong>n<br />

auch zu för<strong>der</strong>n und das Positive in Diversity zu sehen, ist<br />

hinzugekommen als ein wesentlicher Aspekt, um das<br />

Management von Vielfalt und Unterschiedlichkeit zu unterstützen.<br />

Die zunehmende Leistungs- und Marktorientierung in<br />

Kombination mit einer steigenden sichtbaren Vielfalt <strong>der</strong><br />

Bevölkerung auf Grund <strong>der</strong> demographischer Entwicklungen<br />

(vgl. Stuber 2004, S. 110 – 134) lässt Diversity und Diversity<br />

Management auch in Europa zu relevanten Themen werden.<br />

»Managing Gen<strong>der</strong> und Diversity« –<br />

Diversity Management im deutschsprachigen Raum<br />

Betrachtet man die Entwicklung von Diversity Management im<br />

deutschsprachigen Raum, so fällt auf, dass oft von »Managing<br />

Gen<strong>der</strong> und Diversity« gesprochen wird und die Dimension<br />

Gen<strong>der</strong> somit explizit hervorgehoben wird, bei einschlägigen<br />

Publikationen, bei <strong>der</strong> Benennung von Gen<strong>der</strong>- und Diversitylehrgängen,<br />

bei <strong>der</strong> Bezeichnung von Gen<strong>der</strong>- und Diversitybeauftragten,<br />

bei <strong>der</strong> Titulierung von Lehrveranstaltungen, etc.<br />

Diese Tatsache resultiert aus <strong>der</strong> spezifischen Entwicklung und<br />

den gesetzlichen Bestimmungen im deutschsprachigen Raum<br />

im Vergleich zu den USA:<br />

Die 80er und 90er Jahre in Westeuropa waren geprägt von<br />

Chancengleichheitsprogrammen, die auf die Gleichstellung <strong>der</strong><br />

Geschlechter abzielten und speziell die Frauenför<strong>der</strong>ung voran-


98<br />

Diversity und Ausschluss<br />

trieben. Die Bedeutung von Gen<strong>der</strong> Mainstreaming, wurde bei<br />

<strong>der</strong> UN Weltfrauenkonferenz 1985 entwickelt und hielt 1996<br />

Einzug in die EU, wo es im Artikel 3 des Amsterdamer<br />

Vertrages Nie<strong>der</strong>schlag fand. Es wurde damit zur Aufgabe aller<br />

EU Staaten Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung<br />

von Frauen und Männern zu för<strong>der</strong>n. Eine<br />

Anfor<strong>der</strong>ung, <strong>der</strong> Österreich im Jahr 2000 explizit nachkam,<br />

indem es ein Gleichbehandlungsgesetz für Frauen und Männer<br />

beschloss (vgl. Bendl 2004, S. 46-53). Erst in demselben Jahr<br />

verabschiedete die EU auch eine Richtlinie zum Verbot <strong>der</strong><br />

Diskriminierung im <strong>Arbeit</strong>sbereich auf Grund <strong>der</strong> Rasse und<br />

<strong>der</strong> ethnischen Herkunft und schuf auch einen Rahmen gegen<br />

Diskriminierung auf Grund von Behin<strong>der</strong>ung, sexueller<br />

Orientierung, <strong>der</strong> Weltanschauung, <strong>der</strong> Religion und des Alters.<br />

Das führte 2004 zu einer Novellierung des Gleichbehandlungsgesetzes<br />

in Österreich, das über die Gleichbehandlung<br />

von Mann und Frau hinaus geht und auch Menschen vor<br />

Diskriminierung in <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>swelt auf Grund von ethnischer<br />

Zugehörigkeit, Religion o<strong>der</strong> Weltanschauung, des Alters und<br />

<strong>der</strong> sexuellen Orientierung schützen soll (vgl. Gutschlhofer<br />

2006).<br />

Ganz im Gegensatz zu den USA lag <strong>der</strong> inhaltliche Fokus <strong>der</strong><br />

Gleichbehandlung in Europa also auf dem Gen<strong>der</strong>aspekt und<br />

erst aufgrund EU-rechtlicher Vorgaben erfolgte eine gesetzliche<br />

Gleichstellung in Bezug auf weitere Diversityaspekte, wobei<br />

die Bedeutung des Gen<strong>der</strong>aspektes nach wie vor sichtbar in <strong>der</strong><br />

Bezeichnung mitgeführt wird.<br />

Von <strong>der</strong> Wirtschaft in die soziale <strong>Arbeit</strong><br />

Auch im Bereich <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong> rückt die Heterogenität <strong>der</strong><br />

Bevölkerung auf KundInnen- bzw. KlientInnenseite ins<br />

Bewusstsein und wird immer mehr zum Thema. Vor allem <strong>der</strong><br />

steigende Anteil an MigrantInnen, scheint bei den Mitarbei-


Diversity und Ausschluss 99<br />

terInnen von sozialen Institutionen verunsichernd und irritierend<br />

zu wirken. Gleichzeitig besteht das Bemühen auch sozial<br />

benachteiligte Menschen aus an<strong>der</strong>en Herkunftslän<strong>der</strong>n gut<br />

betreuen zu können.<br />

Der Begriff Diversity – Vielfalt – findet im psychosozialen<br />

Bereich weitgehend eine reduktionistische Verwendung und<br />

wird oft als Synonym für Interkulturalität verwendet. 2<br />

Bei diesem Zugang wird allerdings leicht übersehen, dass kultureller<br />

Hintergrund bzw. Herkunft nur ein Aspekt von<br />

Diversity ist, auf Grund dessen sich Menschen unterscheiden.<br />

Weitere Aspekte, wie Geschlecht, Alter, Behin<strong>der</strong>ung, sexuelle<br />

Orientierung, etc., die die Identität von Personen prägen, werden<br />

ausgeblendet. Vergleichen wir die beschriebene Entwicklung<br />

des Einzuges von Diversity in amerikanische<br />

Unternehmen weiter vorne in diesem Artikel, so scheint <strong>der</strong><br />

Verlauf im deutschsprachigen Raum im Bereich <strong>der</strong> sozialen<br />

<strong>Arbeit</strong> diesem sehr ähnlich zu sein. Nachdem MigrantInnen<br />

bereits vereinzelt in Institutionen des psychosozialen Bereichs<br />

vorgedrungen sind, vorausgesetzt sie entsprechen den vorhandenen<br />

Werten und Standards – o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ausgedrückt sind gut<br />

assimiliert, so dürfte nun Phase 2 eingetreten sein. Auch die<br />

soziale <strong>Arbeit</strong> ist auf Grund <strong>der</strong> zunehmenden Heterogenität <strong>der</strong><br />

Bevölkerung mit neuen Markterfor<strong>der</strong>nissen konfrontiert.<br />

Soziale Einrichtungen sind bemüht <strong>der</strong> Situation damit zu<br />

begegnen, dass sie danach streben, vermehrt MitarbeiterInnen<br />

mit Migrationshintergrund und Fremdsprachenkenntnissen<br />

anzuwerben. Die Anfor<strong>der</strong>ungen des »Marktes« lassen<br />

MigrantInnen als wertvolle MitarbeiterInnen erscheinen, die<br />

nun gezielt rekrutiert werden, um ihresgleichen gut betreuen<br />

und beraten zu können. Das Anfor<strong>der</strong>ungsprofil: Menschen mit<br />

einschlägiger Ausbildung, mit sehr guten Deutschkenntnissen,<br />

Migrationshintergrund und einschlägigen Sprachkenntnissen.<br />

Dieses Vorgehen zieht aber per se keine diversifizierte<br />

Unternehmenskultur nach sich – ganz im Gegenteil, es för<strong>der</strong>t<br />

Monokultur trotz ausländischer MitarbeiterInnen. Menschen


100<br />

Diversity und Ausschluss<br />

mit interkulturellem Hintergrund werden rekrutiert, unter dem<br />

Aspekt <strong>der</strong> Nützlichkeit für die soziale Institution. Es werden<br />

»die Besten« ausgesucht, die sich auch dadurch auszeichnen,<br />

dass sie im Großen und Ganzen <strong>der</strong> Mehrheitskultur entsprechen,<br />

abgesehen von ein bis zwei Zusatzqualifikationen. O<strong>der</strong><br />

wie viele Mitarbeiterinnen in sozialen Institutionen mit<br />

Kopftuch kennen Sie?<br />

Obwohl Du an<strong>der</strong>s bist, darfst Du dazu gehören, aber du darfst<br />

nur soweit an<strong>der</strong>s sein, wie es zu unseren Werten passt. Alles an<br />

Abweichung, was darüber hinaus geht, erzeugt einen Anpassungsdruck,<br />

<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Regel von den Betroffenen selbst bewältigt<br />

werden muss (vgl. Pauser 2007, S.56), wenn sie dazu gehören<br />

wollen. Hinzu kommt, dass auf Grund des an<strong>der</strong>s Seins,<br />

an<strong>der</strong>e Bereiche zugeordnet werden. Die Kollegin aus dem Iran<br />

ist meist für Interkulturelles und MigrantInnen zuständig.<br />

Durch diese Art <strong>der</strong> Ausglie<strong>der</strong>ung wird einer Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

seitens <strong>der</strong> Mehrheitskultur ausgewichen. Wenn auch<br />

das Bewusstsein besteht, dass das An<strong>der</strong>e wichtig und nützlich<br />

ist, so birgt die momentane Vorgehensweise die Gefahr des<br />

Ausschlusses in sich – des Ausschlusses von Vielfalt.<br />

Diversity statt Ausschluss in <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong><br />

Für einen kompetenten Umgang mit Diversity, <strong>der</strong> Vielfalt<br />

sichtbar macht und (be-)för<strong>der</strong>t und somit hilft Ausschluss entgegen<br />

zu wirken, sind folgende Aspekte hervorzuheben, die<br />

meiner Meinung nach von zentraler Bedeutung sind und über<br />

die hier beschriebenen Bestrebungen in <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong> hinaus<br />

gehen.<br />

Zum einen ist Diversity ein breiter Begriff, <strong>der</strong>, wie erwähnt,<br />

mehr meint als Interkulturalität. Diversity betont nicht nur die<br />

Unterschiedlichkeiten unter Menschen, son<strong>der</strong>n auch die<br />

Vielfalt im Menschen. Türken sind nicht nur Türken, Türken<br />

sind auch Männer, sie sind alt o<strong>der</strong> jung, homo- o<strong>der</strong> heterose-


Diversity und Ausschluss 101<br />

xuell, mit o<strong>der</strong> ohne physischer Behin<strong>der</strong>ung, Väter, Großväter<br />

o<strong>der</strong> allein stehend, etc..<br />

Konkret bedeutet das auch für die soziale <strong>Arbeit</strong> mit ihrem<br />

Diversity Fokus auf Interkulturalität den Blick zu öffnen für die<br />

vielfältigen Lebensläufe von MigrantInnen, für die Vielfalt in<br />

ihrer Person und die Aspekte, die sie ausmachen (vgl. Vahsen<br />

2000, S.119). Es gilt zu erkennen, dass es auch in <strong>der</strong> sozialen<br />

<strong>Arbeit</strong> tradierte Bil<strong>der</strong> über das Zusammenleben in<br />

MigrantInnenfamilien gibt, über Männer und Frauenrollen und<br />

religiös fixierte Zuschreibungen, die es zu überprüfen gilt, um<br />

Stereotype, Vorurteile und (unbewusste) Diskriminierungen<br />

aufzudecken (vgl. Vahsen 2000, S18-19).<br />

Zum an<strong>der</strong>en bedeutet Diversity »Gemeinsamkeiten UND<br />

Unterschiede«. Die Kunst besteht darin Gemeinsamkeiten im<br />

Auge zu behalten, ohne Unterschiedlichkeiten zu leugnen.<br />

Minoritätsangehörige unterscheiden sich von <strong>der</strong> herrschenden<br />

Mehrheit. Damit sind hier allerdings nicht die nahezu romantischen<br />

Projektionen auf das An<strong>der</strong>e gemeint, die die an<strong>der</strong>en als<br />

exotisch, anziehend, gastfreundlich, sozial, spontan, etc. erscheinen<br />

lassen (vgl. Gaitanides 2005), son<strong>der</strong>n die Tatsache, dass es<br />

anzuerkennen gilt, dass Min<strong>der</strong>heitsangehörige auf Grund ihrer<br />

Gruppenzugehörigkeit an<strong>der</strong>e Erfahrungen machen als<br />

Mehrheitsangehörige – konkret: Diskriminierungserfahrungen<br />

(vgl. Vahsen 2000, S.70f). Min<strong>der</strong>heitenangehörige begegnen<br />

häufig Situationen des Ausschlusses. Ihre Gruppenzugehörigkeit<br />

auf Grund <strong>der</strong> ethnischen Herkunft, Hautfarbe, körperlicher<br />

Behin<strong>der</strong>ung, etc. ist permanent sichtbar – für sich und für an<strong>der</strong>e.<br />

Sie erleben im Alltag Stresssituationen und spezifische<br />

Risiken, vor denen Mehrheitsangehörige verschont bleiben, bis<br />

hin zur tätlichen Angriffen und Beschimpfungen auf <strong>der</strong> Straße<br />

einzig aufgrund ihres »an<strong>der</strong>s Sein«.<br />

Das führt in weiterer Folge zu natürlichen Grenzen <strong>der</strong><br />

Einfühlung auf Seiten <strong>der</strong> ProfessionistInnen <strong>der</strong> Mehrheitskultur,<br />

dessen sie sich bewusst sein sollten. Siebert (1996) formuliert<br />

(zit. nach Vahsen 2000 S. 65):


102<br />

Diversity und Ausschluss<br />

»Nicht das Verstehen um jeden Preis, die totale Empathie ist wünschenswert<br />

(...), son<strong>der</strong>n die Einsichten in die Grenzen des<br />

Fremdverstehens.«<br />

Nicht <strong>der</strong>/die an<strong>der</strong>e ist fremd, son<strong>der</strong>n wir sind einan<strong>der</strong> fremd<br />

und das gilt es auszuhalten, um dann einen gemeinsamen Weg<br />

im Sinne einer gleichberechtigten Integration zu finden.<br />

Darüber hinaus ist Diversity Management auf allen Ebenen zu<br />

berücksichtigen. Die Orientierung an sozialer Gerechtigkeit ist<br />

gerade im Bereich <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong> sehr präsent und politische<br />

Korrektheit wird groß geschrieben. Das hat aber lei<strong>der</strong> nicht<br />

automatisch das Verschwinden von Vorurteilen und Diskriminierung<br />

zur Folge. Vorurteile und Diskriminierung werden<br />

dadurch lediglich tabuisiert und subtil – meist unbewusst ausgelebt.<br />

Anstatt einer Ausgrenzung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en kommt es zu einer<br />

Bevorzugung <strong>der</strong> Eigengruppe (vgl. Devine, Plant, Blair 2001).<br />

Diese Mechanismen spiegeln sich auch in den Systemen <strong>der</strong><br />

professionellen Institutionen wi<strong>der</strong>, die durch ihre Ausrichtung<br />

an tradierten Mehrheitsnormen implizit an<strong>der</strong>e ausschließen<br />

(vgl. Vahsen, 2000). Es bedarf somit auch Verän<strong>der</strong>ungen auf<br />

organisatorischer Ebene mit Aus- und Rückwirkungen auf die<br />

bestehenden sozialen Normen:<br />

Die interkulturelle Orientierung einer Institution beginnt beim<br />

Leitbild und impliziert eine entsprechende Zusammensetzung <strong>der</strong><br />

Personals, schließt fragwürdige <strong>Arbeit</strong>steilung aus und erfor<strong>der</strong>t<br />

Partizipation und Transparenz (Auerheimer 2005, S.19).<br />

Das gilt nicht nur für eine interkulturelle Öffnung, son<strong>der</strong>n ist<br />

ein wesentlicher Aspekt für Diversity Management auf institutioneller<br />

Ebene.<br />

»Simply recruiting people from different backgrounds is not enough;<br />

there has to be a complementary effort to support those individuals<br />

once they have entered the organization« (Johns/Jordan, 2006, S.1274).


Diversity und Ausschluss 103<br />

Diversity und soziale <strong>Arbeit</strong> –<br />

ein politischer Anspruch?<br />

Sozialarbeit mit einem politisch-reflexiven Anspruch hat schon<br />

lange das Problem struktureller Unterdrückung in den unterschiedlichsten<br />

Bereichen erkannt und dennoch ist zu beobachten,<br />

wie strukturelle und politische Entwicklungen es geschafft<br />

haben, soziale <strong>Arbeit</strong> zu einem Bereich zu machen, in dem<br />

administrative und evaluative Tätigkeiten und Fähigkeiten<br />

immer mehr an Bedeutung gewinnen – und Politisches aus dem<br />

Berufsalltag verschwindet (vgl. Johns/Jordan 2006).<br />

»The radical agenda of anti-oppressive, inclusive and empowering<br />

practice has been sidelined.« (Johns/Jorda, 2006, S.1273).<br />

Stellt sich die Frage, ob sich diese Tendenz nicht auch im<br />

Bereich Diversity und soziale <strong>Arbeit</strong> wi<strong>der</strong>spiegelt. Statt<br />

Integrationsbewusstsein zu för<strong>der</strong>n, wird ein utilitaristischer<br />

Zugang gewählt. Aber Diversity ist nicht nur eine wirtschaftliche<br />

Ressource, son<strong>der</strong>n hat auch einen politischen Anspruch.<br />

Dazu gehört es, strukturelle Unterdrückung aufzuzeigen und<br />

aktiv Ausschlussmechanismen und Diskriminierung in den<br />

eigenen Reihen zu identifizieren. Stehen wirtschaftliche<br />

Aspekte und das Ziel <strong>der</strong> Effizienzsteigerung im Vor<strong>der</strong>grund<br />

wird nicht nur <strong>der</strong> Status Quo des Verhältnisses von Mehrheitsund<br />

Min<strong>der</strong>heitsangehörigen hingenommen, son<strong>der</strong>n auch darauf<br />

geachtet, dass die Stellung <strong>der</strong> Majorität und tradierte<br />

Ausschlussmechanismen nicht gefährdet werden.<br />

Es gilt einen Diskurs zu führen, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Komplexität des<br />

Themas Vielfalt mit all seinen Aspekten adäquat ist und das<br />

Ziel einer wahrhaftigen Integration und eines Miteinan<strong>der</strong> einer<br />

immer heterogener werdenden Bevölkerung hat.


104<br />

Anmerkungen<br />

1 Die Begriffe Mehrheit und Majorität wird in weiterer Folge nicht nur<br />

im Sinne einer zahlenmäßigen Mehrheit verwendet, son<strong>der</strong>n auch<br />

unter Berücksichtigung des Machtverhältnisses. In diesem Sinne ist<br />

in Bezug auf Gen<strong>der</strong> zum Beispiel die Gruppe <strong>der</strong> Männer als<br />

Majorität bzw. Mehrheit zu verstehen, wenn sie auch anzahlmäßig<br />

den Frauen gegenüber unterlegen sind.<br />

2 Diese Beobachtung spiegelt sich auch in geför<strong>der</strong>ten Sozialprojekten<br />

zu Diversity wi<strong>der</strong>, wie Diversity@Care, women.diversity.net, siqua,<br />

etc.<br />

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Perspektiven im Wandel. Neuwied: Leuchterhand.


Ideologiekritik und Theoriebildung<br />

Albert Scherr<br />

Jede Praxis, also auch die Praxis <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, basiert auf<br />

gesellschaftlichen »Wirklichkeitsmodellen« (Schmidt 2003),<br />

auf Annahmen darüber, was <strong>der</strong> Fall ist und wie angemessen<br />

gehandelt werden kann sowie auf Normalitätsmodellen und<br />

Normen, mit denen begründet wird, was bewirkt werden soll.<br />

Wirklichkeitsmodelle, Normalitätsmodelle und Normen verän<strong>der</strong>n<br />

sich mit <strong>der</strong> historischen Entwicklung und sind prinzipiell<br />

kontrovers, wie sich an unterschiedlichen Beispielen zeigen<br />

lässt: So hat sich inzwischen die Vorstellung einer prinzipiellen<br />

Gleichheit von Männern und Frauen und die normative Überzeugung<br />

durchgesetzt, dass Gleichbehandlung anstrebenswert<br />

ist; Homosexualität gilt nicht mehr, wie noch Anfang <strong>der</strong><br />

1970er Jahre, als behandlungsbedürftige psychische Krankheit,<br />

son<strong>der</strong>n als eine normale und zu akzeptierende Form menschlicher<br />

Sexualität; PädagogInnen haben gelernt, die Anwendung<br />

pädagogischer Gewalt nicht länger als unverzichtbares<br />

Erziehungsmittel zu betrachten, son<strong>der</strong>n als unzulässige Form<br />

<strong>der</strong> Misshandlung zu bewerten. Verän<strong>der</strong>ungen gesellschaftlich<br />

einflussreicher Sichtweisen werden in <strong>der</strong> Wissenssoziologie<br />

nicht als eine Folge rationaler Lernprozesse betrachtet, in denen<br />

sich das bessere Wissen gegen als falsch erkanntes durchsetzt,<br />

son<strong>der</strong>n auf ihren Zusammenhang mit gesellschaftsstrukturellen<br />

Entwicklungen und mit den Interessen sozialer Gruppen hin<br />

untersucht. Es wird danach gefragt, was bestimmte Sichtweisen<br />

<strong>der</strong> sozialen Wirklichkeit ermöglicht, welche Auswirkungen<br />

diese haben und was Verän<strong>der</strong>ungen auslöst. (vgl. Knoblauch<br />

2005) Bereits die ältere Wissenssoziologie verbindet die Frage<br />

nach dem sozial gültigen Wissen mit <strong>der</strong> Untersuchung von<br />

Machtverhältnissen. In seiner klassischen Studie »Außenseiter«<br />

thematisiert Howard S. Becker die »Definitionsmacht« sozialer


Ideologiekritik und Theoriebildung 107<br />

Gruppierungen, die bestimmte Vorstellungen über normales<br />

und abweichendes Verhalten etablieren und durchsetzen (vgl.<br />

Becker 1971, 133ff.). Peter L. Berger (1973, 3ff.) argumentiert,<br />

dass <strong>der</strong> »Zwangscharakter« <strong>der</strong> Gesellschaft« nicht nur in<br />

Gesetzen und Sanktionen begründet ist, son<strong>der</strong>n auch in ihrer<br />

Macht, bestimmte Sichtweisen <strong>der</strong> Wirklichkeit als objektiv<br />

gültige zu setzen. Diskursanalyse in <strong>der</strong> von Michel Foucault<br />

begründeten Tradition (vgl. Keller et al. 2006) fragt dezidiert<br />

nach den Macht- und Herrschaftseffekten von ›Macht-Wissens-<br />

Komplexen‹: Wissen und Macht sind demnach keine Gegensätze,<br />

son<strong>der</strong>n bestimmtes Wissen ermöglicht und begründet<br />

bestimmte Formen <strong>der</strong> Macht- und Herrschaftsausübung.<br />

Ideologiekritik – ein in <strong>der</strong> Traditionslinie <strong>der</strong> Marx’schen<br />

Kapitalismuskritik zu verortendes und inzwischen als eher<br />

unmo<strong>der</strong>n geltendes Unternehmen – verfolgt ein vergleichbares<br />

Anliegen (vgl. als einführenden Überblick Haug 1992): Hier<br />

geht es zentral darum, aufzuzeigen, dass und wie gesellschaftliche<br />

Strukturen und Machtverhältnisse durch die jeweils vorherrschenden<br />

Wirklichkeitsmodelle gerechtfertigt werden:<br />

Ideologien sind im Kern Rechtfertigungslehren, die die<br />

Notwendigkeit einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung,<br />

<strong>der</strong> sie kennzeichnenden Strukturen sozioökonomischer<br />

Ungleichheit und <strong>der</strong> politischen Machtverhältnisse behaupten.<br />

Naturalisierung und allgemeines Interesse<br />

Eine Grundfigur ideologischen Denkens ist die <strong>der</strong><br />

Naturalisierung sozialer Verhältnisse: Eine bestimmte Ordnung<br />

<strong>der</strong> gesellschaftlichen Verhältnisse wird damit gerechtfertigt,<br />

dass sie den vermeintlich naturgegebenen Eigenschaften von<br />

Menschen bzw. naturgesetzlichen Prinzipien entspricht. Auch<br />

die aktuelle Programmatik des Neoliberalismus basiert auf solcher<br />

Naturalisierung: Die zentrale For<strong>der</strong>ung nach einer marktökonomischen<br />

Steuerung aller gesellschaftlichen Teilbereiche


108<br />

Ideologiekritik und Theoriebildung<br />

wird u. a. mit einer Darstellung von Globalisierung als ein<br />

naturgesetzlicher Prozess verbunden, in dem nationale Grenzen<br />

vermeintlich bedeutungslos werden sowie mit <strong>der</strong> Behauptung,<br />

dass sich die Überlegenheit des Marktes als rationales<br />

Steuerungsinstrument für die Koordination des Handelns von<br />

Menschen, <strong>der</strong>en Grundantrieb die egoistische Verfolgung<br />

eigener Interesse sei, zweifelsfrei erwiesen habe (vgl. etwa<br />

Willke 2003).<br />

Eine weitere klassische Grundfigur ideologischen Argumentierens<br />

besteht darin, dass spezifische Interessen als<br />

Allgemeine, als das gemeinsame wohlverstandene Eigeninteresse<br />

aller Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> dargestellt werden. In <strong>der</strong><br />

Entstehungsphase mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften war es v. a. die bürgerlichen<br />

Ideen <strong>der</strong> (Vertrags-)Freiheit und (rechtlichen)<br />

Gleichheit, die als Ausdruck allgemeiner menschlicher Naturrechte<br />

und als Grundlage einer vernünftigen Gesellschaftsgestaltung<br />

behauptet wurden. Ideologiekritik zielt darauf bezogen<br />

auf den Nachweis, dass die bürgerlichen Freiheiten in dem<br />

Maße nicht Je<strong>der</strong>mann, son<strong>der</strong>n nur partikularen Interessen dienen,<br />

wie die rechtliche Gleichheit durch ökonomische<br />

Ungleichheit konterkariert und die formelle Freiheit durch ökonomische<br />

Zwänge und politische Machtverhältnisse in einer<br />

Weise eingeschränkt wird, die den Interessen <strong>der</strong> Lohnabhängigen<br />

und <strong>der</strong> Armen wi<strong>der</strong>sprechen: Das Gesetz »in seiner<br />

erhabenen Gleichheit verbietet es Reichen wie Armen,<br />

unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und<br />

Brot zu stehlen«, so eine klassische Formulierung von Anatole<br />

France (1925, 116).<br />

Angesichts des mit neoliberalen Argumenten legitimierten<br />

Abbaus sozialstaatlicher Leistungen bei gleichzeitiger Stärkung<br />

repressiver Instrumente staatlicher Kontrolle und Sanktionierung<br />

– in Hinblick auf die USA hat Loic Wacquant (2006)<br />

den Umbau vom Wohlfahrtsstaat zum strafenden Staat und die<br />

Kriminalisierung <strong>der</strong> Armut detailliert beschrieben – besteht<br />

gegenwärtig ersichtlich hinreichen<strong>der</strong> Anlass für Ideologie-


Ideologiekritik und Theoriebildung 109<br />

kritik. Dabei kann aber, wie im Folgenden deutlich werden soll,<br />

die Soziale <strong>Arbeit</strong> selbst aus einer ideologiekritischen Thematisierung<br />

nicht ausgeklammert werden.<br />

Gibt es eine Garantie des richtigen Standpunkts<br />

<strong>der</strong> Kritik?<br />

Dass Ideologiekritik gegenwärtig gleichwohl nicht en vogue<br />

ist, hängt mit einem zentralen Problem <strong>der</strong> klassischen<br />

Ideologiekritik zusammen: Wer ein bestimmtes Wirklichkeitsmodell<br />

mit <strong>der</strong> klassischen Marx’schen Formel als »notwendig<br />

falsches Bewusstsein« qualifiziert, muss für sich in Anspruch<br />

nehmen, das falsche vom richtigen Bewusstsein unterscheiden<br />

zu können, also über einen privilegierten Zugang zur Wahrheit<br />

zu verfügen. Niemand, auch <strong>der</strong> Ideologiekritiker selbst, kann<br />

aber beanspruchen, über einen Standpunkt zu verfügen, <strong>der</strong><br />

außerhalb gesellschaftlicher Einflussnahmen auf sein Denken<br />

steht. Ideologiekritik setzt sich also selbst dem Verdacht aus,<br />

auf ideologischen – nicht rational begründbaren – Annahmen<br />

zu beruhen. Dies hat u. a. bei Michel Foucault (1992, 31) zu<br />

einer Distanzierung von <strong>der</strong> Programmatik <strong>der</strong> Ideologiekritik<br />

geführt:<br />

»Man möchte nicht wissen, was wahr o<strong>der</strong> falsch, begründet o<strong>der</strong><br />

nicht begründet, wissenschaftlich o<strong>der</strong> ideologisch, legitim o<strong>der</strong> missbräuchlich<br />

ist. Man möchte wissen, welche Verschränkungen zwischen<br />

Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen aufgefunden<br />

werden können, welche Verweisungen und Stützungen sich zwischen<br />

ihnen entwickeln, wieso ein bestimmtes Erkenntniselement – sei es<br />

wahr o<strong>der</strong> wahrscheinlich o<strong>der</strong> ungewiss o<strong>der</strong> falsch – Machtwirkungen<br />

annimmt und wieso ein bestimmtes Zwangsverfahren<br />

rationale, kalkulierbare, technisch effiziente Formen und Rechtfertigungen<br />

annimmt.« (ebd.: 31)


110<br />

Ideologiekritik und Theoriebildung<br />

Verzichtet man nun aber darauf, ganz generell die Verzichtbarkeit<br />

von Zwangsmechanismen und die Überwindbarkeit von<br />

Machtwirkungen zu behaupten, dann stellt sich an Foucault und<br />

die Diskursanalyse die Frage, was eine Kritik bestimmter<br />

Zwangsmechanismen, Erkenntniselemente und Machtwirkungen<br />

ermöglicht. Denn Foucault teilt mit <strong>der</strong> klassischen<br />

Ideologiekritik das Motiv <strong>der</strong> Kritik: Auch bei ihm geht es<br />

darum, gegebene Herrschaftsverhältnisse in Frage zu stellen<br />

und nichts als wahr zu akzeptieren »was eine Autorität als wahr<br />

ansagt« o<strong>der</strong> »weil eine Autorität es als wahr vorschreibt«<br />

(ebd.: 14).<br />

Folglich steht Diskursanalyse ebenso wie Ideologiekritik vor<br />

<strong>der</strong> Aufgabe, die Kriterien auszuweisen, die sie für die<br />

Begründung einer kritischen Perspektive in Anspruch nimmt.<br />

Kritik kann sich entsprechend auf Regeln wissenschaftlichen<br />

Argumentierens beziehen: Eine bestimmte Sichtweise wird in<br />

Frage gestellt, weil ihre theoretischen und empirischen<br />

Begründungen nicht überzeugen. Ein an<strong>der</strong>er Modus <strong>der</strong> Kritik<br />

akzentuiert die Diskrepanz zwischen den normativen<br />

Prinzipien, die politisch in Anspruch genommen werden, und<br />

den Effekten gesellschaftspolitischer Entscheidungen, also<br />

etwa zwischen Gleichheits- und Gerechtigkeitsnormen und <strong>der</strong><br />

Realität ungleicher und ungerechter Verhältnisse.<br />

In beiden Fällen gilt, dass Kritik keineswegs voraussetzen<br />

kann, aber auch nicht voraussetzen muss, »selbst im garantierten<br />

Besitz <strong>der</strong> einen, absoluten und ewigen Wahrheit zu sein«;<br />

sie muss für sich beanspruchen können, »die besseren<br />

Argumente zu haben« (Haug 1992: 118). Ideologiekritik<br />

besteht also darin, in den Streit um die besseren Argumente einzutreten<br />

und dabei Begründungen und Rechtfertigungen von<br />

sozialen Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnissen unter<br />

den Verdacht zu stellen, auf rational nicht begründbaren<br />

Prämissen und Setzungen zu basieren. Dies schließt eine selbstkritische<br />

Perspektive nicht aus, son<strong>der</strong>n ein: Angemessene<br />

Grundlage von Ideologiekritik kann kein Dogmatismus sein,


Ideologiekritik und Theoriebildung 111<br />

<strong>der</strong> sich gegen Zweifel an <strong>der</strong> Tragfähigkeit eigener Überzeugungen<br />

abschottet, son<strong>der</strong>n nur die Bereitschaft, sich auf den<br />

offenen und unabschließbaren Prozess <strong>der</strong> kritischen Hinterfragung<br />

und argumentativen Begründung immer wie<strong>der</strong> erneut<br />

einzulassen.<br />

Wozu Ideologiekritik in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>?<br />

Mo<strong>der</strong>ne Soziale <strong>Arbeit</strong> hat sich in kritischer<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung auch mit ihrer eigenen Tradition entwikkelt,<br />

einer Tradition, in <strong>der</strong> sich Soziale <strong>Arbeit</strong> immer wie<strong>der</strong><br />

als Anwalt <strong>der</strong> gesellschaftlichen Ordnung gegenüber denjenigen<br />

verstanden hat, die sich den ökonomischen Zwängen, den<br />

rechtlichen Normen und den gesellschaftlichen Normalitätserwartungen<br />

nicht anpassen können o<strong>der</strong> wollen. So fasst<br />

August Aichorn in seiner klassischen Studie zur Fürsorgeerziehung<br />

die Bezugsproblematik (Aichorn 1951) als »Verwahrlosung«<br />

und als »Dissozialenproblem« (ebd.: 39) und die<br />

Zielsetzung als »Aufrichten des sozial gerichteten Ichideals,<br />

das heißt im Nachholen jenes Stücks <strong>der</strong> individuellen<br />

Entwicklung, das dem Verwahrlosten zur vollen Kulturfähigkeit<br />

gemangelt hat« (ebd.: 200). Hans Scherpner bestimmt<br />

noch Anfang <strong>der</strong> 1960er Jahre die »Unangepasstheit des<br />

Einzelnen an die materiellen Lebensbedingungen« und seine<br />

»Unzulänglichkeit gegenüber <strong>der</strong> moralischen Ordnung <strong>der</strong><br />

Gemeinschaft« als Bezugsproblem sozialarbeiterischer Interventionen<br />

(Scherpner 1962, 122). Die Erfahrung <strong>der</strong><br />

Verstrickung <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> in die nationalsozialistische<br />

Politik <strong>der</strong> Ausson<strong>der</strong>ung und Vernichtung <strong>der</strong> »Asozialen« und<br />

»Gemeinschaftsschädlinge« hatte also zunächst keineswegs zu<br />

einer grundlegenden Infragestellung eines solchen Verständnisses<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> geführt, das auf Verän<strong>der</strong>ungen »problematischer«<br />

Verhaltensweisen von Individuen zielt, ohne dass<br />

eine Hinterfragung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Maßstäbe erfolgt, die


112<br />

Ideologiekritik und Theoriebildung<br />

jeweiligen Problemwahrnehmungen zu Grunde liegen. Dies<br />

än<strong>der</strong>t sich erst in dem Maße, wie Versuche zu einer gesellschaftstheoretisch<br />

fundierten Theorie <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> vorgelegt<br />

werden und an Einfluss gewinnen. So formuliert Klaus<br />

Mollenhauer (1964: 19) programmatisch, dass Sozialpädagogik<br />

»Bestandteil des pädagogischen Systems, das durch die industrielle<br />

Gesellschaft hervorgebracht wurde« sei und deshalb<br />

gelte, dass »alles, was über sie zu sagen ist, .... sinnvoll auch<br />

nur in Bezug auf diese Gesellschaft gesagt werden« kann.<br />

Dabei weist er auf den konstitutiven und spezifischen<br />

Zusammenhang von gesellschaftlich bedingten Problemlagen<br />

und sozialpädagogischen Interventionen hin: »Von ihrem<br />

Beginn an und in allen ihren Formen war sie ein Antworten auf<br />

Probleme dieser Gesellschaft, die <strong>der</strong> Sozialpädagoge zu<br />

Erziehungsaufgaben umformulierte.« Daran anschließend kann<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> – im Sinne einer ersten, abstrakt-allgemeinen<br />

theoretischen Bestimmung – als eine gesellschaftliche Form<br />

<strong>der</strong> Bearbeitung von solchen Auswirkungen gesellschaftsstrukturell<br />

bedingter Problemlagen auf die Lebenssituation von<br />

Individuen und Familien verstanden werden, die die<br />

Inanspruchnahme von Hilfeleistung und/o<strong>der</strong> die Zuschreibung<br />

von Hilfsbedürftigkeit veranlassen. 1<br />

Folglich kann eine zentrale Aufgabe von Theoriebildung in <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> darin gesehen werden, den gesellschaftlichen<br />

Entstehungszusammenhang <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zur<br />

Bearbeitung zugewiesenen Problemlagen sowie gesellschaftliche<br />

Festlegungen zu analysieren, mit denen legitime von unberechtigten<br />

Hilfeerwartungen und vermeintlich angemessene<br />

von vermeintlich unangemessenen Formen des Helfens unterschieden<br />

werden. Theorie zielt dann darauf, Soziale <strong>Arbeit</strong> als<br />

eine gesellschaftlich situierte und gesellschaftlich strukturierte<br />

Praxis zu untersuchen und dabei die Bedingungen und<br />

Möglichkeiten, aber auch die strukturellen Grenzen sozialarbeiterischer<br />

Interventionen zu bestimmen. Dabei kann auf eine<br />

ideologiekritische Perspektive nicht verzichtet werden. Dies


Ideologiekritik und Theoriebildung 113<br />

gilt nicht ›nur‹ in Hinblick auf neoliberale Diskurse, die eine<br />

affirmative Darstellung marktökonomischer Prinzipien mit<br />

For<strong>der</strong>ungen nach einer verstärkten Kontrolle und Sanktionierung<br />

<strong>der</strong>jenigen verbinden, die an den Zwängen und<br />

Zumutungen des sich mo<strong>der</strong>nisierenden Kapitalismus scheitern.<br />

Denn Soziale <strong>Arbeit</strong> findet sich, was im Weiteren zu erläutern<br />

sein wird, in einer Situation vor, in <strong>der</strong> ideologische, etwa<br />

paternalistische, personalisierende und moralisierende Sichtweisen<br />

nicht nur als Traditionsbestand einflussreich sind, son<strong>der</strong>n<br />

durch das grundlegende Arrangement <strong>der</strong> individualisierenden<br />

Bearbeitung gesellschaftlich bedingter Problemlagen<br />

immer wie<strong>der</strong> erneut nahe gelegt werden.<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> als Verschiebung<br />

Um als SozialarbeiterIn handlungsfähig zu sein und zu bleiben,<br />

um den beruflichen Alltag bewältigen zu können, ist es erfor<strong>der</strong>lich,<br />

mit den jeweils verfügbaren Mitteln auf diejenigen<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen und Problemlagen zu reagieren, die sich im<br />

Kontext <strong>der</strong> jeweiligen Praxis stellen. Dazu ist es unverzichtbar<br />

anzuerkennen, dass Soziale <strong>Arbeit</strong> an die zentralen Ursachen<br />

<strong>der</strong> Probleme, mit denen sie konfrontiert ist, nicht heranreicht:<br />

Zum Beispiel kann Soziale <strong>Arbeit</strong> mit arbeitslosen Jugendlichen<br />

zwar versuchen, <strong>der</strong>en individuelle Chancen auf dem<br />

Ausbildungs- und <strong>Arbeit</strong>smarkt zu verbessern, sie hat aber<br />

ersichtlich nur wenig Einfluss auf die <strong>Arbeit</strong>smarkt- und<br />

Bildungspolitik. Soziale <strong>Arbeit</strong> verfügt auch nicht über<br />

Möglichkeiten, eine Politik <strong>der</strong> Armutsbekämpfung durch<br />

Umverteilung durchzusetzen, sie kann sich nur darum bemühen,<br />

die konkrete Lebenssituation ihrer jeweiligen Adressaten<br />

zu verbessern. 2<br />

Dabei ist Soziale <strong>Arbeit</strong> vielfach mit Adressaten konfrontiert,<br />

die sich durchaus »unvernünftig« und »ärgerlich« verhalten,<br />

indem sie sich etwa schulischen o<strong>der</strong> beruflichen


114<br />

Ideologiekritik und Theoriebildung<br />

Möglichkeiten verweigern, und gelegentlich mit solchen, die<br />

sich selbst und an<strong>der</strong>e beschädigen, etwa durch Drogengebrauch,<br />

durch Vernachlässigung von Kin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> durch<br />

Gewaltausübung. Dass die Armen und Benachteiligten nicht<br />

›die besseren Menschen‹ sind und eine Haltung <strong>der</strong> Sympathie<br />

mit denjenigen, die den Normalitätserwartungen einer geordneten<br />

bürgerlichen Lebensführung nicht entsprechen können, mitunter<br />

an ihre Grenzen stößt, gehört zu den Grun<strong>der</strong>fahrungen<br />

je<strong>der</strong> SozialarbeiterIn. Eine Theorie <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> hat entsprechend<br />

in Rechnung zu stellen, dass soziale Ungleichheit<br />

und soziale Ausgrenzung nicht nur zu objektiv benachteiligten<br />

Lebensbedingungen führen, son<strong>der</strong>n auch die Subjektivität <strong>der</strong><br />

Benachteiligten, Ausgegrenzten und Diskriminierten beschädigen<br />

können: Subjektivität im Sinne eigenverantwortlicher<br />

Urteils- und Handlungsfähigkeit, als Fähigkeit zur empathischen<br />

Perspektivenübernahme und zur moralischen Abwägung<br />

zwischen Handlungsalternativen o<strong>der</strong> als Möglichkeit zur<br />

Ausrichtung <strong>der</strong> eigenen alltäglichen Lebensführung ist sozial<br />

voraussetzungsvoll. Denn Lebensbedingungen, die durch<br />

Armut und Unsicherheit gekennzeichnet sind, können dazu<br />

führen, dass das Denken und Handeln darauf fokussiert ist, den<br />

Alltag irgendwie zu bewältigen; Subjektivität reduziert sich<br />

dann ggf. auf Bemühungen, die eigene psychische Verfassung<br />

zu stabilisieren und praktischen Handlungszwängen <strong>der</strong> alltäglichen<br />

Lebensführung gerecht zu werden.<br />

Deshalb ist Soziale <strong>Arbeit</strong> wie<strong>der</strong>kehrend vor die Aufgabe<br />

gestellt, »Bedingungen herzustellen, die dem Subjekt seine<br />

Subjektivität ermöglichen« (Winkler 1988, 99), sich also mit<br />

Effekten <strong>der</strong> Beschädigungen und Begrenzungen von<br />

Subjektivität auseinan<strong>der</strong> zu setzen.<br />

Folglich werden gesellschaftsstrukturell bedingte Problemlagen<br />

in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> auch als problematisches Verhalten<br />

von Individuen sichtbar, auf das Soziale <strong>Arbeit</strong> mit ihren eigenen<br />

Mitteln einwirken soll. Dabei ist <strong>der</strong> Zusammenhang zwischen<br />

den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem individuel-


Ideologiekritik und Theoriebildung 115<br />

len Verhalten komplex, keineswegs immer einfach zu durchschauen.<br />

In <strong>der</strong> Folge hat Soziale <strong>Arbeit</strong> eine nicht zufällige<br />

Affinität zu solchen ideologischen Sichtweisen, die als<br />

Individualisierung und Moralisierung charakterisiert werden<br />

können: In ihrem beruflichen Handeln sind SozialarbeiterInnen<br />

nicht unmittelbar mit gesellschaftlichen Verhältnissen befasst,<br />

son<strong>der</strong>n mit Einzelnen und <strong>der</strong>en Praktiken. Die alltägliche<br />

Erfahrung von SozialarbeiterInnen im praktischen Handlungszusammenhang<br />

legt deshalb Sichtweisen nahe, die Effekte<br />

gesellschaftlicher Lebensbedingungen als Folge individuellen<br />

Verhaltens »erklären« und als solche bewerten. Sozialarbeiterische<br />

Interventionen sind in <strong>der</strong> Regel zudem darauf verwiesen,<br />

Individuen zu einem verän<strong>der</strong>ten Umgang mit den<br />

ihnen auferlegten Lebensbedingungen zu befähigen, da sie<br />

nicht über die Möglichkeit verfügen, substantielle Verän<strong>der</strong>ungen<br />

dieser Lebensbedingungen zu bewirken. Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> tendiert folglich immer dann zu einem moralisierenden<br />

Individualismus, wenn eine theoretische Klärung <strong>der</strong><br />

Bedingungen, die für die Entwicklung <strong>der</strong> Fähigkeit zu einer<br />

eigenverantwortlichen und sozial rechtfertigbaren Lebensführung<br />

för<strong>der</strong>lich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich sind, unterbleibt.<br />

Eine Radikalisierung eines moralisierenden Individualismus<br />

wird im neoliberalen Leitbild des als »Unternehmer seiner<br />

<strong>Arbeit</strong>skraft und seiner Daseinsvorsorge« konzipierten Individuums<br />

vorgenommen (vgl. Bröckling 2007). Unter systematischer<br />

Ausblendung des sozialwissenschaftlichen Wissens um<br />

die sozialen und sozialisatorischen Voraussetzungen <strong>der</strong> Prozesse,<br />

in denen Individuen die Fähigkeit entwickeln können,<br />

ihren Lebensentwurf gezielt und langfristig zu planen, wird an<br />

Eigenverantwortlichkeit appelliert und werden denjenigen, die<br />

im Dauerlauf um Selbstoptimierung durch lebenslanges Lernen<br />

nicht mithalten, unter den sanktionsbewehrten Verdacht<br />

gestellt, ihren Mitwirkungspflichten nicht gerecht zu werden.<br />

Die Alternative zu einer ideologischen Deutung von<br />

Hilfsbedürftigkeit als Ausdruck individuell zurechenbarer


116<br />

Ideologiekritik und Theoriebildung<br />

Defizite kann aber auch keine pauschale Gesellschaftskritik<br />

sein, die die Klientel <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zu unschuldigen und<br />

bedauernswerten Opfern ihrer Lebensumstände stilisiert und<br />

ihnen damit jede Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen<br />

Lebensführung bestreitet. Erfor<strong>der</strong>lich ist vielmehr eine genaue<br />

Betrachtung nicht »nur« <strong>der</strong> objektiven Aspekte <strong>der</strong><br />

Lebenssituation jeweiliger Adressaten, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> damit<br />

verbundenen Formierungen ihrer Subjektivität, insbeson<strong>der</strong>e<br />

<strong>der</strong> Beschädigungen und Begrenzungen ihrer Fähigkeit einer<br />

selbstbewussten und selbstbestimmten Lebensgestaltung. Denn<br />

nur so können auch Erfor<strong>der</strong>nisse und Ansatzpunkte für eine<br />

Praxis bestimmt werden, die auf Empowerment und<br />

Subjektbildung ausgerichtet ist.<br />

Eine weiterer Ansatzpunkt ideologischer Deutungen in <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ist die sich in Krisenzeiten zuspitzende<br />

Diskrepanz zwischen Erfor<strong>der</strong>nissen und Möglichkeiten des<br />

Helfens: Mit <strong>der</strong> Zunahme von Hilfsbedürftigkeit, etwa in<br />

Folge steigen<strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>slosigkeit und Armut, reduzieren sich<br />

zugleich die Möglichkeiten des Helfens, denn es stehen dann<br />

auch weniger <strong>Arbeit</strong>splätze zur Verfügung und die sozialstaatlichen<br />

Mitteln werden knapper. Soziale <strong>Arbeit</strong> kann sich dann<br />

als »eine unlösbare Aufgabe darstellen (vgl. Bourdieu et al.<br />

1997, 217ff.) Hierauf reagieren ideologische Deutungsangebote,<br />

die gesellschaftlich bedingte Grenzen des Helfens in prinzipielle,<br />

nicht überschreitbare Grenzen helfen<strong>der</strong> Interventionen,<br />

etwa von Erziehung und Therapie, umdeuten. Es ist so<br />

betrachtet kein Zufall, dass in Zeiten <strong>der</strong> Krise Zweifel an den<br />

Möglichkeiten des Helfens wachsen und gleichzeitig For<strong>der</strong>ungen<br />

nach Repression und Sanktionierung an Einfluss gewinnen.<br />

3


Ideologiekritik und Theoriebildung 117<br />

Rück- und Ausblick<br />

Die Kritik von Ideologien, die das Leiden und das Scheitern <strong>der</strong><br />

Adressaten Sozialer <strong>Arbeit</strong> als unvermeidbar o<strong>der</strong> als selbstverschuldet<br />

darstellen sowie Soziale <strong>Arbeit</strong> in die Funktion einer<br />

Institution zuweisen, die <strong>der</strong> Aufrechterhaltung und Durchsetzung<br />

ökonomischer Zwänge, politischer Strategien, vorherrschen<strong>der</strong><br />

Normen und Normalitätsmodelle dient, war und ist<br />

eine zentrale Aufgabe von Theoriebildung. Eine solche Kritik<br />

kann nicht durch eine bloße Beobachtung <strong>der</strong> Wandlungen <strong>der</strong><br />

Diskurse ersetzt werden, aus denen Soziale <strong>Arbeit</strong> ihre<br />

Wirklichkeitsmodelle und Handlungsmaximen bezieht. Es<br />

genügt auch nicht, gegenüber alten und neuen Mustern ideologischen<br />

Denkens eine Haltung <strong>der</strong> Sympathie mit den Armen,<br />

Ausgegrenzten und Abweichenden einzunehmen – dies schon<br />

deshalb nicht, weil diese allzu leicht in einen Zynismus umkippt,<br />

<strong>der</strong> Distanz zu theoretischen Anstrengungen mit <strong>der</strong> vermeintlich<br />

allein realistischen Einsicht verbindet, dass die Klientel letztlich<br />

doch selbst verantwortlich ist für ihre Situation. Erfor<strong>der</strong>lich ist<br />

es vielmehr, immer wie<strong>der</strong> konkret zu analysieren, welche ideologischen<br />

Modelle jeweils an Einfluss gewinnen und die<br />

Problematik ihrer Voraussetzungen und Folgen theoretisch<br />

genau und empirisch fundiert zu bestimmen. Theoriebildung und<br />

Ideologiekritik sind also zwei Seiten <strong>der</strong> gleichen Medaille.<br />

Gegenwärtig stellt die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit zwei ineinan<strong>der</strong><br />

verwobenen Tendenzen die m. E. entscheidende Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

dar: Der Abbau sozialstaatlicher Leistungen und sozialarbeiterischer<br />

Hilfen einerseits, <strong>der</strong> Ausbau sozialer Kontrollen<br />

und Sanktionen an<strong>der</strong>erseits. Deren gemeinsames ideologisches<br />

Fundament ist das Postulat des für seinen Erfolg und sein<br />

Scheitern selbst verantwortlichen Individuums, dem auch<br />

Normverletzungen als schuldhafte Verfehlung zurechenbar<br />

sind. Demgegenüber ist in <strong>der</strong> Traditionslinie kritisch-sozialpädagogischen<br />

Denkens darauf zu beharren, dass es eine Aufgabe<br />

von Gesellschaftspolitik, insbeson<strong>der</strong>e von <strong>Arbeit</strong>smarkt-,


118<br />

Ideologiekritik und Theoriebildung<br />

Sozial- und Bildungspolitik ist, Bedingungen herzustellen, die<br />

Individuen tatsächlich befähigen, ihre Lebensführung bewusst<br />

und eigenverantwortlich zu gestalten. Dabei ist gerade nicht,<br />

wie immer wie<strong>der</strong> fälschlich behauptet wird, von einem grundlegenden<br />

Gegensatz von sozialer Sicherheit und individueller<br />

Autonomie auszugehen, son<strong>der</strong>n gerade davon, dass soziale<br />

Sicherheit vielfach Eigenverantwortlichkeit erst ermöglicht.<br />

Umgekehrt gilt: »Der Weg über die Kürzung von Sozialleistungen<br />

mag sonst wohin führen – doch gewiss nicht zu einer<br />

Gesellschaft freier Individuen.« (Bauman 1997, 363)<br />

Anmerkungen<br />

1 Soziale <strong>Arbeit</strong> ist nun jedoch keineswegs die einzige gesellschaftlich<br />

institutionalisierte Form des Helfens: Im Unterschied zu den medizinischen<br />

und psychotherapeutischen Berufen ist sie gering spezialisiert<br />

sowie überwiegend mit <strong>der</strong> Hilfsbedürftigkeit <strong>der</strong>jenigen befasst, die<br />

sozioökonomischen Benachteiligungen unterliegen; im Unterschied<br />

zu den Leistungen <strong>der</strong> sozialen Sicherungssysteme beschränkt sie<br />

sich nicht auf die Zuteilung von Geld- und Versicherungsleistungen,<br />

son<strong>der</strong>n versucht, durch Beratung, Betreuung, Erziehung, Bildung<br />

und Quasi-Therapie auf die Lebensführung und das Selbstverständnis<br />

von Individuen einzuwirken (vgl. dazu ausführlicher Bommes/Scherr<br />

2000).<br />

2 Zwar können SozialarbeiterInnen und Organisationen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> durchaus versuchen, auf politische Entscheidungen Einfluss zu<br />

nehmen und für sich mit guten Gründen ein (sozial-)politisches Mandat<br />

beanspruchen; ersichtlich sind die Erfolge entsprechen<strong>der</strong><br />

Versuche jedoch begrenzt.<br />

3 Dies verbindet sich gegenwärtig mit einer einflussreichen Kritik, die<br />

emanzipatorische Pädagogik und Sozialarbeit als illusionäre<br />

Verkennung <strong>der</strong> Unhintergehbarkeit von Disziplinierung und<br />

Sanktionierung denunziert (vgl. Bueb 2007; Weidner/Kilb 2004).


Ideologiekritik und Theoriebildung 119<br />

Literatur<br />

Aichorn, August (1951): Verwahrloste Jugend. Stuttgart/Wien<br />

Bauman, Zygmunt (1997): Unbehagen in <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne. Hamburg<br />

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Verhaltens. Frankfurt<br />

Berger, Peter L. (1973): Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft.<br />

Frankfurt<br />

Bommes, Michael/Scherr, Albert (2000): Soziologie <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>.<br />

Weinheim und München<br />

Bourdieu, Pierre et al. (1997): Das Elend <strong>der</strong> Welt. Konstanz<br />

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Frankfurt<br />

Bueb, Bernhard (2007): Lob <strong>der</strong> Disziplin. München<br />

Dollinger, Bernd/Raithel Jürgen (Hg.) (2006): Aktivierende<br />

Sozialpädagogik. Wiesbaden<br />

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Haug, Gerhard (1992): Einführung in die Ideologiekritik. Berlin<br />

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Bd. I. Wiesbaden<br />

Knoblauch, Hubert (2005): Wissenssoziologie. Konstanz<br />

Mollenhauer, Klaus (1964): Einführung in die Sozialpädagogik.<br />

Weinheim/Berlin<br />

Scherpner, Hans. (1962 [1974]): Theorie <strong>der</strong> Fürsorge. Göttingen<br />

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Konstruktivismus. Reinbek<br />

Wacquant, Loic (2006): Das Janusgesicht des Ghettos und an<strong>der</strong>e Essays.<br />

Basel<br />

Weidner, Jens/Kilb, Rainer (Hg.) (2004): Konfrontative Pädagogik.<br />

Wiesbaden<br />

Willke, Gerhard (2003): Neoliberalismus. Frankfurt/New York<br />

Winkler, Michael (1988): Eine Theorie <strong>der</strong> Sozialpädagogik. Stuttgart


Management und Steuerung<br />

Michael Winkler<br />

1. Die Begriffe Management und Steuerung und die gemeinten<br />

Sachverhalte gehören zu den jüngeren Ideologien und praktischen<br />

Pathologien <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Im Konzept des<br />

Sozialmanagements sind sie zusammengeführt, <strong>der</strong> als ein<br />

diskursiver Leitbegriff gelten kann. Sozialmanagement erlebt<br />

vor allem im letzten Drittel des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts »eine erstaunliche<br />

Karriere« (Galuske 2007, 333); es steht für eine<br />

Aufwertung <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, die mit Binnendifferenzierung<br />

einhergeht. Reputierlichkeit entsteht nämlich häufig, wenn<br />

Hierarchien zeigen, wie man etwas in einem Bereich werden<br />

kann: Wo es ManagerInnen gibt, lohnt es sich wohl einzusteigen.<br />

Ein Blick auf soziale Einrichtungen in Großbritannien<br />

bestätigt dies auf makabre Weise: Während im Feld selbst, also<br />

vor Ort und mit KlientInnen weniger und schlechter ausgebildete<br />

AkteurInnen wirken, schmücken sich in den Institutionen<br />

auf unterschiedlichsten Ebenen die ManagerInnen mit ihren<br />

Titeln. Ironischerweise ergab sich dies als Nebeneffekt fortschreiten<strong>der</strong><br />

Privatisierung des <strong>Sozialen</strong> Sektors und trug<br />

zugleich zu erheblichen Kostensteigerungen bei.<br />

In professioneller Hinsicht verweist Management auf eine neue<br />

Kultur in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, die sich nicht zuletzt an den<br />

Ausbildungsstätten beobachten lässt. Zwar klingen dort Ende<br />

<strong>der</strong> siebziger Jahre die Parolen und Programme nach, welche<br />

auf gesellschaftliche Verän<strong>der</strong>ung durch Soziale <strong>Arbeit</strong> hoffen.<br />

Die Akteure lassen sich von ihrem politischen Engagement zur<br />

Randgruppenarbeit und von mitmenschlicher Empathie motivieren.<br />

Sie werden darauf eingeschworen, in einer »schmuddeligen«<br />

Lebenswelt verstehend und aushandelnd, die<br />

Möglichkeiten zu einem gelingen<strong>der</strong>en Alltag zu entdecken<br />

(vgl. Thiersch 1992). Doch schon taucht ein an<strong>der</strong>er Typus auf:


Management und Steuerung 121<br />

White collar workers mit schmucken Aktenkoffern und noch<br />

schwergewichtigen Klapprechnern, welche <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

und sich selbst ein neues Image geben (wollen): Unternehmer<br />

des <strong>Sozialen</strong>, Betriebswirte in einem Non-Profit-Sektor, <strong>der</strong><br />

vom Gang an Aktienbörsen schwärmt, Organisatoren von<br />

Dienstleistungen. Nebenbei gerät ihnen aus dem Blick, was<br />

heute wie<strong>der</strong> beschäftigt: Armut, soziale Isolation und kulturelle<br />

Verelendung, Pädagogik im umfassenden Sinne, nämlich als<br />

Erziehung zur Sicherung von Mündigkeit im Erwerb <strong>der</strong> Mittel<br />

zur Selbstbeherrschung und im Zugang zu kulturell entscheidenden<br />

Inhalten gerät endgültig zum Tabu. Das rächt sich.<br />

Disziplinär entspricht <strong>der</strong> professionellen Entwicklung zur<br />

anerkannten <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> die Etablierung des Sozialmanagements<br />

als Wissenschaft. Der Bereich wirkt attraktiv.<br />

Denn Forschung und Lehre in ihm übersteigen die Horizonte<br />

<strong>der</strong> klassischen sozialen <strong>Arbeit</strong> und <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Erziehungswissenschaft<br />

angesiedelten Sozialpädagogik. Interdisziplinär<br />

interessiert, bezieht sich die akademische Beschäftigung mit<br />

dem Sozialmanagement auf die Sozial- und Gesundheitswissenschaften<br />

schlechthin. Sie wird durch die Entwicklungen<br />

in den <strong>Arbeit</strong>s- und Handlungsfel<strong>der</strong>n geradezu forciert:<br />

Knappheit in den öffentlichen Haushalten, eine – etwa durch<br />

den demographischen Wandel beeinflusste – Verän<strong>der</strong>ung und<br />

Steigerung <strong>der</strong> Bedarfszahlen, vor allem ein wachsendes<br />

Bedürfnis nach Innovation bei gleichzeitig verbesserter und<br />

intensivierter Qualitätskontrolle führen dazu, dass Fragen <strong>der</strong><br />

Organisation und Steuerung von Aufgaben und Leistungen in<br />

den Zusammenhängen <strong>der</strong> Bildungs-, Kultur- und Sozialsysteme<br />

hohes Gewicht gewinnen. Ein erhebliches Interesse<br />

besteht seitens <strong>der</strong> öffentlichen und <strong>der</strong> freien Träger sozialer,<br />

kultureller und pädagogischer Angebote wie des Gesundheitsbereichs.<br />

Die Herausfor<strong>der</strong>ung liegt darin, dass ökonomische<br />

wie administrative Vorgänge und solche etwa <strong>der</strong> Personalführung<br />

mit inhaltlichen, insbeson<strong>der</strong>e konzeptionellen, curricularen<br />

Entwicklungen verbunden und in Strukturen gebracht


122<br />

Management und Steuerung<br />

werden, die eine Mitwirkung aller Beteiligten und Betroffenen<br />

för<strong>der</strong>n. Nicht zuletzt aber berühren Fragen des Sozialmanagements<br />

Problemstellungen <strong>der</strong> Evaluation und einer ihr<br />

folgenden Optimierung des Mitteleinsatzes. Insofern besteht<br />

eine enge Verbindung zwischen Sozialmanagement und <strong>der</strong><br />

Qualitätssicherung in den einschlägigen Bereichen.<br />

Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die Nachfrage nach<br />

entsprechenden Ausbildungsangeboten und grundlegenden wie<br />

anwendungsnahen Forschungsleistungen; insbeson<strong>der</strong>e an<br />

Fachhochschulen werden einschlägige Professuren eingerichtet,<br />

einige Universitäten folgen. Doch seit <strong>der</strong> Jahrtausendwende<br />

erlahmt die wissenschaftliche <strong>Arbeit</strong>. Zwar werden im<br />

angelsächsischen Bereich einschlägige Handbücher veröffentlicht<br />

(vgl. Patti 2000), eine Untersuchung konzeptioneller und<br />

begrifflicher Grundlagen lässt sich aber kaum mehr beobachten.<br />

Völlig fehlt eine empirische Erforschung <strong>der</strong> Implementation<br />

o<strong>der</strong> des Nutzens von Sozialmanagement. Die<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung wird unter dem Begriff <strong>der</strong> Sozialwirtschaftslehre<br />

geführt (vgl. Wendt 2002) o<strong>der</strong> verlagert sich<br />

in die Fel<strong>der</strong> selbst. Sozialmanagement kommt in den Geruch,<br />

als praxeologisches Konstrukt theorielos zu bleiben (vgl. Otto<br />

2002, 178). Reflexion verliert ihre Relevanz, vielleicht weil<br />

Idee und Konzept selbstverständlich geworden und in den professionellen<br />

Habitus eingesickert sind. Sie müssen anscheinend<br />

nicht mehr geklärt werden.<br />

Allerdings ist diese Entwicklung nicht ganz ungewöhnlich für<br />

Debatten um Gesellschaft schlechthin, Soziale <strong>Arbeit</strong> und<br />

Sozialpädagogik im Beson<strong>der</strong>en. Themen verflüchtigen sich in<br />

Spezialdiskurse o<strong>der</strong> in eine Art untergründiges Wissen,<br />

obwohl die Bedeutung <strong>der</strong> einschlägigen Probleme, Sachverhalte<br />

und Begriffe unbestimmt bleibt. Sie behalten dennoch<br />

Gewicht und Ansehen, die ihnen sogar beängstigende Züge verleihen.<br />

Unsicherheit ruft Verunsicherung hervor. So endet beispielsweise<br />

ein Lexikonbeitrag mit <strong>der</strong> Zusammenfassung, dass<br />

Sozialmanagement »ein Entwicklungsprogramm <strong>der</strong> Rekon-


Management und Steuerung 123<br />

struktion und Produktion personenbezogener sozialer Dienstleistungen<br />

eines Verbandes, einer sozialen Verwaltung, einer<br />

Kommune, sowie <strong>der</strong> [...] Evaluation im Horizont <strong>der</strong><br />

Charakteristika und <strong>der</strong> historischen Entwicklung des sozialen<br />

Sektors aus einer Managementperspektive« kennzeichne<br />

(Karsten 1996, 467). Dieser Satz klingt großartig, zumal er alle<br />

diskursiv relevanten Bezugspunkte benennt. Gleichwohl bleibt<br />

er schlicht unverständlich, was ihn <strong>der</strong> Ideologie verdächtig<br />

macht. Sozialmanagement gibt sich bedeutungsschwanger –<br />

das schafft dann eine beson<strong>der</strong>e Aura. Sie leuchtet um so mehr,<br />

weil hinter Sozialmanagement jene politischen und öffentlich<br />

genutzten Semantiken stehen, in welchen Innovation und<br />

Reform zu Topoi werden. Das Ganze gehört also in den<br />

Kontext <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften.<br />

2. Die Etymologie kann die Herkunft von Management nicht<br />

sicher identifizieren, die Deutungen reichen von Hand anlegen<br />

bis das Haus bestellen (vgl. Merchel 2006, 18). In die deutsche<br />

Sprache wan<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Ausdruck seit dem Ende des 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts ein, um nach dem 2. Weltkrieg größere<br />

Verbreitung zu finden (vgl. Feldhoff 1980). Manager meint<br />

seitdem zum einen OrganisatorInnen von Institutionen, größeren<br />

Verwaltungseinheiten, welche soziale und wirtschaftliche<br />

Prozesse leiten, koordinieren und möglichst optimieren, oftmals<br />

in einem Spannungsfeld zwischen innerbetrieblichen<br />

Kontexten und Öffentlichkeit. Das Bild des Managers/<strong>der</strong><br />

Managerin in <strong>der</strong> Öffentlichkeit ist weitgehend davon geprägt,<br />

dass seine/ihre Aktivitäten kaum dem Gemeinwohl dienen,<br />

schon gar nicht aber die (existenziellen) Interessen <strong>der</strong>jenigen<br />

wahrnehmen, welche ihnen untergeordnet sind und als faktische<br />

Träger des betrieblichen Erfolges gelten. Tatsächlich fällt<br />

es schwer ein persönliches Risiko des Managers zu erkennen.<br />

Zum an<strong>der</strong>en hebt <strong>der</strong> Begriff des Managers auf jene ab, welche<br />

für erfolgreiche Akteure in Sport, Kunst und Medien die<br />

Geschäfte führen, Vereinbarungen treffen und Öffentlichkeits-


124<br />

Management und Steuerung<br />

kontakte regeln, dafür meist mit einem festgesetzten prozentualen<br />

Anteil honoriert werden. Manager in diesem Sinn des<br />

Ausdrucks genießen wenig Ansehen. Sie gelten sogar als geradezu<br />

parasitär. Management trägt dies als Ambivalenz weiter:<br />

Etwas managen erweckt negative Vorstellungen, die vom<br />

»Gschaftlhuber« im Dunstkreis klein-krimineller Aktivitäten<br />

bis zum »Big Business« mit seinen vielschichtigen Feindbil<strong>der</strong>n<br />

reicht.<br />

In <strong>der</strong> Sache bezieht sich Management auf zwei Dimensionen,<br />

nämlich einerseits – handlungsorientiert – auf die Leitung von<br />

Organisationen, wobei klassisch Planung, Organisation,<br />

Personalwahl und Personalführung, Betriebsleitung, Koordination<br />

und Finanzverwaltung unterschieden werden; zudem<br />

gehören zum Management die strategische Entwicklung von<br />

Unternehmen, auch durch Erweiterung und Verringerung <strong>der</strong><br />

Betriebseinheiten (also Zukauf zur Diversifikation als<br />

Sicherung vor Marktrisiken o<strong>der</strong> zur Erzielung von Synergien<br />

versus Outsourcing), Öffentlichkeits- und Lobbyistenarbeit wie<br />

endlich die Kontrolle <strong>der</strong> Leistung. An<strong>der</strong>erseits versteht man<br />

unter Management die Personen des Management, bzw. die<br />

Führung und Entwicklung des Personals selbst.<br />

Noch weniger lässt sich <strong>der</strong> Begriff Steuerung eindeutig fassen.<br />

Das Grimmsche Wörterbuch erinnert eine Vielzahl von<br />

Bedeutungen für die unterschiedlichen, als Verb wie als<br />

Substantiv aufzufindenden Formen von »Steuern«. Steuerung<br />

findet sich in <strong>der</strong> erfassten Literatur sogar für Unterstützung,<br />

Hilfe, För<strong>der</strong>ung, dann erwartungsgemäß für Lenkung und<br />

Leitung, aber sogar für Abwehr, Verhin<strong>der</strong>ung und Lin<strong>der</strong>ung<br />

(Grimm 1941, Sp. 2665). Die Sachbezüge fallen nicht min<strong>der</strong><br />

weit aus, und reichen dabei vom naturwissenschaftlichen technischen<br />

bis zum psychologischen Gebrauch des Ausdrucks<br />

(vgl. Hassenstein/Hildebrandt 1998; Müller 1998).<br />

3. Management und Steuerung stehen auch für den Tatbestand,<br />

dass <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Staat das fürsorgende und helfende Handeln


Management und Steuerung 125<br />

aus <strong>der</strong> Zufälligkeit löst, an welche es durch christliche<br />

Nächstenliebe gebunden war. Im sorgenden Staat wird<br />

Gesellschaft zu einem Projekt, das rational begründet, bürokratisch<br />

durchgeführt und systematisch verwirklicht werden muss,<br />

um das Wohlergehen des Ganzen o<strong>der</strong> aller zu sichern – in dieser<br />

Differenz unterscheiden sich marktwirtschaftliche von sozialstaatlichen<br />

Verfassungen. Das Geschehen bleibt allerdings<br />

stets vieldeutig: Im Kern reagiert die Einführung wohlfahrtsstaatlicher<br />

Ordnungen und Regelungen nämlich darauf, dass<br />

Notlagen systemisch und systematisch, mithin in einer Weise<br />

notorisch werden, die nicht mehr als durch Gott gegeben o<strong>der</strong><br />

als menschliches Schicksal allein bestimmt sind. Wenngleich<br />

schon mittelalterliche Armenordnungen den Weg gewiesen<br />

haben, belegen Notlagen doch erst seit <strong>der</strong> Durchsetzung kapitalistischer<br />

Gesellschaften und industrieller Produktionsweisen<br />

die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur als solche, son<strong>der</strong>n<br />

als soziale Dynamos. Verhältnisse erzeugen Lebenslagen. Not<br />

und Elend signalisieren jedoch eine abstrakte Mechanik; an<strong>der</strong>s<br />

als in <strong>der</strong> alten agrarischen Gesellschaft verschwindet noch <strong>der</strong><br />

Schutz durch jene, welche die Elenden in Abhängigkeit gehalten<br />

hatten. Notlagen werden nun gesellschaftlich erzeugt,<br />

umfassend; sie bestimmen materielle wie kulturelle Lebensbedingungen<br />

und -lagen, prägen zugleich individuelle, psychisch-seelische<br />

Befindlichkeiten.<br />

Darin entsteht eine kaum mehr einzuholende Spannung. Denn<br />

einerseits verlangen die Notlagen systematische Gestaltung. Sie<br />

for<strong>der</strong>n objektiv den Willen <strong>der</strong> Sozialpolitik, die sie in ihrer<br />

abstrakt strukturellen Bedingtheit erkennt und Lebensverhältnisse<br />

umgestaltet. An<strong>der</strong>erseits aber richtet sich Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> auf die Individuen in ihrer konkreten lebenspraktischen<br />

Situation und Subjektivität. So entstehen Strukturen <strong>der</strong> Hilfe,<br />

ein Systemzusammenhang und eine Regelmäßigkeit sowohl in<br />

den zu bearbeitenden Problematiken wie in <strong>der</strong>en Bearbeitung<br />

selbst; dies muss nicht bedeuten, dass humane Motive und<br />

Verfahren maßgebend werden, vor allem wäre das Geschehen


126<br />

Management und Steuerung<br />

missverstanden, wenn Hilfe als entscheidend gelten würde. Es<br />

geht schon um Kontrolle <strong>der</strong> Bevölkerung. Dem entspricht auf<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite, dass für die AdressatInnen die Hilfeleistung<br />

zugleich doch berechenbar wird. Als systematisches ist es aber<br />

bürokratisches Verwaltungshandeln, stets im Zwang, auf generalisiert<br />

definierte Anlässe mit standardisierten Formen zu reagieren,<br />

um gerichtlich Bestand zu wahren, als individualisiertes<br />

wirkt es immer willkürlich und ungerecht. Soziale <strong>Arbeit</strong> mag<br />

zwar als Hilfe und Kontrolle gelten, sie ist aber auch<br />

Verwaltung und Moral.<br />

4. Nüchtern betrachtet steht jedoch Sozialmanagement zunächst<br />

für einen eher äußerlichen, bloß terminologischen Wechsel von<br />

Bezeichnungen, <strong>der</strong> aber einen Wechsel von Semantiken<br />

andeutet, ohne unmittelbar eine Verän<strong>der</strong>ung in den tatsächlichen<br />

Gegebenheiten <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> auszusprechen; als<br />

symptomatisch für diese »unwesentliche« Bedeutung des<br />

Begriffs Sozialmanagement kann man ansehen, wenn Stephan<br />

Lessenichs Buch »Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe«, mit<br />

welchen er an die »Geschichtlichen Grundbegriffe« anknüpft<br />

und die historischen und aktuellen Diskurse <strong>der</strong> Sozialpolitik<br />

diskutiert, Sozialmanagement, Management und Steuerung<br />

nicht einmal im Register aufführt (vgl. Lessenich 2003). Auch<br />

fällt auf, wie die Diskurse unverbunden bleiben: »Sozialpädagogisches<br />

Denken« von Böhnisch, Schröer und Thiersch<br />

(2005) nimmt das Sozialmanagement schlicht nicht zur<br />

Kenntnis, umgekehrt kennen die Einführungen in das Sozialmanagement<br />

das sozialpädagogische Denken nicht.<br />

Sozialmanagement steht also zuerst – wie eine Vielzahl von<br />

Belegstellen zeigt – als Äquivalent für »Verwaltung«, genauer:<br />

»Administration«. Allerdings lässt sich kaum übersehen, wie<br />

<strong>der</strong> Ausdruck damit aufkommt, dass in die Soziale <strong>Arbeit</strong> neue,<br />

digitale Techniken eindringen und so verän<strong>der</strong>te <strong>Arbeit</strong>sformen<br />

und neue <strong>Arbeit</strong>sabläufe provozieren, dass zudem Strategien<br />

des Marketing, <strong>der</strong> Darstellung und <strong>der</strong> PR-<strong>Arbeit</strong> für die eige-


Management und Steuerung 127<br />

nen Organisationen sich durchsetzen. Er lässt sich kaum trennen<br />

von Aktivitäten einer Beeinflussung von Öffentlichkeit, um<br />

Mittel im Rahmen des fund raising zu akquirieren. Mit den<br />

Begriffen Sozialmanagement, Management und Steuerung verbinden<br />

sich somit doch unterschiedliche Intentionen, die sich<br />

als Begründungslinien zu einem Diskurs verweben:<br />

Zunächst for<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Begriff des »Sozialmanagement« ein<br />

höheres Bewusstsein für die Spezifika des <strong>Sozialen</strong> Sektors;<br />

strukturell zeichnet sich dieser als »intermediärer Bereich« aus,<br />

<strong>der</strong> uneindeutig geregelt wird (vgl. zum Folgenden auch:<br />

Merchel 2006, 41), nämlich durch eine Mischung von bürokratischen<br />

und marktförmigen Elementen mit solchen <strong>der</strong><br />

Solidarität und ethischen Normen 1 . Den sozialen Sektor<br />

bestimmen mithin drei unterscheidbare Handlungsimperative,<br />

nämlich solche einer Regulation durch die Solidarität im informellen<br />

Bereich gemeinschaftlichen Handelns, <strong>der</strong> Regulation<br />

durch Vertrag und Tausch auf dem Markt, einer bürokratischen<br />

Steuerung durch den Staat. Zudem muss man die wachsende<br />

Einflussnahme durch die mediale Öffentlichkeit nennen, in <strong>der</strong><br />

Auffor<strong>der</strong>ungen und Legitimationen entstehen, die wie<strong>der</strong>um<br />

von <strong>der</strong> Politik beachtet werden, die allen drei Imperativen folgen<br />

möchte.<br />

Sozialmanagement steht auch im Kontext des Versuchs, die<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> von ihrem Image bloßer Sozialverwaltung zu<br />

lösen, um einerseits den administrativen wie disziplinierenden<br />

Zug <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> vor<strong>der</strong>gründig abzustreifen, sowie die<br />

Erstarrung in bürokratischen Routinen zu überwinden, an<strong>der</strong>erseits<br />

den fachlichen Prinzipien des Handeln mehr Wirksamkeit<br />

zu verschaffen. Damit geht einher, dass dem ganzen Bereich<br />

<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> Bereich nicht nur höhere Eigenständigkeit, son<strong>der</strong>n<br />

geradezu die Qualität eines eigenen Systems zugebilligt<br />

wird; so bestehen Verbindungslinien zwischen <strong>der</strong> Systemtheorie<br />

als Begründung professionellen Handelns und dem<br />

Denken als Sozialmanagement. Zugleich eröffnet dies eine<br />

Perspektive, um Soziale <strong>Arbeit</strong> in die Nähe zu unternehmeri-


128<br />

Management und Steuerung<br />

schem Handeln zu bringen, das innerhalb seines systemischen<br />

Kontexts Freiheit und Selbstständigkeit einerseits, die<br />

Kompetenzen wirtschaftlicher Aktivitäten an<strong>der</strong>erseits benötigt.<br />

Im Kern zielt dies auf stärkere Professionalisierung, während<br />

jedoch das Interesse <strong>der</strong> kommunaler Träger sozialer<br />

Dienstleistungen eher auf Kostenreduktion gerichtet war und<br />

ist. 2<br />

Sozialmanagement steht überdies für eine Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

generellen Steuerung des <strong>Sozialen</strong> Sektors; <strong>der</strong> »Managementboom<br />

in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> [ist] Ausdruck des Umbaus und <strong>der</strong><br />

aktivierenden Neuprogrammierung von Sozialstaat und<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong>« (Galuske 2007, 335). Dieser wird anfällig<br />

(gemacht) für Einflussnahmen durch öffentliche und politische<br />

Debatten. Eine neue public policy entspricht dem, die als governance<br />

erwartet, dass die Bürger selbst stärker in das Geschehen<br />

eingebunden werden; das verlangt nach dem, was Foucault als<br />

Gouvernementalität analysiert. Phänomenologisch zeigt sich<br />

diese als Schwächung einer Steuerung durch Recht und Gesetz,<br />

mithin als Abbau von überprüfbaren und einklagbaren rechtlichen<br />

Normen zugunsten von tagespolitisch motivierten<br />

Programmen; so demonstrieren in Wahlkämpfen PolitikerInnen<br />

und Medien eine eigentümliche Nonchalance gegenüber klaren<br />

und eindeutigen rechtlichen Regelungen, verlangen zuweilen<br />

Gesetzesän<strong>der</strong>ungen, welche sich dem Verfassungsbruch<br />

nähern. Hinter dieser new policy verbirgt sich eine durchaus<br />

zweifelhafte Annahme: Sie besagt, dass mo<strong>der</strong>ne Gesellschaften<br />

einer zunehmenden Verän<strong>der</strong>ungsdynamik unterliegen<br />

und sich in einer Weise beschleunigen (vgl. Rosa 2005), die ein<br />

beständiges Nachjustieren sozialer Systeme o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong>en<br />

regelmäßige Überprüfung und Revision verlangen; längst zu<br />

Worthülsen verkommen (vgl. Bauman 2000). Der soziale<br />

Sektor dürfe demnach nicht mehr als – vermeintlich – starres<br />

System verwaltungsförmigen Handelns gestaltet werden, son<strong>der</strong>n<br />

müsse in sich dynamisch und flexibel werden; die Hilfen<br />

zur Erziehung haben dies unter den Stichworten »Flexi-


Management und Steuerung 129<br />

bilisierung« und »Integration« als Antwort auf die sogenannten<br />

»Versäulung« von Hilfeangeboten aufgenommen. Kurz: Weil<br />

das Ganze <strong>der</strong> Gesellschaft in Bewegung gerät, müsse <strong>der</strong><br />

Soziale Sektor selbst offener und dynamischer werden;<br />

Sozialmanagement soll dies gewährleisten und zugleich im<br />

Griff behalten. Nur: Solche Entwicklungen zur Dynamisierung<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft vollziehen sich gemeinsam mit Verhärtungen,<br />

in welchen sich klassische Strukturmuster kapitalistischer<br />

Gesellschaften wie<strong>der</strong> durchsetzen und Gewalt über Menschen<br />

gewinnen. Prozesse <strong>der</strong> Ausgrenzung, vor allem: Verelendungsvorgänge<br />

vollziehen sich an den Scheidelinien zwischen<br />

Kapital und <strong>Arbeit</strong>, wie die wachsende Gruppe <strong>der</strong>jenigen<br />

belegt, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen ein<br />

<strong>Arbeit</strong>seinkommen erzielen, das zur Existenzsicherung nicht<br />

hinreicht.<br />

Darin deutet sich die an<strong>der</strong>e Seite des Sozialmanagements an: Es<br />

wird eingeführt, um die Steuerung von den alten Imperativen zu<br />

lösen und mehr – vermeintlich sachbezogen – politischer<br />

Programmatik zu folgen. Zu dieser gehört, dass von den erreichten<br />

Effekten her gedacht werden soll. Die Ziele selbst stehen<br />

nicht zur Debatte, Management aber soll erreichen, dass sie verwirklicht<br />

werden. Mehr noch: untergründig wirkt <strong>der</strong> Wunsch<br />

nach absoluter Effizienzsteigerung. Mit einem Minimum an<br />

Aufwand, möglichst unter Aktivierung <strong>der</strong> eigenen Ressourcen<br />

sollen die Beteiligten, Adressaten wie soziale Dienste, die ihnen<br />

vorgegebenen Ziele selbst verwirklichen. Vom aktivierenden<br />

Staat verspricht sich die Sozialpolitik den höchsten Nutzen.<br />

Management provoziert dann bei aller Knappheit <strong>der</strong> Mittel<br />

Wirkungen, weil es schlichten Druck erzeugt. Dieser Druck trägt<br />

einen Namen: Messen. Die Steuerung erfolgt über Kenndaten<br />

und Eckwerte, über Standards, welchen sich die Beteiligten<br />

selbst verpflichten (müssen). Wer ihnen nicht genügt, wird vom<br />

Markt genommen – längst sitzen Einrichtungen <strong>der</strong> sozialen<br />

<strong>Arbeit</strong> mit ihrer Klientel in einem Boot. Denn diese Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> lässt sich nur mit Fachkräften verwirklichen, die schlech-


130<br />

Management und Steuerung<br />

ter ausgebildet, wenigstens aber jünger sind. Insofern sinkt wohl<br />

mit wachsen<strong>der</strong> Aufmerksamkeit auf managerielle Prozesse und<br />

Steuerung die Qualität <strong>der</strong> Leistung, so weit die KlientInnen<br />

betroffen sind.<br />

Endlich symbolisiert Sozialmanagement die hegemoniale<br />

Durchsetzung von Denkweisen und Praktiken, die als Ökonomisierung<br />

bezeichnet werden. Dabei geht es weniger um die<br />

Frage nach materiellen Bedingungen o<strong>der</strong> fiskalischen<br />

Restriktionen (diese bestanden im Feld <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

schon immer). Den paradigmatischen Wechsel bezeugt die neue<br />

Wahrnehmung <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> als »Produktion personenbezogener<br />

sozialer Dienstleistungen« (Karsten 2005, 1760);<br />

dabei lassen sich ein sozialtechnokratisches, ein gruppen- bzw.<br />

interaktionsdynamisch orientiertes, ein sozialplanerisches,<br />

sowie ein innovationsorientiertes, sozialpolitisches Konzept<br />

unterscheiden, zudem könne man Sozialmanagement als<br />

»Metakonzept« fassen (Karsten ebenda). Immer geht es jedoch<br />

darum zu verstehen und zu regeln, wie entwe<strong>der</strong> das Soziale<br />

schlechthin o<strong>der</strong> – vorzugsweise – die sozialen Dienstleistungen<br />

als Produkte und Erzeugnisse hervorgebracht werden;<br />

Wertschöpfung, Erzeugnis, Güterherstellung, Umwandlung<br />

des Objektiven stehen im Fokus, nicht mehr die gemeinsame<br />

Praxis handlungsfähiger und sinnorientierter Subjekte in<br />

ihrem ethisch qualifizierten Lebens- und Bildungsprozess. Zum<br />

an<strong>der</strong>en steht das Managementkonzept in großer Nähe zur<br />

Durchsetzung von Wettbewerbsstrukturen, die Überprüfung<br />

und Reduktion von Kosten einerseits, an<strong>der</strong>erseits eine<br />

Erhöhung <strong>der</strong> Qualität von Leistungen zu bewirken vorgibt, die<br />

sowohl den Aufwandsträgern, also den Kommunen, wie den<br />

betroffenen Adressaten zu Gute kommen soll (vgl. Merchel<br />

2006). Unklar bleibt in einem solchen Produktionsverständnis<br />

von Sozialer <strong>Arbeit</strong>, was als das Produkt zu fassen ist und ob<br />

ein solches mehr o<strong>der</strong> maschinell zu erzeugen ist: Das<br />

Wohlverhalten <strong>der</strong> Adressaten? Ihre Integration? Ihre<br />

Entwicklung und ihr Lernen?


Management und Steuerung 131<br />

5. Hinter <strong>der</strong> Idee und dem Konzept des Managements verbirgt<br />

sich ein alter Traum <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, <strong>der</strong> sich auf die Natur bezog,<br />

dann auf Gesellschaft und Kultur, indem sie diese selbst noch<br />

naturalisiert und wo ihr dies nicht gelingt, im Begriffe des<br />

Sachzwangs als unabän<strong>der</strong>licheres Geschehen behauptet: Sie<br />

will Ordnung schaffen, Kategorien und System einführen,<br />

Zuordnungen vornehmen, welche eine technische Beherrschung<br />

und Regelung <strong>der</strong> Phänomene <strong>der</strong> sozialen wie kulturellen<br />

Welt erlauben. Dazu bedient sie sich verschiedener<br />

Einteilungen, einer Feststellung von Ursache und Wirkung o<strong>der</strong><br />

einer Festsetzung von Relevanzen. Der normative Charakter<br />

des Geschehens bleibt jedoch verschleiert. Denn alles soll wissensbasiert<br />

geschehen, aufgespannt zwischen einer apriorisch<br />

festgestellten o<strong>der</strong> gesetzten rationalen Systematik einerseits,<br />

einer experimentell gestützten Ordnung an<strong>der</strong>erseits; diese<br />

Spannung lässt sich bis heute als ein Konflikt zwischen den<br />

akademisch Ausgebildeten, welchen neuen Theorien und<br />

Modellen folgen, und den Erfahrenen verfolgen, welche im<br />

schlimmsten Fall noch für ihre Routinen denunziert werden.<br />

Das Programm <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne geht also mit einer Zerstörung von<br />

humaner Erfahrung einher; es delegitimiert diese, um an die<br />

Stelle einer moralische Ökonomie eine Ökonomie zu setzen,<br />

welche einer an<strong>der</strong>en Rationalität folgt. Sie wird als durch<br />

Vernunft begründet und auf experimentelles Wissen gestützt<br />

behauptet. Der Verweis auf Vernunft und Experiment scheint zu<br />

genügen, um die nun gesetzten Normen zu rechtfertigen; in <strong>der</strong><br />

jüngeren Zeit wird dies sichtbar an den Standards und bench<br />

marks, welche als Maßstab des Handelns in den sozialen<br />

Fel<strong>der</strong>n wie des Bildungssystems gelten. Die Frage nach den<br />

Normen, welche <strong>der</strong> Systematik <strong>der</strong> Ordnungen wie <strong>der</strong> den<br />

Aktivitäten zugrunde liegt, wird beiseite geschoben, dass sie<br />

gesetzt sind, entzieht sich <strong>der</strong> Wahrnehmung. Standards und<br />

bench marks kommen jenseits <strong>der</strong> öffentlichen, selbst <strong>der</strong> politisch<br />

legitimierten Auseinan<strong>der</strong>setzung zustande. Es sind<br />

ExpertInnen, manchmal selbst ernannt, oft geheiligt durch


132<br />

Management und Steuerung<br />

Interessensgruppen, Gurus <strong>der</strong> Verbände und Institute, welche<br />

die Maßstäbe festsetzen, an welchen sich alles messen lassen<br />

muss. Dass die Verfechter des Sozialmanagements regelmäßig<br />

ethische Verpflichtungen ansprechen und for<strong>der</strong>n, hat Züge verzweifelter<br />

Ironie; sie sind blind für die Geister, die sie selbst<br />

riefen. Management ist Technik, Instrument, welche Normativität<br />

nur vollzieht, über diese aber nicht verfügt. Das gilt noch<br />

für das Handeln selbst. Management unterliegt <strong>der</strong> Steuerung,<br />

Einfluss auf diese darf es nicht nehmen, es hat zu optimieren.<br />

Dies geschieht durch Programme mit zynisch offenen<br />

Leitformeln, welche einer Kritik entzogen werden: For<strong>der</strong>n<br />

und För<strong>der</strong>n, <strong>der</strong> aktivierende Sozialstaat, sogar Empowerment<br />

gehören dazu, verraten noch, wie die Soziale <strong>Arbeit</strong> selbst die<br />

Stichworte gibt. Verantwortung sollen die Einzelnen nehmen,<br />

für Bedingungen, auf die sie keinen Einfluss haben, welche<br />

aber sorgfältig durch Steuerung verteilt werden. Steuerung<br />

erklärt dabei Bedingungen für relevant und zulässig, an<strong>der</strong>e<br />

verfallen hingegen dem Verdikt des Obsoleten. Foucault hat<br />

diese Herrschaftstechnik mit dem Begriff des Dispositivs<br />

gefasst: Regierung erfolgt, indem Zuständigkeiten und<br />

Aufgaben verteilt werden, das soziale Feld geordnet wird, um<br />

am Ende Effektivität und Effizienz an den Kriterien zu messen,<br />

welche unabhängig und wissenschaftlich gewonnen wurden.<br />

Man sollte sich also besser nichts vormachen: Die<br />

Gesellschaften und ihre Kulturen bestimmen die Möglichkeiten<br />

menschlicher Lebenspraxis, mit <strong>der</strong> Autonomie ist es so weit<br />

nicht her. Produktionsverhältnisse bestimmen Lebensbedingungen<br />

und Lebenslagen, machen wahrscheinlich, dass man<br />

in Armut lebt, dauerhaft und über Generationen. Lebenschancen<br />

werden verteilt und zugeordnet, am Ende sind noch<br />

dramatische Ereignisse sozial bestimmt. Durkheim hat dies<br />

gezeigt, als er den Suizid als soziale Größe enthüllte, unser<br />

Wissen über Armut macht dies deutlich, zuletzt etwa erneut in<br />

ihren Folgen für Bildungsprozesse. Was Ausgrenzung und<br />

Einschließung mit Menschen anstellen, ist nicht min<strong>der</strong>


Management und Steuerung 133<br />

bekannt, die Dynamik von Krisen vollzieht sich nach Mustern.<br />

Die Verhältnisse bestimmen noch, wie die Akteure ihre Kin<strong>der</strong><br />

betreuen – und zuweilen kann man politischen und gesetzgeberischen<br />

Entscheidungen voraussagen, welche Katastrophen sie<br />

erzeugen: Dass die nach Hartz, einem veritablen Kriminellen,<br />

benannten neuen Sozialgesetze in Deutschland Familien und<br />

Kin<strong>der</strong> in die Armut treiben, war im Umfang auf die Stelle hinter<br />

dem Komma prognostiziert; es ist so eingetreten. Dass<br />

Familien, die <strong>der</strong> Höhe ihrer Miete wegen, Wohnungen aufgeben<br />

und in anonyme Plattenbauten umziehen müssen, isoliert<br />

und mit <strong>der</strong> Betreuung ihrer Kin<strong>der</strong> überfor<strong>der</strong>t werden, ist<br />

wahrscheinlich – und ebenfalls eingetreten. Dass Fallmanager<br />

anstelle von Sozialarbeitern nur die Aktenlage und Geldtransfers<br />

kennen, um die Personen und ihre konkrete<br />

Lebensweise, um eben <strong>der</strong>en »schmuddeligen Alltag« aber<br />

nicht mehr wissen, mag zwar mit <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung von<br />

Eigenverantwortung gerechtfertigt werden, intensive persönliche<br />

Betreuung, <strong>der</strong> Aufbau von Beziehungen werden damit<br />

aber unwahrscheinlich. Dass Management-Kulturen Unternehmen<br />

in Bewegung bringen, gehört vielleicht zu ihren unabdingbaren<br />

Effekten, welche zu wünschen sind, wenn sich<br />

Märkte verän<strong>der</strong>n. Aber darin klingt <strong>der</strong> Zynismus an: Sind<br />

Elend und Not marktförmiges Geschehen, sind die Adressaten<br />

sozialer <strong>Arbeit</strong> wirklich Kunden – mit Recht auf Wi<strong>der</strong>spruch<br />

und Anspruch auf Garantie?<br />

Gleichwohl: das Soziale ist kontingent; das gilt für Gesellschaften<br />

und Kulturen in ihrer jeweils umfassenden<br />

Gesamtheit, das gilt erst recht für die mittleren sozialen<br />

Zusammenhänge, für Familien und Beziehungen, zuletzt für<br />

den Einzelnen selbst. Sichtbar wird solche Kontingenz gesellschaftlich<br />

und kulturell an dem, was ästhetische Erfahrung<br />

heißt, an <strong>der</strong> Differenz mithin <strong>der</strong> Kunst. Sichtbar wird solche<br />

Kontingenz, wenn Einzelne sich verweigern o<strong>der</strong> den eigenen<br />

Weg gehen – gegenüber den Zumutungen, die ihnen angetan<br />

werden. Als Resilienz wird das zum Thema <strong>der</strong> Forschung. Das


134<br />

Soziale ist kontingent, weil Gesellschaften und Kulturellen<br />

nicht bloß komplex sind, son<strong>der</strong>n sich in Verän<strong>der</strong>ungsprozessen<br />

befinden; was Management erfor<strong>der</strong>lich macht, wird<br />

somit zum stärksten Argument gegen dieses: Weil unterschiedliche<br />

Entwicklungen möglich sind, können nur Möglichkeitsräume<br />

erschlossen und ausgelotet, aber eben nicht systematisch<br />

ausgestaltet werden.<br />

Management und Steuerung, die solche Offenheit nicht zu ihrer<br />

eigenen Aufgabe machen, die Herstellung von Alternativen<br />

nicht in das Zentrum ihres Tuns heben, son<strong>der</strong>n Kategorien und<br />

Klassifikationen schaffen, denen folgend sie Menschen bearbeiten,<br />

enthüllen sich als Formen von bloßer Herrschaft und<br />

Machtausübung. Darin liegt dann die Grenze des Sozialmanagements,<br />

<strong>der</strong> Punkt, an dem es in grenzenlose Herrschaft<br />

und Machtausübung umschlagen kann. So ist kein prinzipieller<br />

Einwand gegen Management geboten, wohl aber einer, <strong>der</strong> sich<br />

auf die Voraussetzungen und Imperative des Geschehens richtet.<br />

Man darf gestalten und Vernunft dafür in Anspruch nehmen,<br />

wenn das Soziale mit Freiheit und damit verbunden wird, dass<br />

man Freiheit ethisch qualifiziert nutzen kann.<br />

Anmerkungen<br />

Management und Steuerung<br />

1 wobei sich zudem eine Personalsituation auswirkt, die sich durch professionelle,<br />

bloß verberuflichte, fachfremd ausgebildete, ehrenamtliche<br />

und als Laien tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auszeichnet<br />

...<br />

2 KritikerInnen übersehen jedoch häufig, wie Sozialmanagement<br />

zuweilen selbst eine kritische Absicht gegenüber den Praktiken einer<br />

Verwaltungsreform verfolgt, welche unter dem Etikett »Neue<br />

Steuerung« eingeführt wird; diese wird in Deutschland insbeson<strong>der</strong>e<br />

von <strong>der</strong> Kommunalen Gemeinschaftsstelle, einer Art Think Tank <strong>der</strong><br />

Kommunen aufgegriffen, welche einerseits dem Subsidiaritätsprinzip<br />

verpflichtet sind, an<strong>der</strong>erseits einem zunehmenden Einspardruck


Management und Steuerung 135<br />

unterliegen. Die Kommunale Gemeinschaftsstelle (KGSt) greift dabei<br />

auf Erfahrungen in den Nie<strong>der</strong>landen zurück, die eine Verwaltungsreform<br />

praktizieren, welche das klassische Modell <strong>der</strong> »Input-<br />

Steuerung« zugunsten einer »Output-Steuerung« favorisiert:<br />

Leistungen <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltung insbeson<strong>der</strong>e im<br />

Wohlfahrtssektor sollen demnach prioritär an ihren Ergebnissen<br />

gemessen werden.<br />

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Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />

Elisabeth Hammer<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> politischen Ära des Neoliberalismus ist seit<br />

Mitte <strong>der</strong> 1990er Jahre eine Neustrukturierung von Zielrichtungen<br />

und Praktiken von Sozialpolitik und Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />

im Gange. Mit den Begriffen »Standortsicherung« und<br />

»Wettbewerbsfähigkeit« werden zwei Paradigmen eingeführt,<br />

an denen sich jegliche wohlfahrtsstaatliche Erneuerung nunmehr<br />

zu orientieren hat (vgl. Hammer 2006).<br />

Diskursiv wurde die Etablierung eines neoliberalen<br />

Sozialmodells bisher in erster Linie über Konzepte <strong>der</strong><br />

»Aktivierung« durchgesetzt. Vorausgesetzt und eingefor<strong>der</strong>t<br />

wurde hierbei eine spezifische Eigenleistung, um in weiterer<br />

Folge eine sozialstaatliche Gegenleistung in Anspruch nehmen<br />

zu können. Zug um Zug setzte sich, insbeson<strong>der</strong>e im Feld <strong>der</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>smarktpolitik und zunehmend auch sichtbar in <strong>der</strong><br />

Jugendhilfe, eine Sozialpolitik durch, die »den Einsatz von verhaltensregulierenden<br />

und -kontrollierenden Interventionsmitteln<br />

[ermöglicht] und […] Abschreckung sowie Druck und<br />

Zwang zur Konformität wie<strong>der</strong> gesellschaftsfähig [macht]«<br />

(Dahme/Wohlfahrt 2002, 20).<br />

Im Zuge <strong>der</strong> Debatte um die Existenz und die Merkmale einer so<br />

genannten »neuen Unterschicht« hat dieser Aktivierungsdiskurs<br />

nun neuen Rückenwind erhalten. Angestoßen wurde die Debatte<br />

durch Paul Nolte, <strong>der</strong> 2004 für Deutschland die Herausbildung<br />

einer »neue Unterschicht« konstatierte, die sich durch einen spezifischen<br />

verwahrlosten, unmündigen und unselbstständigen<br />

Lebensstil auszeichnet. Im Verständnis von Nolte scheint dieser<br />

»Schicht« vieles zu fehlen, die Bandbreite reicht hier »von <strong>der</strong><br />

Erwerbsfähigkeit bis zur Kompetenz, Kin<strong>der</strong> zu erziehen o<strong>der</strong><br />

sich vernünftig zu ernähren, ja, selbst eine gekochte Mahlzeit auf<br />

den Tisch zu bringen« (Nolte, in Chassé 2007, 22).


138<br />

Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />

Bei dieser Debatte geht es allerdings nicht um die Frage eines<br />

durch die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

verän<strong>der</strong>ten Klassen- und Schichtmodells und einer damit im<br />

Zusammenhang stehenden möglichen Spaltung <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />

Ziel ist es vielmehr spezifische Phänomene als kulturbedingt<br />

umzudeuten und ihre Ursachen zu individualisieren. Zu<br />

Recht konstatieren Kessl, Reutlinger und Ziegler (2007, 10) in<br />

diesem Zusammenhang, dass die Debatte um eine »neue<br />

Unterschicht« als »Motor für politische Positionierungen dient,<br />

die sich vom bisherigen ›Lösungsmodell‹, dem Modell <strong>der</strong><br />

Wohlfahrtsstaatlichkeit, aber verabschieden wollen.« Gefahr<br />

besteht, dass auch differenziertere Befunde sozialer und gesellschaftlicher<br />

Verän<strong>der</strong>ungen für die neoliberal-konservative<br />

Ausrichtung <strong>der</strong> Debatte verkürzt und verfremdet werden.<br />

Legitimiert werden soll in <strong>der</strong> Folge eine Sozialpolitik, die<br />

nicht nur – ganz in <strong>der</strong> Logik auch bisheriger Aktivierungspolitik<br />

– Transferleistungen zurückfährt, um Potenziale von<br />

»Eigeninitiative« und »Selbstverantwortung« zwangsweise zu<br />

stärken, son<strong>der</strong>n auch bei <strong>der</strong> Inanspruchnahme von sozialen<br />

Leistungen paternalistische und strafandrohende Betreuungsformen<br />

durchsetzt, um eine umfassende Anpassung an arbeitsmarktpolitische<br />

Normen und bürgerliche Leitbil<strong>der</strong> zu erreichen.<br />

An<strong>der</strong>s als im Zuge <strong>der</strong> bisherigen Debatten zur<br />

Aktivierung scheint <strong>der</strong> Diskurs um die »neue Unterschicht«<br />

nun noch eindeutiger und unverschleierter als bisher einen<br />

direkten erzieherischen Zugriff auf die Individuen, aufgrund<br />

eben ihrer identifizierten kulturellen Defizite, als notwendige<br />

Reformmaßnahme für die Ausrichtung sozialpolitischer und<br />

sozialarbeiterischer Programme vorzuschlagen (vgl. Kessl<br />

2005; Heite et al. 2007).<br />

Angesichts dieses Diskursverlaufes wird deutlich, dass <strong>der</strong><br />

Begriff <strong>der</strong> »Unterschicht« zunehmend seiner ursprünglich auf<br />

ökonomische Ursachen fokussierten Bedeutungen beraubt und<br />

<strong>der</strong>zeit ausschließlich als kulturelles Phänomen gedeutet wird.<br />

Im Gegenzug dazu hat sich für die Analyse gegenwärtiger


Neue Unterschicht und soziale Sicherung 139<br />

gesellschaftlicher Spaltungstendenzen <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> »Prekarität«<br />

als hilfreich erwiesen – insbeson<strong>der</strong>e auch deshalb, weil er<br />

die Dynamik gesellschaftlicher (Des-)Integration durch<br />

Erwerbsarbeit veranschaulicht und so neue Ungleichheiten<br />

sichtbar machen hilft, die die vertikale Klassen- und<br />

Schichtungsstruktur ergänzen und überlagern.<br />

»Prekarität« als Ansatzpunkt zur Analyse von<br />

erwerbsgesellschaftlichen Entwicklungen<br />

Die Spaltung <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft in Folge ökonomischer<br />

und politischer Entwicklungen hat Robert Castel (2000) herausgearbeitet.<br />

Er unterscheidet dabei eine »Zone <strong>der</strong><br />

Integration« mit geschützten Normalarbeitsverhältnissen von<br />

einer »Zone <strong>der</strong> Entkoppelung« von Gruppen an »Entbehrlichen«<br />

und »Überflüssigen«, die mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> dauerhaft<br />

von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind.<br />

Dazwischen verortet er eine »Zone <strong>der</strong> Prekarität«, die eine<br />

Bündelung heterogener, nicht dauerhaft Existenz sichern<strong>der</strong><br />

und damit »verwundbarer« Beschäftigungsverhältnisse bildet.<br />

Für Deutschland haben Dörre, Kraemer und Speidel (2004) versucht,<br />

die Integrations- bzw. Desintegrationspotenziale von Erwerbsarbeit<br />

zu veranschaulichen. Basierend auf einer qualitativen<br />

Erhebung haben sie den drei Castel’schen Zonen jeweils zwei bis<br />

vier unterschiedliche Typen zugeordnet und in <strong>der</strong> Folge auch<br />

ihre jeweilige quantitative Ausprägung erhoben. Obwohl in die<br />

»Zone <strong>der</strong> Integration« insgesamt 80,6% <strong>der</strong> Befragten zugeordnet<br />

werden konnten, entfallen immerhin 33,1% auf den Typus <strong>der</strong><br />

so genannten »Abstiegsbedrohten« und 12,9% auf die »Verunsicherten«.<br />

Gemeinsam mit 13,8% in <strong>der</strong> »Zone <strong>der</strong> Prekarität«<br />

und 1,7% in <strong>der</strong> »Zone <strong>der</strong> Entkoppelung«, muss man von mehr<br />

als 60% an Befragten ausgehen, die nicht länger von <strong>der</strong> für den<br />

fordistischen Wohlfahrtsstaat üblichen stabilen, gesellschaftlichen<br />

Integrationskraft von Erwerbsarbeit erfasst werden.


140<br />

Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />

Die Mehrheit <strong>der</strong> erwachsenen Bevölkerung ist somit entwe<strong>der</strong><br />

unmittelbar von Prekarisierung betroffen o<strong>der</strong> aufgrund des<br />

prekären Potenzials ihrer Beschäftigungsform mit Prekarisierungsängsten<br />

konfrontiert. Prekäres Potenzial, das die allermeisten<br />

Formen von flexibler, atypischer Beschäftigung auszeichnet,<br />

ist häufig mit einem nicht dauerhaft Existenz sichernden<br />

Erwerbseinkommen bzw. einer permanenten Beschäftigungsunsicherheit,<br />

einer Aushöhlung von sozialen Sicherheitsgarantien,<br />

einem Mangel an kollektiver Interessensvertretung<br />

sowie einem benachteiligten Zugang zu betrieblichen<br />

Anrechten und Privilegien verbunden (vgl. Kraemer/Speidel<br />

2005, 379f). Da atypische Beschäftigungsformen quantitativ<br />

auf dem Vormarsch sind und durch eine Vielzahl an<br />

Deregulierungsmaßnahmen seitens <strong>der</strong> Gesetzgeber eine Re-<br />

Kommodifizierung von Erwerbsarbeit eingeläutet wird, ist<br />

davon auszugehen, dass Prekarisierungserfahrungen und -ängste<br />

noch weiter zunehmen werden.<br />

Prekarisierung bewirkt Disziplinierung,<br />

Desintegration und soziale Unsicherheit<br />

Neben dem Desintegrationspotenzial einer Re-Kommodifizierung<br />

von Erwerbsarbeit muss allerdings auch ein neuer<br />

Integrationsmechanismus beachtet werden: Für jene, die (noch)<br />

über ein Normalarbeitsverhältnis verfügen und <strong>der</strong> »Zone <strong>der</strong><br />

Integration« zuzuordnen sind, wirkt die zunehmende<br />

Prekarisierung durchaus als marktförmiger Disziplinierungsmechanismus.<br />

Der gesellschaftliche Integrationsmodus wird<br />

somit »von Teilhabe auf Disziplinierung, Einschüchterung und<br />

Folgebereitschaft« (Kraemer/Speidel 2005, 382) umgestellt.<br />

Prekarisierung wird damit zu einem »Macht- und Kontrollsystem,<br />

dem sich in <strong>der</strong> gespaltenen <strong>Arbeit</strong>sgesellschaft auch<br />

die formal Integrierten nicht zu entziehen vermögen.«<br />

(Dörre/Fuchs 2005, 29)


Neue Unterschicht und soziale Sicherung 141<br />

Die gegenwärtigen Verän<strong>der</strong>ungen führen nicht nur zu<br />

Spaltungstendenzen am <strong>Arbeit</strong>smarkt, son<strong>der</strong>n auch zur<br />

Aushöhlung <strong>der</strong> sozialen Sicherungssysteme – und wie Castel<br />

hinweist (2005, 44) auch <strong>der</strong> öffentlichen Dienste und kollektiven<br />

Vertretungsinstanzen. Da soziale Erwartungen bezüglich<br />

<strong>der</strong> Teilhabe am wirtschaftlichen Fortschritt und gesellschaftlichen<br />

Wohlstand enttäuscht werden, kommt es in <strong>der</strong> Folge zu<br />

einer sozialen Verunsicherung nicht nur <strong>der</strong> unteren Schichten,<br />

son<strong>der</strong>n weiter Teile <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />

Diese soziale Unsicherheit, als wahrgenommene Bedrohung<br />

von individuellen Lebensplänen, umfassen<strong>der</strong>en Lebenskonzepten<br />

und auch berufsbiographischen Identitäten (vgl.<br />

Kraemer/Speidel 2005, 376), ist in <strong>der</strong> Meinung von Castel<br />

»wie ein Virus, <strong>der</strong> das Alltagsleben durchdringt, die sozialen<br />

Bezüge auflöst und die psychischen Strukturen <strong>der</strong> Individuen<br />

unterminiert […]« (Castel 2005, 38). Dörre und Fuchs bestätigen<br />

diese Einschätzung mit Blick auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse:<br />

»vielfach bewirken sie Anerkennungsdefizite und<br />

eine Schwächung <strong>der</strong> Zugehörigkeit zu sozialen Netzen, die<br />

eigentlich dringend benötigt würden, um den Alltag einigermaßen<br />

zu bewältigen.« (Dörre/Fuchs 2005, 27). Zusammenfassend<br />

muss festgehalten werden dass Prekarisierungsprozesse<br />

das funktionale, aber auch symbolische, auf sozialen Status<br />

orientierte, Integrationspotenzial von Erwerbsarbeit schwächen<br />

(Kraemer/Speidel 2005, 372).<br />

Angesichts <strong>der</strong> Ausbreitung von Prekarisierungserfahrungen<br />

und -ängsten muss die Soziale <strong>Arbeit</strong> ihre Mitwirkung an <strong>der</strong><br />

Herstellung von sozialer Unsicherheit sowie an <strong>der</strong><br />

Marginalisierung von betroffenen Gruppen – auch über das<br />

umgrenzte Feld <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>smarktpolitik hinaus – kritisch<br />

beleuchten. Die Entwicklungen <strong>der</strong> letzten Jahre scheinen zu<br />

bestätigen, dass <strong>der</strong> Sozialstaat zunehmend nicht mehr als<br />

Armutsbekämpfer, son<strong>der</strong>n als Ausgrenzungsför<strong>der</strong>er in<br />

Erscheinung tritt (vgl. Buhr 2005, 197) und sich die Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> in die Rolle einer Exklusionsverwalterin einrichtet,


142<br />

Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />

<strong>der</strong>en Bedeutung – so wie von Scherr (1999) vorhergesehen –<br />

deutlich zugenommen hat.<br />

Soziale Sicherung auf dem Prüfstand<br />

Die Umbrüche <strong>der</strong> Erwerbsarbeitsgesellschaft zeigen die Grenzen<br />

gegenwärtiger Formen von sozialstaatlicher Sicherung auf<br />

und ermöglichen darüber hinaus auch eine Re-Aktualisierung<br />

struktureller Schwächen konservativ-korporatistischer Wohlfahrtsstaaten<br />

wie Österreich und Deutschland.<br />

Grundlegend muss – im Sinne eines »revolutionär-konservativen<br />

Doppelgesichts <strong>der</strong> Sozialpolitik« (Heimann 1981 [1929])<br />

anerkannt werden, dass mit dem System sozialer Sicherung<br />

neben seinen integrativen und absichernden Errungenschaften<br />

in allen Fällen auch disziplinierende, kontrollierende und ausgrenzende<br />

Wirkungen verbunden waren und sind. Die <strong>der</strong>zeitigen<br />

sozialstaatlichen Verän<strong>der</strong>ungen, die insbeson<strong>der</strong>e im Anschluss<br />

an die Hartz-Reformen in Deutschland kritisch diskutiert<br />

wurden (vgl. z.B. Dahme/Otto/Wohlfahrt 2003), spiegeln<br />

diesbezüglich substanzielle Verschärfungen wi<strong>der</strong>, sind allerdings<br />

einer sozialstaatlichen Logik nicht grundsätzlich fremd.<br />

Die Kritik am gegenwärtigen Sozialstaatsmodell muss an folgenden<br />

Aspekten ansetzen, die ihrerseits stark miteinan<strong>der</strong> verknüpft<br />

sind:<br />

– Der Sozialstaat ist in seiner starken Orientierung als<br />

Sozialversicherungsstaat in erster Linie auf die Bedürfnisse von<br />

Lohnabhängigen hin orientiert und wirkt diesbezüglich auch<br />

disziplinierend. Bedarfslagen, die in Erwerbsarbeit nicht o<strong>der</strong><br />

nur mangelhaft integrierte Gruppen betreffen, sind seit jeher<br />

nachrangig im Rahmen <strong>der</strong> Sozialhilfe (als reformierte<br />

Armenfürsorge) bearbeitet worden. Konstitutiv für diesen<br />

Bereich ist ein deutlich verschlechterter Zugang zu sozialen<br />

Rechten und materieller Sicherung, gekoppelt mit paternalistischen<br />

Ansprüchen zu Unterordnung und Anpassung.


Neue Unterschicht und soziale Sicherung 143<br />

- Desweiteren ist die ausgeprägte Statusorientierung sozialer<br />

Sicherung (d.h. die Aufrechterhaltung von Unterschieden zwischen<br />

Bevölkerungsgruppen durch eine Segmentierung von<br />

Leistungen) kritisch zu beleuchten. Diese wurde zwar in gewissen<br />

Aspekten (insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> Krankenversicherung) abgeschwächt,<br />

ist aber ansonsten immer noch typisches Kennzeichen<br />

eines Sozialstaates Bismark’scher Prägung. Gerade<br />

atypische und prekäre Beschäftigungsformen werden durch<br />

dieses System strukturell kaum erfasst, Hierarchien und<br />

Statusunterschiede setzen sich so vom <strong>Arbeit</strong>smarkt auch in<br />

an<strong>der</strong>e Lebensbereiche fort und erhöhen gesellschaftliche<br />

Spaltungen.<br />

– Nicht zuletzt aufgrund <strong>der</strong> vorgenannten Aspekte ist <strong>der</strong> deutsche<br />

und österreichische Sozialstaat als stark geldleistungsorientiert<br />

zu bezeichnen (vgl. Badelt/Österle 2001, 21;<br />

Benz/Böckh 2005, 84). Teilhabe wurde und wird in allererster<br />

Linie über eine Integration am Erwerbsarbeitsmarkt bzw. über<br />

Transfers sichergestellt, nicht aber über einen Zugang zu<br />

öffentlichen Dienstleistungen im Bereich Verkehr, Wohnen,<br />

Kultur und Soziales. Gerade aber auf die Bedeutung von<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> als Teil <strong>der</strong> sozialen Dienste – von<br />

Böhnisch/Arnold/Schröer (1999) als »lebendiges Inventar <strong>der</strong><br />

Sozialpolitik« bezeichnet – wird gemeinhin in Grundlagentexten<br />

zur Sozialpolitik nicht o<strong>der</strong> nur am Rande verwiesen<br />

(vgl. Tálos 2005, Badelt/Österle 2001)<br />

– Diese Ausführungen deuten auch auf die starke Rolle von<br />

familialen Leistungen im Zusammenhang mit sozialer<br />

Sicherung hin, <strong>der</strong>en Erbringung historisch den Frauen zugewiesen<br />

wurde. Der Sozialstaat baut so auf einer Hierarchisierung<br />

von (bezahlter) Erwerbsarbeit für den männlichen<br />

Ernährer (»breadwinner«) und (unbezahlter) Familienarbeit<br />

durch die weibliche Versorgungsarbeiterin (»care taker«) auf<br />

(vgl. Lewis 1992) und nutzt Frauen als »unsichtbare<br />

Ressource« (Zan<strong>der</strong> 1997: 31). Die damit verbundene grundsätzliche<br />

Inadäquatheit gegenwärtiger Strukturen für die sozia-


144<br />

Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />

le Sicherung von Frauen sowie für die Vereinbarkeit von<br />

Erwerbsarbeit und Sorgetätigkeiten – für beide Geschlechter! –<br />

ist kritisch zu konstatieren.<br />

In jedem Fall ist ein Umbau des Systems sozialer Sicherung<br />

notwendig. Die Dringlichkeit einer Reform erhöht sich nicht<br />

zuletzt dadurch, dass eine Beibehaltung des Gegenwärtigen<br />

eine automatische Verschärfung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Spaltungstendenzen<br />

bedeuten würde.<br />

Neue Wege <strong>der</strong> sozialen Sicherung<br />

Angesichts dieser Entwicklungen haben Ideen zur Einführung<br />

eines »bedingungslosen Grundeinkommens« Hochkonjunktur.<br />

Der grundsätzliche Gedanke eines »bedingungslosen Grundeinkommens«,<br />

wie er von neoliberalen Ökonomen in <strong>der</strong><br />

Tradition von Milton Friedman, aber auch von liberalen und<br />

linksalternativen Gruppierungen vertreten wird, bricht mit zentralen<br />

Bedingungen eines bislang erwerbsorientierten Systems<br />

sozialer Sicherheit und besteht in einer Entkoppelung von<br />

Erwerbsarbeit und Existenzsicherung: Ein Grundeinkommen,<br />

das als individueller Rechtsanspruch ohne Bedürftigkeitsprüfung<br />

konzipiert ist, impliziert we<strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>sgebote noch<br />

<strong>Arbeit</strong>sverbote und würde mit großer Wahrscheinlichkeit auch<br />

die Rolle von Sozialer <strong>Arbeit</strong> in einzelnen Handlungsfel<strong>der</strong>n<br />

transformieren.<br />

Die mit <strong>der</strong> Einführung eines Grundeinkommens verbundene<br />

Erwartung (insbeson<strong>der</strong>e auch von im Sozialbereich tätigen<br />

Personen) liegt nicht zuletzt darin, über die Schaffung eines individuellen<br />

Rechts auf soziale Teilhabe – eben mittels eines monatlich<br />

zu gewährenden Fixbetrages – sozial disziplinierende<br />

Aspekte in Sozialpolitik und Sozialer <strong>Arbeit</strong> zurückzudrängen,<br />

die Autonomie in <strong>der</strong> persönlichen Lebensgestaltung zu erhöhen<br />

sowie einer neuen Form gesellschaftlicher Solidarität abseits <strong>der</strong><br />

Erwerbsgesellschaft verstärkt zur Geltung zu verhelfen.


Neue Unterschicht und soziale Sicherung 145<br />

Die unterschiedlichen Modelle, die unter <strong>der</strong> Überschrift<br />

»Bedingungsloses Grundeinkommen« zusammengefasst werden,<br />

sind allerdings mit jeweils ähnlichen Grundproblemen verbunden.<br />

An dieser Stelle soll auf zwei Aspekte hingewiesen<br />

werden:<br />

VertreterInnen eines »bedingungslosen Grundeinkommens«<br />

wollen ausgehend von den Befunden einer »Krise <strong>der</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>sgesellschaft« die Erwerbsarbeitsgesellschaft überwinden.<br />

Allerdings steht dies im – auch empirisch belegbarem –<br />

Wi<strong>der</strong>spruch dazu, »dass Erwerbsarbeit weiterhin einen uneingeschränkt<br />

hohen Stellenwert für die Positionierung des<br />

Individuums im sozialen Raum zugeschrieben werden muss«<br />

(Kraemer/Speidel 2005, 370). So kann man – auch mit Blick<br />

auf unfreiwillig vom <strong>Arbeit</strong>smarkt ausgeschlossene Gruppen –<br />

we<strong>der</strong> von einem subjektiven noch objektiven Bedeutungsverlust<br />

von Erwerbsarbeit ausgehen (Kraemer/Speidel 2005,<br />

370) und muss Erwerbsarbeit weiterhin als »konstitutiv für alltagspraktische<br />

und symbolische Teilhabechancen« sowie die<br />

Zuschreibung von sozialer Anerkennung verstehen. Angesichts<br />

dieser Befunde erweist sich ein »bedingungsloses Grundeinkommen«<br />

in doppelter Hinsicht als Exklusionsermöglichung<br />

(vgl. Nullmeier 2007, 18): Einerseits für die GrundeinkommensbezieherInnen,<br />

die – bei ausreichen<strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong><br />

Geldleistung – ihren Unterhalt auch ohne Erwerbsarbeit sichern<br />

können, an<strong>der</strong>erseits für <strong>Arbeit</strong>geber und staatliche Akteure, die<br />

von <strong>der</strong> Last <strong>der</strong> Sicherung eines hohen Niveaus an<br />

Beschäftigungsmöglichkeiten entbunden werden. Während die<br />

Option <strong>der</strong> Nichtinklusion beidseitig besteht, entscheidet über<br />

die Inklusion allerdings nur eine Seite. Somit kann das »bedingungslose<br />

Grundeinkommen« auch als »Lohn für die soziale<br />

Exklusion« (Butterwege 2005, 298) wirksam werden.<br />

Darüber hinaus handelt es sich bei jedem Grundeinkommen um<br />

eine rein monetäre Leistung, die es zur Sicherung <strong>der</strong><br />

Lebensbedürfnisse am »freien Markt« zu verwerten gilt.<br />

Unabhängig von <strong>der</strong> Höhe und damit konkreten »Kaufkraft«


146<br />

Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />

eines Grundeinkommens, wird über eine <strong>der</strong>artige Leistung das<br />

Recht auf soziale Teilhabe monetarisiert – und gleichzeitig<br />

auch individualisiert (zur Problematik von Geldleistungen vgl.<br />

auch Hammer/Österle 2001). Teilhabe wird damit in erster<br />

Linie auf eine »Konsuminklusion« reduziert (vgl. Nullmeier<br />

2007, 18). Dies entspricht durchaus auch <strong>der</strong> Meinung und dem<br />

Willen von liberalen ProponentInnen dieser Idee. So wirbt zum<br />

Beispiel eine deutsche Expertengruppe im Auftrag <strong>der</strong><br />

Heinrich-Böll-Stiftung unter dem Titel einer »Teilhabegesellschaft«<br />

für einen »Neuen Sozialkontrakt mit Zukunftsperspektive«,<br />

<strong>der</strong> »dem Grundsatz <strong>der</strong> individuellen Eigenverantwortung<br />

Rechnung [trägt] und zugleich dem Prinzip <strong>der</strong><br />

Chancengleichheit [genügt]« (Grözinger/Maschke/Offe 2006,<br />

3) 1 . Teilhabe kann damit am Markt erkauft werden – allerdings<br />

nur, solange das Geld eben reicht. So sich individuelle<br />

Entscheidungen zur Verwertung des Geldes als verfehlt herausstellen,<br />

läge <strong>der</strong> Gewinn an Gerechtigkeit darin, »dass alle mit<br />

Beginn des Erwachsenenlebens eine ähnliche Chance hätten,<br />

Entscheidungen zu treffen, die sich als ›richtig‹ bewähren.«<br />

(Grözinger/Maschke/Offe 2006, 3). Ein <strong>der</strong>artiges Verständnis<br />

von Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Solidarität muss vor<br />

dem Hintergrund gegenwärtiger sozialer Ungleichheiten und<br />

Spaltungstendenzen schlicht als zynisch bezeichnet werden.<br />

Abseits <strong>der</strong> Vorschläge zur Einführung eines »bedingungslosen<br />

Grundeinkommens« gibt es allerdings nur begrenzt Ideen zur<br />

radikalen Reformierung <strong>der</strong> sozialen Sicherung – Benz/Boeckh<br />

wähnen einen emanzipativen Reformbegriff grundsätzlich »in<br />

<strong>der</strong> realpolitischen Defensive« (Benz/Boeckh 2005, 71).<br />

Angesichts <strong>der</strong> kritischen Befunde zu Wirkungen eines »bedingungslosen<br />

Grundeinkommens« sollen im Folgenden jene<br />

Perspektiven herausgearbeitet werden, die eine Reformierung<br />

sozialer Sicherheit im Rahmen des <strong>der</strong>zeitigen Systems ermöglichen.<br />

Aufgegriffen werden soll allerdings <strong>der</strong> mit den<br />

Perspektiven eines »bedingungslosen Grundeinkommens« reaktualisierte<br />

Anspruch <strong>der</strong> Gewährung von sozialer Sicherung


Neue Unterschicht und soziale Sicherung 147<br />

in einer Form, die Druck und Zwang zu einem normierten<br />

(Erwerbsarbeits-)Leben möglichst hintanstellt.<br />

Mit Blick auf die Zentrierung des <strong>der</strong>zeitigen sozialen<br />

Sicherungsmodells auf ein geschlechterhierarchisches Verständnis<br />

von »male breadwinner« und »female caretaker«, aber<br />

auch im Zusammenhang mit den Entwicklungen in Wirtschaft<br />

und <strong>Arbeit</strong>smarkt, bedarf es einer Neubewertung und -verteilung<br />

von Erwerbsarbeit und an<strong>der</strong>en (Sorge-)Tätigkeiten.<br />

Soziale Sicherung muss so gestaltet sein, dass sie auch bei<br />

Erwerbstätigkeiten abseits des traditionellen »Normalarbeitsverhältnisses«<br />

Existenzsicherung und gesellschaftliche<br />

Teilhabe sicherstellt und Anreize für eine egalitäre Verteilung<br />

von Sorgetätigkeiten zwischen den Geschlechtern setzt. Bei<br />

einer Reform sozialer Sicherung ist jedenfalls darauf zu achten,<br />

dass die »Planbarkeit <strong>der</strong> Zukunft« als wesentliches Element im<br />

Kampf gegen die soziale Unsicherheit (vgl. Castel 2005, 49)<br />

substanziell verbessert wird.<br />

Verbunden ist damit ein System sozialer Sicherung, das nicht<br />

mehr auf homogene und stabile Bevölkerungsgruppen abstellt,<br />

son<strong>der</strong>n die vielfältigen Lebenssituationen und- profile von<br />

Individuen zu berücksichtigen in <strong>der</strong> Lage ist (vgl. Castel 2005,<br />

98f). Erstens bedeutet dies eine stärkere Verankerung von beitragsunabhängigen<br />

sozialen Grundrechten innerhalb und außerhalb<br />

<strong>der</strong> Sozialversicherung. Zweitens ist damit in logischer<br />

Konsequenz eine Tendenz <strong>der</strong> Entkoppelung von sozialen<br />

Rechten und strikter Erwerbsorientierung verknüpft. Angesichts<br />

diskontinuierlicher Berufswege würde so eine<br />

Rechtskontinuität geschaffen werden, die auch Perioden einer<br />

Unterbrechung von Erwerbsarbeit (z.B. auch zur Erbringung<br />

von Sorgetätigkeiten) absichert und die Unabhängigkeit <strong>der</strong><br />

BürgerInnen von Wechselfällen des Marktes und des<br />

Erwerbsstatus stärkt (vgl. Castel 2005, 119; sowie Kronauer<br />

2007, 33).<br />

Darüber hinaus ist, statt einer weitergehenden Privatisierung<br />

von sozialen Diensten, die Gewährleistung eines breiten


148<br />

Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />

Angebots von sozialer Infrastruktur sicherzustellen. Joachim<br />

Hirsch als einer <strong>der</strong> Verfasser eines Konzeptes von<br />

»Sozialpolitik als Infrastruktur« (vgl. AG links-netz 2003) versteht<br />

darunter den umfassenden »Ausbau öffentlicher Güter<br />

und Dienstleistungen, die allen Menschen unentgeltlich zur<br />

Verfügung gestellt werden müssen. Dies reicht von Bildung<br />

und Ausbildung über Gesundheitsvorsorge bis hin zu Wohnen<br />

und Verkehr« (Hirsch 2005, 39ff). Mit einem <strong>der</strong>artigen<br />

Ausbau, auch von sozialen Diensten, können nicht nur armutspräventive<br />

Wirkungen (vgl. Benk/Boeckh 2005, 72), son<strong>der</strong>n<br />

auch ein Beitrag zur sozialen Kohärenz verbunden werden.<br />

Herausfor<strong>der</strong>ungen für eine kritische Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

Die anhand <strong>der</strong> Debatte zur »neuen Unterschicht« sichtbare,<br />

medial inszenierte Umdeutung von ökonomischen und sozialen<br />

Problemlagen in kulturelle Defizite begünstigt eine Form von<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong>, die paternalistisch-pädagogische Interventionen<br />

zur Wie<strong>der</strong>herstellung von Ordnung, Angepasstheit<br />

und Sittlichkeit an die Stelle einer Unterstützung zur Sicherung<br />

von sozialer und materieller Teilhabe setzt. In Misskredit geraten<br />

somit nicht nur »passivierende«, die Eigeninitiative und<br />

–verantwortung lähmende Geldleistungen, son<strong>der</strong>n sozialarbeiterische<br />

Betreuungskonzepte insgesamt. Für die Fachlichkeit<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong>, die schon im Zuge <strong>der</strong> Ökonomisierungsbestrebungen<br />

und <strong>der</strong> damit verbundenen quantifizierenden<br />

Logiken – auch durch die eigene Profession selbst – zunehmend<br />

in Frage gestellt wird, bedeuten diese Verän<strong>der</strong>ungen<br />

eine große Herausfor<strong>der</strong>ung zur Wie<strong>der</strong>aneignung ihres normativen<br />

Anspruches und seiner fachlichen Umsetzung.<br />

Prekarisierung und gesellschaftliche Desintegration bedürfen<br />

als Reaktion einer Sozialpolitik und <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, die mit<br />

Formen von sozialer Sicherung nicht nur einem Auseinan<strong>der</strong>driften<br />

<strong>der</strong> materiellen Lebenslagen, son<strong>der</strong>n auch einer »sozi-


Neue Unterschicht und soziale Sicherung 149<br />

alen Entkoppelung« (Castel 2005, 39) von Individuen und<br />

Gruppen entgegenwirkt.<br />

Wie die Ausführungen zu Dynamiken <strong>der</strong> Prekarisierung<br />

gezeigt haben, werden eindeutige Schichtzugehörigkeiten<br />

zunehmend brüchig und soziale Unsicherheiten, die auch, aber<br />

nicht nur materielle Lebensverhältnisse betreffen, weiten sich<br />

gesamtgesellschaftlich aus. In einem verbreiterten Verständnis<br />

von sozialer Sicherung ist Soziale <strong>Arbeit</strong> als wesentlicher Teil<br />

einer »sozialen Infrastruktur« zu verstehen, die sich gerade<br />

durch ihre Zugänglichkeit für Menschen unterschiedslos von<br />

Ressourcen und Status auszeichnet.<br />

Die gegenwärtige Entwicklung einer einseitigen »Neuausrichtung«<br />

<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> auf Disziplinierung, Kontrolle und<br />

Verhaltensregulierung macht eine Konkretisierung <strong>der</strong> gerechtigkeitstheoretischen<br />

Fundierung von Sozialer <strong>Arbeit</strong> unumgänglich.<br />

lohnende Konzeptionalisierungen sind im Anschluss<br />

an den Fähigkeitenansatz von Amartya Sen und Martha<br />

Nussbaum entstanden (vgl. Schrödter 2007). Grundgedanke ist<br />

hierbei die Sichtweise von Fähigkeiten als Grundgüter, die in<br />

<strong>der</strong> Regel sozial erzeugt sind und <strong>der</strong>en faire Verteilung ebenso<br />

organisiert werden muss wie die Verteilung ökonomischer<br />

Güter. Mark Schrödter sieht die Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> in<br />

diesem Zusammenhang darin, Verwirklichungschancen für ihre<br />

KlientInnen durch einen Zugang zu den ihnen bislang vorenthaltenen<br />

Grundgütern sicherzustellen und so zum Vollzug von<br />

Sozialer Gerechtigkeit beizutragen (vgl. Schrödter 2007, 20f).<br />

Aus dieser Perspektive heraus steht <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ein großes<br />

Betätigungsfeld offen, das auch die wi<strong>der</strong>sprüchlichen<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen an Soziale <strong>Arbeit</strong> – die neben ihrer Funktion zur<br />

Abfe<strong>der</strong>ung von kapitalistischen Verwerfungen immer auch<br />

Herrschaftsinstrument ist und bleiben wird – aus kritischer<br />

Sicht zu konzeptualisieren vermag.


150<br />

Neue Unterschicht und soziale Sicherung<br />

Anmerkungen<br />

1 An<strong>der</strong>s als die herkömmlichen Vorschläge eines »bedingungslosen<br />

Grundeinkommens« schlagen die AutorInnen hier einen<br />

Einmaltransfer im Sinne einer Vermögensteilhaberschaft für jede/n<br />

BürgerIn vor.<br />

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Norm und Abweichung<br />

Franz Kolland<br />

Warum ist die Frage von sozialen Normen und sozialer<br />

Abweichung so wichtig? In <strong>der</strong> sogenannten Wiener Deklaration,<br />

dem Trinationalen Dokument des Deutschen Berufsverbandes<br />

für Soziale <strong>Arbeit</strong> e.V., <strong>der</strong> Ne<strong>der</strong>landse Vereniging van<br />

Maatschappelijk Werkers und dem Österreichischen<br />

Berufsverband Diplomierter SozialarbeiterInnen heißt es:<br />

»Sozialarbeit trägt zur Durchsetzung gesellschaftlicher Normen<br />

bei, im Einklang mit den in den Menschenrechtsverträgen und<br />

den sozialen Chartas anerkannten Prinzipien« 1 . In diesem<br />

deklarativen Anspruch steckt einerseits eine Referenz auf die<br />

Existenz und die Bedeutung sozialer Normen im gesellschaftlichen<br />

Handeln, wobei auf die Legitimität dieser Normen<br />

Bezug genommen wird. An<strong>der</strong>erseits wird auf den zwingenden<br />

Charakter von Normen hingewiesen. Und beide Elemente<br />

zusammen bilden einen Handlungsrahmen für Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />

Gemeint ist mit diesem Dokument wohl auch, dass das<br />

Normative die Grundlage <strong>der</strong> Gesellschaft ist – und damit auch<br />

<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Dieser normative Aspekt gesellschaftlichen<br />

und sozialarbeiterischen Handelns wird im ersten Teil<br />

<strong>der</strong> folgenden Ausführungen behandelt. Im zweiten Teil <strong>der</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> wird dann <strong>der</strong> Begriff des abweichenden Verhaltens dargestellt,<br />

um im dritten Abschnitt dann dieses Begriffspaar stärker<br />

in den Kontext <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zu stellen.<br />

Handeln nach sozialen Normen<br />

Doch wie entstehen Normen? Es konkurrieren hier verschiedene<br />

Grundauffassungen. Einige berufen sich auf das Naturrecht,<br />

an<strong>der</strong>e leiten sie aus dem göttlichen Ratschluss ab, wie<strong>der</strong>


Norm und Abweichung 155<br />

an<strong>der</strong>e gehen davon aus, dass jede Norm von Menschen<br />

geschaffen wurde. Die soziokulturelle Vielfältigkeit von<br />

Norminhalten demonstriert jedenfalls die soziale Plastizität und<br />

Produktivität des Menschen. Jede Gesellschaft entwickelt und<br />

gestaltet ihre eigenen Normen, sie ist sogar gezwungen, diese<br />

zu gestalten (vgl. Schäfers 2008). Wenn auch eine gewisse<br />

Globalisierung von sozialen Normen feststellbar ist, so bleiben<br />

diese nichtsdestoweniger stark kontextgebunden. Sie verlieren<br />

jenseits des sozialen Umfeldes und <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> Aktivitäten, auf<br />

die sie sich beziehen, ihren Sinn.<br />

Es gibt keine allgemeine Definition von normal bzw. pathologisch.<br />

Was normal bzw. pathologisch ist, ist vor dem<br />

Hintergrund <strong>der</strong> jeweiligen gesellschaftlichen Situation zu<br />

sehen. Dabei ist eine deutliche Diskrepanz zwischen den geltenden<br />

Normen und <strong>der</strong> Praxis feststellbar, zwischen dem, was<br />

wir tun sollen und dem, was wir tatsächlich tun. Es scheint<br />

gerade so zu sein, dass die Existenz sozial gefor<strong>der</strong>ter und sanktionierter<br />

Handlungen zugleich das Auftreten sozial verbotener<br />

Handlungen nach sich zieht. Durkheim (1984 [1895]) geht<br />

sogar soweit, dass er sagt: »Das Verbrechen ist normal, weil<br />

eine Gesellschaft, in <strong>der</strong> es kein Verbrechen gäbe, völlig<br />

unmöglich ist« (S. 154). Wenn auch unbestritten ist, dass<br />

Normabweichung einen konstitutiven Bestandteil gesellschaftlichen<br />

Handelns ausmacht, so kann Durkheims These als utilitaristisch<br />

und evolutionistisch bezeichnet werden, weil sie letztlich<br />

jede menschliche Aktivität unter funktionalen Gesichtspunkten<br />

analysiert, d.h. in ihrer Bedeutung für den Erhalt <strong>der</strong><br />

Ordnung in <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />

Indem Entscheidungen für o<strong>der</strong> gegen eine bestimmte Norm<br />

getroffen werden, für o<strong>der</strong> gegen Rauchen in Lokalen, für o<strong>der</strong><br />

gegen Fußfesseln in <strong>der</strong> Straffälligenarbeit, für o<strong>der</strong> gegen ein<br />

Grundeinkommen ist eine Gesellschaft produktiv. Sie ist produktiv,<br />

weil eine Wahl innerhalb eines bestimmten Spielraums<br />

getroffen wird und weil Entscheidungen getroffen werden, die<br />

zu Festlegungen führen und weiteres Handeln definieren. Und


156<br />

Norm und Abweichung<br />

diese Festlegungen erfolgen unter gegenseitiger Bezugnahme,<br />

d.h. Normen begrenzen die Willkür in <strong>der</strong> Beziehung von<br />

Menschen untereinan<strong>der</strong>. Allerdings können solche Entscheidungen<br />

nicht nur zu mehr Sicherheit und Verhaltensstabilität<br />

führen, son<strong>der</strong>n auch gleichzeitig zu Regelungen führen, die<br />

Freiheitsspielräume einschränken bzw. sozial ungerecht sind<br />

(vgl. Biermann 2007). Inwieweit also (neue) soziale Normen<br />

als produktiv bewertet werden können, hängt nicht nur davon<br />

ab, ob sie Sicherheit erzeugen, son<strong>der</strong>n auch, wie sie sich auf<br />

die Machtverhältnisse in <strong>der</strong> Gesellschaft auswirken. Die<br />

KlientInnen in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> haben aufgrund fehlen<strong>der</strong><br />

Ressourcen geringe Spielräume bei <strong>der</strong> Gestaltung sozialer<br />

Normen.<br />

Unter sozialen Normen verstehen wir jedenfalls kollektive<br />

Verhaltenserwartungen und Verhaltensanweisungen, die als<br />

legitim gelten. Sie bewirken eine gewisse Regelmäßigkeit und<br />

Gleichförmigkeit <strong>der</strong> sozialen Handlungsabläufe und entlasten<br />

das Individuum von <strong>der</strong> Notwendigkeit, ständig neue, situationsgerechte<br />

Handlungsweisen zu entwerfen (vgl. Peuckert<br />

1986, 256). Soziale Normen befriedigen grundlegende Bedürfnisse<br />

des Menschen, wie z.B. nach sozialem Vergleich,<br />

Nutzenmaximierung, Gerechtigkeit und Zusammengehörigkeit.<br />

Wenn Normen auch oft mit rationalen Interessen von<br />

Individuen begründet werden, d.h. Individuen ein Interesse<br />

daran haben, die Handlungen von an<strong>der</strong>en Personen in eine<br />

bestimmte Richtung zu lenken, so ist ihnen doch gerade eigen,<br />

dass sie über eine bloße Nutzenorientierung hinausführen.<br />

Denn, so Esser (2001, 35), »die bloße Nutzenorientierung lässt<br />

den Menschen in Ziellosigkeit und die Gesellschaft in<br />

Unordnung zurück«.<br />

Normen legen fest, was in spezifischen sozialen Situationen<br />

geboten o<strong>der</strong> verboten ist, z.B. »Tischnormen«, »Begrüßungsnormen«.<br />

Sie werden im Sozialisationsprozess gelernt und tradiert,<br />

sie ermöglichen Erwartungshaltungen und haben allge-


Norm und Abweichung 157<br />

meine Geltung für ein Kollektiv. Soziale Verpflichtungen werden<br />

habitualisiert. Es handelt sich also nicht nur um<br />

Zumutungen, die als von außen kommend erlebt werden, son<strong>der</strong>n<br />

um Sollansprüche, die verinnerlicht und als selbstverständlich<br />

angesehen werden. Soziale Normen erzeugen auf<br />

diese Weise Sicherheit (z.B. Verkehrsregeln) und ermöglichen<br />

ein geregeltes Zusammenleben. »Normen begründen Normalität«<br />

(Bahrdt 2000, 50). Jede normative Interpretation von<br />

Handlungen und Situationen begrenzt die soziale Relevanz <strong>der</strong><br />

individuellen Erlebnissphäre. Normen schaffen damit aber auch<br />

eine künstliche Kommunikationssphäre zwischen Menschen.<br />

Soziale Normen sind in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne stark mit <strong>der</strong> Entwicklung<br />

des Staates verknüpft. Die Entwicklung des wohlfahrtsstaatlichen<br />

Sicherungssystems seit dem Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

hat sowohl zu neuen und tiefgreifenden Normierungseffekten<br />

als auch zu Entlastungseffekten im gesellschaftlichen Handeln<br />

geführt. Über wohlfahrtsstaatliche Regelungen ist es etwa zu<br />

einer Normierung des Lebenslaufs in drei Phasen gekommen.<br />

Entstanden ist eine altersdifferenzierte Gesellschaft, in <strong>der</strong> sich<br />

die Jungen im Bildungssystem befinden, die Erwachsenen in<br />

<strong>der</strong> Erwerbsarbeit und die Alten im »Ruhestand«. Diese<br />

Ordnung des Lebenslaufs hat das Individuum entlastet und aus<br />

<strong>der</strong> Kontrolle kleinräumlich angesiedelter Gemeinschaften entlassen.<br />

Der Einfluss des Sozialstaats hat damit als mächtiger<br />

Individualisierungsfaktor gewirkt, indem er dem Individuum<br />

beträchtliche kollektive Sicherungsleistungen zur Verfügung<br />

stellte. Die »Hilfsgarantie« des Staates erweiterte die<br />

Handlungsspielräume des Individuums. In dieser Hinsicht kann<br />

von einer gesteigerten Normierungsoffenheit in wohlfahrtsstaatlich<br />

organisierten Gesellschaften gesprochen werden, d.h.<br />

Normen haben ihre klare Orientierungsfunktion verloren. Das<br />

Individuum findet eine deutlich erweiterte Gelegenheitsstruktur<br />

für die eigene Lebensgestaltung. Im Zuge dieser Entwicklung<br />

hat sich das Individuum an die Hilfsgarantien »gewöhnt«, das<br />

Sicherheitsbedürfnis – könnte überspitzt formuliert werden –


158<br />

Norm und Abweichung<br />

ist zur gesellschaftlichen »Natur« des mo<strong>der</strong>nen Menschen<br />

geworden. Demnach wird <strong>der</strong> Wandel im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t als<br />

Wandel von einer Disziplinargesellschaft zu einer Sicherheitsgesellschaft<br />

beschrieben (vgl. Singelnstein/Stolle 2006).<br />

Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts löst sich das Zusammenspiel von<br />

wohlfahrtsstaatlicher Sicherheit und individuellem Handeln in<br />

verschiedenen Lebensbereichen, z.B. Familie, Religion,<br />

Freizeit auf. Es kommt zu einer Radikalisierung <strong>der</strong><br />

Individualisierung bzw. Selbstverantwortung. In <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> findet sich die Formel von <strong>der</strong> »Hilfe zur Selbsthilfe«.<br />

Subjektive Selbstorganisation wird <strong>der</strong> Vorrang vor staatlicher<br />

Intervention eingeräumt. Soziale <strong>Arbeit</strong> steht unter dem normativen<br />

Postulat <strong>der</strong> Aktivierung (vgl. Kessl/Otto 2004).<br />

Die Disziplinargesellschaft des 19./20.Jh war gekennzeichnet<br />

durch ein allgemein gültiges Werte- und Normengefüge, das<br />

eine klare Trennlinie zwischen normal und anormal gezogen<br />

hat. Klassenzugehörigkeit, Kirche und Familie waren die institutionellen<br />

Träger dieser normativen Struktur. Wurden Normen<br />

verletzt, dann wurde das Individuum diszipliniert und an den<br />

präskriptiven Normen »ausgerichtet«. Diese Disziplinierung ist<br />

großteils verschwunden, weil sich die gesellschaftlichen<br />

Bedingungen, die diese Formation getragen haben, gewandelt<br />

haben. Im Laufe dieser Entwicklung haben nicht nur die traditionellen<br />

Institutionen an Bedeutung verloren, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong><br />

Wohlfahrtsstaat als Sicherheitsgarantie. Entwickelt hat sich im<br />

späten 20. Jahrhun<strong>der</strong>t zunehmend eine Ideologie <strong>der</strong><br />

Selbstverantwortung des Individuums, welches ein hohes persönliches<br />

Sicherheitsbedürfnis aufweist bzw. nach persönlicher<br />

normativer Rahmung sucht. Die normative Kontrolle wurde in<br />

das Individuum hineinverlagert, sodass Gilles Deleuze (1993)<br />

von einer Ablösung <strong>der</strong> Disziplinargesellschaft durch die<br />

Kontrollgesellschaft spricht 2 . Kontrolle geschieht aber nicht<br />

nur durch eine Internalisierung von Normen, son<strong>der</strong>n auch über<br />

den verstärkten Einsatz technischer Überwachungsgeräte (wie<br />

Videokameras, Zugangsschranken o<strong>der</strong> Audiokontrolle) o<strong>der</strong>


Norm und Abweichung 159<br />

die architektonisch abweisende Gestaltung von Räumen. In<br />

einer Untersuchung über deutsche Städte, kommt Wehrheim<br />

(2002) zu dem Ergebnis, dass durch die neuartigen<br />

Kontrollstrategien verstärkt benachteiligte Personengruppen<br />

aus öffentlichen Räumen ausgeschlossen werden, die noch vor<br />

kurzer Zeit unkompliziert zugänglich waren. Es geht dabei<br />

nicht um eine Verhin<strong>der</strong>ung von abweichendem Verhalten, son<strong>der</strong>n<br />

um die Verhin<strong>der</strong>ung konsumabträglicher Situationen. Als<br />

störend empfunden werden da sowohl Kin<strong>der</strong> als auch<br />

Menschen, die betteln, rauchen, trinken o<strong>der</strong> Handel treiben.<br />

Von Bedeutung für die Soziale <strong>Arbeit</strong> sind die von Heinrich<br />

Popitz (2006 [1961]) herausgearbeiteten universalen Konstrukte<br />

sozialer Normierung, wozu einerseits allgemeine Normen gehören<br />

und an<strong>der</strong>erseits Partikularnormen. Zu den allgemeinen<br />

Normen gehört etwa das Gleichheitsprinzip, welches besagt,<br />

dass Menschen ungeachtet ihrer empirischen Ungleichheit als<br />

gleich zu gelten haben und zu behandeln sind. Es werden damit<br />

übergreifende Zugehörigkeitsprinzipien zu einer Gruppe definiert.<br />

Real erfährt das Individuum allerdings sowohl<br />

Zugehörigkeit als auch Ausschluss. Im Fall <strong>der</strong> Menschen, mit<br />

denen Soziale <strong>Arbeit</strong> zu tun hat, handelt es sich sehr viel häufiger<br />

um Erfahrungen sozialer Exklusion. Aus diesem Grund wird<br />

das in allgemeinen Normen angelegte Gleichheitsprinzip durch<br />

verschiedene Typen von Partikularnormen im gesellschaftlichen<br />

Binnenraum unterlaufen und modifiziert. Über<br />

Partikularnormen wird versucht, eine eigene »unversehrte«<br />

Lebenswelt zu schaffen. In solchen Normen, die nur in den<br />

jeweiligen gesellschaftlichen Teilgruppen anerkannt werden,<br />

drücken sich Formen des An<strong>der</strong>sseins, <strong>der</strong> Ungleichartigkeit<br />

aus. Roland Girtler (1995) weist in seinen Untersuchungen über<br />

Randgruppen darauf hin, dass diese das An<strong>der</strong>ssein zu stilisieren<br />

trachten, weil gerade ein nicht mehrheitsgesellschaftlichkonformes<br />

Handeln zu hohem Ansehen <strong>der</strong> handelnden Akteure<br />

beiträgt. Es ergibt sich eine Gleichheit im An<strong>der</strong>ssein, wobei<br />

empirisch Prinzipien wechselseitig gleicher Verpflichtungen zu


160<br />

Norm und Abweichung<br />

finden sind und von einer insularen Reziprozität gesprochen<br />

werden kann (vgl. Popitz 2006 [1961], 34).<br />

Der Doppelcharakter sozialer Normen besteht in Inklusion und<br />

Exklusion. Sie haben den Zweck <strong>der</strong> sozialen Integration. Sie<br />

sorgen für Stabilität und Ordnung. Der Begriff deckt damit<br />

auch die Friedhofsruhe in Gesellschaften totalitären Charakters<br />

ab. Soziale Normen sind demnach nicht bloß Stützen <strong>der</strong><br />

Verhaltenssicherheit <strong>der</strong> Individuen, sie sind auch Stützen von<br />

Macht und Herrschaft. Damit ist auf den Konfliktcharakter von<br />

sozialen Normen verwiesen (vgl. Scherr 2006). Dieser zeigt<br />

sich auf allen Ebenen <strong>der</strong> Gesellschaft. Er ist in <strong>der</strong> Vielheit<br />

sich überschneiden<strong>der</strong> Verpflichtungen prinzipiell angelegt. In<br />

allen Gesellschaften sind die Individuen Mitglie<strong>der</strong> divergenter<br />

sozialer Einheiten und damit Träger mehrerer sozialer Rollen,<br />

wodurch die Möglichkeit von Normkonflikten gegeben ist. Die<br />

KlientInnen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> befinden sich in einer verschärften<br />

Konfliktsituation. Sie wollen bestimmte normative<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen erfüllen, z.B. eine »gute Mutter« sein, ein/e<br />

»liebevolle/r PartnerIn« sein, können dies aber aufgrund ihrer<br />

sozialen Lage nicht. Und sie verletzen ständig Normen, um<br />

überleben zu können.<br />

Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle<br />

So wie Normen als Urphänomen des <strong>Sozialen</strong> bezeichnet werden<br />

können (vgl. König 1969), so ist auch das abweichende<br />

Verhalten konstitutiv für den Erhalt sozialer Normen. Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> hat es häufig mit abweichendem Verhalten zu tun, mit<br />

Menschen und Gruppen, die nicht den gesellschaftlichen<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen gerecht werden. Doch wie lässt sich abweichendes<br />

Verhalten bestimmen? Es bezeichnet alle Formen eines<br />

mit gesellschaftlichen Normen nicht übereinstimmenden<br />

Verhaltens wie z.B. Kriminalität, Suizid, Drogenabhängigkeit,<br />

Alkoholismus, Krankheit, Behin<strong>der</strong>ungen, Leistungsversagen,


Norm und Abweichung 161<br />

Prostitution, Randgruppenzugehörigkeit, Extravaganz, Rebellion,<br />

Innovation etc (vgl. Lamnek 2007). In seiner<br />

Neutralität intendiert <strong>der</strong> Terminus »abweichendes Verhalten«<br />

die traditionelle Diskriminierung auffälligen Verhaltens und die<br />

ideologische Belastung älterer Begriffe wie »Verwahrlosung«<br />

und »Gefährdung« zu vermeiden. Wesentlich ist jedenfalls,<br />

dass deviantes Verhalten von den in <strong>der</strong> jeweiligen Gesellschaft<br />

anerkannten Normen abhängig ist. Es gibt kein abweichendes<br />

Verhalten als solches, son<strong>der</strong>n Handlungen, die eine allgemeine<br />

gesellschaftliche Norm verletzen o<strong>der</strong> die einer bestimmten<br />

Gruppe in <strong>der</strong> Gesellschaft. Die soziale Konstruktion abweichenden<br />

Verhaltens bedeutet auch, dass dieses einerseits jemanden<br />

braucht, <strong>der</strong> eine Handlung als abweichend definiert (vgl.<br />

Becker 1973) und es an<strong>der</strong>erseits einem ständigen Wandel<br />

unterworfen ist. Devianz ist ein Begriff, <strong>der</strong> nur dann verstanden<br />

werden kann, wenn man weiß, wovon jemand »abweicht«<br />

(vgl. Peuckert 2008).<br />

Aus einem sozialpädagogischen Verständnis lässt sich öffentlich<br />

etikettiertes und sanktioniertes abweichendes Verhalten in<br />

seinem Kern auch als Bewältigungsverhalten verstehen (vgl.<br />

Böhnisch 1999), als subjektives Streben nach situativer und<br />

biografischer Handlungsfähigkeit. Es dient <strong>der</strong> psychosozialen<br />

Balance in kritischen Lebenssituationen. Abweichendes<br />

Verhalten ist Folge einer »devianten Sozialisation«. Gibt es in<br />

<strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit sich selbst bzw. mit an<strong>der</strong>en<br />

Probleme, dann können diese über deviantes Verhalten »bewältigt«<br />

werden. Eine an<strong>der</strong>e Definition lautet: Abweichende<br />

Verhaltensweisen sind solche Verhaltensweisen, die in einer<br />

bestimmten Gesellschaft und in einer bestimmten historischen<br />

Epoche von den jeweils Herrschenden und einflussreichen<br />

Eliten zur öffentlichen Distanzierung und Ächtung freigegeben<br />

sind. Damit ist abweichendes Verhalten mit Macht und<br />

Herrschaft verknüpft.<br />

Immer wie<strong>der</strong> ist versucht worden, die Erklärung für<br />

Abweichung in angeborenen Eigenarten <strong>der</strong> Menschen zu fin-


162<br />

Norm und Abweichung<br />

den. So analysierte zum Beispiel im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> italienische<br />

Kriminologe Cesare Lombroso (1836-1909) auf <strong>der</strong><br />

Suche nach vererbten kriminellen Tendenzen die Schädelform<br />

von Kriminellen. Seine Forschungen legten die Vermutung<br />

nahe, dass viele Kriminelle hohe Backenknochen, große<br />

Kieferknochen und hervorstehende Augenbrauenknochen hätten.<br />

Lombroso beging indessen einen fatalen Fehler. Er untersuchte<br />

nur die Schädel von Kriminellen, nicht jedoch die einer<br />

repräsentativen Gruppe <strong>der</strong> gesamten Bevölkerung. Als einige<br />

Jahre später <strong>der</strong> englische Arzt Charles Goring die Schädel von<br />

Kriminellen mit denen an<strong>der</strong>er Menschen verglich, fand er<br />

keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (vgl.<br />

Lamnek 2007). Heutige Wissenschaftler gehen davon aus, dass<br />

das menschliche Verhalten viel zu komplex ist, um es allein<br />

biologisch zu erklären. Wie sehr allerdings <strong>der</strong> biologischgenetische<br />

Ansatz immer wie<strong>der</strong> zur Erklärung abweichenden<br />

Verhaltens herangezogen wird, zeigt die von <strong>der</strong> Hirnforschung<br />

vor einigen Jahren neu entfachte Debatte (vgl. Singer 2003).<br />

Die Neurowissenschaften verstärken die Tendenz <strong>der</strong><br />

Psychiatrisierung des Rechtssystems und stellen damit sozialpädagogisch-sozialarbeiterische<br />

Interventionen in Frage.<br />

Wesentliche soziale Determinanten abweichenden Verhaltens<br />

sind – unter Berücksichtigung kriminellen Verhaltens – Alter<br />

und Geschlecht, d.h. es findet sich eine höhere Rate bei<br />

Jüngeren und Männern. Die Kriminalitätsbelastung junger<br />

Menschen beträgt ein Mehrfaches <strong>der</strong> Belastung von Menschen<br />

im mittleren und höheren Alter. Die Alterskurve <strong>der</strong><br />

Kriminalitätsbelastung für beide Geschlechter ist »linksschief«,<br />

d.h. die Belastung erreicht bei den Altersgruppen unter 25<br />

Jahren ihren Gipfel und fällt danach wie<strong>der</strong> ab (vgl. Hodapp<br />

2007). Diese »Linksschiefe« wird seit Führung einer amtlichen<br />

Kriminalitätsstatistik beobachtet. Daraus folgt auch <strong>der</strong> temporärere<br />

Charakter von abweichendem Verhalten im Jugendalter.<br />

Die Frage, die sich hinsichtlich des Zusammenhangs von<br />

Kriminalität mit Alter und Geschlecht ergibt, ist die nach <strong>der</strong>


Norm und Abweichung 163<br />

Erklärung dieses Zusammenhangs. Sind Frauen besser sozialisiert,<br />

vermeiden sie Delikte, weil sie für Kin<strong>der</strong> zu sorgen<br />

haben? O<strong>der</strong> lässt sich <strong>der</strong> Unterschied mit physischer Stärke<br />

erklären, wie es <strong>der</strong> amerikanische Forscher Walter Gove formuliert<br />

hat, d.h. je größer die physische Stärke, die sowohl<br />

geschlechts- als auch alterskorreliert ist, desto höher ist die<br />

Kriminalitätsrate. Auffällig ist auch noch, dass Geschlechtsund<br />

Alterseffekte deliktabhängig sind, d.h. Diebstahl ist weniger<br />

altersabhängig als Gewaltdelikte. Der originäre Ort weiblicher<br />

Devianz ist die Privatsphäre. Die Mädchendelinquenz<br />

spiegelt weibliche Rollennormen wi<strong>der</strong>. Sie ist »leise«, sie findet<br />

eher im Verborgenen statt und richtet sich in den meisten<br />

Fällen nicht gegen die Machtstrukturen männlicher Hegemonie<br />

(vgl. Böhnisch 1999, 85).<br />

Wie sieht nun die gesellschaftliche Reaktion auf abweichendes<br />

Verhalten aus? Nach Peuckert (2008) verträgt fast jedes soziale<br />

System abweichendes Verhalten in einem beträchtlichen<br />

Ausmaß. Es leistet wichtige Beiträge zur Lebensfähigkeit und<br />

Effektivität des sozialen Systems. Empirisch ist ungeklärt,<br />

unter welchen Bedingungen welche Formen des abweichenden<br />

Verhaltens günstige bzw. ungünstige Wirkungen haben.<br />

Feststellbar ist hinsichtlich <strong>der</strong> äußeren Kontrolle von abweichendem<br />

Verhalten jedenfalls eine erhebliche Verän<strong>der</strong>ung des<br />

Kontrollstils im Zuge <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung. Soziale Kontrolle<br />

wird immer weniger von lokalen Gruppen o<strong>der</strong> Gemeinschaften,<br />

son<strong>der</strong>n von staatlichen Organisationen und Medien<br />

ausgeübt. Bis ins 19. Jahrhun<strong>der</strong>t wurde abweichendes<br />

Verhalten als Sünde bzw. Verbrechen gesehen und dementsprechend<br />

repressiv und körperlich bestraft (vgl. Foucault 2006).<br />

Als ein wesentliches Kennzeichen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung gilt die<br />

Pädagogisierung bzw. Medikalisierung des Kontrollstils.<br />

Ungehorsam wird weniger strafrechtlich und sozial ausschließend<br />

geahndet, son<strong>der</strong>n stärker als pathologisch gedeutet und<br />

einer therapeutischen Intervention zugeführt. Mit <strong>der</strong> Zunahme<br />

behandeln<strong>der</strong> Kontrollformen wurde das Gefängnis, so


164<br />

Norm und Abweichung<br />

Foucault (2006), als Mittel sozialer Kontrolle zunehmend überflüssig.<br />

Die Medikalisierung abweichenden Verhaltens zeigt<br />

sich etwa im Anspruch <strong>der</strong> Medizin Normabweichungen<br />

benennen, erklären und behandeln zu können. Normabweichungen<br />

werden als Symptome individueller Unmündigkeit<br />

angesehen. Die Rolle des Abweichenden wird als eine solche<br />

des/<strong>der</strong> Kranken umdefiniert.<br />

Tendenziell lässt sich wohl ein Rückgang harter Formen <strong>der</strong><br />

sozialen Kontrolle beobachten und eine Zunahme präventiver<br />

Strategien, d.h. Techniken <strong>der</strong> inneren Disziplinierung (z.B. Iss<br />

weniger! Rauch weniger! Mach mehr Bewegung!), jedoch lässt<br />

sich auch das Fortbestehen repressiver Formen zeigen. Dies gilt<br />

etwa für den Ansatz <strong>der</strong> »Null Toleranz« <strong>der</strong> New Yorker<br />

Polizei, wonach selbst kleinste Regelverstöße, wie z.B. Trinken<br />

von Alkohol in <strong>der</strong> Öffentlichkeit hart und schnell geregelt werden.<br />

Dies gilt aber auch im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Kontrolle<br />

rechtsradikaler Strömungen, Gewalt in Schulen o<strong>der</strong><br />

Sexualdelikten (vgl. Hoops/Permien/Rieker 2001). Allen<br />

Maßnahmen <strong>der</strong> sozialen Kontrolle ist jedenfalls gemeinsam,<br />

dass sie die Bandbreite menschlichen Verhaltens auf Typen von<br />

sozial erwünschten »Sozialcharakteren« einzuengen versuchen.<br />

Normen und soziale Abweichung<br />

in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Die Bedeutung <strong>der</strong> Normenfrage in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> stellt<br />

sich vor dem Hintergrund ihres Engagements innerhalb konkreter<br />

Konfliktverhältnisse auf individueller, interaktiver und<br />

struktureller Ebene. Dieses Engagement erhält Orientierungen<br />

durch gesellschaftlich-sozialpolitische Funktionszuschreibungen<br />

und institutionell-administrative Vorgaben wie auch durch<br />

Selbstkonzepte und Programme Sozialer <strong>Arbeit</strong>. Basierend auf<br />

<strong>der</strong> Unterscheidung in helferische und erzieherische Normen<br />

kann eine gewisse »Pädagogisierung« <strong>der</strong> Hilfe festgestellt


Norm und Abweichung 165<br />

werden, d.h. die Verknüpfung von Hilfeleistung mit Verhaltenserwartungen,<br />

wobei aus <strong>der</strong> Verbindung von Erziehung und<br />

Hilfe in einer einzigen Berufsrolle des Sozialarbeiters<br />

Normenkonflikte entstehen können (vgl. Biermann 2007).<br />

Staub-Bernasconi (2005) hat in ihrer disziplinären Bestimmung<br />

<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> drei Paradigmen herausgearbeitet, die<br />

unterschiedliche normativen Rahmen sozialen Handelns anbieten.<br />

Als erstes Paradigma nennt sie das egozentrische, welches<br />

den individuellen Wert Freiheit als wesentliche Handlungsmaxime<br />

in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ausweist. Dieser normative<br />

Anspruch stellt sich dann im Zusammenhang mit abweichendem<br />

(kriminellen) Verhalten so dar, dass SozialarbeiterInnen<br />

die Partei <strong>der</strong> KlientInnen gegen die »ungerechte« Gesellschaft<br />

ergreifen und manchmal sogar in Kauf nehmen, selbst belogen<br />

und bestohlen zu werden. Als zweites Paradigma nennt Staub-<br />

Bernasconi das soziozentrische, in dem soziale Werte des<br />

Zusammenhalts, <strong>der</strong> gesellschaftlichen Stabilität und Ordnung<br />

an oberster Stelle stehen. Individuen haben demnach »möglichst<br />

viele verallgemeinerbare Pflichten zur Erhaltung <strong>der</strong><br />

strukturellen Ordnung unter Gleichen und Ungleichen zu übernehmen«<br />

(Staub-Bernasconi 2005, 252). Als drittes Paradigma<br />

wird das prozessual-systemische angeführt. Dieses versucht<br />

den egozentrischen und den soziozentrischen zu vereinen. In<br />

diesem Ansatz geht es sowohl um Probleme von Individuen als<br />

auch sozialstrukturelle Hemmnisse als Basis für Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />

Wesentlich ist in dieser Verlinkung von Mikro- und<br />

Makroebene die Berücksichtung von Machtaspekten.<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> ist stets nicht nur als eine Form <strong>der</strong> Hilfe son<strong>der</strong>n<br />

auch als eine Form <strong>der</strong> Kontrolle anzusehen, wobei diese<br />

Verdopplung (vgl. Sünker 1995, 81) als eine historische<br />

Konsequenz <strong>der</strong> Vergesellschaftung von Hilfe angesehen wird.<br />

Durch diese Dopplung <strong>der</strong> Funktion in Hilfe und Kontrolle<br />

wird Soziale <strong>Arbeit</strong> in einen Zusammenhang mit Fragen nach<br />

sozialen Normen und abweichendem Verhalten gestellt und als<br />

eine darauf bezogene Interventionsform betrachtet. Lange Zeit


166<br />

Norm und Abweichung<br />

war man davon ausgegangen, dass die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft in<br />

zunehmendem Maße Inklusionsmöglichkeiten für Je<strong>der</strong>mann<br />

bereithalten würde. Es galt das »Prinzip <strong>der</strong> Inklusion aller in<br />

alle Funktionssysteme« (Luhmann 1995). Doch das Postulat<br />

einer allumfassenden Inklusion erweist sich wie jede Norm als<br />

sehr enttäuschungsresistent. Die soziale Realität entspricht keineswegs<br />

den Vorgaben dieses Imperativs.<br />

Erhebliche Schwierigkeiten ergeben sich für die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

vor dem Hintergrund des allgemeinen Kontrollbedürfnisses in<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft. Sie wird in die Rolle <strong>der</strong> kontrollierenden<br />

Instanz gedrängt, d.h. sie übt nicht nur soziale Kontrolle aus,<br />

son<strong>der</strong>n sie ist auch eine Instanz, die sozialer Kontrolle unterliegt<br />

(vgl. Biermann 2007). Sie soll kontrollieren, ob dies nun<br />

die Medikamenteneinnahme von KlientInnen betrifft o<strong>der</strong> die<br />

sachgerechte Verwendung von öffentlichen Gel<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> den<br />

Tagesablauf von Haftentlassenen. Damit wird <strong>der</strong> Anspruch <strong>der</strong><br />

»Hilfe zur Selbsthilfe« konterkariert. Die »Hilfe« soll sowohl<br />

ergebnisorientiert, nachhaltig und effektiv sein, als auch nicht<br />

bevormundend und kein Verhältnis <strong>der</strong> Abhängigkeit erzeugen.<br />

Dabei wäre es notwendig, die Gültigkeit sozialer Normen als<br />

solches in Frage zu stellen, wie dies Judith Butler zeigt.<br />

Judith Butler (2003) befasst sich mit dem Verhältnis zwischen<br />

dem ethischen Subjekt und <strong>der</strong> in einer Gesellschaft tradierten<br />

Norm. Es geht dabei darum, welche Normen innerhalb eines<br />

gegebenen sozialen bzw. historischen Kontextes schon vorab<br />

entscheiden, ob ein Subjekt Anerkennung und Gehör finden<br />

kann und o<strong>der</strong> nicht. Normen entscheiden bereits vorweg darüber,<br />

wer Subjekt wird und wer nicht. Welche Normen sind es,<br />

denen Individuen gleichzeitig in gleicher und in höchst unterschiedlicher<br />

Form unterliegen? Während bestimmte Individuen<br />

von Vornherein in ihrer Subjekthaftigkeit anerkannt werden<br />

(z.B. Weiße, Männer), werden an<strong>der</strong>e als Subjekt »ausgesetzt«.<br />

Herauszuarbeiten gilt es in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> den Bezugsrahmen,<br />

<strong>der</strong> Anerkennung ermöglicht o<strong>der</strong> nicht. Es gibt vor<br />

je<strong>der</strong> möglichen Übernahme, Aneignung o<strong>der</strong> Überschreitung


Norm und Abweichung 167<br />

einzelner Normen bereits ein durch vorgängige Normen überhaupt<br />

erst eröffnetes Feld, das für ein Subjekt konstitutiv ist und<br />

den Schauplatz je<strong>der</strong> Anerkennung bestimmt. Beson<strong>der</strong>es problematisch<br />

sind soziale Normen dort, wenn sie zu einem<br />

Universalitätsgesetz erstarren und neue ethische Ansprüche<br />

zurückgewiesen werden. Das gilt etwa für den Topos <strong>der</strong><br />

»deserving poor«. In diesem Kontext kann von struktureller<br />

Gewalt gesprochen werden. Soziale Normen entziehen sich<br />

ihrer historischen und kulturellen Kontingenz, wenn kulturelle<br />

Beson<strong>der</strong>heiten und die Entstehungsbedingungen, denen soziale<br />

Normen unterliegen, außer Acht gelassen werden.<br />

Die Soziale <strong>Arbeit</strong> selbst befindet sich in einem bürokratisch<br />

und marktwirtschaftlich regulierten »social services complex«<br />

gefangen. In diesem Komplex geht es mehr um Verwaltung<br />

o<strong>der</strong> auch Marketing von Aktivitäten als um die <strong>Arbeit</strong> selbst.<br />

Die Soziale <strong>Arbeit</strong> ist dort gefährdet, wo sie Normen und<br />

Gesetze bloß anwendet und diese zuwenig in ihren Macht- und<br />

Begrenzungsaspekten reflektiert. Die Eigenständigkeit <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> wird sich in Zukunft daran bewerten lassen,<br />

inwieweit sie ihre Wi<strong>der</strong>ständigkeit gegenüber Kontrollzumutungen<br />

aufrecht erhält bzw. diesen entgegentritt. Die<br />

Kontrollformen werden unpersönlicher, abstrakter und zunehmend<br />

mit dem Zwang zur individuellen Abarbeitung versehen.<br />

Hier braucht es ein Korrektiv durch die Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />

Zu erwarten ist eine weitere Diversifizierung <strong>der</strong> Wert- und<br />

Moralvorstellungen und eine höhere Akzeptanz sozialer und<br />

kultureller Abweichungen. Als Beispiel mag hier die<br />

Hinzuziehung von illegalen Pflegekräften in <strong>der</strong> Altenbetreuung<br />

genannt werden, wo von einer strukturell erzeugten<br />

Abweichung gesprochen werden kann, <strong>der</strong>en Ahndung individuelle<br />

Empörung ausgelöst hat. Eine Ausrichtung <strong>der</strong><br />

Individuen an festen Normen und eine präzise Unterscheidung<br />

zwischen normal und anormal sind damit nur mehr bedingt<br />

möglich. Übrig bleiben situations- und kontextabhängige<br />

Wertprioritäten, die keinen allgemeingültigen Anspruch erhe-


168<br />

ben. Eine Logik des Risikos prägt die gegenwärtige Formation<br />

von Norm-Abweichung, die auch von <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

durch entsprechende theoretisch-methodische und politische<br />

Konzepte zu berücksichtigen wäre. Ein Schritt in diese<br />

Richtung findet sich in <strong>der</strong> »Wiener Erklärung zur Ökonomisierung<br />

und Fachlichkeit in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>« 3 .<br />

Anmerkungen<br />

1 http://www.dbsh.de/html/hauptteil_wasistsozialarbeit.html [Zugriff:<br />

24.9.2007]<br />

2 http://www.nadir.org/nadir/archiv/netzkritik/postskriptum.html<br />

[Zugriff: 3.1.2008]<br />

3 http://www.oberoesterreich-sozialarbeit.at/download/Wiener<br />

Erklaerung_04062007.pdf [Zugriff: 4.1.2008]<br />

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Wehrheim, Jan (2002): Die überwachte Stadt. Opladen.


Prävention und Disziplinierung<br />

Agnieszka Dzierzbicka<br />

Iss doch kein weißes Brot,<br />

sonst bist du morgen tot<br />

Wir meinen’s gut mit dir<br />

Wir schützen dich vor dir<br />

(Chuzpe – Die guten Kräfte)<br />

Kampagnen, die <strong>der</strong> Prävention von Gewalt und Sucht, <strong>der</strong><br />

Ausbreitung von Krankheiten o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Disziplinierung von<br />

BürgerInnen ob ihrer ungesunden Lebensweise, ihres unrühmlichen<br />

Verhaltens – wie mangelnde Mülltrennung o<strong>der</strong> etwa die<br />

Überschreitung von Geschwindigkeitsbegrenzungen – dienen,<br />

stehen zurzeit hoch im Kurs: Ihretwegen werden Lebensgewohnheiten<br />

unter die Lupe genommen, mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

kreative Verhaltens-, Bewegungs- und Ernährungsimperative<br />

formuliert und nicht zuletzt lukrative Allianzen zwischen<br />

Politik, Ökonomie und Medien geschlossen. Der Anlassfall für<br />

den Boom um die »richtige« Lebensführung ist sattsam<br />

bekannt, eine statistische Gleichung, die nicht länger aufgehen<br />

will: Menschen bestimmter Regionen werden immer älter, <strong>der</strong><br />

Preis dafür immer höher. Wurde jedoch bis vor kurzem in diesem<br />

Zusammenhang <strong>der</strong> Fokus auf die Kin<strong>der</strong>losigkeit (<strong>der</strong><br />

europäischen Mittelschicht) gelegt, so rückt nun <strong>der</strong> Lebensstil<br />

an sich ins Zentrum. Fettes Essen, Rauchen, Alkoholgenuss und<br />

mangelnde Bewegung machen, wie immer wie<strong>der</strong> betont wird,<br />

nicht nur unglücklich, son<strong>der</strong>n treiben auch die Gesundheitskosten<br />

in die Höhe. Damit sorgt <strong>der</strong> klinisch anmutende Begriff<br />

Prävention für Furore. Egal ob in <strong>der</strong> nüchternen Welt <strong>der</strong><br />

Medizin o<strong>der</strong> in schicken Lifestylemagazinen, allerorts hat man<br />

sich dem vorbeugenden und nachhaltigen Denken, Handeln<br />

und Leben verschrieben.


Prävention und Disziplinierung 171<br />

Wesentlich länger und freilich weniger lukrativ aber nicht min<strong>der</strong><br />

penetrant wird auch das Feld <strong>der</strong> Sozialarbeit in die Pflicht<br />

genommen, wenn es darum geht, jene, die als gefährdet eingeschätzt<br />

werden – gefährdet aus dem gesellschaftlichen System<br />

und seinen Spielregeln heraus zu fallen und damit das System<br />

selbst zu gefährden –, zu stützen. Auch hier ist es längst eine<br />

Binsenweisheit, dass Vorbeugung besser als «Heilen« ist: Ob<br />

Gewaltprävention, Suchtprävention o<strong>der</strong> Schuldenprävention,<br />

je früher interveniert wird, desto wirkungsvoller und freilich<br />

billiger die Maßnahmen. Doch wie schon angedeutet, mit einer<br />

Intervention allein ist es nicht getan. Was wäre jede<br />

Vorbeugemaßnahme ohne einen Rückgriff auf die Disziplinierung,<br />

im optimalen Fall die Selbstdisziplinierung? Sie wäre<br />

dazu verdammt als eine punktuelle Maßnahme zu verpuffen.<br />

Dass es aber vor diesem Hintergrund ein sehr altes und bewährtes<br />

Wissen über die Techniken und Technologien <strong>der</strong><br />

Disziplinierung gibt, das innerhalb sozialer Einrichtungen über<br />

Jahrhun<strong>der</strong>te mit Akribie und Hartnäckigkeit tradiert und<br />

gepflegt wurde, das hat Michel Foucault in Überwachen und<br />

Strafen (1975) auf eine für diese Einrichtungen wenig schmeichelnde<br />

Art und Weise veranschaulicht. Im Folgenden wird<br />

diese Kritik nachgezeichnet und darüber hinaus die These vertreten,<br />

dass mit <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong> wohlfahrtsstaatlichen Institutionen<br />

nun konsequenterweise auch in <strong>der</strong> sozialen Praxis vermehrt<br />

auf den Begriff <strong>der</strong> Prävention zurückgegriffen wird. Ein<br />

Umstand, <strong>der</strong> meines Erachtens die Problematik um die<br />

Disziplinierung im Rahmen dieser Praxis keinesfalls entschärft<br />

wie ich aufzeigen möchte.<br />

Die Etablierung <strong>der</strong> Disziplinen<br />

In Überwachen und Strafen beschreibt Michel Foucault das<br />

Brüchigwerden <strong>der</strong> souveränen Macht und die darauf beruhende<br />

Formierung <strong>der</strong> von ihm so genannten Disziplinar-


172<br />

Prävention und Disziplinierung<br />

gesellschaften. Am Beispiel <strong>der</strong> allmählichen Verdrängung <strong>der</strong><br />

Marter im 17./18. Jahrhun<strong>der</strong>t und <strong>der</strong> Implementierung des<br />

mo<strong>der</strong>nen Strafvollzugs wird hier <strong>der</strong> Wandel <strong>der</strong> abendländischen<br />

Gesellschaften in Begriffen und Bil<strong>der</strong>n skizziert, die<br />

keine Spuren jener Euphorie o<strong>der</strong> Aufbruchsstimmung aufweisen,<br />

die für die Zeit <strong>der</strong> Aufklärung und ihre industriellen<br />

Möglichkeiten charakteristisch sind: »Damit betreten wir das<br />

Zeitalter <strong>der</strong> sozialen Orthopädie, wie ich es nennen möchte. Es<br />

handelt sich um eine Form von Macht und einen Gesellschaftstyp,<br />

die ich im Unterschied zu den vorangegangenen<br />

Strafgesellschaften als Disziplinargesellschaft bezeichne«<br />

(Foucault 2002, 734). Die Strafgesellschaften sind abhängig<br />

von vorherrschenden Strafgewohnheiten, es handelt sich dabei<br />

um »hypothetische Gesellschaften« (ebd., 569). Sie stellen eine<br />

modellhafte Typisierung vor, <strong>der</strong>en Charakterisierung vom<br />

Umgang <strong>der</strong> Gesellschaften mit Straffälligen und Abweichenden<br />

abhängig ist. So unterscheidet Foucault vier<br />

Gesellschaftstypen: griechische Gesellschaften, die verbannen,<br />

germanische Gesellschaften, die im Fall eines Vergehens einen<br />

Freikauf for<strong>der</strong>n, abendländische Gesellschaften am Ende des<br />

Mittelalters, die »ein Zeichen im Körper einschreiben« – die<br />

Souveränitätsgesellschaften 1 , und schließlich Gesellschaften,<br />

die einsperren – die Disziplinargesellschaften. Die Formierung<br />

<strong>der</strong> Disziplinargesellschaft ist auf das Engste mit dem Umstand<br />

verbunden, dass die bis dahin übliche Manifestation <strong>der</strong><br />

Herrschaft, die leibliche Marter, ausgedient hat. Der schnelle<br />

Tod durch die Guillotine bzw. den Strick setzt <strong>der</strong> langwierigen<br />

öffentlichen Folter ein Ende.<br />

Was haben nun Foucaults historisch-soziologische Analysen<br />

einer längst vergangenen Zeit und daraus resultierenden philosophischen<br />

Überlegungen mit aktuellen <strong>Leitbegriffe</strong>n <strong>der</strong><br />

Sozialarbeit zu tun? Es sind unter an<strong>der</strong>en zwei Motive, die<br />

Foucault für die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Praxisfeld <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> und seiner gegenwärtigen Verfasstheit spannend<br />

und fruchtbar machen: seine Analysen des gesellschaft-


Prävention und Disziplinierung 173<br />

lichen Wandels und <strong>der</strong> damit einhergehenden Brüche und<br />

Kontinuitäten sowie seine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem<br />

Komplex Macht/Wissen entlang <strong>der</strong> Frage, wie die Gesellschaft<br />

mit von <strong>der</strong> Norm Abweichendem umgeht, präziser, wie sie<br />

Abweichungen zu verhin<strong>der</strong>n sucht.<br />

»Zu Beginn des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts geht also das große<br />

Schauspiel <strong>der</strong> peinlichen Strafe zu Ende; man schafft den<br />

gemarterten Körper beiseite; man verbannt die Inszenierung<br />

des Leidens aus <strong>der</strong> Züchtigung« (Foucault 1995a, 22 f.). An<br />

ihre Stelle tritt die Disziplinierung des Körpers, <strong>der</strong> sich in<br />

Anbetracht gesellschaftlicher und technischer Umwälzungen<br />

als eine nutzbare Kraft zeigt. Also auch hier finden wir bereits<br />

die Frage <strong>der</strong> gesellschaftlichen Ökonomisierungstendenzen als<br />

Motor zum Wandel von Institutionen: Und so geraten von nun<br />

an das Leben und seine Verwaltung an Stelle des Todes in den<br />

Sog von Diskurs- und Machtwirkungen. In späteren Schriften<br />

präzisierte Foucault diese Zäsur am Beispiel des Zugriffs auf<br />

das Leben <strong>der</strong> Gesetzesbrechenden im Beson<strong>der</strong>en und das<br />

Leben <strong>der</strong> Bevölkerungen im Allgemeinen: »Man könnte<br />

sagen, das alte Recht, sterben zu machen o<strong>der</strong> leben zu lassen,<br />

wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen o<strong>der</strong> in den<br />

Tod zu stoßen« (Foucault 1997, 165; Hervorhebungen im<br />

Orig.).<br />

Das »Leben« wird also zum bestimmenden Faktor im gesellschaftlichen<br />

Gefüge. Die für seine Verwaltung notwendigen<br />

Institutionen, die großen Einsperrungen bzw. Einschließungen<br />

– die Schulen, die Kasernen, die Fabriken, die Krankenhäuser<br />

wie auch die Gefängnisse –, formieren sich im 17./18.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t um das Individuum und werden zur allgemeinen<br />

Herrschaftsform (vgl. Foucault 1995a). Wie Foucault nicht<br />

müde wurde zu beschreiben, werden diese Institutionen maßgeblich<br />

für eine bestimmte Art von permanenter Unterdrückung<br />

im Alltagsleben verantwortlich: Der Einzelne wird ins Zentrum<br />

des Produktivitätsdenkens <strong>der</strong> Waren herstellenden bürgerlichen<br />

Gesellschaft beför<strong>der</strong>t und von ihren Institutionen fest


174<br />

Prävention und Disziplinierung<br />

umschlossen. »Was in <strong>der</strong> Schule, in <strong>der</strong> Armee überhand<br />

nimmt, ist eine Mikro-Justiz <strong>der</strong> Zeit (Verspätungen,<br />

Abwesenheiten, Unterbrechungen), <strong>der</strong> Tätigkeit (Unaufmerksamkeit,<br />

Nachlässigkeit, Faulheit), des Körpers (›falsche‹<br />

Körperhaltungen und Gesten, Unsauberkeit), <strong>der</strong> Sexualität<br />

(Unanständigkeit)« (Foucault 1995a, 230).<br />

Das von Foucault beschriebene Disziplinarregime entpuppt sich<br />

also kurzerhand als eine Macht <strong>der</strong> Normierung und Normalisierung,<br />

hegemoniale Strukturen finden ihren Ausdruck in <strong>der</strong><br />

Anpassung und Einglie<strong>der</strong>ung des Abweichenden. Zentraler<br />

Begriff dabei ist, wie <strong>der</strong> Name schon verrät, die Disziplin, die<br />

– disziplinäre Wissenschaft und disziplinierende Institutionen<br />

subsumierend – jene Schnittstelle <strong>der</strong> Macht, die Produktivkräfte<br />

(z.B. menschliche <strong>Arbeit</strong>skraft, Maschinen, Rohstoffe)<br />

und Wissen (bereitgestellt durch die Humanwissenschaften) zu<br />

einen und zu funktionalisieren »weiß«. Nicht das vernunftbegabte<br />

und gerade vertragsfähig gewordene Individuum wird für<br />

die Gestaltung <strong>der</strong> Produktionsbedingungen und Produktivität<br />

in dieser Zeit bestimmend, son<strong>der</strong>n die Etablierung und<br />

Stärkung von hierarchisch organisierten Strukturen, die die<br />

Produktion gewährleisten und in Gang halten. Tayloristisches<br />

Management und fordistische Produktionsweise werfen ihre<br />

Schatten voraus und prägen das Menschenbild entgegengesetzt<br />

zu einem an Autonomie ausgerichteten Emanzipationsideal. So<br />

mündet die Stilisierung <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong> von einem notwendigen Übel<br />

zu einer positiven, sinnstiftenden Aufgabe in <strong>der</strong> passgenauen<br />

Austauschbarkeit von Einzelteilen wie auch von <strong>Arbeit</strong>enden<br />

(vgl. Ribolits 1997). Ermöglicht wird diese Austauschbarkeit<br />

durch die Disziplinen, die definieren, »wie man die Körper <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen<br />

zu lassen, was man verlangt, son<strong>der</strong>n um sie so arbeiten zu lassen,<br />

wie man will: mit den Techniken, mit <strong>der</strong> Schnelligkeit, mit<br />

<strong>der</strong> Wirksamkeit, die man bestimmt« (Foucault 1995a, 176 f.).


Prävention und Disziplinierung 175<br />

Normalisierung: Die aufgeklärte, produktive Masse<br />

Die Vereinnahmung des Alltags durch das Diktat einer<br />

bestimmten Ökonomie <strong>der</strong> Macht, <strong>der</strong> »Akkumulation von<br />

Kapital und Menschen« (Foucault 1995a, 283), fällt somit<br />

bemerkenswerterweise bereits in jene Zeit, die eigentlich als<br />

Befreiung des Menschen aus seiner Unmündigkeit in die<br />

Geschichte eingehen sollte: Indem <strong>der</strong> Mensch beschließt,<br />

seine Lebensführung kraft <strong>der</strong> eigenen Vernunft in die Hand zu<br />

nehmen, werden das »neuzeitliche subjektivistische Menschenverständnis«<br />

und die Pädagogik mit ihrem prononcierten<br />

Auftrag begründet, Wissen und Methoden für die Aufklärung<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft bereitzustellen (vgl. Ballauf/Schaller 1970,<br />

326). Das mo<strong>der</strong>ne Erziehungsverständnis ergibt sich also erst<br />

mit <strong>der</strong> Vorstellung, dass <strong>der</strong> Mensch »allein und ausschließlich<br />

für sich als vernünftiges Wesen verantwortlich zu sein habe und<br />

dass dies von <strong>der</strong> Erziehung abhängig sei, dass also die<br />

Erziehung den für sich selbst verantwortlichen Menschen ›hervorbringen‹<br />

könne« (Schäfer 2005, 27). Foucault sieht die<br />

Entstehung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Pädagogik und ihrer späteren<br />

Subdisziplinen selbstverständlich in keinem aufklärerischen<br />

Licht, son<strong>der</strong>n im Dienst <strong>der</strong> Disziplinarmacht. So wird die<br />

Sozialpädagogik »nützlich«, indem sie beispielsweise »beim<br />

faulen Subjekt« den Geschmack an <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong> weckt – »wer<br />

leben will, muß arbeiten« (Foucault 1995a, 157). Deshalb verwun<strong>der</strong>t<br />

Foucaults Fazit hinsichtlich <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />

Transformationen an <strong>der</strong> Schwelle zwischen Klassik und<br />

Mo<strong>der</strong>nität wohl wenig: »›Aufklärung‹, welche die Freiheiten<br />

entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden« (ebd., 285).<br />

Was nun auf den ersten Blick wi<strong>der</strong>sprüchlich und unvereinbar<br />

wirkt, nämlich die Befreiung bei gleichzeitiger Unterdrückung<br />

des Menschen, lässt sich durchaus zusammenführen, wenn in<br />

Betracht gezogen wird, dass in diesem Fall eine Verzahnung<br />

individueller Interessen mit gesellschaftlichem Fortschritt stattgefunden<br />

hat. Auf diese Weise konnten komplexe Diszipli-


176<br />

Prävention und Disziplinierung<br />

nierungsakte im Namen von Leistung, Fortschritt, Bildung und<br />

Produktivität <strong>der</strong>maßen »trivialisiert« werden, dass sie eben<br />

selbstverständlich und normal erschienen: »Wie sollte das<br />

Gefängnis nicht unmittelbar akzeptiert werden, wo es doch,<br />

indem es einsperrt, herrichtet, fügsam macht, nur die<br />

Mechanismen des Gesellschaftskörpers – vielleicht mit einigem<br />

Nachdruck – reproduziert? Das Gefängnis ist eine etwas<br />

strenge Kaserne, eine unnachsichtige Schule, eine düstere<br />

Werkstatt, letztlich nichts qualitativ Verschiedenes« (ebd., 297).<br />

Ob nun das Gefängnis o<strong>der</strong> die Schule – beide Institutionen stehen<br />

im Dienste einer Normalisierungsmaschinerie, die aus<br />

unübersichtlicher Masse eine geordnete Vielheit macht, die sich<br />

reproduziert, Ziele verfolgt und zu erfüllen trachtet. Zugleich<br />

sind es aber auch die Normalisierungsmechanismen, die dem<br />

Menschen ein Verständnis seiner Existenz ermöglichen: Als<br />

»Subjekt« wird <strong>der</strong> Mensch einerseits zu einem freien, eben für<br />

sein Handeln in <strong>der</strong> Gesellschaft verantwortlichen, da vernunftbegabten<br />

Menschen, an<strong>der</strong>erseits bedeutet dieses Freisein<br />

immer auch einen Akt <strong>der</strong> Unterwerfung angesichts <strong>der</strong> in den<br />

Einschließungen/Staatsapparaten vorherrschenden Normen und<br />

Normalisierungsmechanismen. Theodor W. Adorno und Max<br />

Horkheimer beschrieben diese dialektische Wendung als die<br />

»Absurdität des Zustandes«, <strong>der</strong> die Menschen zwar aus <strong>der</strong><br />

Gewalt <strong>der</strong> Natur herausführt, aber mit jedem ausgeführten<br />

Schritt »die Gewalt des Systems über den Menschen« wachsen<br />

lässt. (Horkheimer/Adorno 2000, 45) Für die Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Kritischen Theorie wird damit die Vernunft als ein strukturelles<br />

Problem wahrgenommen. Die befreiende Macht <strong>der</strong> Vernunft<br />

birgt per se ein Moment <strong>der</strong> Unvernunft in sich. So erlangt <strong>der</strong><br />

Mensch Herrschaft über die Welt »ohne Rücksicht auf<br />

Unterschiede« und lässt die Natur zur »bloßen Objektivität«<br />

werden. Doch diese Vermehrung an Macht müssen die<br />

Menschen mit Entfremdung bezahlen, ausgerechnet mit »<strong>der</strong><br />

Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben« (ebd.,<br />

14 f.). Auf den Punkt gebracht verstrickt sich <strong>der</strong> Mensch mit


Prävention und Disziplinierung 177<br />

jedem Schritt aus <strong>der</strong> Abhängigkeit in eine an<strong>der</strong>e Abhängigkeit.<br />

»Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die<br />

Anerkennung <strong>der</strong> Macht als des Prinzips aller Beziehungen«<br />

(ebd., 15).<br />

Für den Strukturalisten Althusser liegt das Dilemma bereits<br />

darin, dass <strong>der</strong> Subjektbegriff an sich für die bürgerliche<br />

Ideologie konstitutiv ist: »Wir behaupten außerdem, daß die<br />

Ideologie in einer Weise ›handelt‹ o<strong>der</strong> ›funktioniert‹, daß sie<br />

durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung<br />

(interpellation) nennen, aus <strong>der</strong> Masse <strong>der</strong> Individuen Subjekte<br />

›rekrutiert‹ (sie rekrutiert sie alle) o<strong>der</strong> diese Individuen in<br />

Subjekte ›transformiert‹ (sie transformiert sie alle)« (Althusser<br />

1977, 142). Althusser zieht aus <strong>der</strong> allmächtigen, »ewigen«<br />

Anrufung »He, Sie da!« (ebd.), die kein Entkommen vorsieht,<br />

einen pragmatischen, definitiven Schluss: Um zu einer<br />

Erkenntnis gelangen zu können, muss ein wissenschaftlicher<br />

Diskurs über Ideologie »ohne Subjekt« auskommen (Althusser<br />

1977, 142). Ist dies für eine sozialpädagogische Analyse möglich?<br />

Einen Versuch gilt es zu wagen.<br />

Lässt man sich also auf die machtanalytischen Untersuchungen<br />

in Foucaults Überwachen und Strafen ein, so erscheinen die<br />

Gesellschaft und ihre Institutionen in einem düsteren Licht.<br />

Selbst soziale Errungenschaften <strong>der</strong> Nachkriegszeit – formuliert<br />

in <strong>der</strong> Idee des Wohlfahrtsstaates – entpuppen sich in <strong>der</strong><br />

Foucault’schen Logik bei näherer Betrachtung als Facetten <strong>der</strong><br />

ungeheuren Disziplinarmacht. Diese Macht durchdringt, diszipliniert<br />

und normiert im Namen des Fortschritts und einer<br />

(mittlerweile zweifelhaft gewordenen) Produktivität den<br />

Gesellschaftskörper, <strong>der</strong> in den Institutionen, die das<br />

Individuum einschließen, nun formbar wird. So wechseln<br />

Menschen von einer einschließenden Institution zur nächsten.<br />

Aller Anfang ist die Familie, dann folgen die Schul- und<br />

Bildungsanstalten, für manche die Kaserne, die Fabrik bzw. <strong>der</strong><br />

Betrieb, zeitweilig das Krankenhaus, eventuell das Gefängnis<br />

(vgl. Foucault 1995a). Jede dieser Einschließungen ist durch


178<br />

Prävention und Disziplinierung<br />

eigene Gesetze und Verfahren charakterisiert und bedeutet<br />

zugleich immer auch Ausschließung. Zunächst erscheinen diese<br />

Institutionen als voneinan<strong>der</strong> divergierend und divergent. Bei<br />

einer näheren Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass<br />

diese so hermetisch abgeschlossenen Milieus einan<strong>der</strong> konvergierend<br />

fortschreiben, immer aufeinan<strong>der</strong> verweisen: Der vertraute<br />

Satz »Du bist hier nicht zu Hause« (Deleuze 1993, 254)<br />

findet sich im Alltagsdiskurs <strong>der</strong> Einschließung Schule ebenso<br />

wie auch die Drohung: »Wenn du dann mal wirklich im Beruf<br />

stehst!« Im letzteren Fall entsinnt sich die Einschließung<br />

Schule eines ihrer Aufträge, nämlich <strong>der</strong> Vorbereitung auf die<br />

nächste Einschließung, das Berufsleben. Die stehende<br />

Wendung »Du bist hier nicht mehr in <strong>der</strong> Schule!« fungiert<br />

wie<strong>der</strong>um als eine Antwort <strong>der</strong> Einschließung Betrieb, wenn<br />

gegen <strong>der</strong>en Regelwerk verstoßen wird. Auf diese Weise<br />

erscheinen alle Varianten <strong>der</strong> Einschließungen letztlich als ein<br />

einziges System ineinan<strong>der</strong> greifen<strong>der</strong> Disziplinierungs- und<br />

Normierungsmechanismen, die in den entwicklungspsychologisch<br />

bedingten und sozial bestimmten Lebensentwürfen wirksam<br />

sind und – über die Einschließungsfunktion hinaus –<br />

Komponenten des Anschließens beinhalten. Und wenn all die<br />

Drohungen, Ermahnungen keine Wirkung zeitigen, dann gibt es<br />

– frei nach Foucault – immer noch die Sozialarbeit.<br />

Der Gesellschaftskörper tritt also in <strong>der</strong> Disziplinargesellschaft<br />

in den Hintergrund und <strong>der</strong> gleichsam »erfundene« individualisierte,<br />

auszubildende Körper rückt ins Zentrum <strong>der</strong><br />

Einflussnahme. Es ist <strong>der</strong> individualisierte Körper, <strong>der</strong> in jener<br />

Zeit-Raum-Achse <strong>der</strong> Produktivität positioniert werden kann,<br />

welche die Summe <strong>der</strong> Einzelkräfte in einem nie zuvor gekannten<br />

Ausmaß zu übertreffen vermag. Die Funktion <strong>der</strong> einschließenden<br />

Institutionen jedoch ausschließlich auf die Normierung<br />

und Disziplinierung zurückzuführen, wäre eine verkürzende<br />

Vorgehensweise, denn es kann davon ausgegangen werden,<br />

dass eine Normierung, die nicht zweckgerichtet ist, sich auf<br />

lange Sicht erschöpft. Eine mögliche Erklärung für den beacht-


Prävention und Disziplinierung 179<br />

lichen Erfolg und die Wirksamkeit <strong>der</strong> Disziplinierungssysteme<br />

könnte vielmehr in ihrer weiteren Funktion liegen, nämlich in<br />

jener <strong>der</strong> Sinnstiftung.<br />

So sind den normierenden Leistungen <strong>der</strong> Einschließungen die<br />

anzustrebenden Lebensziele bzw. Wünsche und Sehnsüchte <strong>der</strong><br />

Einzelnen inhärent. Dieses spezifische Verhältnis lässt sich<br />

zwischen den zwei Polen gesellschaftlicher Fortschritt und<br />

persönlicher Erfolg verorten 2 . Dadurch entsteht ein<br />

Spannungsfeld, das Einschließungen so effizient und beständig<br />

macht wie die Disziplinargesellschaften produktiv – ein<br />

Spannungsfeld, das Emanzipation und Unterwerfung des mit<br />

Vernunft ausgestatteten mo<strong>der</strong>nen Subjekts überhaupt erst<br />

ermöglicht. Isaiah Berlins Konzept <strong>der</strong> negativen Freiheit als<br />

Freiheit von Zwängen kollektiver Bevormundung (»freedom<br />

from«) findet hier ebenso eine Anwendung wie sein Konzept<br />

<strong>der</strong> positiven Freiheit (»freedom to«), die das Subjekt zum<br />

eigenen Herrn ermächtigt (vgl. Berlin 1995). Zwischen beiden<br />

Richtungen zerrissen, indifferent und polarisiert, findet sich das<br />

zum Einsatz <strong>der</strong> Vernunft ermächtigte Individuum <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

in den Institutionen <strong>der</strong> Gesellschaft eingeschlossen wie<strong>der</strong>.<br />

Althussers Argument, die Subjektivierungsmechanismen als<br />

einen Akt <strong>der</strong> Unterwerfung zu betrachten, bringt dieses<br />

Dilemma auf den Punkt. Demnach ist das Subjekt nichts<br />

Ursprüngliches, son<strong>der</strong>n ein Resultat jener Verhältnisse, die<br />

Menschen als Subjekte zueinan<strong>der</strong> und zur Gesellschaft vorfinden<br />

und prägen, wobei diese Verhältnisse niemals transparent,<br />

son<strong>der</strong>n imaginär sind, da sie eben über die ideologischen<br />

Staatsapparate konstituiert und erst mit <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />

eines Rückgriffs auf repressive Staatsapparate 3 real werden.<br />

»Resultat: Gefangen in diesem […] System <strong>der</strong> Anrufung als<br />

Subjekte, <strong>der</strong> Unterwerfung unter das SUBJEKT, <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Wie<strong>der</strong>erkennung und <strong>der</strong> absoluten Garantie, ›funktionieren‹<br />

die Subjekte in <strong>der</strong> riesigen Mehrzahl <strong>der</strong> Fälle ›ganz von<br />

alleine‹ – mit Ausnahme <strong>der</strong> ›schlechten Subjekte‹, die gelegentlich<br />

das Eingreifen dieser o<strong>der</strong> jener Abteilung des (repres-


180<br />

Prävention und Disziplinierung<br />

siven) Staatsapparates provozieren« (Althusser 1977, 148;<br />

Hervorhebungen im Orig.).<br />

Von <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong> Disziplinen<br />

zum Aufstieg <strong>der</strong> Prävention<br />

Seit geraumer Zeit scheinen jedoch die Disziplinen in <strong>der</strong><br />

Krise: Die Produktivität steht nicht länger im Zeichen <strong>der</strong><br />

Stückzahl und <strong>der</strong> Stechuhr. Auch sind die einst großen<br />

Einschließungen wie Familie, Schule, Gefängnis, Fabrik o<strong>der</strong><br />

Krankenhaus seit geraumer Zeit von Prozessen <strong>der</strong> Öffnung<br />

geprägt, die im übertragenen Sinne die disziplinäre Schlinge<br />

um das Individuum gelockert haben. Diese Entwicklungen sind<br />

aber laut Deleuze bloß ein Übergangsstadium und sollten nicht<br />

über den Umstand hinwegtäuschen, dass die einstigen<br />

Einschließungen, Nachlassverwaltern ähnlich, zu Wegbereitern<br />

<strong>der</strong> Konstituierung neuer Kräfte geworden sind: »Aber je<strong>der</strong><br />

weiß, daß diese Institutionen über kurz o<strong>der</strong> lang am Ende sind.<br />

Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und<br />

die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an<br />

die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben« (Deleuze<br />

1993, 255). Disziplin und Norm garantieren in den westlichen<br />

Gesellschaften per se keine Produktivität mehr, viel eher lässt<br />

sich <strong>der</strong>en Ersetzung durch Begriffe wie Flexibilität und<br />

Motivation beobachten. Konnte in Foucaults Disziplinargesellschaft<br />

das wesentliche Moment <strong>der</strong> Macht als ein Akt <strong>der</strong><br />

Disziplinierung und Normierung benannt werden, so verweist<br />

Deleuze demgegenüber auf eine neue strategische Situation <strong>der</strong><br />

Gesellschaft. Im Postskriptum über die Kontrollgesellschaften<br />

(Deleuze 1993) findet sich Kontrolle als konstitutives Element<br />

einer neuen Gesellschaftsordnung eingeschrieben.<br />

»Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften<br />

abzulösen«, lautet die knappe Diagnose von Gilles<br />

Deleuze (Deleuze 1993, 255). 4 So tritt das Unternehmen an die


Prävention und Disziplinierung 181<br />

Stelle <strong>der</strong> Fabrik, die permanente Weiterbildung löst tendenziell<br />

die Schule ab und die kontinuierliche Kontrolle das Examen.<br />

»Bin ich noch jung genug?«, fragen sich Tom Holert und Mark<br />

Terkessidis im Vorwort zu Mainstream <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heiten. Pop<br />

in <strong>der</strong> Kontrollgesellschaft (1996). Und diese Frage ist programmatisch,<br />

denn einerseits verdeutlicht sie die Unsicherheit<br />

<strong>der</strong> 1990er Jahre, als die Zahlen von »freigesetzten« Menschen<br />

zum fixen Programmpunkt von Tagesnachrichten zu werden<br />

schienen, und an<strong>der</strong>erseits die Einschreibung <strong>der</strong> permanenten<br />

Selbstüberprüfung und Kontrolle. Wenn man in den<br />

Disziplinargesellschaften »nie aufhörte anzufangen« (in<br />

Schule, Kaserne, Fabrik), so wird man in <strong>der</strong> Kontrollgesellschaft<br />

»nie mit irgendetwas fertig«: Unternehmen,<br />

Weiterbildung und Dienstleistung, allesamt Zustände einer<br />

Modulation (Deleuze 1993, 257). Während sich das Individuum<br />

also in mehreren Einschließungen zugleich wie<strong>der</strong> findet<br />

und sich fragt, ob es genug ist – »Bin ich fit genug?«, »Bin ich<br />

gesund genug?« etc. –, scheinen die Institutionen an <strong>der</strong><br />

Kostenfrage zu scheitern. Und so befinden sich mehr als ein<br />

Jahrzehnt nach dem Erscheinen des Postskriptums die beschriebenen<br />

Institutionen immer noch in <strong>der</strong> Reformphase, eine<br />

Konsolidierungsphase scheint nicht absehbar. Das heißt,<br />

Institutionen und »Leute« sind nach wie vor in einer Art<br />

Wartelounge platziert, <strong>der</strong>en wie<strong>der</strong>kehrende Funktion die reibungslose<br />

Durchführung von Restrukturierungsmaßnahmen ist.<br />

»Bin ich gut genug?« Das bleibt als Frage neben vielen an<strong>der</strong>en,<br />

die allesamt um die Kardinalsfrage kreisen: »Habe ich<br />

genug dafür getan?« Denn die jüngsten Entwicklungen lassen<br />

den nahe liegenden Schluss zu, dass die Disziplinierung heute<br />

nur Effizienz und Produktivität zeitigt, wenn Sie im Namen <strong>der</strong><br />

Prävention statt findet. Ob marode Gesundheitssysteme o<strong>der</strong><br />

das Problem <strong>der</strong> Vollbeschäftigung, auf alles scheint die<br />

Prävention eine Antwort zu bieten. Vorsorge ist die Devise in<br />

dem einen Fall, also gesunde Ernährung, Fitness usw. usf, und<br />

Employability als die eigenverantwortlich sichergestellte


182<br />

Prävention und Disziplinierung<br />

Beschäftigungsfähigkeit im an<strong>der</strong>en. Gemeinsam ist beiden <strong>der</strong><br />

Umstand, dass das Individuum im Zuge <strong>der</strong> Selbstdisziplinierung<br />

dafür die (Vor)Sorge und Verantwortung zu tragen hat,<br />

die gegenwärtig scheinbar unumstößlichen anthropologischen<br />

Eigenschaften sein eigen zu nennen. Wie Frigga Haugg in einer<br />

Kritik so treffend herausarbeitet handelt es sich dabei um die<br />

Bereitschaft zu den drei Rs nämlich »rennen, rackern, rasen«<br />

und das Aufweisen <strong>der</strong> vier Fs »fit, fähig, flexibel, fantastisch«.<br />

(Vgl. Haugg 2003) Für das Praxisfeld Sozialarbeit ist das auf<br />

den ersten Blick erfreulich, gibt es hier genug zu tun, zu beraten,<br />

zu aktivieren und zu stützen. Auf den zweiten Blick wird es<br />

wohl immer wichtiger, sich darüber im Klaren zu werden, was<br />

die eigentliche Profession ausmacht, denn die gesellschaftlichen<br />

Entwicklungen und politisch gefällten Entscheidungen<br />

mit all ihren Folgen kann Sozialarbeit nicht abfe<strong>der</strong>n. Um so<br />

mehr scheint ein Rückgriff auf Gesellschaftstheorie unabdingbar,<br />

soll Burnout nicht als professionelle Selbstverständlichkeit<br />

zur akzeptierten Norm werden.<br />

Anmerkungen<br />

1 Hierbei ist die direkte Beziehung zwischen dem Gesetzesbrecher und<br />

dem Souverän von Bedeutung. Nicht nur ist <strong>der</strong> Souverän zur<br />

Aufklärung des Tatbestands und Einleitung <strong>der</strong> Ahndung verpflichtet,<br />

er ist auch das eigentliche Opfer des Verbrechens. Insofern es sich um<br />

seine Gesetze handelt, die überschritten werden, ist es seine absolute<br />

Macht, die untergraben wird. Mit <strong>der</strong> Peinigung bzw. dem Tode des<br />

Täters erlischt die Schuld. Die öffentliche Hinrichtung o<strong>der</strong> das<br />

Brandmal inklusive des obligaten Zur-Schau-Stellens <strong>der</strong> körperlichen<br />

Verstümmelungen wie auch die eventuelle Beteiligung des<br />

Volkes an <strong>der</strong> Sühne heben den angegriffenen Herrscher wie<strong>der</strong> auf<br />

seinen rechtmäßigen Platz <strong>der</strong> Souveränität (vgl. Foucault 1995a).<br />

2 Alain Ehrenbergs These vom erschöpften Selbst als Kennzeichen <strong>der</strong><br />

Gegenwart lässt sich als eine Bestätigung dieser These anführen.


Prävention und Disziplinierung 183<br />

Demnach leidet das Selbst <strong>der</strong>zeit an Erschöpfung und Depression,<br />

weil es – nach dem Aufweichen <strong>der</strong> autoritären Disziplinarmechanismen<br />

zugunsten <strong>der</strong> persönlichen Initiative – nun die<br />

Verantwortung für die erfolgreiche Gestaltung seines Lebens selbst<br />

tragen muss: »Der Depressive ist nicht voll auf <strong>der</strong> Höhe, er ist<br />

erschöpft von <strong>der</strong> Anstrengung, er selbst werden zu müssen.«<br />

(Ehrenberg 1998, 4). Siehe dazu auch Ulrich Bröcklings Das unternehmerische<br />

Selbst (2007).<br />

3 Althusser unterscheidet die repressiven Staatsapparate von den ideologischen,<br />

indem er ihnen eine »auf <strong>der</strong> Gewalt funktionierende<br />

Grundlage, zumindest im Ernstfall«, zuschreibt. Dazu zählen Armee,<br />

Polizei, Gerichte und Gefängnisse, also Institutionen, die in den<br />

1970er Jahren noch klar dem öffentlichen Sektor zugeordnet werden<br />

konnten, während die ideologischen Staatsapparate größtenteils »privat«<br />

schienen, etwa »die Kirchen, die Parteien, die Gewerkschaften,<br />

die Familien, einige Schulen, die Mehrzahl <strong>der</strong> Zeitungen, die kulturellen<br />

Unternehmungen usw. usf.« (Althusser 1977, 120). Beide<br />

Formen des Staatsapparates funktionieren zwar auf repressiver wie<br />

ideologischer Grundlage, allerdings lassen sich Tendenzen ausmachen,<br />

die eine Unterscheidung ermöglichen: »Der (repressive)<br />

Staatsapparat funktioniert als solcher nämlich auf massive Weise in<br />

erster Linie auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Repression (die physische inbegriffen),<br />

während er nur in zweiter Linie auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong><br />

Ideologie arbeitet (es gibt keinen rein repressiven Apparat)« (ebd.,<br />

121).<br />

4 Mit »Ablösung« ist jedoch nicht notwendigerweise eine zeitliche<br />

Reihenfolge angedacht, vielmehr geht es um Bedeutung und<br />

Wirksamkeit. Deleuzes Modell ist ein Schichtenmodell, das die<br />

Gleichzeitigkeit <strong>der</strong> Wirkungsweise von <strong>der</strong> Macht unterschiedlicher<br />

Gesellschaften denkmöglich macht: »Es könnte sein, daß alte Mittel,<br />

die den frühen Souveränitätsgesellschaften entlehnt sind, wie<strong>der</strong> auf<br />

den Plan treten, wenn auch mit den nötigen Anpassungen« (Deleuze<br />

1993, 261).


184<br />

Prävention und Disziplinierung<br />

Literatur<br />

Althusser, Louis (1977 [1965]): Ideologie und ideologische Staatsapparate.<br />

Hamburg/Westberlin.<br />

Ballauf, Theodor/Schaller, Klaus (1970): Pädagogik. Eine Geschichte <strong>der</strong><br />

Bildung und Erziehung. Band II: Vom 16. bis zum 19. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />

Freiburg/München.<br />

Berlin, Isaiah (1995): Freiheit. Vier Versuche. Frankfurt am Main.<br />

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Frankfurt am<br />

Main.<br />

Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In:<br />

Ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt am Main, 254-262.<br />

Ehrenberg, Alain (2004 [1998]): Das erschöpfte Selbst. Frankfurt am<br />

Main.<br />

Foucault, Michel (1995b [1975]): Überwachen und Strafen. Frankfurt am<br />

Main.<br />

Foucault, Michel (1996 [1980]): Der Mensch ist ein Erfahrungstier.<br />

Frankfurt am Main.<br />

Foucault, Michel (1997 [1976]): Der Wille zum Wissen. Sexualität und<br />

Wahrheit I. Frankfurt am Main.<br />

Foucault, Michel (2002): Die Strafgesellschaft. In: Defert, Daniel et al.<br />

(Hg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et écrits. Band<br />

II, 1970-1975. Frankfurt am Main, 568-586.<br />

Haug, Frigga (2003): ›Schaffen wir einen neuen Menschentyp‹. Von Henry<br />

Ford zu Peter Hartz. Argument 252, Berlin, 606-617.<br />

Holert, Tom/Terkessidis, Mark (1996): Mainstream <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heiten. Pop<br />

in <strong>der</strong> Kontrollgesellschaft. Berlin.<br />

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W: (2000 [1944]): Dialektik <strong>der</strong><br />

Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main.<br />

Ribolits, Erich (1997): Die <strong>Arbeit</strong> hoch? Wien.<br />

Schäfer, Alfred (2005): Einführung in die Erziehungsphilosophie.<br />

Weinheim/Basel.


Profession und Geschlecht<br />

Margrit Brückner<br />

Ermöglichungen und Grenzen postmo<strong>der</strong>ner<br />

Vielfalt diesseits und jenseits von Professionalität<br />

Geschlecht scheint auf den ersten Blick in europäischen<br />

Gesellschaften an Bedeutung verloren zu haben, denn die<br />

Geschlechterverhältnisse vervielfältigen sich. Es herrscht nicht<br />

nur jeweils ein Männer- und ein Frauenbild vor, son<strong>der</strong>n verschiedene<br />

Formen des Mann- respektive Frauseins sind möglich,<br />

bis hin zu dekonstruktivistischen Vorstellungen, nach<br />

denen Geschlecht als aufzuhebende soziale Konstruktion gesehen<br />

wird. Auf den zweiten Blick gibt es neben all den postmo<strong>der</strong>nen<br />

Bewegungen eigentümliche Konstanten im Geschlechterarrangement,<br />

Bereiche, in denen sich wenig bis gar nichts<br />

verän<strong>der</strong>t hat: Die Mächtigen in Wirtschaft und Politik sind<br />

nach wie vor fast ausschließlich männlichen Geschlechts.<br />

Männer arbeiten in besser bezahlten Branchen und verdienen<br />

mehr als Frauen, selbst bei gleicher Ausbildung – auch in <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Wobei es zumeist Frauen sind, die erzieherische,<br />

pflegende und soziale Berufe wählen. Familienarbeit wird<br />

unabhängig von Erwerbstätigkeit ganz überwiegend von<br />

Frauen wahrgenommen – auch in den meisten egalitär gesonnenen<br />

Beziehungen. Daher gibt es weiterhin geschlechtsspezifische<br />

soziale Problemlagen. (vgl. Brückner 2003).<br />

Allen weitreichenden Verän<strong>der</strong>ungen im Geschlechterverhältnis<br />

in den letzten hun<strong>der</strong>t Jahren zum Trotz erweist sich<br />

Geschlecht weiterhin als zentrale Kategorie zur Analyse gesellschaftlicher<br />

Prozesse und individueller Handlungs- und<br />

Deutungsmuster. Von <strong>der</strong> Frauen- und Geschlechterforschung<br />

wird Geschlecht verstanden als sozial konstruiert – im<br />

Gegensatz zu biologisch vorgefunden, als kontextuell verankert


186<br />

Profession und Geschlecht<br />

und historisch variabel. Geschlecht zeigt sich auf zwei verschiedene<br />

Ebenen, die einan<strong>der</strong> bedingen:<br />

• In die gesellschaftliche Struktur ist eine hegemoniale<br />

männliche Geschlechterordnung eingelassen, die historisch<br />

und kontextuell variabel ist, denn die Geschlechterbil<strong>der</strong><br />

haben sich beträchtlich gewandelt, aber die männliche<br />

Vorherrschaft ist ökonomisch, politisch und sozial erhalten<br />

geblieben (vgl. Becker-Schmidt/Knapp 2000).<br />

• Auf <strong>der</strong> Subjektebene erweist sich Geschlecht durch alltägliche<br />

Geschlechtszuweisung und -darstellung als wesentlicher<br />

Teil <strong>der</strong> sozialen Praxis (vgl. Gildemeister 2001).<br />

Obwohl durch die Individualisierung <strong>der</strong> Lebenslagen<br />

Frau-Sein und Mann-Sein heute vielfältiger gestaltbar ist,<br />

kommt »doing gen<strong>der</strong>«, <strong>der</strong> Übernahme und Ausgestaltung<br />

geschlechtsspezifischer Muster, weiterhin eine identitätsrelevante<br />

und somit auch beruflich prägende Bedeutung zu.<br />

Die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Judith Lorber<br />

(1999) hat vor knapp zehn Jahren eine »De-Gen<strong>der</strong>ing«<br />

Debatte angestoßen, die es gilt, für Soziale <strong>Arbeit</strong> fruchtbar zu<br />

machen: Eine Entgeschlechtlichung gesellschaftlicher Strukturen,<br />

um Demokratisierungsprozesse im öffentlichen und im<br />

privaten Raum voranzutreiben. Meines Erachtens bedeutet das:<br />

»Re-Gen<strong>der</strong>ing« im Sinne des Sichtbarmachens von Geschlecht<br />

dort, wo Geschlecht drin ist, aber nicht drauf steht, um<br />

den geschlechtsspezifischen Gehalt (z.B. sozialpolitischer<br />

Maßnahmen) sichtbar zu machen und »De-Gen<strong>der</strong>ing« im<br />

Sinne <strong>der</strong> Zurückweisung von Geschlechtszuweisungen dort,<br />

wo diese an Entwertung gekoppelt ist o<strong>der</strong> mit Einengung einhergeht<br />

(z.B. unbezahlte Familienarbeit von Frauen) (vgl.<br />

Brückner 2006). Gleichzeitig dürfen an<strong>der</strong>e gesellschaftliche<br />

Differenzmechanismen wie Schichtzugehörigkeit und Ethnie<br />

mit ihrem jeweiligen Potential an sozialer Ungleichheit nicht<br />

aus dem Auge verloren werden (vgl. Knapp 2005).


Profession und Geschlecht 187<br />

Zusammenfassend bedeutet die kategoriale Einbeziehung von<br />

Geschlecht in Analysen und Handlungsformen Sozialer <strong>Arbeit</strong>,<br />

die strukturellen gesellschaftlichen Auswirkungen von<br />

Geschlecht zu erfassen und die Modi <strong>der</strong> Herstellung von<br />

Geschlecht durch die Subjekte zu benennen, um – auf <strong>der</strong> Basis<br />

demokratischer Prinzipien wie Gleichheit – an einer gerechteren<br />

Geschlechterordnung durch Kritik an den Geschlechterverhältnissen<br />

und durch geschlechterbewusste Ansätze mitzuwirken.<br />

Dabei gilt es, ein geschlechtertheoretischen Ansätzen<br />

innewohnendes Problem zu beachten: So hoch <strong>der</strong> Erkenntnisgewinn<br />

von Geschlecht als soziale Kategorie ist, enthält<br />

die Thematisierung von Geschlecht jedoch immer die<br />

Gefahr, Geschlecht als differenzierende Kategorie zu bestärken<br />

und das Denken in bi-polaren Mustern von Weiblichkeit und<br />

Männlichkeit zu verfestigen, statt diese zu kritisieren (vgl. Rose<br />

2007).<br />

Sichtbare und unsichtbare geschlechtsspezifische<br />

Grundlagen <strong>der</strong> Profession Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

Von <strong>der</strong> Entstehung bis zum heutigen Tage spielt Geschlecht in<br />

<strong>der</strong> professionellen Entwicklung Sozialer <strong>Arbeit</strong> eine zentrale<br />

Rolle. Soziale <strong>Arbeit</strong> war lange ein von Männern weitgehend<br />

ignoriertes Feld, das Frauen aufgrund ihrer kulturell angenommenen<br />

und lebensgeschichtlich vorhandenen Nähe zu<br />

Fürsorglichkeit geformt haben. Die ersten Ausbildungsstätten<br />

wurden vor hun<strong>der</strong>t Jahren von Frauen gegründet und boten<br />

sozial engagierten, bürgerlichen Frauen eine Chance qualifizierter<br />

Betätigung (vgl. Maurer 2001). Ebenso wurden die<br />

ersten theoretischen Ansätze zur Notwendigkeit einer systematischen<br />

Fürsorge – angesichts sich verschärfen<strong>der</strong> Klassengegensätze<br />

und entsprechen<strong>der</strong> Konflikte – in Europa und den<br />

USA von Frauen veröffentlicht (vgl. Staub-Bernasconi 1989).<br />

Pionierinnen wie Jane Addams, Ilse Arlt o<strong>der</strong> Alice Salomon


188<br />

Profession und Geschlecht<br />

waren theoretisch interessierte und politisch motivierte Frauen,<br />

die ihre gesellschaftskritischen Ansätze im Kontext einer nationalökonomischen<br />

Analyse und ihre Praxis in engem<br />

Zusammenhang mit <strong>der</strong> sozialreformerischen und <strong>der</strong><br />

Frauenbewegung entwickelten (vgl. Böhnisch/Schröer/<br />

Thiersch 2005). In ihren Theorien und Handlungsansätzen steht<br />

die Suche nach einer Gesellschaft mit menschlichem Antlitz<br />

(auf <strong>der</strong> Basis vorhandener Macht- und Besitzverhältnisse) im<br />

Mittelpunkt, die sich als damalige Suche nach einer Art<br />

»Drittem Weg« zwischen Sozialismus und Kapitalismus interpretieren<br />

lässt. Im Zuge <strong>der</strong> Institutionalisierung und<br />

Verwissenschaftlichung haben diese Frauen <strong>der</strong> Ersten Stunde<br />

jedoch zunehmend an Anerkennung für ihre praxisbezogenen,<br />

schulengründenden und wissenschaftlichen Leistungen eingebüßt.<br />

Je mehr Soziale <strong>Arbeit</strong> zur staatlich geplanten und rechtlich<br />

kodifizierten Aufgabe sozialer Sicherung wurde und je<br />

stärker Soziale <strong>Arbeit</strong> in Hochschule und Wissenschaft eingebunden<br />

ist, desto häufiger sind Männer in Planung,<br />

Entwicklung und Theorie öffentlich präsent, während Frauen<br />

weiterhin die große Mehrheit <strong>der</strong> Praktikerinnen stellen (vgl.<br />

Rauschenbach/Züchner 2001). Daher ist immer noch aktuell,<br />

was Christoph Sachße für die 1920er Jahre konstatiert: »Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> verän<strong>der</strong>te sich (...) von einem Konzept weiblicher<br />

Emanzipation zu einem Dienstleistungsberuf unter männlicher<br />

Leitung« (Sachße 2001, 679).<br />

Anfang des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts hat die gemäßigte erste<br />

Frauenbewegung das Konzept »geistiger Mütterlichkeit« entwickelt,<br />

in dem Frauen für soziale Berufe prädestiniert erscheinen.<br />

Das grenzüberschreitende dieser Position lag darin, dass<br />

die Erweiterung des Mütterlichkeitsbegriffs gebildeten Frauen<br />

den Schritt aus <strong>der</strong> Familie ermöglichte. Die begrenzende Seite<br />

dieses Konzepts – eine enge Verknüpfung sozialer Berufe mit<br />

Weiblichkeit und mütterlichem Handeln – stellt jedoch bis<br />

heute ein Problem dar, weil die geschlechtsspezifische<br />

Konstruktion <strong>der</strong> Abwertung dieser Berufe als sogenannte


Profession und Geschlecht 189<br />

Semi-Professionen dient (vgl. Rabe-Kleberg 1996). Das kann<br />

so weit gehen, dass selbst die bisher erreichte Qualifikationsstufe<br />

immer wie<strong>der</strong> politisch zur Disposition steht,<br />

indem professionelle Aufgaben ins Ehrenamt verschoben o<strong>der</strong><br />

in ungelernte Tätigkeiten zurückverwandelt werden. Daher<br />

bedürfen soziale Berufe einer eigenen Definitionsmacht und<br />

Kontrolle über ihren Bereich, die es dann auch wahrzunehmen<br />

gilt. Sorgetätigkeiten in <strong>der</strong> professionellen sozialen Praxis<br />

müssen als Qualität anerkannt und normativ positiv besetzt<br />

werden, ohne diese wie<strong>der</strong> im Sinne »geistiger Mütterlichkeit«<br />

moralisch aufzuladen: Das heißt, Dekonstruktion <strong>der</strong><br />

Geschlechtszentrierung Sozialer <strong>Arbeit</strong> und Zugänglichmachen<br />

für beide Geschlechter (vgl. Schimpf 2002).<br />

Das Beson<strong>der</strong>e in sozialen und pflegerischen Bereichen im<br />

Vergleich zu männlich konnotierten Berufen ist, dass letztere<br />

zumeist hoch strukturiert und in ihrem Aufgabenbereich klar<br />

definiert sind, während erstere selbst auf professioneller Ebene<br />

einen Grad von Diffusität und Allzuständigkeit beibehalten.<br />

Die für Soziale <strong>Arbeit</strong> benötigten Fähigkeiten werden traditionell<br />

zwischen »natürlicher« Menschenliebe und wissenschaftlich<br />

fundierten Methoden angesiedelt (vgl. Zan<strong>der</strong> et al. 2006).<br />

Professionelle Befähigung zur Beziehungsarbeit – mit Kin<strong>der</strong>n<br />

o<strong>der</strong> mit Erwachsenen in schwierigen Lebenslagen – erhält eine<br />

ähnlich geringe Wertschätzung wie Hausarbeit: beide finden<br />

wenig Beachtung solange sie problemlos funktionieren und<br />

dadurch unsichtbar sind. An<strong>der</strong>s als Tätigkeiten in männlich<br />

konnotierten Professionen werden personenbezogene Hilfe und<br />

Sorgen kulturell höher bewertet, wenn sie nicht professionell,<br />

son<strong>der</strong>n privat geleistet werden. Professioneller Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />

haftet daher häufig ein Makel an: bezogen auf die<br />

Sorgebedürftigen, dass sie eine bezahlte Kraft nötig haben und<br />

bezogen auf Sorgetragende, dass sie diese <strong>Arbeit</strong> nicht umsonst<br />

und zeitlich unbegrenzt machen. Beides Phänomene, die es so<br />

in männlich konnotierten Professionen typischerweise nicht<br />

gibt, da diese historisch sehr viel früher vom Haus abgekoppelt


190<br />

Profession und Geschlecht<br />

wurden und weniger an »Liebesdienste« anknüpfen (vgl.<br />

Brückner 2004).<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in einer geschlechtszentrierten<br />

Gesellschaft das Verhältnis von Beruf und<br />

Geschlecht bedeutungsvoll für den Stellenwert eines jeden<br />

Berufes ist. Soziale <strong>Arbeit</strong> fällt dabei aus zweierlei Gründen aus<br />

<strong>der</strong> normierten Welt <strong>der</strong> Professionen heraus. Sie beschäftigt<br />

sich erstens weniger mit einem fest umrissenen Aufgabengebiet<br />

in Alleinzuständigkeit, son<strong>der</strong>n ist vor allem zuständig für das<br />

Ausgeschlossene (wie nicht versicherte Lebensrisiken und von<br />

Ausschluss bedrohte Menschen). Soziale <strong>Arbeit</strong> bezieht sich<br />

zweitens auf den Alltag und findet zumeist in <strong>der</strong> Lebenswelt<br />

<strong>der</strong> Menschen statt. Beides macht Soziale <strong>Arbeit</strong> jedoch nicht<br />

zu einer Semi-Profession, son<strong>der</strong>n zu einer Profession, welche<br />

die herrschenden Normierungen von Professionalität in Frage<br />

stellt. Der <strong>der</strong>zeitige Blick auf Soziale <strong>Arbeit</strong> als effektive und<br />

effiziente Dienstleistung, die gemanagt und gesteuert werden<br />

muss, läuft Gefahr, den Beziehungsaspekt Sozialer <strong>Arbeit</strong> aus<br />

dem Auge zu verlieren, ohne dessen Berücksichtigung keine<br />

Empowermentstrategien und keine Selbsthilfeansätze wirksam<br />

werden können. Soziale <strong>Arbeit</strong> als Profession steht daher<br />

immer auch für die Wertschätzung zwischenmenschlicher<br />

Interdependenz.<br />

<strong>Aktuelle</strong> Entwicklungen<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> als Profession<br />

Derzeit lassen sich jedoch im Zuge emotionaler Entleerung<br />

sozialer und pflegen<strong>der</strong> Berufe – durch männlich konnotierte<br />

betriebswirtschaftliche Prioritätensetzungen und entsprechend<br />

zweck-mittel orientierten rationalen Zielsetzungen – vielfältige<br />

Kehrtwendungen beobachten: Zeit- und kostenaufwendige<br />

Fürsorglichkeit und Beziehungsorientierung drohen dem Credo<br />

<strong>der</strong> Kurzfristigkeit und <strong>der</strong> Distanzwahrung als neuer


Profession und Geschlecht 191<br />

Königsweg <strong>der</strong> Professionalität zum Opfer zu fallen (vgl.<br />

Waerness 2000). Im von Frauen dominierten, klientennahen<br />

Bereich hat sich eine neue <strong>Arbeit</strong>steilung entwickelt, indem auf<br />

<strong>der</strong> einen Seite sozialpädagogisch gut ausgebildete<br />

Professionelle mit zunehmend auf Steuerung ausgerichteten,<br />

inhaltlich und zeitlich eingegrenzten Aufgabengebieten und<br />

sehr beschränkten, persönlich distanzierten Kontakten zu den<br />

AdressatInnen stehen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite finden sich ungelernte<br />

Kräfte (häufig mit Migrationshintergrund) wie<br />

Putzfrauen und HausmeisterInnen sowie Frauen mit<br />

Kurzausbildungen wie<strong>der</strong>, die aufgrund sozialer Nähe und ihrer<br />

Tätigkeit häufig in Anwesenheit <strong>der</strong> AdressatInnen für die allgemein<br />

menschliche Seite, wie alltägliche Gespräche und<br />

Mitgefühl, sorgen.<br />

Zur Sicherung vorherrschen<strong>der</strong> Professionalitätsvorstellungen<br />

auf <strong>der</strong> Basis curricularer Wissensbestände scheint es am einfachsten,<br />

schwer fassbare Dimensionen zwischenmenschlicher<br />

Bindung als Teil <strong>der</strong> Professionalität in sozialen und pflegerischen<br />

Berufen aufzugeben und durch instrumentelles Handeln<br />

zu ersetzen. Dann gehen allerdings auch Bedürfnisse <strong>der</strong><br />

AdressatInnen nach persönlicher Anerkennung und die<br />

Möglichkeit, eine haltende Funktion im Sinne von Winnicott<br />

(1990) einzunehmen (d.h. schwer auszuhaltende Situationen<br />

innerlich mit zu tragen und somit Beistand zu leisten), verloren.<br />

An beziehungsorientierten Fragen dieser Art setzen Theoretikerinnen<br />

wie Kari Waerness (2000) an, indem sie eine wissenschaftliche<br />

Verortung von Beziehungsarbeit zum zentralen<br />

Bestandteil personenbezogener Fürsorge und Pflege machen.<br />

Waerness geht von <strong>der</strong> Notwendigkeit einer »Fürsorgerationalität«<br />

aus, die sie zweckrationalen Vorgehensweisen<br />

gegenüberstellt und die sie definiert als: Verständigung über<br />

und Abstimmung von Bedürfnissen und Sichtweisen sowie ausreichend<br />

Zeit und Raum, um eine gemeinsame <strong>Arbeit</strong>sgrundlage<br />

zu schaffen. Diese zwischenmenschliche Dimension<br />

je<strong>der</strong> Sorgetätigkeit, ob in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, <strong>der</strong> Pflege o<strong>der</strong>


192<br />

Profession und Geschlecht<br />

im Erziehungsbereich muss nach Waerness seiner Naturalisierung<br />

und Geschlechterzuweisung enthoben und neu in<br />

die Profession integriert werden.<br />

Zusammenfassend zeigen Geschichte und Gegenwart Sozialer<br />

<strong>Arbeit</strong> eine enge Verquickung von Geschlecht und Profession<br />

durch den Wirkungszusammenhang gesellschaftlich vorgegebener<br />

Geschlechterordnung und durch die sozialen Praxen von<br />

Frauen und Männern. Aufgrund enger geschlechtlicher Rahmenbedingungen<br />

und innerer Überzeugungen sind die Pionierinnen<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> den gesellschaftlich vorgegebenen Weg geschlechtlicher<br />

Beson<strong>der</strong>ung weitergegangen. Heute können<br />

Fürsorge-, Erziehungs- und Pflegeaufgaben (personenbezogene<br />

soziale Dienstleistungen) als strukturell geschlechtsunabhängig<br />

gesehen werden, indem als selbstverständlich erachtete, Frauen<br />

zugeschriebene Fähigkeiten auf eine professionelle Ebene transferiert<br />

und offizieller Bestandteil des <strong>Arbeit</strong>sauftrages werden.<br />

Entsprechend gilt es, das vorherrschende Männerbild so zu<br />

erweitern, dass Sorgetätigkeiten integrierbar sind, und Männer<br />

müssen ausreichend Möglichkeiten zu einer entsprechenden<br />

sozialen Praxis erhalten. Die hohe Präsenz von Frauen und die<br />

historische Verquickung des Berufs mit Frauen zugewiesener,<br />

unbezahlter <strong>Arbeit</strong> in Haus und Familie hat zur Abwertung<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> im Verhältnis zu an<strong>der</strong>en Professionen geführt,<br />

weshalb bei Professionsdiskursen zumeist die weibliche<br />

Tradition ausgeklammert wird. Professionen wohnt ein männliches<br />

Verhältnis zu <strong>Arbeit</strong>s- und Lebensbedingungen inne: ungehin<strong>der</strong>ter<br />

Zugang zu Bildung, Spezialisierung und berufliche<br />

Selbstkontrolle, Befreiung von reproduktiven Tätigkeiten und<br />

ähnliches. Traditionelle Professionsvorstellungen greifen bezogen<br />

auf Soziale <strong>Arbeit</strong> zu kurz, da sie eine klare Trennung zwischen<br />

»System und Lebenswelt« (Habermas) voraussetzen, während<br />

die Qualität <strong>der</strong> Profession Sozialer <strong>Arbeit</strong> gerade darauf<br />

beruht, Übergänge herzustellen, d.h. AdressatInnen Lebenschancen<br />

durch Zugänge zu persönlichen und gesellschaftlichen<br />

Ressourcen sowie durch Beziehungsangebote zu eröffnen.


Profession und Geschlecht 193<br />

Sichtbare und unsichtbare geschlechtsspezifische<br />

Grundlagen Sozialer Politik<br />

als Rahmenbedingungen professioneller<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> trifft auf sehr unterschiedliche Einkommensund<br />

Armutssituationen von Frauen und Männern, die entsprechend<br />

verschiedene Bedarfe haben, auch wenn durch<br />

<strong>Arbeit</strong>slosigkeit, Reduktion versicherungspflichtiger Vollzeitarbeitsplätze<br />

und Abbau des Sozialstaates Angleichungen zwischen<br />

den Geschlechtern stattfinden. Da sich die Sozialversicherungsleistungen<br />

am männlichen Lebensmodell orientieren<br />

– lebenslange, versicherungspflichtige Vollerwerbstätigkeit,<br />

sind Frauen durch Familienarbeit häufig nur halbtags o<strong>der</strong><br />

geringfügig beschäftigt, wodurch sie strukturell schlechter<br />

gestellt sind (vgl. Geißler 2002). Dass familiale und informelle<br />

Sorgetätigkeiten (zumeist) von Frauen einen signifikanten Teil<br />

wohlfahrtsstaatlicher Leistungen ausmachen, bleibt dabei politisch<br />

fast völlig unbeachtet.<br />

Wurde Soziale <strong>Arbeit</strong> zu Zeiten des sozialstaatlichen Ausbaus<br />

in den 1970er/80er Jahren noch als Teil gesellschaftlichen<br />

Ausgleichs und des Demokratisierungsprozesses gesehen, stehen<br />

Sorgetätigkeiten aller Art heute für das Gegenteil von<br />

Fortschritt, Emanzipation und Individualität (vgl. Bauer/<br />

Gröning 2000). Daher gilt es, die geschlechtliche Bindung<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> aufzulösen, nicht um Frauen und ihre<br />

Tätigkeiten zum Verschwinden zu bringen, son<strong>der</strong>n um die<br />

Konsequenzen sichtbar zu machen, wenn Sorgetätigkeit einem<br />

Geschlecht und noch dazu dem nachrangigen zugeordnet wird:<br />

• Sozialer <strong>Arbeit</strong> wird wenig Wert zugemessen, weil sie<br />

Frauenarbeit ist und sie wird Frauen überlassen, weil sie<br />

wegen ihrer Nähe zur Hausarbeit keinen Machtfaktor darstellt;<br />

• Soziale <strong>Arbeit</strong> wi<strong>der</strong>spricht mit ihrer Hilfeleistung dem


194<br />

Profession und Geschlecht<br />

Ideal des unabhängigen Individuums, das sich selbst hilft<br />

und immer als männlich gedacht war.<br />

Unterschiedliche Entwicklungspfade sind bezogen auf soziale<br />

Aufgaben <strong>der</strong> Erziehung, Fürsorge und Pflege– ob in einem<br />

Sozialberuf o<strong>der</strong> als private Tätigkeit in <strong>der</strong> Familie – denkbar<br />

(vgl. Gottschall/Pfau-Effinger 2002):<br />

• Soziale Aufgaben organisiert als professionelle Sorgetätigkeit<br />

von ausgebildeten Kräften im Kontext öffentlicher<br />

Dienste (wie vor allem in Skandinavien),<br />

• Soziale Aufgaben organisiert als marktförmige Dienstleistungen<br />

von gering Qualifizierten (häufig Migrantinnen) im<br />

Niedriglohnsektor (wie insbeson<strong>der</strong>e in den USA) o<strong>der</strong><br />

• Soziale Aufgaben organisiert als Mixmodell mit einem vergleichsweise<br />

geringen Anteil professioneller sozialer<br />

Dienstleistungen und einem relativ hohen Anteil familialisierter,<br />

sozialstaatlich qua Steuerpolitik und Transferzahlungen<br />

gestützter <strong>Arbeit</strong>, zunehmend ergänzt durch<br />

Schattenarbeit in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>erziehung und privaten Pflege<br />

(wie charakteristisch für Deutschland und Österreich).<br />

Aufgrund massiver, sozialstruktureller Verän<strong>der</strong>ungen bezogen<br />

auf Formen des Zusammenlebens, Überalterung <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

und zunehmende Teilhabe von Frauen am<br />

<strong>Arbeit</strong>smarkt, wächst die Notwendigkeit, in zu erweiterndem<br />

Umfang Soziale Aufgaben als gesellschaftlich und nicht privat<br />

zu lösende zu verstehen, so z.B. durch Ausbau diversifizierter<br />

Kin<strong>der</strong>einrichtungen und Hilfeinstanzen für alte Menschen.<br />

Real werden hingegen soziale Institutionen eher abgebaut o<strong>der</strong><br />

zumindest nur selten entsprechend ausgebaut, wodurch sich das<br />

Defizit sozialer Aufgaben vergrößert und die Lücke zunehmend<br />

gar nicht o<strong>der</strong> nur mit privaten Mitteln geschlossen werden<br />

kann. Für eine vorausschauende Bedarfsentwicklung muss<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> den weiteren Verlauf dieser durchaus wi<strong>der</strong>-


Profession und Geschlecht 195<br />

sprüchlichen Entwicklungsprozesse mit seinen jeweiligen<br />

geschlechtsspezifischen Wirkungen analysieren und entsprechende<br />

Hilfeplanungen vorantreiben.<br />

Als angemessenes Modell (»warm mo<strong>der</strong>n model«) für die<br />

Bewältigung sich wandeln<strong>der</strong> sozialer Aufgaben sieht Arlie<br />

Hochschild (1995) eine nach den unterschiedlichen Bedürfnissen<br />

<strong>der</strong> Menschen gestaltete Aufgabenteilung zwischen<br />

gesellschaftlichen Institutionen und privaten Angeboten <strong>der</strong><br />

Fürsorge und Pflege sowohl von Frauen als auch von Männern.<br />

Wenn eine Vernetzung zwischen den verschiedenen Anbietern<br />

und Interessengruppen sichergestellt wird, bleibt auch für privat<br />

Sorgende gesellschaftliche Teilhabe im Sinne einer<br />

Angebundenheit und einer Entschädigung weiter möglich. Die<br />

Grenzen persönlicher Entscheidungsfreiheit – Sorgeaufgaben<br />

zu übernehmen o<strong>der</strong> es nicht zu tun – liegen nach Hochschild<br />

sowohl in jeweiligen ökonomischen Zwängen als auch da, wo<br />

sie soziale Gerechtigkeit tangieren. Dann sind kollektive<br />

Lösungen erfor<strong>der</strong>lich, für die allerdings ein breiter Konsens<br />

angesichts <strong>der</strong> Pluralisierung von Lebenslagen und sozialen<br />

Polarisierungen schwieriger wird.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Sozialpolitik europäischer<br />

Wohlfahrtsregime einen mehr o<strong>der</strong> weniger stark ausgeprägten<br />

Geschlechter-Bias aufweist: Auf <strong>der</strong> strukturellen<br />

Ebene dominiert ein an männlicher Normalität orientiertes<br />

Modell sozialer Sicherheit, indem lebenslange, ganztägige<br />

Erwerbsarbeit Voraussetzung für eine ausreichende, nicht<br />

bedürftigkeitsbezogene Soziale Sicherung darstellt. Auf <strong>der</strong><br />

subjektiven Ebene dominiert die Vorstellung von Sorgetätigkeit<br />

als Frauenarbeit, die als nicht passend für Männer angesehen<br />

wird und entsprechend schlecht o<strong>der</strong> gar nicht bezahlt ist.


196<br />

Profession und Geschlecht<br />

Geschlechterforschung als Beitrag zur<br />

Überwindung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit<br />

Solange Geschlechtszugehörigkeit ein zentrales Kriterium<br />

gesellschaftlicher und persönlicher Verortung bleibt, muss die<br />

Wirkung von Geschlecht analysiert und reflektiert werden, um<br />

Wege zu erkunden, die Gleichberechtigung und gegenseitiger<br />

Anerkennung näher kommen.<br />

Ein <strong>der</strong>artiges Konzept stellt »Geschlechterdemokratie« dar,<br />

welches an den Gedanken eines demokratischen Staatswesens<br />

und einer demokratischen zivilen Gesellschaft anknüpft und<br />

Geschlechterungleichheit als undemokratisch betrachtet (vgl.<br />

Diaz 2001). Geschlechterdemokratie erfor<strong>der</strong>t Bildungsansätze,<br />

die Akteure bei<strong>der</strong> Geschlechter für eine gleichberechtigte<br />

Kooperation ausbildet. Ziel ist eine Flexibilisierung von<br />

Geschlechterrollen durch den Abbau männlicher Dominanzstrukturen<br />

und die Aufgabe von Männlichkeit als hegemonialem<br />

Strukturprinzip. Dabei dürfen sich Demokratisierungsprozesse<br />

nicht auf Geschlecht beschränken, son<strong>der</strong>n müssen<br />

an<strong>der</strong>e Formen <strong>der</strong> Ungleichheit einschließen, ohne Geschlecht<br />

aus dem Blick zu verlieren. Bezogen auf De- und Re-<br />

Gen<strong>der</strong>ing bedeutet dieses Konzept<br />

• »De-Gen<strong>der</strong>ing« im Sinne des Sichtbarmachens und<br />

Reduzierens von Geschlechtergrenzen und -benachteiligungen<br />

sowohl in gesellschaftlichen Institutionen als auch<br />

alltäglichen Lebenszusammenhängen;<br />

• »Re-Gen<strong>der</strong>ing« im Sinne des Bewusstmachens und <strong>der</strong><br />

Wertschätzung erworbener geschlechtsspezifischer Leistungen<br />

und des Vorhaltens geschlechtsbewusster sowie<br />

geschlechtsspezifischer sozialer Angebote solange<br />

Geschlecht als sozialer Platzanweiser fungiert.<br />

Im Sinne eines geschlechterdemokratischen Ansatzes ist<br />

Profession und Geschlecht in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ein Thema


Profession und Geschlecht 197<br />

mit unterschiedlichen, gleichermaßen wichtigen Facetten, denn<br />

alle Fel<strong>der</strong> Sozialer <strong>Arbeit</strong> bedürfen geschlechterbewusster<br />

Ansätze und zudem braucht es je nach gesellschaftlicher<br />

Situation kontextspezifisch angemessener, geschlechtsspezifischer<br />

Angebote, <strong>der</strong>zeit z.B. bezogen auf das Problem <strong>der</strong><br />

Gewalt im Geschlechterverhältnis. Auf <strong>der</strong> Erkenntnisebene ist<br />

es wichtig, Geschlecht als Wirkfaktor zu analysieren, um nach<br />

geschlechterübergreifenden Perspektiven zu suchen o<strong>der</strong> um<br />

geschlechtsspezifische Aufgaben anzuerkennen. Auf <strong>der</strong> Ebene<br />

<strong>der</strong> Lösung sozialer Probleme geht es neben <strong>der</strong> gleichgewichtigen<br />

Sicht auf die Lebenslage bei<strong>der</strong> Geschlechter um das<br />

Feststellen geschlechtsspezifischer Bedarfe und um die beson<strong>der</strong>e<br />

För<strong>der</strong>ung von Frauen und Mädchen, solange keine<br />

gleichwertigen Partizipationsmöglichkeiten auf allen gesellschaftlichen<br />

Ebenen gewährleistet sind. Dazu erfor<strong>der</strong>lich ist<br />

• eine ausreichende Geschlechtersensibilität <strong>der</strong> Profession,<br />

um Geschlechterdifferenzen und <strong>der</strong>en Wirkungen zu<br />

erkennen,<br />

• eine Reflexion des eigenen professionellen »doing gen<strong>der</strong>«<br />

in Theorie und Praxis.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die beson<strong>der</strong>e<br />

Bedeutung <strong>der</strong> Kategorie Geschlecht für die Profession Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> sowohl im Aufspüren von Geschlechterdimensionen<br />

bezogen auf strukturelle und biografische Benachteiligungen<br />

liegt, als auch in <strong>der</strong> Rekonstruktion geschlechtsspezifischer<br />

Leistungen, die sonst dem Vergessen anheim fallen und last not<br />

least in <strong>der</strong> Entwicklung geschlechtergerechter Perspektiven.<br />

Um als Profession diese Aufgaben bestmöglich wahrnehmen zu<br />

können, bedürfte es <strong>der</strong> Aktivität auf verschiedenen Ebenen:<br />

Einer stärkeren Einbeziehung und Kritik sozialpolitischer<br />

Rahmenbedingungen Sozialer <strong>Arbeit</strong>, einer selbstbewussteren<br />

und fachpolitisch vernetzten Vertretung <strong>der</strong> frauenpolitischen<br />

Geschichte und Gegenwart Sozialer <strong>Arbeit</strong> einschließlich <strong>der</strong>


198<br />

daraus erwachsenden eigenständigen Entwicklung von<br />

Handlungsmethoden und ein wissenschaftlich abgesichertes<br />

Bestehen auf Sozialer <strong>Arbeit</strong> als beziehungsorientierter,<br />

geschlechtersensibler Hilfeform.<br />

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Qualität und Effizienz<br />

Josef Bakic<br />

Starkoch Bocuse setzt auf Fast Food<br />

«Es wird Self-Service sein«, beschreibt Jean Fleury,<br />

<strong>der</strong> für den Meisterkoch vier Brasserien betreibt,<br />

die Geschäftsidee. «Unser Motto wird sein:<br />

Qualität, Einfachheit, Effizienz.«<br />

Der Meister habe einfach die<br />

Zeichen <strong>der</strong> Zeit erkannt, so Fleury.<br />

www.orf.at 23.01.2007<br />

Effizienz und Qualität sind für sich genommen zunächst harmlose,<br />

nichts sagende, im jeweiligen Zusammenhang erst zu<br />

bestimmende »Plastikwörter« (Pörksen 1988). Spannend wird<br />

es dann, wenn <strong>der</strong> Bedeutungsaufladung dieser beiden<br />

Zauberwörter im Bereich <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> nachgespürt wird,<br />

denn das, was für die einfache und schnelle Küche als Rezept<br />

gilt, muss ja nicht für alles gelten.<br />

Qualität im allgemeinen Wortsinne bedeutet Beschaffenheit<br />

o<strong>der</strong> Eigenschaft – kurz das Wesen eines Gegenstandes.<br />

Alltagssprachlich wird Qualität mit »positiven« Eigenschaften<br />

wie Güte, Zufriedenheit, Solidität und Gründlichkeit verbunden.<br />

Im praktisch wirtschaftlichen Sinn wird versucht, mit dem<br />

Begriff Qualität eine Messbarkeit <strong>der</strong> erwünschten Kriterien zu<br />

verbinden. Dabei wird Qualität als die Gesamtheit von<br />

Eigenschaften und Merkmalen eines Produktes o<strong>der</strong> einer<br />

Tätigkeit definiert, die sich auf <strong>der</strong>en Eignung zur Erfüllung<br />

gegebener Erfor<strong>der</strong>nisse beziehen (vgl. DIN/ÖNORM/ISO).<br />

Als Produkt ist hier jede Art von Waren o<strong>der</strong> Rohstoffen, wie<br />

auch <strong>der</strong> Inhalt von Entwürfen, Plänen und Projekten<br />

zusammengefasst, während die Tätigkeiten verschiedenste<br />

Dienstleistungen und Prozesse bezeichnen (vgl. Bakic 2006,


Qualität und Effizienz 201<br />

218f). Die Produkte o<strong>der</strong> Tätigkeiten selbst müssen im jeweiligen<br />

Kontext erst bestimmt werden. In den letzten Jahrzehnten<br />

hat sich eine Vielzahl von Einrichtungen zur Feststellung von<br />

Qualität in diesem Sinne etabliert, so etwa das österreichische<br />

Normungsinstitut (ÖNORM), die internationale Standardisierungsorganisation<br />

(ISO/DIS 8402:1991) und das Deutsche<br />

Industrie Normierungsinstitut (DIN 55350).<br />

Effizienz im allgemeinen Wortsinn bedeutet Wirksamkeit, hat<br />

in verschiedenen Fachbereichen jedoch unterschiedliche<br />

Bedeutungen. Während sie etwa im technischen Bereich den<br />

Wirkungsgrad eines bestimmten Verhältnisses definiert, beispielsweise<br />

die Relation eines Rohrdurchmessers zur beför<strong>der</strong>ten<br />

Flüssigkeitsmenge, meint Effizienz in wirtschaftlicher<br />

Hinsicht in <strong>der</strong> Regel einen Imperativ. Betriebswirtschaftlich<br />

heißt dies z.B. dann ein Ziel mit möglichst geringem Aufwand<br />

zu erreichen, volkswirtschaftlich hingegen z.B. die Ressourcen<br />

optimal zu verteilen. Allgemein ist die Frage nach <strong>der</strong> Effizienz<br />

eine Frage nach <strong>der</strong> Passgenauigkeit <strong>der</strong> Mittel zur Zielerreichung<br />

und daher nicht unabhängig von <strong>der</strong> Perspektive, die<br />

dabei eingenommen wird.<br />

Ursprünglich stammt die Idee <strong>der</strong> Normierung von<br />

Qualitätskriterien aus dem militärischen Bereich sowie an<strong>der</strong>en<br />

sensiblen Gebieten wie <strong>der</strong> friedlichen Nutzung von<br />

Kernenergie, <strong>der</strong> Raumfahrt etc. Ausgehend von betrieblichen<br />

Qualitätszirkeln in japanischen Unternehmen in den 1950ern<br />

kam es in Europa in den 1980er Jahren zu ersten Qualitätsmanagementbestrebungen,<br />

die über eine bloße Produktionskontrolle<br />

im Fordschen o<strong>der</strong> Taylorschen Sinne hinausgingen.<br />

Während in Japan eine intensivere Weiterentwicklung <strong>der</strong><br />

Maßnahmen im Qualitätssektor hin zu ganzheitlicheren<br />

Verfahren, wie dem Total Quality Management, stattfand, wurden<br />

in Europa jene Verfahren verwendet, die auf Produkt- und<br />

Prozessmessung bzw. -sicherung abzielten. Die zunächst größte<br />

Verbreitung fand das normierte Qualitätssicherungssystem<br />

nach ISO 9000 (ff, nunmehr aktuell: ISO 9000ff:2000), das in


202<br />

Qualität und Effizienz<br />

vielen Institutionen das Herzstück <strong>der</strong> Qualitätsmanagementbestrebungen<br />

ausmacht. Ein entscheiden<strong>der</strong> Grund für die<br />

Einführung dieses Systems wird darin gesehen, dass die<br />

Abnehmer von Waren o<strong>der</strong> Leistungen, den hohen Zeit- und<br />

Kostenaufwand für die Prüfung <strong>der</strong> Güte einsparen. Dazu<br />

wurde eine einheitliche ISO-Norm vereinbart, auf die sich<br />

Abnehmer grundsätzlich verlassen können sollen. Als Träger<br />

einer <strong>der</strong>artigen Norm soll auch <strong>der</strong> Hersteller damit im Vorteil<br />

gegenüber seinen nicht zertifizierten Mitbewerbern sein. Damit<br />

überprüft werden kann, ob die jeweilige Institution auch die<br />

dafür vorgesehenen Normen einhält, werden eigene<br />

Zertifizierungsbetriebe gegründet. Entscheidend für das<br />

Ausweisen von Qualität wird also die Anerkennung durch eine<br />

Zertifizierungsagentur, die ihrerseits ExpertInnen für das<br />

Zertifizieren bereitstellt, nicht jedoch für das zu Zertifizierende.<br />

Zum Eindringen fachfrem<strong>der</strong><br />

Begriffsverständnisse in die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

Soziale und pädagogische Einrichtungen rücken seit den<br />

1990ern als Ziele, die auch neuer Qualitätsmanagementmethoden<br />

bedürfen, ins Blickfeld. Dabei wurde und wird ein<br />

Anspruch nach Verän<strong>der</strong>ung eingefor<strong>der</strong>t und somit implizit<br />

vermittelt, dass diese Einrichtungen bisher kaum etwas o<strong>der</strong> zu<br />

wenig für die Herstellung und Sicherung guter <strong>Arbeit</strong>sergebnisse<br />

geleistet hätten. Qualität als neue Perspektive für die<br />

Ausrichtung pädagogischen und sozialarbeiterischen Handelns<br />

scheint demnach Folge verän<strong>der</strong>ter Prioritätensetzungen <strong>der</strong><br />

Bildungs- und Sozialpolitik zu sein: Unter den Chiffren<br />

»Wettbewerb« und »Exzellenz« soll eine wie auch immer geartete<br />

Leistungs- und Ertragssteigerung durch Vergleichbarkeit<br />

erzielt werden. Qualität und Effizienz werden im Verständnis<br />

zusammengeschmolzen und immer wenn von Qualität die Rede<br />

ist, wird auch schon auf Effizienz abgezielt.


Qualität und Effizienz 203<br />

Die in <strong>der</strong> Sozialarbeit seit jeher herrschende Verunsicherung<br />

bezüglich ihrer theoretischen Selbstvergewisserung öffnet einer<br />

bereitwilligen Implementation <strong>der</strong> »Qualitätsdebatte« Tür und<br />

Tor. Mit den eingeführten Qualitätsmanagementsystemen soll<br />

eine Kostensenkung durch Effizienzsteigerung, ein ständiges<br />

Erkennen von Verbesserungspotentialen und eine Entwicklung<br />

hin zu Wettbewerbsorientierung im Spiegel <strong>der</strong> Marktwirtschaft<br />

erfolgen. Damit einhergehend werden nun zur Überprüfung <strong>der</strong><br />

Qualität und Effizienz sozialer <strong>Arbeit</strong> Steuerungsmodelle aus <strong>der</strong><br />

Industrie herangezogen, die auf durch Ursache – Wirkungszusammenhänge<br />

definierte technologische Verfahren abgestimmt<br />

sind (vgl. Bakic/Diebäcker/ Hammer 2007a). Eine sozialarbeitsspezifische<br />

Argumentation wird hier we<strong>der</strong> eingefor<strong>der</strong>t<br />

noch beachtet, obgleich dieser Diskurs auf eine Bewertung <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> in unterschiedlichen Anwendungsbereichen<br />

abzielt, also ihre Güte feststellen möchte und somit zu einem<br />

genuin fachlichen Problem wird (vgl. Köpp/Neumann, 2003 98f;<br />

Galiläer 2005, 12 bzw. 107ff). Bei <strong>der</strong> Analyse dieser<br />

Entwicklung zeigt sich auch, dass immaterielle Bereiche <strong>der</strong><br />

Versorgung und Betreuung, also Schutz, Bildung, Erziehung und<br />

Kultur deswegen standardisiert werden sollen, um etwa den<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen bei <strong>der</strong> Leistungsvergabe durch ein neu konstruiertes<br />

Ausschreibungswesen nach dem jeweiligen Vergabegesetz<br />

gerecht zu werden, in dem Qualität und Effizienz zum<br />

Entscheidungsfaktor werden (vgl. Bakic 2007, 78) 1 . Ganz allgemein<br />

wird hier jedenfalls davon ausgegangen, dass es eine externe<br />

Prüfvorstellung von richtig – also vorgabenkonform und sparsam<br />

– durchgeführter Sozialer <strong>Arbeit</strong> gäbe.<br />

Der Begriff Qualität bietet sich hier als Zauberformel an. Als<br />

eine aus <strong>der</strong> Wirtschaft gewohnte Messgröße wird sie mit darstellbaren<br />

Ergebnisziffern in Verbindung gebracht, mit <strong>der</strong>en<br />

Hilfe günstige Kosten-Nutzen-Verhältnisse hergestellt werden<br />

sollen. Die Darstellung dieser Messgrößen erfolgt in <strong>der</strong> Regel in<br />

Form quantitativer Werte, Differenzierungen in <strong>der</strong> jeweiligen<br />

beson<strong>der</strong>en Form <strong>der</strong> sozialarbeiterischen Tätigkeit sind hier nur


204<br />

Qualität und Effizienz<br />

sehr schwierig einzuführen und die Vergabe von Gewichtungskriterien<br />

liegt außerhalb <strong>der</strong> Zuständigkeit von Fachexpertinnen.<br />

Die Konsequenzen <strong>der</strong> Effektivierung<br />

menschlicher Handlungsvollzüge<br />

Im Ansinnen, dass soziale Einrichtungen passfähiger und<br />

ertragreicher werden sollen (vgl. Merchel 2003), wird die Zeitund<br />

Kostenfrage zu einem neuen Imperativ Sozialer <strong>Arbeit</strong>.<br />

Finanziers sozialer <strong>Arbeit</strong> interessieren vorwiegend jene<br />

Handlungen, die kurzfristig zu einem vorhersagbaren und berechenbaren<br />

Ergebnis führen. So wird nicht mehr gefragt, was für<br />

die Soziale <strong>Arbeit</strong> ein sinnvoller Rahmen, sowohl zeitlich als<br />

auch vom Aufwand her gesehen, wäre, son<strong>der</strong>n es werden in<br />

<strong>der</strong> Regel betriebswirtschaftlich gedachte Kriterien als<br />

Leitprinzip vorgegeben. Dieser Imperativ ›Optimiere!‹, <strong>der</strong><br />

dauerhafte Verbesserungsanspruch, ist Ausdruck politischer<br />

Strategie, die das Subjekt einer Verfahrenskontrolle unterstellt,<br />

die nicht auf eine Sache abzielt, son<strong>der</strong>n auf die Effektivierung<br />

menschlichen Handelns als Technologie. Das wird etwa in den<br />

Schriften <strong>der</strong> EU-Bildungskommision deutlich, wenn von <strong>der</strong><br />

Ausschöpfung des Humanressourcenpotentials gesprochen<br />

wird (vgl. EU Bildungskommision 1995), was ja nicht unbedingt<br />

etwas Neues darstellt 2 . Dies führt mittlerweile soweit,<br />

wie Michael Winkler einwirft, dass aus <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> heraus<br />

eigene Angebote kritisch unter die Lupe genommen werden,<br />

ob sie passgenau o<strong>der</strong> doch bereits eine ›Luxusvariante‹<br />

seien, die wenig taugen angesichts <strong>der</strong> »realistischen<br />

Perspektiven junger Menschen« (Winkler 2000, 152). Die<br />

aktuelle Diskussion um Soziale <strong>Arbeit</strong> verkürzt sich <strong>der</strong>gestalt<br />

auf die Frage nach <strong>der</strong> Passfähigkeit sozialarbeiterischer<br />

Antworten auf gesellschaftlich markierte Problemlagen.<br />

Die Versuche <strong>der</strong> Herstellung einer ökonomisch rationalen<br />

Kontrolle zielen weiters auf messbare Ergebnisparameter ab,


Qualität und Effizienz 205<br />

die davon ausgehen müssen, dass Soziale <strong>Arbeit</strong> über kausal<br />

wirkende Techniken zur Verän<strong>der</strong>ung von Menschen verfügt.<br />

Dieser Anspruch an Soziale <strong>Arbeit</strong> übersieht jedoch die<br />

Offenheit von Bildungs- und Entscheidungsprozessen, die sich<br />

allgemein im so genannten ›Technologiedefizit‹ Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />

zeigen und von Michael Galuske als Akt <strong>der</strong> Selbsttäuschung<br />

entlarvt werden, sollte man meinen, über absolut wirkende<br />

Methoden zu verfügen (vgl. Galuske 2003, 60), da ihr dadurch<br />

»jene auf die Bedingungen des Einzelfalls ausgerichtete, fachlich<br />

fundierte, gleichwohl offene Suchhaltung gegenüber dem<br />

biografischen Eigensinn, den ›Beson<strong>der</strong>heiten‹ <strong>der</strong> Klienten<br />

und ihrer Lebenslage, den Eigenheiten ihrer Lebenswelten und<br />

ihrer sozialen Netzwerke« (Galuske/Müller 2002, 488) abhanden<br />

kommt. Es dürfte also ein fundamentaler Wi<strong>der</strong>spruch zwischen<br />

dem fachlichen Anspruch Sozialer <strong>Arbeit</strong> und dem auf<br />

betriebswirtschaftliche Kontrolle und Planbarkeit abzielendem<br />

Qualitätsverständnis vorliegen.<br />

Anstatt einer reflexiven Fachdiskussion erfolgt die Ausrichtung<br />

an Zauberformeln und allseits Zustimmung findenden<br />

Hülsenwörtern, wozu Qualität und Effizienz in herausragen<strong>der</strong><br />

Weise zählen. Es fällt schwer, hier Kritik zu üben, ohne sich mit<br />

dem Vorwurf konfrontiert zu sehen, realitätsfremd zu sein.<br />

Qualität will schließlich jede/r, und zwar auf allerhöchstem<br />

Niveau. Wer will schon von einer/m mittelmäßigen o<strong>der</strong> gar<br />

mäßigen SozialarbeiterIn beraten o<strong>der</strong> betreut werden? Wer<br />

möchte schon, dass am Ende einer sozialarbeiterischen<br />

›Dienstleistungserbringung‹ ein Ergebnis steht, das nicht im<br />

Entferntesten den Idealvorstellungen eines geglückten<br />

Interventionsprozesses entspricht? Ebenso wird die aus<br />

Werbesendungen allseits bekannte For<strong>der</strong>ung allgemein vorauszusetzen<br />

sein: Warum mehr bezahlen, wenn das gleiche<br />

Produkt billiger zu haben ist?<br />

Mit diesen, einfache Lösungen versprechenden Zugängen lässt<br />

sich auch die zunehmend kritikfreie Einführung betriebswirtschaftlicher<br />

und managementorientierter Steuerungskonzepte


206<br />

Qualität und Effizienz<br />

in <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong> erklären, die konkrete Auswirkungen auf<br />

die <strong>Arbeit</strong>sweise und das <strong>Arbeit</strong>sverständnis haben, und ihren<br />

Nie<strong>der</strong>schlag in <strong>der</strong> theoretischen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> finden 3 . Otto Speck spricht hier bereits Ende<br />

<strong>der</strong> 1990er von <strong>der</strong> Nötigung zur Wirtschaftlichkeit unter<br />

Ausklammerung realer Anfor<strong>der</strong>ungen (vgl. Speck 1999, 12).<br />

Diese Entwicklung führte in Deutschland zur Einführung neuer<br />

Steuerungsmodelle bei den öffentlichen Jugendhilfeträgern und<br />

zu neuen Anfor<strong>der</strong>ungen an Bereiche <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenarbeit,<br />

speziell an die <strong>Arbeit</strong> von Behin<strong>der</strong>tenwerkstätten, die mit qualitätszertifizierten<br />

Firmen zusammenarbeiten und breitet sich<br />

zunehmend auf alle Bereiche <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> aus. In Österreich<br />

sind ähnliche Entwicklungen etwas zeitversetzt zur deutschen<br />

Situation beobachtbar 4 .<br />

Die Einführung von Maßnahmen zur Orientierung an Qualität<br />

im Sinne <strong>der</strong> Sicherung und Messung geht Hand in Hand mit<br />

<strong>der</strong> Diskussion um die Finanzierung <strong>der</strong> staatlichen<br />

Sozialkosten und dem damit verbundenen Umbau des<br />

Sozialstaates bzw. <strong>der</strong> Reform <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltungen.<br />

New-Public Management, strategisches bzw. operatives Controlling,<br />

Outputorientierung, Produktdefinitionen, Kontraktmanagement<br />

und ›Markt statt Staat‹ sind die heilsversprechenden<br />

Key-Words, die <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltung und dem<br />

Sozialwesen verordnet werden (vgl. Galiläer 2005, 112f).<br />

Die Argumente, die diesen Paradigmenwechsel legitimieren<br />

sollen, wurden in Deutschland, wie in Österreich gleichermaßen<br />

ins Treffen geführt: leere öffentliche Kassen und zu hohe<br />

Sozialkosten. Eine Neuregelung des deutschen Sozialstaates<br />

und die Reform <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltungen werden konsequent<br />

durchgeführt, in Österreich wird dies seit Mitte <strong>der</strong><br />

1990er angestrebt und ab 2000 auf lokaler Ebene schrittweise<br />

umgesetzt (vgl. Bakic/Diebäcker/Hammer 2008). Die Suche<br />

nach dem Heilmittel mehr privat, weniger Staat als Lösung für<br />

eine angebliche Finanzierungsproblematik favorisiert da wie<br />

dort outputorientierte Steuerung sozialarbeiterischer Maß-


Qualität und Effizienz 207<br />

nahmen. In Deutschland gibt es hierfür ausgearbeitete<br />

Produktkataloge (vgl. BMFSFJ 2000, 25ff) und für die<br />

Bewilligung von Budgets sind die Einführung standardisierter<br />

Controllingverfahren sowie ein spezifisches<br />

Kontraktmanagement im Zeichen von Qualität und Effizienz<br />

vorgeschrieben.<br />

Damit wird ein einseitiger Fokus auf Wirtschaftlichkeitsfragen<br />

gelegt, denn bei all diesen Neuerungen wird vor allem geprüft,<br />

ob das Ergebnis und <strong>der</strong> dafür notwendige Aufwand gerechtfertigt<br />

sind. Nikolaus Dimmel spricht in diesem Zusammenhang<br />

von wirkungsorientiertem Managerialismus: »what works<br />

is good and true« (Dimmel 2007, 31). Gleichzeitig wird transportiert,<br />

dass die bisherige <strong>Arbeit</strong> im Verwaltungs- und<br />

Sozialbereich nicht den zeitgemäßen Effizienzansprüchen<br />

gerecht wird, wenn durch politische Vorgaben nicht Reformen<br />

bloß um <strong>der</strong> Reformbekundung wegen durchgeführt werden.<br />

Otto Speck findet die Antwort im allgemeinen Wehklagen über<br />

den nicht mehr zeitgemäßen Wohlfahrtsstaat, <strong>der</strong> bereits Mitte<br />

<strong>der</strong> Neunziger des zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts von deutschen<br />

Politikern als Gefahr einer sozialen Dienstleistungskatastrophe<br />

beschwört wird. Nach Warnfried Dettling (1995, 160) sei nicht<br />

nur die Vergeudung von Ressourcen und Effizienzmängel zu<br />

konstatieren, son<strong>der</strong>n vor allem das Vorbeiarbeiten an den<br />

Bedürfnissen <strong>der</strong> Menschen.<br />

»Der Grund liege in <strong>der</strong> Allzuständigkeit des Staates. Sie habe zu<br />

einer Erstarrung <strong>der</strong> sozialen Dienste geführt. Diese seien heute so<br />

organisiert, dass sie sich über ihre eigenen Ziele und Erfolgskriterien<br />

nicht im Klaren seien, also we<strong>der</strong> aus ihren Erfolgen noch aus ihren<br />

Fehlern lernen könnten.« (Speck 1999, 18).<br />

Als Entgegnung dieser Vorwürfe kommt es zu einer bereitwilligen<br />

Aufnahme markterprobter Sicherungsmodelle.<br />

Kriterien wie die gleichzeitige Beachtung des individuellen und<br />

des Gemeinwohls, die Beachtung sozialer Logik jenseits eines


208<br />

Qualität und Effizienz<br />

Tauschwertes finden sich aber nicht an zentraler Stelle und die<br />

›Prüfinstanzen‹ dazu wären wohl auch nicht die Verwaltungsexekutoren<br />

sozialstaatlicher Provenienz.<br />

Wenn durch Qualitätssicherung als Grundlage von Leistungsbeschreibungen<br />

ein bewerten<strong>der</strong> Vergleich zwischen verschiedenen<br />

Trägern ermöglicht werden soll, stellt sich in Folge die<br />

Frage, ob in Zukunft nur noch <strong>der</strong> billigste Anbieter ausgewählt<br />

werden soll? Dies stellt wohl ernsthaft in Aussicht, dass eine<br />

Unterschiedlichkeit in <strong>der</strong> Gestaltung sozialarbeiterischer<br />

Tätigkeit nicht nur nicht erwünscht, son<strong>der</strong>n unmöglich<br />

gemacht werden soll. Es ist wohl so weit, dass die öffentliche<br />

Verwaltung durch die Einführung einer wirtschaftsmarktangepassten<br />

Struktur sich eine Kostensenkung aufgrund eines künstlich<br />

forcierten Wettbewerbs erhofft. Wenn man sich die gegenwärtige<br />

Ausdünnung <strong>der</strong> Leistungsvergabe ansieht, kurz formuliert<br />

also mehr <strong>Arbeit</strong> um weniger Geld, dann lässt sich<br />

erkennen, dass es hier um ein Ausloten <strong>der</strong> Möglichkeit von<br />

Rationalisierung geht.<br />

Die Diskussion um Qualität vermittelt jedenfalls als Lösung<br />

eine einfache und ökonomisch rationale Kontrolle. In <strong>der</strong><br />

Sprache <strong>der</strong> Verwaltungslogik heißt dies dann etwa:<br />

»Die Erarbeitung des Produktkataloges des Amtes erfor<strong>der</strong>te viel<br />

Anpassungsvermögen zwischen <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> Leistungen, die sich<br />

im Produktkatalog <strong>der</strong> Jugendwohlfahrt- Österreich spiegeln, und den<br />

Erfor<strong>der</strong>nissen <strong>der</strong> hohen Verdichtung für den Produktkatalog des<br />

Magistrates.« (AJF Linz 2000, 168).<br />

Die Übersetzung des Begriffes Verdichtung liegt wohl nicht nur<br />

im Auge <strong>der</strong> BetrachterIn.


Qualität und Effizienz 209<br />

Wie nun damit umgehen?<br />

Der Trend scheint jedenfalls auf eine Vision standardisierter<br />

Einheitspraxis von Sozialpädagogik und Sozialarbeit abzuzielen.<br />

Eine offene Frage bei <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach Qualitätssicherungssystemnachweisen<br />

ist also die erziehungs- bzw. sozialarbeitswissenschaftliche<br />

Zielfrage. Liegt es in <strong>der</strong> Absicht<br />

öffentlicher Vergabestellen, dass alle Anbieter sozialer <strong>Arbeit</strong><br />

nur mehr nach standardisierten wirtschaftlichen Normen verglichen<br />

werden können? Zählt bei <strong>der</strong> Bewertung von<br />

Anbietern im Sozialbereich nur mehr <strong>der</strong> Kostenfaktor, <strong>der</strong> nun<br />

gleichgesetzt wird mit Qualität? 5<br />

Es kann festgehalten werden, dass <strong>der</strong> Qualitätsdiskurs keine<br />

brauchbaren fachlichen Kategorien für die Soziale <strong>Arbeit</strong> liefert<br />

und lediglich als von außen eingebrachter Ziel- und Interessensdiskurs<br />

zu einer äußerst fragwürdigen Daseinsberechtigung<br />

kommen konnte. Der Drang auf diese Diskussion<br />

aufzuspringen liegt jedoch – wie bereits aufgezeigt – zu einem<br />

Gutteil in <strong>der</strong> angeblichen Legitimationsnot und dem scheinbaren<br />

Theoriedefizit <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Auch die Ertragsseite für<br />

die allen Ortes werbenden Qualitätssicherungs-Beraterinnen im<br />

Sozialbereich dürfte nicht zu vernachlässigen sein.<br />

Die Qualitätsdebatte scheint überdies zu einem vielseitig einsetzbaren<br />

Vehikel für die Professionalisierungsdebatte in <strong>der</strong><br />

Sozialpädagogik/Sozialarbeit tauglich, weil die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

Ausübenden neben höheren Qualifizierungsansprüchen einen<br />

höheren Professionalitätsgrad erreichen wollen (vgl.<br />

Thole/Cloos 2000, 561), woran sichtbar wird,<br />

»dass auf Seiten <strong>der</strong> Professionellen ein Bedarf an sinn- und sicherheitsstiftenden<br />

berufspraktischen Orientierungsmustern und Handlungsrezepten<br />

nicht zu leugnen ist und offenbar die bisherige, in<br />

Ausbildung und Berufspraxis vermittelte Handlungskompetenz nicht<br />

ausreicht, um eine verlässliche Orientierung im alltäglichen <strong>Arbeit</strong>svollzug<br />

zu gewährleisten.« (Köpp/Neumann 2003, 178).


210<br />

Qualität und Effizienz<br />

Es geht also um einen mehrfachen Gewährleistungsanspruch.<br />

Alle wollen vorher wissen, was nachher rauskommt und gleichzeitig<br />

eine Garantie, dass das, was zu erreichen ist, auch möglichst<br />

schnell erreicht wird. Soweit so praktisch, bedauerlich ist<br />

nur, dass diese Wünsche vor allem reflexartig und nicht reflexionsartig<br />

bedient werden 6 .<br />

So scheint es auch folgerichtig, dass Soziale <strong>Arbeit</strong> ihren<br />

Begriff, ihre fachliche Bestimmung nicht mehr auf <strong>der</strong> Ebene<br />

von Ziel- und Sollensbestimmungen bzw. fachlich zu erarbeitenden<br />

normativen Grundlagen gewinnen könne, son<strong>der</strong>n vielmehr<br />

ihr Fachverständnis und ihre Bestimmung aus <strong>der</strong><br />

Beschreibung und <strong>der</strong> Analyse des je marktmäßig zugelassenen<br />

Geschehens zu gewinnen habe (vgl. Winkler 2000, 153). Dies<br />

schließt den Kreis zu einem auf Einsparung abzielenden neuen<br />

Steuerungsmodell in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, das unter an<strong>der</strong>em<br />

mit <strong>der</strong> Vorgabe antritt, die Effizienz mittels Qualitätssicherung<br />

zu steigern und diese neue Wirklichkeit zu schaffen.<br />

Diese normative Aufnahme des Gegebenen als das legitim zu<br />

Erreichende verabschiedet Soziale <strong>Arbeit</strong> als politische Idee <strong>der</strong><br />

Hoffnung auf eine bessere, an<strong>der</strong>e Welt – wie sie etwa Siegfried<br />

Bernfeld in seinem Sisyphos’schen Entwurf formuliert (vgl.<br />

Bernfeld 2000 [1925]), spricht emanzipatorischen Ansätzen<br />

jede Chance ab und ist eine Kurzschließung des Seins mit dem<br />

Sollen, des Gegebenen mit dem Möglichen. Damit wird auch<br />

eine zentrale Perspektive <strong>der</strong> Sozialer <strong>Arbeit</strong> suspendiert, die<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> zeitlichen Dimension, da eine offene<br />

Zukunft so nicht mehr verhandelbar ist.<br />

Lässt man Fachleuten bei <strong>der</strong> Suche nach <strong>der</strong> Qualität Sozialer<br />

<strong>Arbeit</strong> freien Lauf, dann kommt es mitunter zu Aussagen, wie<br />

sie <strong>der</strong> Sozialpsychologe Heiner Keupp stellvertretend formuliert:<br />

»För<strong>der</strong>ung und Unterstützung von a. ›aufrechtem‹ Gang und<br />

Selbstbestimmung; b. gesellschaftlicher Chancengleichheit; c. Vielfalt<br />

von Lebensformen/das Recht auf Differenz; d. kommunitären,


Qualität und Effizienz 211<br />

selbst organisatorischen Netzwerken; e. sozialer und materieller<br />

Grundsicherung; f. partizipativen Formen <strong>der</strong> Politikgestaltung.«<br />

(Keupp 2004, 337).<br />

Dieser Katalog normativer Bezugspunkte mag erklärungsbedürftig<br />

sein, ist in seiner Thesenhaftigkeit auch eine sehr grobe<br />

Allgemeinlinie, die bebil<strong>der</strong>t und ausgestaltet gehört. Was diese<br />

Aufzählung jedoch bereits skizziert, ist ein kritisch-reflexives<br />

Menschenbild, das sowohl die AdressatInnen wie auch die<br />

AkteurInnen Sozialer <strong>Arbeit</strong> mit dem Anspruch <strong>der</strong><br />

Eigenständigkeit und Identität versieht, also den Menschen und<br />

seine Handlungsvollzüge in den Mittelpunkt stellt. Dies ist<br />

etwas kategorial an<strong>der</strong>es als die ökonomistische Suche nach<br />

Flexibilität, Passgenauigkeit und Konsumfähigkeit, die den<br />

Menschen als Humanressource nimmt und zum verdinglichten<br />

Faktor für die Aufrechterhaltung einer Warenaustausch- und<br />

Dienstleistungswelt macht.<br />

Die Debatte um Qualität und Effizienz weist keine sozialarbeitswissenschaftlich<br />

bedeutsame Kategorie auf, son<strong>der</strong>n stellt<br />

vielmehr eine semantische Hülle dar, die zunächst von ideologischen<br />

Ansprüchen einer marktorientierten Ausrichtung des<br />

Staates in den Dienst genommen wird. Was bei dieser Debatte<br />

ganz augenscheinlich vergessen wird, ist die Anknüpfung an<br />

historische Entwicklungslinien innerhalb <strong>der</strong> facheigenen<br />

Theorieentwicklung, somit <strong>der</strong> Verlust <strong>der</strong> Tradition. Michael<br />

Winkler streicht dies hervor, wenn er feststellt:<br />

»Tatsächlich lässt sich an <strong>der</strong> um den Begriff <strong>der</strong> ›Qualität‹ zentrierten<br />

Jugendhilfe-Diskussion beobachten, dass sie eigentümlich unhistorisch<br />

wie aber auch gesellschaftstheoretisch desinteressiert, damit<br />

möglicherweise systematisch wie kategorial unterhalb des disziplinär<br />

verfügbaren Reflexionsniveaus bleibt.« (Winkler 2000, 143).<br />

Gleichwohl stellt die Dauerthematisierung von ›Qualität‹ und<br />

›Effizienz‹ eine konkrete Themenvorgabe für die Soziale <strong>Arbeit</strong>


212<br />

dar, weil sie die Frage nach <strong>der</strong> disziplinären Selbstvergewisserung<br />

zwar perspektivisch falsch, jedoch öffentlich<br />

wirksam aufwirft. Gleichwohl sollte hier tunlichst zwischen<br />

den beiden Ebenen unterschieden werden, die in <strong>der</strong> aktuellen<br />

Debatte immer schon kurzgeschlossen zu sein scheinen:<br />

Qualität und Effizienz als Benchmarking, als technologische<br />

Verfahrensweise und damit als Legitimation für die Existenz<br />

sozialarbeiterischer Handlungsfel<strong>der</strong> einseitig wirtschaftsorientiert<br />

zu führen, stellt eine Perspektivenwechsel dar, bei dem<br />

nichts weniger als die Bestimmung des Menschen im Sinne <strong>der</strong><br />

Humanitas auf dem Spiel steht. Eine Diskussion über das<br />

Wesen und die Wirkung Sozialer <strong>Arbeit</strong>, die sich an fachlichinhaltlichen<br />

Ansprüchen orientiert (vgl. Bakic/Diebäcker/<br />

Hammer, 2007b), mit einem fachlich begründeten Verständnis<br />

ihre Praxis bewertet, sich als solidarische Leistung für alle<br />

Menschen in Krisen- und Problemsituationen sieht, reflexive<br />

Fachlichkeit mit geeigneten Rahmenbedingungen verbinden<br />

kann und dabei ein kritisch-emanzipatives und generalistisches<br />

Verständnis Sozialer <strong>Arbeit</strong> nach innen wie nach außen<br />

Ausdruck verleiht, ist dem alle mal vorzuziehen.<br />

Anmerkungen<br />

Qualität und Effizienz<br />

1 Einige Beispiele: So sieht etwa das Bundesvergabegesetz 2006 explizit<br />

den Nachweis von Qualitätssicherungsverfahren vor, auch for<strong>der</strong>t<br />

Bundesminister Bartenstein in seiner Zielvorgabe für arbeitsmarktpolitische<br />

Maßnahmen im April 2006, den Nachweis von<br />

Qualitätsmessinstrumenten (vgl. www.bmwa.gv.at). Der FSW, <strong>der</strong><br />

Fonds Soziales Wien, verlangt von geför<strong>der</strong>ten Einrichtungen: »Mit<br />

<strong>der</strong> Anerkennung verpflichtet sich <strong>der</strong> Betreiber <strong>der</strong> Einrichtung zur<br />

Durchführung von Maßnahmen des Qualitätsmanagements: z. B.<br />

Maßnahmen <strong>der</strong> Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung (inkl.<br />

Konzepte zur Entwicklung und Implementierung solcher),<br />

Anerkennung von Qualitätsstandards ...« (Spezifische För<strong>der</strong>richt-


Qualität und Effizienz 213<br />

2<br />

linie für die Unterbringung und Betreuung wohnungsloser Menschen<br />

2006, [online: http://www.fsw.at])<br />

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer Dialektik <strong>der</strong><br />

Aufklärung (vgl. Adorno/Horkheimer 2000) sowie Günther An<strong>der</strong>s in<br />

seiner zweiten Abhandlung über die Antiquiertheit des Menschen<br />

(vgl. An<strong>der</strong>s 1980) haben dieses Phänomen bereits reichlich beschrieben.<br />

3 Vgl. etwa den Sammelband herausgegeben von Beckmann/Otto/<br />

Richter/Schrödter (2004), in dem aus unterschiedlichen Perspektiven<br />

das Qualitätsthema in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> beleuchtet wird, <strong>der</strong> internationale<br />

Implikationen aufzeigt, den Zusammenhang zum<br />

Wettbewerb, die Bedeutung für die Organisationsentwicklung, die<br />

Bedeutung für die Professionalisierung wie für das Nutzerinteresse in<br />

den Blick nimmt.<br />

4 So hat das BBRZ, das Berufliche Bildungs- und<br />

5<br />

Rehabilitationszentrum mit Gründung in Oberösterreich als erste<br />

Einrichtung 1992 DIN ISO 9001 eingeführt, Jugend am Werk, WUK<br />

Jugendprojekt, Rettet das Kind, Volkshilfe und viele an<strong>der</strong>e<br />

Einrichtungen in Österreich sind gefolgt. Mit Stand 08/2006 gibt es<br />

allein im Sozial- und Erziehungsbereich in Österreich über 100<br />

aktuelle ISO-Zertifikate.(vgl. www.oeqs.at) Was überdies, gemessen<br />

am <strong>Arbeit</strong>s- und Kostenaufwand, bemerkenswert ist, da die<br />

Zertifikate ja nur gültig sind, wenn sie laufend überprüft und alle drei<br />

Jahre neu zertifiziert werden.<br />

Am Rande lässt sich bei <strong>der</strong> Beschäftigung mit diesen Fragen vermuten,<br />

dass die gewünschte Effizienzsteigerung <strong>der</strong> Sozialpädagogik mit<br />

<strong>der</strong> Einführung von neuen Managementmodellen alleine deswegen<br />

nicht erreicht werden kann, weil von den veranschlagten Budgets<br />

immer weniger bei den Zielgruppen ankommt, da <strong>der</strong> personelle und<br />

verwaltende Aufwand bei den Institutionen zur Kostenerfassung,<br />

Abrechnung und Verwaltung immer weiter gesteigert werden dürfte<br />

o<strong>der</strong> bereits wird.<br />

6 Davon zeugen diverse Begleitbücher und Einführungshandbücher zur<br />

Implementierung von Qualitätssicherungsverfahren in Organisationen<br />

<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, Schule, Erwachsenenbildung,


214<br />

Sozialpädagogischen und Behin<strong>der</strong>teneinrichtungen etc.; vgl. etwa<br />

die Bibliografie zur Qualitätsdebatte in <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong> auf<br />

http://www.donau-quality.at/DMDOCUME/BIBLIOGR.PDF<br />

[06.01.2008]<br />

Literatur<br />

Qualität und Effizienz<br />

AJF Linz (2000): Jahresbericht AMT FÜR JUGEND UND FAMILIE Linz<br />

2000. [Online: http://www.linz.gv.at/archiv/jahresbericht00/gg3/ajf.<br />

pdf Stand 22.11.2007]<br />

Bakic, Josef (2007): Qualitätssicherung, Dienstleistungsorientierung und<br />

Lebensweltorientierte Bewältigungshilfe – neue Tendenzen einer<br />

Sozialpädagogik ohne pädagogischen Anspruch? Dissertation an <strong>der</strong><br />

Universität Wien<br />

Bakic, Josef (2006): Qualitätsmanagement. In: Dzierzbicka,<br />

Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (Hg.): Pädagogisches Glossar <strong>der</strong><br />

Gegenwart. Von Autonomie bis Wissensmanagement. Wien/<br />

Göttingen: <strong>Löcker</strong>, 218-227<br />

Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2008): Die Ökonomisierung<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> in Österreich – eine fachlich-kritische<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung. In: Kessl, Fabian/Ziegler, Holger (Hg.) Schwerpunktheft<br />

SOZIAL EXTRA «Schwarzbuch Soziale <strong>Arbeit</strong> –<br />

Destablisierung und Entstrukturierung Sozialer <strong>Arbeit</strong>« in<br />

Druckvorbereitung<br />

Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2007a): Wer Qualität<br />

sagt, muss auch Ideologie sagen: Eine Kritik managerialer und technokratischer<br />

Optimierungsversuche Sozialer <strong>Arbeit</strong>. In:<br />

EntwicklungspartnerInnenschaft Donau – Quality in Inclusion (Hg.):<br />

Sozialer Sektor im Wandel. Zur Qualitätsdebatte und Beauftragung<br />

von Sozialer <strong>Arbeit</strong>. Linz: edition pro mente, 107-118<br />

Bakic, Josef/Diebäcker, Marc/Hammer, Elisabeth (2007b): WIENER<br />

ERKLÄRUNG ZUR ÖKONOMISIERUNG UND FACHLICHKEIT<br />

IN DER SOZIALEN ARBEIT. [online: www.sozialearbeit.at,<br />

06.01.2008]


Qualität und Effizienz 215<br />

Beckmann, Christof/Otto, Hans-Uwe/Richter Martina (Hg.) (2004):<br />

Qualität in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Zwischen Nutzerinteresse und<br />

Kostenkontrolle. Wiesbaden: VS<br />

Siegfried Bernfeld (2000[1925]): Sisyphos o<strong>der</strong> die Grenzen <strong>der</strong><br />

Erziehung. Frankfurt am Main<br />

BMFSFJ (2000) Handbuch zur Neuen Steuerung in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und<br />

Jugendhilfe: eine <strong>Arbeit</strong>shilfe für freie und öffentliche Träger.<br />

Stuttgart/Berlin/Köln (zugleich: Schriftenreihe des Bundesministeriums<br />

für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Bd. 187)<br />

Dettling, Warnfried (1995): Politik und Lebenswelt. Vom Wohlfahrtsstaat<br />

zur Wohlfahrtsgesellschaft. Gütersloh<br />

Dimmel, Nikolaus (2007): Ökonomisierung und Sozialbedarfsmarkte.<br />

Faktoren des Strukturwandels Sozialer <strong>Arbeit</strong>. In: EntwicklungspartnerInnenschaft<br />

Donau – Quality in Inclusion (Hg.): Sozialer<br />

Sektor im Wandel. Zur Qualitätsdebatte und Beauftragung von<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong>. Linz, 17-42<br />

EU-Bildungskommission (1995): Weißbuch <strong>der</strong> Kommission zur allgemeinen<br />

und beruflichen Bildung «Lehren und Lernen – auf dem Weg<br />

zur kognitiven Gesellschaft«, KOM(95) [online: http://euramis.net/<br />

documents/comm/white_papers/pdf/com95_590_de.pdf Stand<br />

06.01.2008]<br />

Galuske, Michael (2003): Methoden <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Eine Einführung.<br />

Weinheim und München<br />

Galuske, Michael (2002a): Dienstleistungsorientierung – ein neues<br />

Leitkonzept Sozialer <strong>Arbeit</strong>? In: neue praxis 3/2002, S. 240-258<br />

Galuske, Michael/Müller, Wolfgang, C. (2002): Handlungsformen in <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Geschichte und Entwickung. In: Thole, Werne (Hg.):<br />

Grundriss Soziale <strong>Arbeit</strong>. Opladen, 485-508<br />

Galiläer, Lutz (2005): Pädagogische Qualität. Perspektiven <strong>der</strong><br />

Qualitätsdiskurse über Schule, Soziale <strong>Arbeit</strong> und Erwachsenenbildung.<br />

Weinheim/München<br />

Hütte, Michael (1998): Qualitätssicherung in <strong>der</strong> Jugendhilfe Chance zur<br />

verbesserten Legitimation vergesellschafteter Kosten o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Weg in<br />

eine technokratisierte Pädagogik? In: Internationale Gesellschaft für<br />

erzieherische Hilfen (Hg.): Forum Erziehungshilfen 2/98


216<br />

Qualität und Effizienz<br />

Keupp, Heiner (2004): Die Suche nach <strong>der</strong> Qualität Sozialer <strong>Arbeit</strong> im<br />

Spannungsfeld von Markt, Staat und Bürgergesellschaft. In:<br />

Peteran<strong>der</strong>, Franz/Speck, Otto (Hg.): Qualitätsmanagement in sozialen<br />

Einrichtungen. München/Basel, 326-340<br />

Majewski, Karin/Seyband, Elke (2002): Erfolgreich arbeiten mit QfS.<br />

Qualitätsmanagement und fachliche Standards für Organisationen im<br />

sozialen Bereich. Weinheim/München<br />

Merchel, Joachim (2003): Zum Stand <strong>der</strong> Diskussion über Effizienz und<br />

Qualität in <strong>der</strong> Produktion sozialer Dienstleistungen. In: Möller,<br />

Michael (Hg.): Effektivität und Qualität sozialer Dienstleistungen.<br />

Kassel, 4-25<br />

Schmidt, Mathias (1996): Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Profession – ohne professionelle<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung? Zum Verhältnis von Professionalisierung<br />

und Verwaltungsreform in <strong>der</strong> Jugendhilfe. In: Flösser, Gaby/Otto,<br />

Hans-Uwe (Hg.): Neue Steuerungsmodelle für die Jugendhilfe.<br />

Neuwied/Kriftel/Berlin<br />

Speck, Otto (1999): Die Ökonomisierung sozialer Qualität: Zur<br />

Qualitätsdiskussion in Behin<strong>der</strong>tenhilfe und sozialer <strong>Arbeit</strong>.<br />

München/Basel<br />

Thole, Werner/Cloos, Peter (2000): Soziale <strong>Arbeit</strong> als professionelle<br />

Dienstleistung – »Zur Transformation des beruflichen Handelns«<br />

zwischen Ökonomie und eigenständiger Fachkultur. In: Otto, Hans-<br />

Uwe /Müller, Siegfried/Sünker, Heinz/Olk, Thomas/Böllert, Karin<br />

(Hg.): Soziale <strong>Arbeit</strong>. Gesellschaftliche Bedingungen und professionelle<br />

Perspektiven. Neuwied/Kriftel, 547-567<br />

Winkler, Michael (2000): Qualität und Jugendhilfe: Über Sozialpädagogik<br />

und reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung. In: Helmke, Andreas/Hornstein,<br />

Walter/Terhart, Ewald (Hg.): Qualität und Qualitätssicherung im<br />

Bildungsbereich: Schule, Sozialpädagogik, Hochschule. 41. Beiheft<br />

Z. f. Päd., Weinheim/Basel, 137-159


Recht und Wettbewerb<br />

Nikolaus Dimmel<br />

Wettbewerb – Recht – Sozialwirtschaft<br />

Seit Anfang <strong>der</strong> 1990er Jahre werden im Zuge einer Totalmobilmachung<br />

des Marktprinzips (vgl. Kurz 1999, 539ff) sukzessive<br />

auch Sozialdienstleistungen des österreichischen<br />

Wohlfahrtsstaates Marktbedingungen unterworfen. Damit einher<br />

ging eine Umstellung von <strong>der</strong> traditionellen Subventionswirtschaft<br />

auf zeitlich befristete Leistungsverträge. Dienstleistungen<br />

werden darin im Regelfall als »Produkte« beschrieben<br />

und mithilfe von Tag- bzw. Einzelleistungssätzen kalkuliert und<br />

abgerechnet. Gesetzgeber und Sozialverwaltungen sprechen<br />

seither von einem regulierten, gesteuerten »Sozialmarkt«.<br />

Reguliert werden etwa Leistungsstandards, Erbringungsqualität,<br />

Preise o<strong>der</strong> Einsatzgebiete sozialer Dienste. Da solcherart<br />

ein Preiswettbewerb nur eingeschränkt möglich ist,<br />

konzentriert sich die öffentliche Hand darauf, den<br />

Qualitätswettbewerb zwischen den Anbietern zu erzwingen.<br />

Diese Zuschneidung auf den Qualitätswettbewerb zwischen<br />

sozialen Dienstleistungsträgern wurde vor allem durch qualitative<br />

Standards im Sozialrecht, etwa im Sozialhilfe-,<br />

Behin<strong>der</strong>ten-, Heimvertrags- o<strong>der</strong> Heimrecht umgesetzt.<br />

Begründet wurde dieser Paradigmenwechsel mit Argumenten<br />

aus <strong>der</strong> (neo)liberalen Wohlfahrtsstaatskritik <strong>der</strong> 1980er Jahre.<br />

Diese rügte die drohende Unfinanzierbarkeit von Sozialleistungen,<br />

Formen <strong>der</strong> Überversorgung, falsche Anreize zum<br />

Verweilen in <strong>der</strong> Leistungsabhängigkeit (»Welfarization«)<br />

sowie die unzureichende Abstimmung von Angebot und<br />

Nachfrage. Zugleich wurde die Entmündigung <strong>der</strong><br />

NutzerInnen 1 sozialer Dienstleistungen im Kontext <strong>der</strong> traditionellen<br />

Objektför<strong>der</strong>ung, in <strong>der</strong> nicht die bedürftige Person,


218<br />

Recht und Wettbewerb<br />

son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Leistungen erbringende Träger entgolten/geför<strong>der</strong>t<br />

wird, kritisiert.<br />

Der mit jener »Vermarktlichung« einhergehende Umbau des<br />

Sozial- und Wohlfahrtsstaates schuf einen Marktrahmen,<br />

genauer: ein Wohlfahrtsdreieck bestehend aus öffentlichem<br />

Financier, Leistungserbringer und NutzerIn/KlientIn, in dem<br />

Hilfebedürftige kontrafaktisch seit Beginn <strong>der</strong> 1990er Jahre<br />

ungeachtet <strong>der</strong> »Unschlüssigkeit« <strong>der</strong> Austauschbeziehungen<br />

als »KonsumentInnen« bzw. »KundInnen« einer Sozialdienstleistung<br />

auftreten (müssen) (vgl. Effinger 1993).<br />

Gegenstand von Transaktionen auf diesem Markt sind im<br />

Wesentlichen Dienstleistungen <strong>der</strong> Beratung, Betreuung,<br />

Unterbringung und Pflege, also auch Tätigkeiten <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> (vgl. Dennebaum 1997). Diese Dienstleistungen werden<br />

von sozialwirtschaftlichen Unternehmen, also freien<br />

Wohlfahrtsträgern, zumeist im Auftrag <strong>der</strong> öffentlichen Hand<br />

erbracht und neben den Eigenleistungen <strong>der</strong> Begünstigten bzw.<br />

ihrer Unterhaltsverpflichteten auch ko-finanziert.<br />

Sozialwirtschaftliche Unternehmen treten darin einerseits als<br />

Leistungsvertragspartner <strong>der</strong> öffentlichen Hand und<br />

<strong>Arbeit</strong>geber von Sozial- und PflegearbeiterInnen und an<strong>der</strong>erseits<br />

als Konkurrenten auf Märkten in Erscheinung (vgl.<br />

Dahme et.al. 2005). Dazwischen bewegen sich die<br />

NutzerInnen, selten nur noch als »KlientInnen« bezeichnet, die<br />

sich als »geför<strong>der</strong>te Hilfsbedürftige« (daher: Subjektför<strong>der</strong>ung)<br />

auf einem freien Anbietermarkt orientieren müssen.<br />

Genauer betrachtet indes muss man von mehreren<br />

»Sozialmärkten« sprechen, auf denen Staat, freie Träger bzw.<br />

sozialwirtschaftliche Unternehmen, NGO´s und Selbsthilfeorganisationen<br />

Dienstleistungen erbringen. Es liegt auf <strong>der</strong><br />

Hand, dass die Regulierungen in den drei Sektoren Sozialer<br />

Dienstleistungen, nämlich »For-Profit-Markt«, »Staat« und<br />

»Social-Profit-Markt«, unterschiedlichen Kalkülen folgen.<br />

Während im Bereich gewinnorientierter privater Pflegeheime<br />

tatsächlich nach allgemein geltenden Grundsätzen wettbewerb-


Recht und Wettbewerb 219<br />

lich gehandelt wird, ist im Bereich staatlich monopolisierter<br />

Leistungen, etwa bei behördlichen Rechtsakten, bei<br />

Adoptionen o<strong>der</strong> bei sozialmedizinischen Anamnese-<br />

Leistungen eines Amtsarztes, Wettbewerb nicht möglich. In<br />

jenem Marktsegment, in welchem »Social Profit Unternehmen«<br />

agieren, ist schließlich Wettbewerb nur in eingeschränkter<br />

Form, nämlich als Qualitätswettbewerb (in Bezug<br />

auf Personalqualität, Zielerreichung, Nachhaltigkeit, KundInnenzufriedenheit<br />

etc) denkbar und praktikabel. 2<br />

Die Logik <strong>der</strong> sozialpolitischen Steuerung dieses Marktes<br />

basiert im Wesentlichen auf drei Zugriffen, nämlich dem<br />

Marktzutritt <strong>der</strong> Leistungserbringer, <strong>der</strong> Qualitätssteuerung zu<br />

erbringen<strong>der</strong> Leistungen sowie <strong>der</strong> Preisfestsetzung (bzw. <strong>der</strong><br />

bedarfsgeprüften Bezuschussung von Marktpreisen). Das<br />

gesamtwirtschaftliche Steuerungsarrangement allerdings ist<br />

wesentlich komplexer, da sozialwirtschaftliche Unternehmen<br />

auch wirtschaftsrechtlichen Regelungen unterliegen. Kompetentiell<br />

vermengen sich hier drei Gesetzesebenen, nämlich die<br />

supranationale, die nationale sowie die fö<strong>der</strong>ale. Auf supranationaler<br />

Ebene wird <strong>der</strong> Marktzugang gesteuert (EU-<br />

Wettbewerbsrecht; Vergabe- und Dienstleistungsrichtlinie). Der<br />

Zentralstaat wie<strong>der</strong>um steuert mithilfe <strong>der</strong> Normen des<br />

Wirtschaftsrechts – also <strong>der</strong> Gesamtheit <strong>der</strong> privat-, unternehmens-<br />

und öffentlich-rechtlichen Rechtsnormen – die<br />

Rechtsbeziehungen <strong>der</strong> auf den Sozialmärkten Beteiligten<br />

untereinan<strong>der</strong> und ihr Verhältnis zum leistenden und gestaltenden<br />

Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat – etwa in Form des<br />

Heimunterbringungsrechts. Erst komplementär zum wirtschaftsrechtlichen<br />

Rahmen regeln die Län<strong>der</strong> im Rahmen <strong>der</strong><br />

»Sozialmarktordnung« den Marktzutritt, Mindestanfor<strong>der</strong>ungen<br />

an leistungserbringende Einrichtungen (Organisation,<br />

Personal, Konzept etc.), die Qualität <strong>der</strong> Leistungen<br />

(Betreuungsschlüssel, Wohnformenverordnungen, Dokumentationspflichten<br />

uam.), die Koordination <strong>der</strong> Dienstleistungen<br />

(Sozialsprengel, soziale Infrastrukturplanung etc.) o<strong>der</strong> die


220<br />

Recht und Wettbewerb<br />

Sicherstellung von Diensten durch Institutionengarantien und<br />

Vorhalteverpflichtungen.<br />

Die normative Regelungsdichte auf den Sozialmärkten, auf<br />

denen soziale Dienstleistungen vergeben, beauftragt, erworben<br />

und erbracht werden, aber auch die Ausübung <strong>der</strong> Fachaufsicht<br />

durch die öffentlichen Auftraggeber und Financiers verunmöglicht<br />

weitgehend freien und ermöglicht stattdessen nur regulierten<br />

Wettbewerb. Kostenwettbewerb wird im Regelfall unterbunden.<br />

Denn während Wettbewerb o<strong>der</strong> »Mitbewerb«<br />

bekanntlich Konkurrenz, also die Rivalität um Chancen <strong>der</strong><br />

Kapitalverwertung auf Märkten, meint, sind auf den regulierten<br />

Sozialmärkten Dienstleistungsvolumen, Preis und Qualität im<br />

Regelfall bereits vertraglich festgelegt (vgl. MackIntosh 1997).<br />

Dies bezieht sich sowohl auf Aspekte <strong>der</strong> Struktur- und<br />

Prozess- als auch <strong>der</strong> Ergebnisqualität. Wettbewerb ist unter<br />

diesen Vorzeichen im Regelfall nur als Qualitäts-, nicht aber als<br />

Kostenwettbewerb vorstellbar. Im regulierten Qualitätswettbewerb<br />

spiegelt sich, dass NutzerInnen von Dienstleistungen<br />

selten »KundInnen«, fast immer aber »KlientInnen« sind, da<br />

ihnen zentrale Kundenmerkmale wie Entscheidungssouveränität<br />

o<strong>der</strong> Fähigkeit zur Auswahl zwischen verschiedenen<br />

Leistungen fehlen.<br />

Die einschlägigen Wettbewerbsbedingungen, unter denen soziale<br />

Dienstleistungen (und damit: soziale <strong>Arbeit</strong>) erbracht werden,<br />

erschöpfen sich nicht im Wettbewerbs- und Sozialrecht, son<strong>der</strong>n<br />

werden durch ein kompliziertes Geflecht aus Vergabe-,<br />

Gesellschafts-, Vertrags-, <strong>Arbeit</strong>s-, Steuer- und Vereinsrecht<br />

sowie ausgewählten Teilen <strong>der</strong> Zivilrechtsordnung (Gewährleistung;<br />

Schadenersatz; Gehilfenhaftung; Produkthaftpflicht<br />

etc.) gesteuert.


Recht und Wettbewerb 221<br />

Zur ökonomischen Notwendigkeit einer rechtlichen<br />

Regelung von Sozialdienstleistungen<br />

Das Postulat <strong>der</strong> »Vermarktlichung sozialer Dienstleistungen«<br />

erscheint in kategorialer Weise als paradox (Altvater<br />

1991,79ff). Denn die Notwendigkeit rechtlicher Regelungen in<br />

Bereichen von Dienstleistungen <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> erklärt sich<br />

– neben den allgemeinen Anfor<strong>der</strong>ungen an die rechtsstaatliche<br />

Verfasstheit sozialer Leistungen und <strong>der</strong> institutionell ausbuchstabierten<br />

wohlfahrtsstaatlichen Zielsetzung des kapitalistischen<br />

Staates (vgl. Dimmel 2007, 13) – gerade auch aus <strong>der</strong> nur<br />

eingeschränkt gegebenen Marktfähigkeit dieser Dienstleistungen.<br />

Diese ergibt sich einerseits aus Eigenschaften <strong>der</strong><br />

Dienstleistungen selbst, liegt an<strong>der</strong>erseits aber auch in <strong>der</strong><br />

Charakteristik <strong>der</strong> (potenziellen) NutzerInnen/NachfragerInnen<br />

begründet, die im Zusammenspiel zu einer ineffizienten Marktallokation<br />

und einer gesellschaftlich unerwünschten Distribution<br />

führen (können) (vgl. Trukeschitz 2006, 50f).<br />

Einige <strong>der</strong> möglichen Ursachen von eingeschränkten<br />

Marktmöglichkeiten sollen in <strong>der</strong> Folge kurz besprochen werden.<br />

Häufig gibt es keine ausreichenden Marktsignale im Sinne<br />

von kaufkraftfähiger Nachfrage, auf die sozialwirtschaftliche<br />

Unternehmen reagieren können, weshalb <strong>der</strong> Staat gesellschaftliche<br />

Investitionen in den sozialen Zusammenhalt tätigen muss<br />

(vgl. Aglietta 2000, 70), <strong>der</strong>en Umwegrentabilität sowohl für<br />

<strong>Arbeit</strong>sproduktivität als auch für politische Stabilität sorgt (vgl.<br />

Kaufmann 1997, 34ff), wobei es an<strong>der</strong>erseits aber auch dem<br />

Staat oft nicht möglich ist, die erfor<strong>der</strong>lichen Leistungen auf<br />

effektive Weise selbst zu erbringen. Die Theorien zum Marktund<br />

zum Staatsversagen können insoweit sinnvoll als<br />

»Verdrängungstheorien« (Frey 1998, 83) beschrieben werden,<br />

als erst durch das Versagen von Markt und Staat <strong>der</strong> Weg für<br />

einen dritten Sektor (vgl. Birkhölzer et al. 2005) frei wird.


222<br />

Recht und Wettbewerb<br />

Asymmetrische Informations- und Machtverteilung<br />

Das idealtypische Marktmodell – nach dem Angebot und<br />

Nachfrage eine optimale Güterversorgung garantieren – geht<br />

von einer vollständigen Informiertheit aller MarktteilnehmerInnen<br />

hinsichtlich aller relevanten Aspekte <strong>der</strong><br />

Transaktion aus. Diese Voraussetzung wird in <strong>der</strong> Realität<br />

natürlich nie vollständig erfüllt sein (vgl. Heilbronner/Thurow<br />

2004, 203f). Gerade bei sozialen Dienstleistungen indes ist<br />

Information systemisch bedingt asymmetrisch verteilt.<br />

Gesellschaftlich erwünschte Transaktionen kommen dann gar<br />

nicht o<strong>der</strong> nicht mit dem gesellschaftlich erwünschten Ergebnis<br />

zustande: <strong>der</strong> Markt versagt.<br />

Das Informationsungleichgewicht und die daraus resultierenden<br />

»falschen individuellen Präferenzen« können in Rechtsunkenntnis,<br />

erlernter Hilflosigkeit, vermin<strong>der</strong>ter Artikulationsfähigkeit,<br />

psychischer Belastung, Scham, Stigmafurcht o<strong>der</strong> Verlustängsten<br />

begründet liegen. Informationsungleichgewichte entstehen<br />

aber auch daraus, dass bei co-produzierten Dienstleistungen<br />

Produktion und Konsum zusammenfallen (»Uno-Actu-Prinzip«)<br />

(vgl. Trukeschitz 2006, 36), es also unmöglich/nicht direkt möglich<br />

ist, we<strong>der</strong> Eigenschaften, Qualität noch Folgen <strong>der</strong><br />

Dienstleistung im Voraus festzustellen, selbst wenn die formalen<br />

Rahmenbedingungen sozialer <strong>Arbeit</strong> (Qualifikationszertifikat;<br />

Betreuungsschlüssel; Zeitquanten) vorgegeben sind. Das<br />

erschwert den Aufbau einer Vertrauensbeziehung, die aufgrund<br />

<strong>der</strong> notwendigen »compliance«, also <strong>der</strong> Duldungs-,<br />

Mitwirkungs- und Kooperationsbereitschaft des/r Leistungsempfängers/in<br />

erfor<strong>der</strong>lich ist (vgl. Dimmel 2007, 47). Nicht nur<br />

ist <strong>der</strong> korporierte Anbieter <strong>der</strong> Dienstleistung im Regelfall besser<br />

informiert als sein Klient, er besetzt ihm gegenüber im<br />

Gewande des sozialarbeiterischen Doppelmandates auch eine<br />

Macht-, Herrschafts- o<strong>der</strong> sozialpädagogische Autoritätsposition.<br />

Das führt bei mangeln<strong>der</strong> Regelung dazu, dass mehr<br />

Leistungen erbracht werden als nötig o<strong>der</strong> dass eine überhöhte<br />

Gegenleistung verlangt wird (vgl. Badelt/Österle 2001, 71).


Recht und Wettbewerb 223<br />

Asymmetrien behin<strong>der</strong>n also den Qualitätswettbewerb, während<br />

Preiswettbewerb mangels kaufkraftfähiger Nachfrage<br />

leerläuft. Lösungsmöglichkeiten für dieses Dilemma zwischen<br />

Preis- und Qualitätswettbewerb liegen in <strong>der</strong> Installierung von<br />

institutionellen Strukturen, die Vertrauen schaffen sollen o<strong>der</strong><br />

im Hinzuziehen von informierten Dritten, die die Informationsasymmetrie<br />

ausgleichen, Beispiele hierfür wären<br />

Sozialberatungsstellen o<strong>der</strong> SozialanwältInnen (Ombudsleute).<br />

Konkret können von staatlicher Seite Informationen unmittelbar<br />

zur Verfügung gestellt und Informationspflichten (Manuduktion;<br />

Informationspflichten von Heimbetreibern) festgelegt<br />

werden, während die Etablierung von Ausbildungsnormen und<br />

von Verfahren <strong>der</strong> Berufszulassungs- und Betriebsbewilligung,<br />

von Maßnahmen <strong>der</strong> Qualitätssicherung o<strong>der</strong> die Beigabe von<br />

Sachverständigen und die Einrichtung von Beratungseinrichtungen<br />

sowohl <strong>der</strong> objektiven Verbesserung <strong>der</strong> Leistungserbringung<br />

als auch dem subjektiven Aufbau von Vertrauen dienen<br />

können (vgl. Badelt/Österle 2001, 71f., Frey 1998, 84).<br />

Geringes/fehlendes nachfragefähiges Einkommen<br />

Ein substantielles Hin<strong>der</strong>nis für das Zustandekommen eines<br />

gesellschaftlich wünschenswerten Ausmaßes des Konsums<br />

sozialer Dienstleistungen ist die eingeschränkte o<strong>der</strong> fehlende<br />

Zahlungsfähigkeit <strong>der</strong> potenziellen NachfragerInnen. Die prekäre<br />

Einkommenssituation betroffener Bevölkerungsteile kann<br />

nicht nur zu einer Unterversorgung mit sozialen Dienstleistungen<br />

son<strong>der</strong>n auch zu externalisierten Folgekosten führen,<br />

die wie<strong>der</strong>um gesamtgesellschaftlich zu tragen sind (vgl.<br />

Fouarge 2003). Ein Beispiel hierfür liegt etwa in <strong>der</strong> sozialen<br />

Umwegrentabilität von Maßnahmen <strong>der</strong> Delogierungsprävention,<br />

<strong>der</strong>en Outcome, also Wirkung, die Kosten des<br />

Nichtintervenierens bei weitem übersteigt. Exekutierte<br />

Delogierungen wie<strong>der</strong>um haben nicht nur enorme primär-direkte<br />

(persönliche, familiäre) Folgekosten im Sinne einer<br />

Verstetigung <strong>der</strong> Armutsbelastung von Haushalten, son<strong>der</strong>n


224<br />

Recht und Wettbewerb<br />

auch hohe sekundär-indirekte Folgekosten etwa durch<br />

Lernstörungen, »home-avoidance«, <strong>Arbeit</strong>splatzverlust o<strong>der</strong><br />

Scheidung. Die individuelle Zahlungsbereitschaft kann freilich<br />

auch bei ausreichendem Einkommen zu gering sein. Nämlich<br />

dann, wenn es sich bei <strong>der</strong> Dienstleistung um ein meritorisches<br />

Gut handelt, bei welchem <strong>der</strong> gesellschaftliche Nutzen höher ist<br />

als <strong>der</strong> vom Individuum individuell angenommene (vgl.<br />

Trukeschitz 2006, 51f). Beides zusammen führt dazu, dass <strong>der</strong><br />

Staat in einem Dreiparteien-Verhältnis, welches als<br />

»Wohlfahrtsdreieck« bezeichnet werden kann (Dimmel 2007,<br />

40), die »Financier«-Funktion übernehmen muss.<br />

Öffentliche Güter/meritorische Güter<br />

Staatlich gewährleiste soziale Dienstleistungen sind für alle<br />

zugänglich und sie beruhen nicht auf gewinnwirtschaftlichem<br />

Kalkül, son<strong>der</strong>n politischer Entscheidung (vgl. Bellermann<br />

2004, 61f). Quantität und Qualität sozialer Dienstleistungen<br />

sind folglich Ergebnis politischer Konsensfindungsverfahren<br />

(vgl. Winter 1997). Hierbei stellt sich die marktmäßige<br />

Zuordnung von Dienstleistungen als Problem dar, da das marktwirtschaftliche<br />

System nicht in <strong>der</strong> Lage ist, eine flächen- und<br />

bedarfsdeckende Erbringung von gesellschaftlich wünschenswerten<br />

sozialen Dienstleistungen zu gewährleisten. Externe<br />

Effekte einer Dienstleistung (die ökonomische Situation eines<br />

Individuums wird durch die Dienstleistung/das Gut, die/das<br />

einem an<strong>der</strong>en Individuum gehört, positiv o<strong>der</strong> negativ beeinflusst,<br />

ohne dass es zu einem Ausgleich/einer Gegenleistung<br />

kommt) führen stets zu Verzerrungen <strong>der</strong> volkswirtschaftlich<br />

»korrekten« Allokation.<br />

Im Falle »öffentlicher Dienstleistungen« kann die Erstellung<br />

aber überhaupt nur durch ein Tätigwerden <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Hand sichergestellt werden. Diese Dienstleistungen/Güter<br />

zeichnen sich einerseits dadurch aus, dass bei ihnen das<br />

Ausschlussprinzip nicht greift (Gruppen, die nicht bereit sind,<br />

für den Konsum zu bezahlen, können nicht vom Konsum aus-


Recht und Wettbewerb 225<br />

geschlossen werden – »Freeriding«), an<strong>der</strong>erseits durch die<br />

Nichtrivalität im Konsum (mehrere KonsumentInnen können<br />

das Gut gleichzeitig nutzen, ohne eine Nutzeneinbuße hinnehmen<br />

zu müssen) aus.<br />

Dort, wo öffentliche Güter/Dienstleistungen über den Weg von<br />

Selbstbehalten/Selbstbeteiligungen individualisiert werden,<br />

finanzieren die KäuferInnen häufig auch den Nutzen für Dritte<br />

mit. Gegebenenfalls kommen vertragliche Lösungen deshalb<br />

nicht/o<strong>der</strong> nicht in optimaler Weise zustande (vgl. Frey 1998,<br />

83). Die prekäre Effizienz <strong>der</strong> Bereitstellung öffentlicher Güter<br />

ist schließlich vor allem auch dadurch bedingt, dass Individuen<br />

(auch) als irrational eigennutzmaximierende Subjekte in<br />

Erscheinung treten, mithin auch Leistungen in Anspruch nehmen,<br />

nach denen sie eigentlich keinen Bedarf haben.<br />

Umgekehrt können (vergleichbar <strong>der</strong> Familienbeihilfe)<br />

»Mitnahmeeffekte« auftreten, bei denen Personen öffentlich<br />

finanzierte Dienstleistungen in Anspruch nehmen, welche sie<br />

sich auch selbst/privat hätten finanzieren können. In diesem<br />

Zusammenhang ist indes auch auf die möglichen negativen<br />

externen Effekte sozialer Dienstleistungen zu verweisen, welche<br />

etwa »impact« auf die Lebensführung und ökonomischen<br />

Interessen unbeteiligter Dritter haben können. Dies lässt sich<br />

vielfach bei <strong>der</strong> Errichtung sozialer Dienstleistungseinrichtungen<br />

(AIDS-Hilfe; Drogenberatung; Notschlafstelle etc)<br />

nachzeichnen, wo AnrainerInnen negative Folgen für die<br />

Wohnqualität ihres Viertels/Quartiers einwenden, während die<br />

öffentliche Hand ein Interesse an <strong>der</strong> »Dispersion« bzw. <strong>der</strong><br />

Dekonzentration sozialer Problemlagen hat.<br />

Im Falle sog. »meritorischer Güter«, die nach Auffassung des<br />

Staates o<strong>der</strong> kollektiver Akteure privat in zu geringem/nicht<br />

sozialverträglichem Ausmaß nachgefragt werden, muss die<br />

öffentliche Hand in Vorlage treten. Diese individuelle<br />

»Unterbewertung« von Dienstleistungen/Gütern ist im gesamten<br />

Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen endemisch. Die<br />

Erstellung meritorischer Dienstleistungen/Güter wird hier des-


226<br />

Recht und Wettbewerb<br />

halb vom Staat in <strong>der</strong> Form von Regulierungen, Subventionierungen<br />

o<strong>der</strong> vollständiger staatlicher Finanzierung sichergestellt<br />

(vgl. Badelt/Österle 2001, 77f).<br />

Staats- und Politikversagen<br />

Die Theorie des Staatsversagens (Heise 2005) geht davon aus,<br />

dass sich eine demokratisch legitimierte staatliche Organisation<br />

in <strong>der</strong> Ausrichtung ihres Leistungsangebots wesentlich an<br />

wahlpolitischen Erwägungen und dem Einfluss von lobbyierten<br />

Interessen orientieren wird. Tendenziell wird sie mit ihrem<br />

Leistungsangebot deshalb möglichst breite Wählerschichten<br />

und ´Stake Hol<strong>der</strong>` (etwa: Wirtschaftsverbände) ansprechen<br />

wollen und damit Akzeptanz generieren. Die Interessen von<br />

kleineren und wahlpolitisch unbedeuten<strong>der</strong>en Bevölkerungsgruppen,<br />

etwa sozialer Randgruppen, werden vom Sozialstaat<br />

daher strukturell bedingt nur unzureichend berücksichtigt,<br />

wodurch eine optimale Ressourcenallokation erneut nicht<br />

zustande kommt (vgl. Frey 1998, 84f). Staatsversagen (eigentlich<br />

ein durch Legitimitätszwänge bedingtes Politikversagen,<br />

da sich politische Eliten im Wesentlichen nur an Lobbies und<br />

Wahlen orientieren und somit notwendige und/o<strong>der</strong> unpopuläre<br />

Entscheidungen verzögern) tritt also nicht nur in Form kontraproduktiver<br />

Markteingriffe, son<strong>der</strong>n auch durch die<br />

Ausblendung <strong>der</strong> Bedürfnisse jener Bevölkerungsgruppen auf,<br />

welche kein entsprechendes politisches »voicing« entwickeln<br />

können. Die aus dem »political rent seeking« <strong>der</strong> politischen<br />

Eliten resultierenden Probleme beschränken sich nicht auf eine<br />

mangelhafte Güterallokation o<strong>der</strong> die Instabilität/Ineffizienz<br />

<strong>der</strong> Erbringung von Dienstleistungen, son<strong>der</strong>n erstrecken sich<br />

etwa auch auf die unzureichende Ausschöpfung von Beschäftigungspotentialen<br />

o<strong>der</strong> die mit Beschäftigung verbundenen<br />

Erwerbschancen und Verteilungswirkungen. Ein idealtypisches<br />

Staatsversagen liegt in <strong>der</strong> Orientierung an kurzfristig<br />

wirksamen und <strong>der</strong> Vernachlässigkeit mittel- und langfristig<br />

wirksamer Maßnahmen (»second-best-solution«). Schließlich


Recht und Wettbewerb 227<br />

kann auch die selbst generierte Ausweitung bürokratischer<br />

(Kontroll-)Kompetenzen zu paradoxen Kosten-Nutzen-<br />

Effekten führen, etwa indem die Kontroll- und Überwachungskosten<br />

die Gesamtkosten des Systems aufblähen, ohne dass<br />

damit ein Qualitätszugewinn verbunden wäre.<br />

Unschlüssige Tauschbeziehungen<br />

Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass auch durch<br />

das Tätigwerden <strong>der</strong> staatlichen Akteure auf Sozialmärkten die<br />

Marktunvollkommenheiten nicht beseitigt, weshalb hier<br />

Dienstleistungen dominant durch politische Entscheidungen<br />

bzw. nach politischen Kriterien und weniger durch Marktlogiken<br />

bestimmt werden. In einer ökonomischen Betrachtung<br />

kann sich deshalb ein wirksamer Knappheitsmesser (etwa ein<br />

aussagekräftiger Marktpreis) nicht herausbilden, die<br />

Tauschbeziehungen bleiben insofern »unschlüssig« (vgl.<br />

Dimmel 2007, 40). Diese Unschlüssigkeit ist allerdings je nach<br />

dem Finanzierungsmodell, das <strong>der</strong> Staat als Financier sozialer<br />

<strong>Arbeit</strong> wählt – Objekt- o<strong>der</strong> Subjektför<strong>der</strong>ung – unterschiedlich<br />

ausgeprägt.<br />

Im Objektför<strong>der</strong>ungsmodell wird die Einrichtung, welche die<br />

sozialen Dienstleistungen erbringt, direkt geför<strong>der</strong>t. Richtiger<br />

handelt es sich hierbei aber nicht um eine För<strong>der</strong>ung, son<strong>der</strong>n<br />

(in <strong>der</strong> Regel) um den Abschluss von Leistungsverträgen; die<br />

»För<strong>der</strong>ung« ist einfach das Entgelt für vom Staat gekaufte<br />

Leistungen. Im Rahmen <strong>der</strong> Objektför<strong>der</strong>ung sind dem Staat<br />

direkte und weitreichende Eingriffe in die Sphäre <strong>der</strong><br />

Leistungserbringer möglich. Neben <strong>der</strong> Kostenübernahme des<br />

Staates bleibt natürlich eine Eigenleistung des/r Leistungsempfängers/in<br />

möglich (bzw. ist in vielen Fällen üblich und<br />

erfor<strong>der</strong>lich) (vgl. Dimmel 2007, 22).<br />

Bei <strong>der</strong> Subjektför<strong>der</strong>ung kommt es hingegen zu einer direkten<br />

För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> hilfebedürftigen/begünstigten Person. Das<br />

Individuum wird also mit den nötigen Finanzmitteln ausgestattet,<br />

um auf dem Sozialmarkt nach eigener Wahl Leistungen von


228<br />

Recht und Wettbewerb<br />

den anbietenden Einrichtungen einzukaufen (Modell Pflegegeld).<br />

Der Staat steuert diese Märkte damit nur indirekt, die<br />

Konsumentensouveränität wird tendenziell gesteigert, während<br />

<strong>der</strong> Wettbewerbsdruck für die Anbieter tendenziell steigt<br />

(Etablierung eines Dienstleistungsmarktes). Es kann hier zwischen<br />

einem Vollkostenmodell (mit anschließendem Regress)<br />

und einem Restkostenmodell (mit nur teilweiser Kostenübernahme)<br />

unterschieden werden (vgl. Dimmel 2007, 22f).<br />

Während aber <strong>der</strong> eigentliche Leistungsvertrag zwischen dem/r<br />

NutzerIn <strong>der</strong> Dienstleistung und ihrem Anbieter geschlossen<br />

wird, kommt es dennoch häufig auch zum Abschluss eines<br />

Rahmenvertrages zwischen dem Anbieter und dem staatlichen<br />

Financier, <strong>der</strong> dann als Vertrag zugunsten o<strong>der</strong> mit<br />

Schutzwirkung zugunsten Dritter zu qualifizieren ist (vgl.<br />

Dimmel/Hornung 2007).<br />

Kapitalistische Herrschaft auf Sozialmärkten<br />

Die Durchsetzung sowohl <strong>der</strong> Vermarktlichung von bislang<br />

direktiv staatlich geregelten Politikfel<strong>der</strong>n als auch <strong>der</strong><br />

Marktorientierung von Subjekten, welche bislang Leistungen<br />

direkt zugeteilt erhielten, spiegelt die Strategie neoliberaler,<br />

postfordistischer Eliten, den leistenden und gestaltenden<br />

Wohlfahrtsstaat durch einen »Wettbewerbsstaat« (Joachim<br />

Hirsch) zu ersetzen. Die Totalmobilmachung des Marktprinzips<br />

spiegelt insofern nicht nur eine Ideologie, versteht man<br />

Ideologie sowohl als falsches Bewusstsein als auch als<br />

Hegemonie von kulturellen Deutungsmustern und Handlungsformen,<br />

innerhalb <strong>der</strong>er gesellschaftliche Beziehungen gelebt<br />

werden, son<strong>der</strong>n auch eine Verschiebung staatlicher Herrschaftspraktiken<br />

(vgl. Atzmüller 1997). Das betrifft vor allem<br />

zwei Aspekte:<br />

Die politisch-ideologische Bedeutung im Kontext sozialarbeiterischer<br />

Praxis liegt vor allem zum einen in <strong>der</strong> »Verwarung«


Recht und Wettbewerb 229<br />

sozialer <strong>Arbeit</strong>, also <strong>der</strong> reellen (!) Subsumtion sozialer <strong>Arbeit</strong><br />

unter die Verwertungsinteressen eines sich sukzessive als<br />

Unternehmen gebärdenden Staates. Wie die soziale<br />

Dienstleistung nunmehr als »Produkt« und eben nicht mehr als<br />

co-produzierte Inklusionsleistung beschrieben wird, so wird<br />

auch die soziale <strong>Arbeit</strong> als Tauschwerteigenschaft dieses<br />

Produktes subsumiert. Indem sie primär über ihren Preis,<br />

sekundär über ihren Output und erst zuletzt über ihren Outcome<br />

gehandelt wird, verschwindet die spezifische Qualität <strong>der</strong> sozialen<br />

<strong>Arbeit</strong>s- und Austauschbeziehung, nämlich ihr sozietaler<br />

Gebrauchswert, in <strong>der</strong> von Marx hinreichend beschriebenen<br />

rechtsförmigen Hülle <strong>der</strong> Austauschbeziehungen zwischen den<br />

EigentümerInnen von Ware und Geld. Die mit ihrer Verwarung<br />

verbundene tendenzielle Fetischisierung <strong>der</strong> sozialen <strong>Arbeit</strong><br />

löst indes ihren emanzipatorischen, strukturell antihegemonialen<br />

Charakter tendenziell auf. »At the end of the day« kann als<br />

soziale <strong>Arbeit</strong> überhaupt nur noch jene erscheinen, die sich im<br />

Wechselspiel von Angebot und Nachfrage als »Tauschwert«<br />

verkaufen kann.<br />

Die zweite wesentliche Bedeutung dieser Totalmobilmachung<br />

liegt in <strong>der</strong> fortschreitenden Re-Kommodifikation <strong>der</strong><br />

Beziehungen zwischen Citoyen (StaatsbürgerIn) und Staat.<br />

Der/die KlientIn eines wie auch immer kritisierbaren paternalistischen<br />

Wohlfahrtsstaates wird durch die eherne Form des/r<br />

Kunden/in verdrängt. Die Paradoxie dieses Vorgangs, nämlich<br />

die Verwandlung des/r Klienten/in in eine/n Kunden/in, <strong>der</strong><br />

Dienstleistungen einkauft, wird deutlich, wenn man sich die<br />

Handlungsoptionen <strong>der</strong> Beteiligten im Wohlfahrtsdreieck vergegenwärtigt,<br />

worin <strong>der</strong>/die phantasierte Kunde/in über keine<br />

KonsumentInnensouveränität, kein Wahlrecht und keinen<br />

Gewährleistungsanspruch, kein Preisverhandlungspouvoir verfügt.<br />

Gänzlich ausgeblendet wird dabei, dass noch immer ein<br />

Gutteil sozialer <strong>Arbeit</strong> behördlich/gerichtlich angeordnet ist, in<br />

<strong>der</strong> Maßnahmen <strong>der</strong> Sozialdisziplinierung, sozialen Kontrolle,<br />

»surveillance« (Überwachungsleistungen) und direktive


230<br />

Eingriffe in die individuelle Lebensführung auch gegen den<br />

Willen <strong>der</strong> Betroffenen durchgesetzt werden. Dieser Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zwischen <strong>der</strong> immanenten Logik sozialarbeiterischer<br />

Funktion/Praxis und den Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Vermarktlichung<br />

wohlfahrtsstaatlicher Sozialdienstleistungen kann wohl nur<br />

dadurch aufgelöst werden, dass die befähigende Dimension<br />

sozialer <strong>Arbeit</strong> kategorial als Kernbestandteil ihrer Qualität verstanden<br />

und finanziert wird.<br />

Anmerkungen<br />

1 Die gen<strong>der</strong>sensitive Schreibweise erstreckt sich im Weiteren ausschließlich<br />

auf natürliche Personen.<br />

2 Freilich ist unverkennbar, dass auch hier die durchgesetzten<br />

Marktparadigmen »KundInnennähe«, »Serviceorientierung« o<strong>der</strong> die<br />

»Co-Produktion von Dienstleistungen auf Bestellung« im Grunde<br />

genommen als mehrschichtiges Herrschaftsinstrument verstanden<br />

werden müssen, welches sowohl KlientInnen als auch<br />

DienstleisterInnen bestimmte Vorverständnisse und Verhaltensformen<br />

aufzwingt.<br />

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Sozialraum und Governance<br />

Marc Diebäcker<br />

Die Rezeption und Popularität von Sozialraum als soziologische<br />

Theorie, von Governance als politisches Konzept und von<br />

Sozialraumorientierung als Zugang in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> fallen<br />

nicht zufällig in die Zeit <strong>der</strong> 1980er und 1990er Jahre. Ihre<br />

Konzeptualisierung und Anwendung muss auf gewandelte<br />

Formen von Herrschaft, Regieren und Staatlichkeit bezogen werden.<br />

Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft hat sich im<br />

Rahmen von Globalisierungsstrategien und neoliberalen<br />

Politiken in <strong>der</strong> Hinsicht verän<strong>der</strong>t, dass nationale<br />

Interventionsspielräume in Wirtschafts- und Sozialpolitik aufgrund<br />

von Deregulierungspolitiken massiv eingeschränkt werden,<br />

wodurch sich sozialräumliche Ungleichheiten und<br />

Spaltungen in <strong>der</strong> Gesellschaft beschleunigen. In dieser Situation<br />

erscheint <strong>der</strong> Staat nur mehr »als Mo<strong>der</strong>ator und Koordinator<br />

innerhalb eines Geflechts relativ unabhängiger gesellschaftlicher<br />

Akteure und Gruppen« (Hirsch 2001a, 118) und politische<br />

Entscheidungen werden stärker in staatlich-private Verhandlungssysteme<br />

verlagert. Im »verhandelnden« Staat gewinnt die<br />

lokal-regionale Ebene in <strong>der</strong> politischen Regulierung an<br />

Bedeutung: Aus ökonomischer Perspektive vollzieht sich dort<br />

die neoliberal-inspirierte Standortdebatte in Form von<br />

Städtekonkurrenz und auch die sozialen Auswirkungen gesellschaftlicher<br />

Spaltungs- und Marginalisierungstendenzen verorten<br />

sich lokal und werden dort sichtbar. Aufgrund des sozialstaatlichen<br />

Rückbaus und dem Mangel an Integrationsressourcen<br />

und -leistungen wird den Städten und Gemeinden zunehmend<br />

die Problembewältigung überlassen, wobei das Herstellen von<br />

Ordnung und Sicherheit sich zu einem zentralen Feld politischer<br />

Intervention entwickelt (vgl.; Hirsch 2001b, 200-203; Stenson<br />

2007) Vor diesem Hintergrund werden im folgenden die


234<br />

Konzepte von Sozialraum und Governance reflektiert und auf<br />

ihre Brauchbarkeit für die Weiterentwicklung <strong>der</strong> sozialraumorientierten<br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> geprüft.<br />

Das Konzept <strong>der</strong> Sozialraumorientierung erfreut sich seit den<br />

1990er Jahren in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> wachsen<strong>der</strong> Aufmerksamkeit<br />

und hat als theoretischer Bezugspunkt und als Methode<br />

Eingang in Ausbildung und Praxis gefunden. Spezialisierungen<br />

von SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen finden ihren<br />

Nie<strong>der</strong>schlag in »sozialraumorientierten« Lehr- o<strong>der</strong> Studiengängen<br />

und vielerorts hat Sozialraumorientierung das<br />

<strong>Arbeit</strong>sprinzip »Gemeinwesenarbeit« als Bezug im Stadtteil<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gemeinde abgelöst. Aber das Paradigma <strong>der</strong><br />

Sozialraumorientierung stößt inzwischen nicht nur in <strong>der</strong> Stadtund<br />

Gemeindeentwicklung auf Akzeptanz, son<strong>der</strong>n gilt auch in<br />

<strong>der</strong> Jugendarbeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe als fachliches<br />

Konzept. (siehe Beiträge in Kessl et al 2005 o<strong>der</strong><br />

Galuske/Schoneville 2007)<br />

Zur Theorie des Sozialraums<br />

Sozialraum und Governance<br />

Der Begriff Sozialraum wurde Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Ausdifferenzierung <strong>der</strong> Human- und Sozialwissenschaften<br />

von Emile Durkheim und Georg Simmel eingeführt,<br />

um räumlich-soziale Organisation nicht länger statischen<br />

Zugängen <strong>der</strong> Politischen Geographie zu überlassen, die behaupteten,<br />

dass <strong>der</strong> physisch-geographische Raum die soziale<br />

Ordnung bestimmt. Das Beson<strong>der</strong>e dieser frühen sozialwissenschaftlichen<br />

Zugänge liegt u.a. in <strong>der</strong> Trennung von physischem<br />

Raum und sozialer Organisation, was bedeutet, dass das, was<br />

sich an einem Ort konkret sozial manifestiert, Folge gesellschaftlicher<br />

Strukturen ist und soziale Phänomene nicht als statisch<br />

und unverän<strong>der</strong>lich betrachtet werden können. (vgl. Dünne<br />

2006, 289f) Seit den 1970er Jahren im Anschluss an den französischen<br />

Philosophen Henri Lefebvre hat sich ein Verständnis her-


Sozialraum und Governance 235<br />

ausgebildet, dass eine verän<strong>der</strong>liche Wechselbeziehung von physischem<br />

und sozialem Raum unterstellt und die zeitliche<br />

Perspektive stärker wahrnimmt. Dabei wird auch <strong>der</strong> physische<br />

Raum als gesellschaftlich strukturiert und verän<strong>der</strong>bar anerkannt<br />

als auch umgekehrt als gesellschaftsstrukturierend und -verän<strong>der</strong>nd<br />

verstanden. (vgl. Löw/Sturm 2005, 32-42)<br />

Aktuell wird – auch in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> – häufig auf das<br />

Modell des Sozialraums von Pierre Bourdieu Bezug genommen,<br />

welches den Dualismus von Struktur und Handeln – also<br />

Mikro- und Makroperspektive – zu verbinden versucht, um<br />

über die Begriffe Feld/Sozialraum (Strukturierendes Kräftefeld),<br />

Habitus (Handlungsmuster des Individuums) und einem<br />

weit gefassten Kapitalbegriff (Handlungsressourcen des<br />

Individuums) die soziale Praxis im Raum analysieren zu können.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e Bourdieus Klassifizierung des Kapitalbegriffs<br />

in ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches<br />

Kapital (vgl. Bourdieu 1987 [1979]; Bourdieu 1993, einführend<br />

dazu Rehbein 2006, 79-109) wird bei <strong>der</strong> Abbildung von<br />

Klassenstrukturen und Milieus breit angewendet.<br />

Bourdieu macht in seiner Konzeption des Sozialraums deutlich,<br />

dass <strong>der</strong> Ort lediglich ein Punkt ist, an dem ein »Akteur o<strong>der</strong> ein<br />

Ding sich platziert findet« (Bourdieu 1993, 160) – also im physischen<br />

Raum lokalisiert ist. Zugleich geht er davon aus, dass<br />

sich die Beziehungen gesellschaftlicher Akteure im Sozialraum<br />

und die damit verbundenen sozialen Positionen (die<br />

Klassenlage) im physischen Raum ausdrücken und einschreiben.<br />

Der Bourdieusche Ansatz entfaltet seine Bedeutung für die<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> darin, dass er auf die enge Verbindung von<br />

objektiven Strukturen und subjektiven Orientierungen verweist<br />

und die Alltagspraxis des Menschen in den Vor<strong>der</strong>grund rückt.<br />

Zugleich aber wird Bourdieu nicht müde die Begrenzungen hierarchisch<br />

strukturierter Sozialräume und die damit verbundenen<br />

Kräfteverhältnisse zu betonen, die den Handlungsspielraum<br />

von Menschen stark einschränken. (zum Überblick vgl.<br />

Treibel 2006, 219-243; Joas/Knöbl 2004, 518-557)


236<br />

Sozialraum und Governance<br />

Bezug nehmend auch auf aktuelle Diskussionen <strong>der</strong><br />

Raumsoziologie lässt sich festhalten, dass ein sozialräumlicher<br />

Blick auf Gesellschaft nicht allein nach sichtbaren (und unsichtbaren)<br />

Platzierungen und Verknüpfungen von Dingen und<br />

Menschen fragt, son<strong>der</strong>n diese Phänomene in regionale, nationalstaatliche<br />

o<strong>der</strong> globale Strukturen und Prozesse einbettet.<br />

(vgl. Löw 2005, 42-46) Bourdieu et al (1993) haben in »Das<br />

Elend <strong>der</strong> Welt« anhand qualitativer Interviews die Produktivität<br />

des sozialräumlichen Zugangs eindrucksvoll konkretisiert. (für<br />

Österreich vgl. Katschnig-Fasch, 2003) Die beson<strong>der</strong>e Aktualität<br />

des Werkes liegt darin, dass im Fallverstehen <strong>der</strong> dort versammelten<br />

Biographien die Folgen neoliberaler Politiken und des<br />

staatlichen Rückzuges aufgedeckt und Manifestierungen zum<br />

individuellen Leiden – sei es <strong>der</strong> Verlust des <strong>Arbeit</strong>splatzes o<strong>der</strong><br />

auch des Lebenssinns – abgebildet werden. Margareta<br />

Steinrücke hält diesbezüglich fest, dass auch »das relative<br />

Leiden <strong>der</strong> sogenannten ›linken Hand‹ des Staates, des nie<strong>der</strong>en<br />

Staatsadels aus Sozialarbeitern, Lehrern etc., <strong>der</strong> infolge <strong>der</strong><br />

Restriktionen <strong>der</strong> ›rechten Hand‹ des Staates, <strong>der</strong> Finanz- und<br />

Verwaltungsbürokratie, seine ständig wachsenden Aufgaben<br />

immer weniger erfüllen kann« (1997, 12 f.) nicht aus dem Blick<br />

<strong>der</strong> Analyse von Bourdieu et al gerät.<br />

Zur Sozialraumorientierung in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Die Konjunktur <strong>der</strong> Sozialraumorientierung in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> seit den 1990er Jahre ließe eine starke Bezugnahme auf<br />

soziologische Theorien des <strong>Sozialen</strong> Raums vermuten. Jedoch<br />

ist <strong>der</strong> fachliche Diskurs in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> überwiegend<br />

von einem Sozialraumverständnis geprägt, das seine Anleihen<br />

bei <strong>der</strong> Gemeinwesenarbeit bezieht und auf die Entwicklung<br />

<strong>der</strong> endogenen Ressourcen im Sozialraum abzielt.<br />

Wolfgang Hinte, als ein Protagonist dieser Auffassung, vertritt<br />

die Überzeugung, dass von Problemlagen betroffene Menschen


Sozialraum und Governance 237<br />

ihre Lebensbedingungen mit ihren zur Verfügung stehenden<br />

Ressourcen im Quartier selbst und eigenverantwortlich verbessern<br />

können. Die Orientierung an den geäußerten Interessen <strong>der</strong><br />

Wohnbevölkerung, die Unterstützung <strong>der</strong> Eigeninitiative o<strong>der</strong><br />

die Kooperation und Koordination werden als zentrale<br />

Prinzipien genannt. Ausgehend von <strong>der</strong> These, dass die<br />

Selbsthilfekräfte <strong>der</strong> Menschen häufig unterschätzt werden,<br />

wird unter dem Stichwort <strong>der</strong> »Prävention« weitestgehend für<br />

eine Auflösung von fallspezifischer <strong>Arbeit</strong> argumentiert und auf<br />

die »Aktivierung« <strong>der</strong> Betroffenen abgezielt. (vgl. Hinte/Kreft<br />

2005; Hinte/Litges/Springer 2000) Dieses Sozialraumverständnis<br />

wird von den VertreterInnen aber auch auf das<br />

Handlungsfeld <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe übertragen und in<br />

deutschen sowie österreichischen Kommunen implementiert.<br />

Ein etwas an<strong>der</strong>s gelagerter Ansatz <strong>der</strong> Sozialraumorientierung<br />

hat sich in den 1990ern in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit entwickelt,<br />

<strong>der</strong> – anknüpfend an das Paradigma <strong>der</strong> Lebensweltorientierung<br />

von einem subjektiv-lebensweltlichen<br />

Raumbegriff ausgeht. Im Ansatz <strong>der</strong> flexiblen Erziehungshilfen<br />

wird »als Antwort auf die Individualisierung von Lebensläufen<br />

und Pluralisierung von Lebenswelten« (Galuske/Schoneville<br />

2007, 282) eine Alternative zu den verfestigten Angebotsformen<br />

<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe entwickelt. Auch in diesem<br />

Zugang wird die Nutzung <strong>der</strong> Ressourcen des Sozialraums und<br />

fallübergreifende <strong>Arbeit</strong> betont, allerdings bleibt die (flexible)<br />

Orientierung am Einzelfall charakteristisch. (vgl. Galuske/<br />

Schoneville 2007, 284-285)<br />

Zur Kritik an <strong>der</strong> Sozialraumorientierung<br />

in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Die Kritik an Konzepten <strong>der</strong> Sozialraumorientierung in <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> ist inzwischen vielfältig, wobei eine mangelnde<br />

theoretische Reflexion <strong>der</strong> soziologischen Raumtheorie


238<br />

Sozialraum und Governance<br />

unmittelbar ins Blickfeld gerät. Bezug nehmend auf die Theorie<br />

des Sozialraums lassen sich u.a. zwei Verkürzungen orten:<br />

Erstens, beziehen sich die meisten »pragmatischen Sozialraumvarianten«<br />

in <strong>der</strong> Praxis auf ein abgegrenztes Territorium. Die<br />

Konstitution des Raums wird dabei (in <strong>der</strong> Regel von außen) als<br />

absolut festgelegt, womit an<strong>der</strong>e Raumvorstellungen nicht<br />

beachtet und damit das Handeln von Menschen o<strong>der</strong> Gruppen<br />

nicht richtig verstehbar werden. (vgl. Löw 2001, 64) So können<br />

beispielsweise stadtteilbezogene Programme in so genannten<br />

»benachteiligten« Gebieten, die aufgrund sozialstruktureller<br />

Indikatoren von außen als defizitär definiert werden, sich mit<br />

den Sichtweisen dort lokalisierter Gruppen nicht im geringsten<br />

decken und sogar mit negativen Wahrnehmungsän<strong>der</strong>ungen<br />

von Orten und Stigmatisierungen dieser Gruppen verbunden<br />

sein kann.<br />

Zweitens, führt <strong>der</strong> in <strong>der</strong> sozialraumorientierten <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> weit verbreitete Fokus auf die vorhandenen<br />

Handlungsressourcen von KlientInnen o<strong>der</strong> Gruppen mit dem<br />

Ziel <strong>der</strong> produktiven Nutzbarmachung o<strong>der</strong> Funktionalisierung<br />

dazu, dass die Strukturen – also die Kräftverhältnisse hierarchisch-strukturierter<br />

Sozialräume – völlig aus dem Blick gerät.<br />

Gerade das nicht zur Verfügung stehende ökonomische, kulturelle<br />

o<strong>der</strong> soziale Kapital bestimmt die soziale Position und ist<br />

die Ursache für die Verfestigung sozialer Ungleichheiten. Die<br />

Vorstellung des schnellen Nutzbarmachens zentraler<br />

Handlungsressourcen von Menschen aus <strong>der</strong> Nachbarschaft<br />

o<strong>der</strong> dem Quartier muss in dieser Hinsicht als naiv bezeichnet<br />

werden.<br />

Heinz-Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt glauben, dass die<br />

aktuelle Sozialraumorientierung »sich bei näherer Betrachtung<br />

als ein Hebel <strong>der</strong> umfassenden Reorganisation sozialer<br />

Dienste« (2005, 263) erweist und halten die Sozialraumbudgetierung<br />

für ein betriebswirtschaftliches Instrument <strong>der</strong><br />

Kostenkontrolle einer »mo<strong>der</strong>nisierten« Verwaltung. Da kommunales<br />

Handeln Ursachen von <strong>Arbeit</strong>slosigkeit o<strong>der</strong> wachsen-


Sozialraum und Governance 239<br />

<strong>der</strong> Armut nur schwer beeinflussen kann, sind aktuelle Ansätze<br />

<strong>der</strong> Sozialraumorientierung einer aktivierenden Sozialpolitik<br />

des »För<strong>der</strong>n und For<strong>der</strong>n« zuzuordnen, in denen Menschen<br />

aktiviert werden, sich selbst zu helfen. (vgl. Dahme/Wohlfahrt<br />

2005, 272-277)<br />

In <strong>der</strong> Diskussion um Sozialraumorientierung ist auffällig, dass<br />

Strukturen und Prozesse globaler, nationalstaatlicher o<strong>der</strong><br />

regionaler Ebenen, die soziale Probleme verursachen und lokalisieren,<br />

nicht in ausreichendem Maße mitgedacht werden und<br />

innerhalb <strong>der</strong> Profession entwe<strong>der</strong> zur Überschätzung sozialraumorientierter<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> führen o<strong>der</strong> lediglich als alltagsbewältigende,<br />

kompensatorische Strategie <strong>der</strong> Anpassung<br />

unter Politiken einer sich verän<strong>der</strong>nden Staatlichkeit verstanden<br />

werden. Es wird auch deutlich, dass politische Dimensionen in<br />

<strong>der</strong> sozialraumorientierten <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> kaum reflektiert<br />

werden. Beispielsweise vermittelt <strong>der</strong> Hinte’sche Ansatz mit<br />

dem Fokus auf intermediäre Instanzen in sozialen Fragen<br />

»Neutralität« und »Unparteilichkeit« und entledigt sich damit<br />

sozialpolitischeren Perspektiven <strong>der</strong> Gemeinwesenarbeit wie<br />

sie beispielsweise Dieter Oelschlägel vertritt. (vgl. Hinte/<br />

Oelschlägel 2001, 17-36) Herrschaftsfragen werden damit<br />

bewusst ausgegrenzt, was im Gegenzug seine Anschlussfähigkeit<br />

an neoliberale Politiken <strong>der</strong> Flexibilität und Selbstverantwortung<br />

sichert.<br />

Zum Diskurs um Governance<br />

Der Begriff Governance hat in <strong>der</strong> Politikwissenschaft einen<br />

ähnlichen Rezeptionsverlauf genommen wie <strong>der</strong> Sozialraumbegriff<br />

in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>. Seit den 1980ern taucht das<br />

Konzept in politikwissenschaftlichen Fachdiskussionen auf und<br />

hat sich vor allem in den 1990er Jahren zu einem Schlagwort<br />

entwickelt, das in verschiedenen Gesellschaftssphären eine<br />

neue Qualität politische Steuerung propagiert und unter dem


240<br />

Sozialraum und Governance<br />

Stichwort »from government zu governance« besseres<br />

Regieren verspricht. Der Governance-Diskurs mit seiner zentralen<br />

Prämisse »es sei effizienter Probleme kooperativ und dialogisch<br />

zu bearbeiten« (Brand 2004,112) bezieht sich auf<br />

Netzwerke als zentrale Ordnungsmuster von Politik.<br />

Im sozialwissenschaftlichen Diskurs dominieren zwei<br />

Zugänge: einerseits werden mehrere räumlich-konstitutiven<br />

Ebenen unterschieden (local, regional, national und global<br />

governance) und die Integration dieser Ebenen (multi-levelgovernance)<br />

soll dann gesellschaftliche Problemlösungen erreichen.<br />

An<strong>der</strong>erseits wird mit akteursbezogenen Ansätzen, die oft<br />

stark auf die lokale Ebene fokussieren, ein Mehr an horizontaler<br />

Netzwerksteuerung o<strong>der</strong> Partizipation und ein Weniger an<br />

hierarchisch-organisierter Regulierung <strong>der</strong> formalisierten<br />

repräsentativen Demokratie gefor<strong>der</strong>t. Diesbezüglich wird die<br />

Dominanz des öffentlichen Sektors und seine fehlende<br />

Offenheit gegenüber BürgerInnen o<strong>der</strong> wirtschaftlichen<br />

AkteurInnen kritisiert. Das Governance-Konzept ist aufgrund<br />

<strong>der</strong> suggerierten stärkeren Einflussnahme von gesellschaftlichen<br />

AkteurInnen sowohl für wirtschaftsliberale als auch für<br />

links-identitäre Gruppen anschlussfähig, wobei letztere<br />

Partizipation, Demokratisierung o<strong>der</strong> Teilhabe mit Governance<br />

verbinden. (vgl. Diebäcker 2008; Brunnengräber et al 2004)<br />

In den letzten Jahren wird zunehmend Kritik am undifferenzierten<br />

Governance-Diskurs laut. Das angestrebte »neue«<br />

Verhältnis von Staat, Markt und Zivilgesellschaft wird problematisiert<br />

und die postulierte hohe demokratische Qualität <strong>der</strong><br />

nichthierarchischen, dezentralen und nicht-dirigistischen<br />

Formen des Regierens wird öfter in Frage gestellt.<br />

Erstens gehen laut Ulrich Brand die meisten Governance-<br />

Ansätze von <strong>der</strong> Annahme aus, dass es keine grundsätzlichen<br />

Interessengegensätze zwischen sozialen Gruppen, Milieus o<strong>der</strong><br />

Klassen mehr gäbe. Er kritisiert, dass »Governance für ein dialogisches<br />

und kooperatives Politikmodell [stehe], das nicht nur<br />

Interessensgegensätze, son<strong>der</strong>n auch die ungleiche


Sozialraum und Governance 241<br />

Ressourcenverteilung <strong>der</strong> in den Verhandlungsprozess einbezogenen<br />

Akteure sowie asymmetrische Machtverhältnisse ausblendet«<br />

(Brand 2004: 114). Ein Verständnis von Governance<br />

als ein harmonistisch-kooperatives Modell läuft also Gefahr<br />

Fragen sozialer Ungleichheit und politische Konflikte zu verschleiern<br />

und von <strong>der</strong> gesellschaftlichen Regelung auszuschließen.<br />

Zweitens, werden die neuen Netzwerke politischer Steuerung –<br />

auch wenn sie bezüglich ihrer Organisation und Einflussnahme<br />

nur selten Gegenstand <strong>der</strong> Analysen sind (vgl. Fraser 2003,<br />

256) – hinsichtlich ihrer demokratischen Qualität skeptisch<br />

beurteilt. Denn, ob »alte« Machtasymmetrien <strong>der</strong> repräsentativen<br />

Demokratie sich zugunsten einer pluralen und öffentlichen<br />

Politik verschoben haben, wird grundsätzlich in Frage gestellt.<br />

Stattdessen ist davon auszugehen, dass sich <strong>der</strong> Einfluss des<br />

Marktes auf Entscheidungen des Staates zunehmend durchsetzt<br />

und politisch-emanzipatorische Positionen weiter an Einfluss<br />

verlieren, was Erik Swyngedouw als »system of governance<br />

beyond the state« (Swyngedouw 2005) bezeichnet. (vgl. Hirsch<br />

2001a, 118)<br />

Drittens wird <strong>der</strong> Wechsel von Government zu Governance<br />

auch mit einer angeblich effektiveren Steuerung von<br />

Gesellschaft begründet. Die Integration von Ressourcen (wie<br />

Wissen o<strong>der</strong> Zeit) <strong>der</strong> zu beteiligenden BürgerInnen o<strong>der</strong><br />

AkteurInnen in Entscheidungsprozesse wird dabei als zentrales<br />

Mittel zur Problemlösung angesehen. Netzwerkartige Prozesse<br />

o<strong>der</strong> partizipative Verfahren werden damit über ihre Zweckmäßigkeit<br />

und Effektivität hinsichtlich <strong>der</strong> Problemstellung<br />

definiert und auf diese verkürzt. Aussagen zum Eigenwert politischer<br />

Beteiligung finden sich nur selten, um das neue institutionelle<br />

Arrangement zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft<br />

zu legitimieren.<br />

Viertens orientieren sich die Governance-Konzepte an marktförmigen<br />

Ordnungsmechanismen. Dabei wird unter dem<br />

Schlagwort des »kooperativen Staates« entsprechend eines neo-


242<br />

Sozialraum und Governance<br />

liberalen o<strong>der</strong> neokonservativen Menschenbildes an »AktivbürgerInnen«<br />

appelliert, sich im Sinne ihres Eigeninteresses<br />

o<strong>der</strong> ihrer gemeinschaftlichen Verpflichtung, ihre Lebenssituation<br />

durch eigene Beteiligung zu verbessern – mit dem<br />

Ergebnis, dass sich »aktivierte« Individuen (o<strong>der</strong> auch<br />

Institutionen) in Zukunft »Kosten und Folgelasten selbst<br />

zurechnen lassen müssen«. (Brand 2004, 115; vgl. Fraser 2003,<br />

255)<br />

Es wird deutlich, dass <strong>der</strong> Terminus Governance aufgrund <strong>der</strong><br />

mit ihm verbundenen Zuschreibungen und Wertsetzungen –<br />

seien sie wirtschaftsliberal o<strong>der</strong> politisch-emanzipatorisch<br />

inspiriert – als hybrid verstanden werden muss. Aufgrund dieser<br />

breiten gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit entfaltet er<br />

unter <strong>der</strong> Dominanz neoliberaler Politiken seine ideologische<br />

Wirkung – gerade weil er soziale Ungleichheiten und<br />

Machtverhältnisse tendenziell verschleiert und mit <strong>der</strong><br />

Anrufung <strong>der</strong>/des aktive/n »BürgerIn« Symbiosen mit dem flexiblen,<br />

eigenverantwortlichen, selbstkontrollierenden, rationalen<br />

und männlich strukturierten Menschenbild radikal-liberaler<br />

Prägung eingehen kann.<br />

In seiner Anwendung entfalten sich unter dem »Deckmantel«<br />

von Governance vor allem ökonomische Zielorientierungen,<br />

<strong>der</strong> gesellschaftliche Hierarchien und Machtverhältnisse weitestgehend<br />

unberührt lässt. Birgit Sauer hält aus Sicht <strong>der</strong> feministischen<br />

Staatstheorie fest, dass Governance eine neue<br />

Technologie des Regierens darstellt und »nicht Ausdruck eines<br />

herrschaftsfreien Diskurses, son<strong>der</strong>n im Gegenteil die Re-<br />

Artikulation von patriarchaler Steuerung und Herrschaft [ist].«<br />

(Sauer 2004, 125)


Sozialraum und Governance 243<br />

Die politische Regulierung des Lokalen<br />

und Herausfor<strong>der</strong>ungen für eine kritische<br />

sozialraumorientierte Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

Hinsichtlich <strong>der</strong> notwendigen politischen Fundierung von sozialraumorientierter<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong> bietet das Governance-<br />

Konzept aufgrund seines demokratietheoretischen Defizits keinen<br />

Nutzen. Governance muss vielmehr als Technologie <strong>der</strong><br />

politischen Regulierung verstanden werden, die insbeson<strong>der</strong>e<br />

auf <strong>der</strong> lokalen Ebene ihre Bedeutung entfaltet. Im Zusammendenken<br />

von Politischem und Sozialem Raum ist Governance<br />

mit <strong>der</strong> Sozialraumorientierung eng verwoben, denn das<br />

Lokale 1 ist auch die wesentliche Interventionsebene Sozialer<br />

<strong>Arbeit</strong>. Die hier angerissene vergleichende Perspektive weist<br />

auf ähnliche Inhalte und Problematiken von Governance und<br />

Sozialraumorientierung hin. Beide Konzepte vertragen sich mit<br />

marktförmigen Ordnungsmechanismen des Staates und <strong>der</strong><br />

damit verbundenen Ausweitung ökonomischer Rationalität auf<br />

alle Lebensbereiche, um soziale o<strong>der</strong> ökonomische Ressourcen<br />

für die gesellschaftliche Regulierung nutzbar zu machen. Sie<br />

neigen dazu Ursachen und Dynamisierungstendenzen sozialer<br />

Ungleichheit nicht genügend in den Blick zu nehmen und mit<br />

ihrem »kooperativ-harmonisierenden« Zugang gesellschaftliche<br />

Konflikte und Machtverhältnisse zu ignorieren, wobei sie<br />

weitestgehend auf horizontale Prozesse <strong>der</strong> Vernetzung abzielen<br />

und vertikale Entscheidungsprozesse oftmals unberücksichtigt<br />

lassen.<br />

Im Lokalen drückt sich – wie in <strong>der</strong> Einleitung angesprochen –<br />

die scheinbare Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit einer verän<strong>der</strong>ten Staatlichkeit<br />

deutlich aus und stellt enorme Herausfor<strong>der</strong>ungen für die<br />

Sozialraumorientierung in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> dar. Aus politischer<br />

und fachlicher Perspektive gilt es daher aktuelle Konzepte<br />

und Methoden in mehrfacher Hinsicht kritisch zu prüfen:<br />

Erstens ist die Soziale <strong>Arbeit</strong> selbst Adressatin von<br />

Deregulierungs- und Privatisierungstendenzen des öffentlichen


244<br />

Sozialraum und Governance<br />

Sektors und wird daher einer Einsparungspolitik und<br />

Kostenkontrolle unterworfen. Aus diesem Blickwinkel entpuppt<br />

sich die Zentralisierung und Deckelung von Finanzen<br />

durch Sozialraumbudgets als kontraproduktiv. Auch <strong>der</strong> inhaltliche<br />

Fokus vom »Fall zum Feld« (vgl. Hinte/Litges/Springer<br />

2000) forciert – zumindest in <strong>der</strong> Logik auf Kostenreduktion<br />

abzielen<strong>der</strong> Financiers – die Konkurrenz zwischen Einzelfallund<br />

Sozialraumorientierung in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> und könnte<br />

zur weiteren Ausdünnung <strong>der</strong> sozialen Infrastruktur führen.<br />

Zweitens, ist die Soziale <strong>Arbeit</strong> zur Agentin eine neuen<br />

»Partizipationskultur« aufgestiegen, die auf Integration von<br />

AktivbürgerInnen und die Herstellung lokaler Gemeinschaftlichkeit<br />

abzielt bzw. diese suggeriert. Denn in den Stadtteilo<strong>der</strong><br />

Quartiersprogrammen offenbart sich meist, dass <strong>der</strong> politischen<br />

Einflussnahme enge Grenzen gesetzt sind und sich die<br />

materiellen Lebensbedingungen <strong>der</strong> Bevölkerung in <strong>der</strong> Regel<br />

nicht verbessern, wie Evaluierungen aus dem deutschen Bund-<br />

Län<strong>der</strong>-Programm »Soziale Stadt« zu belegen scheinen. (vgl.<br />

Reutlinger et al 2005, 13) Wenn die Prozesse hinsichtlich des<br />

ökonomischen, kulturellen o<strong>der</strong> sozialen Kapitals weitestgehend<br />

»leer laufen« und BewohnerInnen dann lediglich aufgrund<br />

ihrer Aktivität Zufriedenheit verspüren, kommt sozialraumorientierte<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> in den Ruf nur zur Inszenierung<br />

kollektiver Zufriedenheit beizutragen.<br />

Drittens ist die Soziale <strong>Arbeit</strong> als Herrschaftsinstrument damit<br />

konfrontiert, dass sich ihre ordnungs- und sicherheitspolitischen<br />

Agenden verstärken und sie bei <strong>der</strong> Kontrolle und<br />

Disziplinierung von kriminellem, sozial abweichendem bzw.<br />

unerwünschtem Verhalten zunehmend beteiligt sein wird. 2 Vor<br />

diesem Hintergrund muss darauf hingewiesen werden, dass die<br />

sozialraumorientierte Soziale <strong>Arbeit</strong> sich mit ihrem »Präventivcharakter«<br />

im Rahmen des neoliberalen »Sozialmodells«<br />

zur Territorialisierung, Stigmatisierung und Kulturalisierung<br />

von Ursachen sozialer Ungleichheit eignet sowie für die soziale<br />

Ausschließung von Bevölkerungsgruppen funktionalisiert


Sozialraum und Governance 245<br />

werden kann. Bezug nehmend auf die aktuellen Kriminalisierungstendenzen<br />

besteht zudem die Gefahr, dass die<br />

gebildeten sozialen Netzwerke im Stadtteil o<strong>der</strong> in<br />

Nachbarschaften zur gegenseitigen sozialen Kontrolle instrumentalisiert<br />

werden.<br />

Angesichts dieser Tendenzen steht die sozialraumorientierte<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> vor <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung, auch um die Theorie<br />

des <strong>Sozialen</strong> Raums für die Praxis nutzbar zu machen, politisch-theoretische<br />

Perspektiven stärker mitzudenken. Nur mit<br />

<strong>der</strong> Reflexion einer verän<strong>der</strong>ten Staatlichkeit kann sie ein kritisches<br />

Potenzial entwickeln, um trotz <strong>der</strong> Hegemonie neoliberaler<br />

Diskurse und Politiken ihrer eigenen »Einverleibung«<br />

reflektiert zu begegnen. In dieser zu führenden Debatte plädiere<br />

ich für die Konzeptualisierung politischer Theorien, die<br />

einen stärker konfliktorientierten Ansatz vertreten, da so<br />

Interessenskonflikte, Formen <strong>der</strong> Aneignung und Machtkämpfe<br />

stärker in den Blick geraten.<br />

Perspektivisch gesehen muss die sozialraumorientierte Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> eine räumlich-reflexive Haltung (Kessl/Reutlinger<br />

2007) und eine fachlich-fundierte Praxis entwickeln, die in <strong>der</strong><br />

Bezugnahme zur soziologischen Theorie des Sozialraums<br />

inhaltlich weiterentwickelt werden sollte. Denn gerade das<br />

Erfassen <strong>der</strong> Rationalitäten von Menschen in marginalisierten<br />

o<strong>der</strong> gesellschaftlich entkoppelten Lebenssituationen gilt es<br />

analytisch zu erschließen und Möglichkeiten <strong>der</strong> Re-<br />

Artikulation zu eröffnen. Diesbezüglich wird die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

auch weiterhin gefor<strong>der</strong>t sein, aus einer kritisch-reflexiven<br />

Perspektive zur Solidarisierung und Organisation kollektiven<br />

Handelns unterstützend beizutragen. Zudem gilt es eine vertikal<br />

ausgerichtete Praxis politischer Kommunikation im Staat zu<br />

entwickeln, um für materielle, soziale, kulturelle, politische<br />

Rechte und gegen soziale Ausschließung einstehen zu können.<br />

(vgl. Stövesand 2007, 292f)<br />

Angesichts <strong>der</strong> Dominanz neoliberaler Rationalitäten und<br />

Politiken muss daraufhin hingewiesen werden, dass Hegemonie


246<br />

»kein kohärentes und geschlossenes, <strong>der</strong> Gesellschaft quasi von<br />

oben aufgestülptes Konstrukt« (Hirsch 2001b, 209) ist, son<strong>der</strong>n<br />

das Resultat politisch-sozialer Auseinan<strong>der</strong>setzung. Eine sozialraumorientierte<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> wird sich in Zukunft daran<br />

messen lassen müssen, inwieweit sie antihegemoniales Wissen<br />

erfassen und politisch vermitteln kann. Für die «paradoxe<br />

Intervention antistaatlicher Politik mit staatlichen Akteuren«<br />

(Sauer 2004, 125) ist die Soziale <strong>Arbeit</strong> historisch vorbereitet,<br />

ihre kritische Kraft im Zeitalter des Neoliberalismus muss sie<br />

aber erst entwickeln.<br />

Anmerkungen<br />

Sozialraum und Governance<br />

1 Die Dimension des Lokalen wird hier als Bezugssystem zu an<strong>der</strong>en<br />

räumlichen Ebenen wie dem Nationalen o<strong>der</strong> Globalen verstanden,<br />

denn Prozesse auf diesen Ebenen verlaufen parallel bzw. gleichzeitig<br />

und sind miteinan<strong>der</strong> verwoben. Das Lokale besitzt zudem auch einen<br />

spezifizierbaren Ort – also eine weitere räumliche Ausprägung, wobei<br />

diese nie rein lokal ist. vgl. Löw/Steets/Stoetzer 2007, 77f.<br />

2 Es muss darauf hingewiesen werden, dass bei <strong>der</strong> Suche nach politischer<br />

Legitimation sich jene Politikfel<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s eignen, die auf<br />

Unsicherheit und Ängste <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft abzielen und die<br />

Bedrohung durch eine zu regulierende Min<strong>der</strong>heit unterstellen wie es<br />

beispielsweise in Migrations- bzw. Einwan<strong>der</strong>ungspolitiken o<strong>der</strong><br />

»Politiken innerer Sicherheit« <strong>der</strong> Fall ist und damit die öffentlichen<br />

Debatten bestimmen. Die Konstruktion o<strong>der</strong> »Entdeckung« von<br />

Problemgruppen – o<strong>der</strong> auch sozialarbeiterischer Zielgruppen –<br />

erweist sich angesichts öffentlicher Skandalisierungen und<br />

Ausschlussmechanismen in hohem Maße als problematisch.


Sozialraum und Governance 247<br />

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System und Subjekt<br />

Fabian Kessl<br />

»Letztlich ist es die Praxis,<br />

die die einzige Kontinuität<br />

zwischen <strong>der</strong> Vergangenheit und <strong>der</strong> Gegenwart bildet,<br />

o<strong>der</strong> umgekehrt die Weise,<br />

in <strong>der</strong> die Gegenwart die Vergangenheit erklärt.«<br />

(Gilles Deleuze Foucault: 162)<br />

Einleitung: Zur Ausblendung subjektkritischer<br />

Einwände in den Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

Das Subjekt hat es schwer am Anfang des 21. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />

Denn es wird ihm im fortgeschrittenen Liberalismus so viel<br />

zugemutet, wie noch nie in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (vgl. Bröckling 2007;<br />

Reckwitz 2006: 441ff.). Nikolas Rose (2000: 14) diagnostiziert,<br />

die Einzelnen würden heute angehalten, so zu leben, »als ob sie<br />

ein Projekt aus sich selbst machten«. Im Leben in <strong>der</strong> flüchtigen<br />

Mo<strong>der</strong>ne: »geht es (somit) zuallererst und vor allem darum,<br />

in Bewegung zu bleiben« (Bauman 2007: 149; Hervorh. im<br />

Orig.). Für die Soziale <strong>Arbeit</strong> haben Maria Bitzan, Eberhard<br />

Bolay und Hans Thiersch (2006²: 260) diesen Sachverhalt<br />

jüngst folgen<strong>der</strong>maßen übersetzt: »Die Einzelnen erfahren sich<br />

auf sich selbst geworfen«. Die Dominanz aktivieren<strong>der</strong><br />

Interventionsstrategien in verschiedenen Fel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> und <strong>der</strong> Sozialpolitik sind Ausdruck dieser Eigenverantwortungs-Anrufung<br />

<strong>der</strong> Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> (vgl.<br />

Dollinger/Raithel 2006; Kessl 2006). Aktivierungspropagandisten<br />

folgern für die Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe dementsprechend,<br />

die bisherige sozialpädagogische Handlungsmaxime <strong>der</strong><br />

Unterstützungsorientierung müsse grundlegend überdacht wer-


System und Subjekt 251<br />

den und stattdessen müsse nun <strong>der</strong> neuen Formel<br />

»Handlungsdruck statt Übernahmegarantie« gefolgt werden<br />

(Esch et al. 2001: 522). Diese Zuschreibung von Lebensgestaltungsverantwortung<br />

an – individuelle (einzelne Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong>)<br />

wie kollektive (Familien, Nachbarschaften,<br />

Stadtteilbevölkerungen) – Subjekte geschieht in einer Phase, in<br />

<strong>der</strong> parallel eine grundlegende Infragestellung <strong>der</strong> Idee des<br />

Subjekts Raum gegriffen hat: Vor allem (post)strukturalistische<br />

und (sozial)konstruktivistische Perspektiven stellen die seit <strong>der</strong><br />

Aufklärung dominierende humanwissenschaftliche Idee »des<br />

Subjekts« als einer relativ autonom agierenden leiblichen<br />

Einheit in Frage: »Das Subjekt als eine mit sich selbst identische<br />

Entität gibt es aber nicht mehr« (Butler 1997: 315; vgl.<br />

Luhmann 1987: 593ff.).<br />

Zwar haben sich die zum Teil heftig geführten Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />

um einen vermeintlichen »Tod des Subjekts« o<strong>der</strong><br />

dessen schon wie<strong>der</strong> zu proklamierende »Wie<strong>der</strong>kehr« nach<br />

den ersten Aufregungen seit Ende <strong>der</strong> 1960er Jahre, die vor<br />

allem die französischsprachigen Beiträge im Anschluss an<br />

Nietzsches, Freuds und Heideggers Überlegungen ausgelöst<br />

hatten, inzwischen wie<strong>der</strong> deutlich beruhigt. Dennoch bleibt<br />

die subjektkritische Herausfor<strong>der</strong>ung gerade für eine<br />

(sozial)pädagogische Perspektive bestehen. Schließlich geht es<br />

in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> nach weit verbreitetem Selbstverständnis<br />

darum, dass das Subjekt lernt, »über sich selbst zu verfügen,<br />

seine eigenen Perspektiven zu fassen und zu verfolgen«<br />

(Winkler 1988: 335). Eine sozialpädagogische Intervention<br />

wird dementsprechend als erfolgreich bestimmt, wenn das<br />

Subjekt »imstande wird, sich selbst zu erziehen«, wie es<br />

Michael Winkler vor knapp 20 Jahren in einem <strong>der</strong> seltenen<br />

deutschsprachigen Versuche einer theorie-systematischen<br />

Bestimmung Sozialer <strong>Arbeit</strong> formuliert hat. Vor dem<br />

Hintergrund eines solchen Selbstverständnisses müsste eine<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den vielfältigen und grundsätzlichen<br />

subjektkritischen Einwänden (vgl. Meyer-Drawe 1991) nur


252<br />

System und Subjekt<br />

allzu nahe liegend sein. Überraschen<strong>der</strong>weise fehlen diese aber<br />

bisher weitgehend – eine <strong>der</strong> Ausnahmen stellen bemerkenswerterweise<br />

die jüngeren <strong>Arbeit</strong>en des eben zitierten Autors dar<br />

(vgl. Winkler 2006: 119ff.).<br />

Die weitgehende Nicht- o<strong>der</strong> De-Thematisierung subjektkritischer<br />

Einwände in den Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong> ist noch<br />

aus zwei weiteren Gründen überraschend. Zum einen haben<br />

innerhalb <strong>der</strong> Debatten um Soziale <strong>Arbeit</strong> gerade subjektzentrierte<br />

Motive als Teil von handlungskonzeptionellen Reformprogrammen<br />

(adressaten-, kunden- und nutzerorientierte<br />

Ansätze) und jüngst auch als Teil neuer methodologischer<br />

Bestimmungsversuche (Adressaten-, Konsumenten- und<br />

Nutzerforschung) zunehmend an Einfluss gewonnen (vgl. Kap<br />

1). 1 Zum an<strong>der</strong>en wurden in den letzten Jahren eine ganze<br />

Reihe, vor allem systemtheoretisch (vgl. zum Überblick<br />

Merten/Scherr 2004), aber auch einzelne machtanalytisch argumentierende<br />

<strong>Arbeit</strong>en (vgl. zum Überblick Kessl 2007) im Feld<br />

<strong>der</strong> Wissenschaft Sozialer <strong>Arbeit</strong> vorgelegt – also <strong>Arbeit</strong>en, die<br />

sich an konstitutiv subjektkritischen Methodologien ausrichten<br />

(vgl. Kap. 2). In den Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong> ist somit<br />

die gleichzeitige Konjunktur subjektzentrierter Bestimmungen,<br />

in denen die Akteursfigur »des Subjekts« als konzeptioneller<br />

Ausgangspunkt gesetzt wird, und subjektkritischer Methodologien,<br />

vor allem in systemtheoretischer Variante, zu konstatieren.<br />

Dass angesichts dieser Situation explizite Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />

mit den subjektkritischen Einwänden – auch in den<br />

eben solche Einwände umfassenden Methodologien – fast<br />

komplett fehlen bzw. diese im Fall ihrer Diskussion umgehend<br />

wie<strong>der</strong> als unzureichend verworfen werden, ist erklärungsbedürftig.<br />

Um diese verblüffende Gleichzeitigkeit von Subjektzentrierung<br />

und subjektkritischer Methodologie einerseits und Nicht- bzw.<br />

De-Thematisierung subjektkritischer Einwände an<strong>der</strong>erseits zu<br />

erklären, wird im Folgenden im ersten Schritt am Beispiel <strong>der</strong><br />

adressaten- bzw. nutzerorientierten Handlungskonzeptionen


System und Subjekt 253<br />

und Methodologien die Präsenz subjektzentrierter Annahmen<br />

innerhalb <strong>der</strong> Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong> skizziert und<br />

nach den Gründen <strong>der</strong> hierbei weitgehend ausbleibenden<br />

Thematisierung subjektkritischer Einwände – o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en De-<br />

Thematisierung – gefragt. Daran anschließend werden zentrale<br />

Aspekte <strong>der</strong> einflussreichsten subjektkritischen Methodologie,<br />

<strong>der</strong> Luhmannschen Systemtheorie, und <strong>der</strong>en Rezeption diskutiert.<br />

Auf dieser Basis kann dann deutlich gemacht werden, dass<br />

die weitgehende Aus- und Überblendung des subjektkritischen<br />

Potenzials in <strong>der</strong> sozialpädagogischen Rezeption einerseits auf<br />

grundlegende Theorieprobleme dieser Bezugstheorie und an<strong>der</strong>erseits<br />

stellvertretend auf die immense Verstrickung sozialpädagogischer<br />

Konzepte mit subjektzentrierten Vorstellungen<br />

verweist. Vor diesem Hintergrund wird abschließend eine praxistheoretische<br />

Erweiterung subjektkritischer Perspektiven –<br />

allerdings weniger im Anschluss an die systemtheoretischen<br />

denn die machtanalytischen Formate – angedeutet. Ein solcher<br />

Zugang bietet Ansatzpunkte an für eine angemessene – wissenschaftlich-analytische<br />

wie fachlich-professionelle – Reaktion<br />

auf die subjektkritischen Einwände <strong>der</strong> letzten Jahre an, so die<br />

hier vertretene These.<br />

<strong>Aktuelle</strong> Subjekt-Konjunktur(en)<br />

in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Adressaten-, konsumenten- und nutzerorientierte Ansätze und<br />

Methodologien stellen die Annahme eines zumindest potenziell<br />

einheitlichen Subjekts an den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen.<br />

In diesem Sinne setzen entsprechende Konzeptionen sozialpädagogischer<br />

Intervention »das Subjekt« als Startpunkt voraus<br />

– sie unterstellen damit das Modell eines zentrierten<br />

Subjekts. Soziale <strong>Arbeit</strong> habe es »in <strong>der</strong> Regel mit Menschen zu<br />

tun«, so formulieren Bitzan, Bolay und Thiersch (2006: 7) diese<br />

Annahme in ihrer einführenden Darstellung zu ihrem aktuellen


254<br />

System und Subjekt<br />

Sammelband Die Stimme <strong>der</strong> Adressaten. Für ein dementsprechendes<br />

fachliches Handeln sei daher, so schließen sie an, ein<br />

»Wissen aus <strong>der</strong> ›Innenperspektive‹ <strong>der</strong> Subjekte« erfor<strong>der</strong>lich<br />

(ebd.). Gertrud Oelerich und Andreas Schaarschuch schreiben<br />

in ihrem Versuch <strong>der</strong> Grundlegung einer sozialpädagogischen<br />

Nutzerforschung in analoger Weise davon, dass innerhalb <strong>der</strong><br />

sozialpädagogischen Nutzerforschung »die Nutzerinnen und<br />

Nutzer als aktive Subjekte konzipiert« würden (Schaarschuch/<br />

Oelerich 2005: 16). 2<br />

Für die Autorinnen und Autoren dieser Ansätze scheinen somit<br />

Mensch, Nutzer und Subjekt synonyme Begriffsbestimmungen<br />

für den als einheitlichen Aktanten angenommenen direkten<br />

Adressaten/die direkte Nutzerin sozialpädagogischer Dienstleistungsangebote.<br />

Vor dem Hintergrund <strong>der</strong> zeitgleichen<br />

Fokussierung und Infragestellung einer solchen zentrierten und<br />

präskriptiven Subjektfigur ruft eine solche Setzung aktuell nach<br />

Erläuterung. Denn gerät die dringend notwendige fachpolitische<br />

Abgrenzung sozialpädagogischer Strategien von den semantisch<br />

und konzeptionell häufig analogen neo-sozialen und neo-liberalen<br />

Subjektivierungsprogrammen (Versprechen einer Allzugänglichkeit<br />

differenter Lebensstile und Aktivierung von Eigenverantwortung)<br />

nicht manches Mal zum Problem, wenn nun<br />

sozialpädagogisch wie »aktivierungspädagogisch« (Kessl 2006)<br />

die Selbsttätigkeit »des Subjekts« zum Ausgangs- wie Zielpunkt<br />

<strong>der</strong> jeweiligen Interventionsprogramme erklärt wird? Dieses<br />

Dilemma ist den Autoren/innen adressaten- o<strong>der</strong> nutzerorientierter<br />

Programme durchaus bewusst. So betonen Bitzan, Bolay und<br />

Thiersch in ihren abschließenden Überlegungen zur Adressatenforschung,<br />

dass »die Subjektperspektive in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

nicht ein Medium <strong>der</strong> noch zielgenaueren Bemächtigung <strong>der</strong><br />

AdressatInnen werden (dürfe)« (Bitzan/Bolay/Thiersch 2006²:<br />

284; vgl. Schaarschuch/ Oelerich 2005: 14ff.). Doch dieser<br />

Hinweis steht in einer eigenartigen Spannung zu <strong>der</strong> bereits<br />

zitierten adressatenorientierten Ausgangsannahme <strong>der</strong>selben<br />

Autoren/innen. 3 Wie ist das zu erklären?


System und Subjekt 255<br />

Zum einen scheint das Phänomen <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>sprüchlichen o<strong>der</strong><br />

sogar <strong>der</strong> De- und Nicht-Thematisierung subjektkritischer<br />

Einwände dem diesen Ansätzen unterliegenden politischen und<br />

berufsethischen Postulat geschuldet, das sich einer emanzipatorischen<br />

Perspektive verpflichtet sieht: Schaarschuch und<br />

Oelerich (2005: 19; vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch 2006 1 : 7) markieren<br />

das für ihr Modell einer sozialpädagogischen<br />

Nutzerforschung mit den Worten, es gehe um den »moralischen<br />

Anspruch <strong>der</strong> Nutzerinnen auf Anerkennung als aktiv handelnde<br />

Subjekte«. Diese Emanzipationspostulate basieren zum<br />

an<strong>der</strong>en auf spezifischen neo-marxistischen Denktraditionen,<br />

auf <strong>der</strong>en Basis diese Autoren/innen in verschiedenen praxis-,<br />

alltags- und aneignungstheoretischen Varianten argumentieren:<br />

Ihre argumentative Basis konkretisiert sich dementsprechend in<br />

Annahmen einer »Pseudokonkretheit« <strong>der</strong> Praxis (Kosik<br />

19896: 217; vgl. Bitzan/Bolay/Thiersch 2006²: 260ff.) o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

nur »einseitig(en) und unvollständig(en)« Aneignungsmöglichkeiten<br />

menschlicher Wirklichkeit (Leontjew 1971: 236; vgl.<br />

Schaarschuch/Oelerich 2005: 11). 4<br />

Die damit skizzierte aktuelle Konjunktur subjektzentrierter<br />

Annahmen in den Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong> ist also vor<br />

allem <strong>der</strong> spezifischen humanistischen Denktradition geschuldet,<br />

die das Subjekt als konstitutive autonome Handlungseinheit<br />

zugleich voraussetzt und durch emanzipatorische<br />

Interventionsstrategien freisetzen will. Ganz im Sinne des<br />

Vorwurfs, den vor allem Axel Honneth (vgl. 1985: 194f.) und<br />

Jürgen Habermas (1985/1998) Mitte <strong>der</strong> 1980er Jahre mit<br />

Verweis auf Michel Foucaults Überlegungen formuliert hatten,<br />

dass nämlich subjektkritische Überlegungen sich durch ihre<br />

machttheoretische Verkürzung auszeichneten, »vergesellschaftete<br />

Individuen nur als (...) die standardisierten Erzeugnisse<br />

einer Diskursformation« wahrzunehmen (ebd.: 343), scheinen<br />

auch diese Ansätze in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> das Projekt <strong>der</strong><br />

Aufklärung als subjektzentriertes pädagogisches Programm<br />

verteidigen zu wollen. Subjektkritische Einwände werden von


256<br />

System und Subjekt<br />

solchen Standpunkten aus schnell als Bedrohung dieser subjektkritischen<br />

Emanzipations- und Befreiungsprogramme angesehen.<br />

Auch manchen explizit machtanalytisch argumentierenden<br />

Autoren/innen im Feld <strong>der</strong> Wissenschaft Sozialer <strong>Arbeit</strong> ist<br />

es angesichts <strong>der</strong> vor allem Foucault zu gerechneten<br />

Subjektkritik nicht ganz geheuer. Sie plädieren zwar dafür, das<br />

machtanalytische Potenzial zu nutzen, wenden aber zugleich<br />

ein, dass man damit allzu schnell in die Gefahr gerate, (politische)<br />

Rationalitäten und (Subjekt)Praktiken in eins zu setzen<br />

und damit die »Eigensinnigkeit des Handelns gegenüber den<br />

Programmatiken« auszublenden (Stövesand 2007: 286).<br />

System und Subjekt, so könnte man diese Lesart zuspitzen, fielen<br />

aber eben nicht in eins, was eine solche totalisierende<br />

Machtperspektive aber allzu leicht nahelege, wie beispielsweise<br />

die Studien zur Gouvernementalität vorlegten (kritisch<br />

dazu: Kessl 2007: 217ff.). Daher sei auch nicht weniger als eine<br />

subjekttheoretische Re-Lektüre machtanalytischer Vorgehensweisen<br />

notwendig (vgl. auch Horlacher 2007).<br />

So berechtigt die Kritik im Einzelnen und gegenüber einzelnen<br />

Aspekten machtanalytischer Studien ist, so problematisch ist<br />

sie zugleich. Denn solche Positionen kommen zugleich in die<br />

Gefahr, die konstitutive Relationalität »<strong>der</strong> Natur« zu übersehen<br />

bzw. analytisch nicht fassen zu können – o<strong>der</strong> wie es<br />

Etienne Balibar (1991: 63) in seiner vergleichenden Lektüre<br />

Marxscher und Foucaultscher Überlegungen mit Blick auf die<br />

marxistischen Denktraditionen verdeutlicht, allzu schnell »von<br />

<strong>der</strong> Materialität <strong>der</strong> Körper« auf die »Idealität des Lebens«<br />

überzugehen.<br />

Nicht zuletzt fehlt bereits in den sozialphilosophischen<br />

Einwänden, wie sie hier mit dem Verweis auf Honneth und<br />

Habermas angedeutet werden, eine explizite Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit dem post-aufklärerischen, post-kritischen und posthumanistischen<br />

Anspruch und dem entsprechenden Transformations-<br />

und Subversionspotenzial solcher Perspektiven: 5<br />

Dieser Hinweis könnte nun nicht nur miss-, son<strong>der</strong>n auch als


System und Subjekt 257<br />

deutlich verkürzt verstanden werden, wenn er nicht auch mit<br />

einer Problematisierung solcher subjektkritischen Deutungsangebote<br />

selbst verbunden würde. Denn diese können zum<br />

einen in die Gefahr geraten, das Potenzial <strong>der</strong> Aufklärung allzu<br />

schnell zu verschenken und zum an<strong>der</strong>en lösen sie den – von<br />

uns im Anschluss an erkenntnis- und subjektkritische Herangehensweisen<br />

– beanspruchten radikal relationalen und praxisanalytischen<br />

Zugang keineswegs per se ein. Das soll im<br />

Folgenden, wie bereits angedeutet, am Beispiel <strong>der</strong> in den<br />

Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong> in den letzten Jahren beson<strong>der</strong>s<br />

einflussreichen subjektkritischen, nämlich systemtheoretischen<br />

Methodologie verdeutlicht werden.<br />

Vom handelnden Subjekt zum handelnden System<br />

Niklas Luhmann for<strong>der</strong>t in seinen Überlegungen zur<br />

Grundlegung einer konstruktivistischen Weltordnung eine<br />

generelle Aufgabe <strong>der</strong> »Denkfigur Subjekt«. Der Mensch sei<br />

nur mehr als Umwelt sozialer Systeme – das heißt einzelner<br />

Funktionssysteme, wie Wirtschaft, Recht o<strong>der</strong> Bildung – zu<br />

erfassen und dabei selbst in eine dreifache Systemaufteilung zu<br />

splitten: in ein physisches, ein psychisches und ein soziales<br />

System (vgl. Luhmann 2002: 256). Für eine sozialpolitische<br />

und damit auch sozialpädagogische Perspektive entscheidend<br />

sei diese Annahme, weil damit die Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong><br />

»letztlich für keines <strong>der</strong> Funktionssysteme mehr als Personen<br />

relevant« seien (Hillebrandt 2004: 132). Das Individuum ist<br />

vielmehr nur mehr hinsichtlich des spezifischen Aspekts eines<br />

einzelnen Funktionssystems teil-integriert (Inklusion) und<br />

damit hinsichtlich dieses Aspekts zugleich aus an<strong>der</strong>en<br />

Teilsystemen ausgeschlossen (Exklusion). In den mo<strong>der</strong>nen,<br />

funktional differenzierten Gesellschaften ist somit, nach<br />

Luhmann, das Individuum nie mehr in ein Funktionssystem<br />

komplett inkludiert, da Funktionssysteme eben immer nur noch


258<br />

System und Subjekt<br />

spezifische, einzelne Bedürfnisse als relevant anerkennen und<br />

an<strong>der</strong>e Bedürfnisse in alternative, dafür zuständige Systeme<br />

verweisen (vgl. Scherr 2004: 57ff.). Diese auf den ersten Blick<br />

scheinbar radikal innovative Theoriearchitektur auf dem<br />

Fundament einer Annahme funktional differenzierter, mo<strong>der</strong>ner<br />

Gesellschaften erweist sich auf den zweiten Blick allerdings als<br />

ein, wenn auch beeindrucken<strong>der</strong> Taschenspielertrick: Luhmann<br />

überträgt nämlich die bisherige Figur des Subjekts, aber auch<br />

die damit verbundenen systematischen Probleme »einfach« auf<br />

die Figur des Systems.<br />

Luhmanns Denkmodell unterliegt eine relativ schlichte und<br />

wohl gerade deshalb so überzeugungskräftige analytische<br />

Operation: Mit <strong>der</strong> System/Umwelt-Unterscheidung macht er<br />

soziale Zusammenhänge auf einer erhöhten Abstraktionsebene<br />

neu kategorisierbar (vgl. Luhmann 2005: 7). Damit scheint es<br />

Luhmann möglich, »zahlreiche Denkgewohnheiten« zu durchschneiden,<br />

indem er systemtheoretisch <strong>der</strong>en Anteile auf die<br />

»eine bzw. die an<strong>der</strong>e Seite dieser (systemischen; F.K.)<br />

Grenzlinien verteilt« (ebd.). 6 Nicht nur das damit mögliche<br />

»totalisierende Ordnungsdenken« (vgl. Demirovic 2001: 16) ist<br />

theorie-architektonisch beeindruckend, son<strong>der</strong>n vor allem auch<br />

die damit verbundene Möglichkeit, das »Eigentliche« <strong>der</strong><br />

Soziologie freizulegen und zu reinigen: das soziale System. Nie<br />

zuvor schien es so pur präsentiert werden zu können – frei von<br />

damit verbundenem o<strong>der</strong> gar eingewobenem »humanistischen,<br />

leiblichen, ästhetischen o<strong>der</strong> psychischen Ballast«. Die<br />

Möglichkeit eines solchen soziologischen Purismus, einer<br />

»purifizierte(n) Soziologie«, wie auch systemtheoretische<br />

Denker in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> formulieren (Scherr 2000: 71),<br />

scheint Luhmanns zentrale Motivation, wenn er seine<br />

Einwände gegen eine theoretische Integration <strong>der</strong> Subjektfigur<br />

formuliert (vgl. Luhmann 2002: 256).<br />

Diese »Befreiung« <strong>der</strong> Subjekte gelingt Luhmann aber eben nur<br />

dadurch, dass er nun die »Systeme« statt <strong>der</strong> »Subjekte« zu den<br />

bestimmenden Handlungseinheiten erklärt. »Das System« wird


System und Subjekt 259<br />

zum theorie-konzeptionellen Ausgangs- und Endpunkt: Statt<br />

<strong>der</strong> von Luhmann unseres Erachtens zurecht kritisierten, die<br />

Philosophie und anschließend die Human- und Sozialwissenschaften<br />

seit <strong>der</strong> die Aufklärung konstituierenden subjektzentrierten<br />

Perspektive haben wir es nun mit einer systemzentrierten<br />

zu tun. In Luhmanns Theoriekonstruktion handeln<br />

zwar nicht mehr die »Subjekte«, aber dafür die »Systeme« –<br />

auch wenn Luhmann den Handlungsbegriff durch die relativ<br />

schlichte semantische Transformation in den Begriff <strong>der</strong><br />

»Operation« zu überwinden sucht.<br />

Die zentrale Frage während <strong>der</strong> ersten Rezeptionsphase <strong>der</strong><br />

Luhmannschen Systemtheorie in den theorie-systematischen<br />

Diskussionen um Soziale <strong>Arbeit</strong> war daher auch diejenige nach<br />

<strong>der</strong> Möglichkeit einer Bestimmung Sozialer <strong>Arbeit</strong> als eines<br />

eigenständigen Funktionssystems (vgl. Baecker 1994; Merten<br />

1997: 86ff.; kritisch dazu: Bommes/Scherr 2000). Diese<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung scheint trotz <strong>der</strong> heftig geführten Debatten<br />

allerdings inzwischen ohne merklichen Wi<strong>der</strong>hall weitgehend<br />

verklungen. Stattdessen wurde aber eine zweite Rezeptionsphase<br />

eingeläutet. 7 Im Zentrum steht nun, so lässt sich aus <strong>der</strong><br />

hier interessierenden Perspektive formulieren, eine Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit <strong>der</strong> Luhmannschen For<strong>der</strong>ung nach einer radikalen<br />

Auflösung des Subjekts. Diese For<strong>der</strong>ung geht die<br />

Mehrheit <strong>der</strong> systemtheoretisch argumentierenden AutorInnen<br />

so nicht mit (vgl. Merten 1997: 49ff.). Stattdessen erweitern<br />

diese Luhmanns funktionale Differenzierungstheorie um eine<br />

Perspektive auf soziale Ungleichheitsphänomene (vgl. Merten<br />

2004: 108, daran anschließend Kleve 2004: 173ff.) bzw. auf die<br />

Bedingungen von Exklusions- und Inklusionsprozessen (vgl.<br />

Scherr 2004: 69ff.; vgl. Bommes/Scherr 2000: 97). So schlägt<br />

Roland Merten die Einführung eines Begriffs <strong>der</strong> »Nicht-<br />

Inklusion« vor, womit er nichts an<strong>der</strong>es meint als den<br />

Ausschluss von Menschen aus allen relevanten Teilsystemen –<br />

eine für Luhmanns Systemtheorie an sich gar nicht denkbare<br />

Konstruktion (vgl. Kronauer 2002: 126ff.; Hillebrandt 2004:


260<br />

System und Subjekt<br />

132). Dass sich eine ganze Reihe <strong>der</strong> sozialpädagogischen<br />

Systemtheoretiker darüber hinwegsetzen, ist kein Zufall. Sie<br />

reagieren damit erstens auf einen Schwachpunkt <strong>der</strong><br />

Luhmannschen Systemtheorie selbst. Denn Luhmann neigt in<br />

seinen Überlegungen dazu, wie Peter Zima (2000: 331) verdeutlicht,<br />

»den Subjektbegriff mit dem individuellen o<strong>der</strong><br />

transzendentalen Subjekt zu identifizieren«. Damit verengt er<br />

die Subjektfigur aber kategorial in einer Weise, wie sie nicht<br />

einmal von explizit subjektzentrierten Ansätzen in Anspruch<br />

genommen wird. Diese individualistische Subjektkonstruktion<br />

scheint zugleich theorie-immanent konsequent, da Luhmann<br />

einen »radikalen Individualismus« (Luhmann 2002: 257) unterstellt,<br />

den gerade die <strong>Verlag</strong>erung <strong>der</strong> psychischen wie physischen<br />

Systeme als zentrale Bestandteile menschlicher Akteure<br />

in die Umwelt <strong>der</strong> Sozialsysteme möglich mache (kritisch dazu<br />

Merten 1997: 49).<br />

Das sich damit für eine Wissenschaft Sozialer <strong>Arbeit</strong> zweitens<br />

andeutende Problem ist die von Systemtheoretikern als immenser<br />

Vorteil präsentierte »unglaubliche Realitätsfähigkeit <strong>der</strong><br />

Systemtheorie« (Stichweh 1999: 62, zit. nach Demirovic 2001:<br />

24). Die Behauptung lautet, mit Luhmanns Systemtheorie<br />

könne man sich von kritisch-theoretischen Zugängen absetzen<br />

und diese »als ein Unterfangen vorwiegend normativen<br />

Gehalts« ausweisen (ebd.). Ohne nun an dieser Stelle auf das<br />

damit angedeutete Werturteilsproblem weiter einzugehen (vgl.<br />

dazu Ritsert 1996: 30ff.), ist festzuhalten, dass Luhmanns<br />

Systemtheorie gegenüber Positionen, die sich durch eine eingelagerte<br />

und nicht-explizierte Normativität ausweisen, zumindest<br />

auf den ersten Blick als radikal-kritischer Gegenentwurf<br />

gelesen werden könnte. 8 Könnten damit gerade für eine<br />

Wissenschaft Sozialer <strong>Arbeit</strong>, in <strong>der</strong>en Mittelpunkt die skeptische<br />

Rekonstruktion dieser Instanz <strong>der</strong> Lebensführungsregulierung<br />

und –regierung gehen sollte, systemtheoretische<br />

Ansätze von entscheidendem Wert sein? Denn einer<br />

Wissenschaft Sozialer <strong>Arbeit</strong> muss es um die sozialen Praktiken


System und Subjekt 261<br />

<strong>der</strong> beteiligten Akteure gehen, und zwar hinsichtlich ihrer<br />

Regulierung und Regierung, denn genau das ist <strong>der</strong> Auftrag<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong>. Und könnten daher systemtheoretische<br />

Instrumente, wie »Formbegriffe, die auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Relationierung<br />

von Relationen angesiedelt sind« (Luhmann 1987: 26)<br />

nicht sehr hilfreich sein? Erinnert Luhmanns Hinweis, dass<br />

Systeme wie <strong>der</strong>en Umwelt jeweils nur das sein können, was<br />

sie »im Bezug auf das jeweils an<strong>der</strong>e (sind)« (ebd.: 244) nicht<br />

deutlich an relationale und eben auch explizit macht- und herrschaftssensible<br />

Zugänge (vgl. Appadurai 1996)? Tatsächlich<br />

weist diese systemtheoretische Annahme – zumindest auf den<br />

ersten Blick – durchaus Strukturanalogien zu explizit machtund<br />

herrschaftssensiblen Ansätzen auf, in denen davon ausgegangen<br />

wird, dass Herrschaftsverhältnisse nur in Form von<br />

»materiell verdichteten Kräfteverhältnissen«, so Poulantzas<br />

(2002) Bestimmung des Staats, bzw. als ein Feld blockierter<br />

Machtbeziehungen (Foucault 1984: 11), angemessen zu erfassen<br />

seien. Und definiert nicht Luhmann »Herrschaftspositionen«<br />

als »Grenzstellen des Systems«, von denen aus<br />

»eine entsprechende Ausstattung mit Macht und mit<br />

Kompetenzen legitimier(t werde)« (Luhmann 1987: 280)?<br />

Die Schwierigkeit, Luhmanns Überlegungen als theorie-systematische<br />

Grundlage für eine radikal relationale und damit<br />

macht- und herrschaftssensible Perspektive zu nutzen, ist, dass<br />

systemtheoretisch nicht nur eine relationales, son<strong>der</strong>n auch ein<br />

relativistisches Deutungsangebot gemacht wird. Und damit<br />

beginnt das systematische Problem: Das Phänomen einer, wenn<br />

auch nur historisch-spezifischen Fixierung <strong>der</strong> Systemgrenzen,<br />

einer Herrschaftspositionierung also, wird von Luhmann theorie-architektonisch<br />

ausgeschlossen: »Erst wenn die Sinngrenzen<br />

die Differenz von System und Umwelt verfügbar halten,<br />

kann es die Welt geben« (ebd.: 283). Diese gegen einen<br />

Parsonianischen Strukturfunktionalismus zwar überzeugend<br />

argumentierende For<strong>der</strong>ung, die ein Modell flexibler Grenzen<br />

beansprucht, verschattet aber zugleich den analytischen Blick


262<br />

System und Subjekt<br />

auf Herrschaftsverhältnisse. Denn diese realisieren sich gerade<br />

als Fixierung von historisch-spezifischen Formaten eines<br />

bestimmten Musters von Systemgrenzen. Luhmanns Begründung<br />

für diese Annahme ist, dass er das Prinzip <strong>der</strong><br />

Selbstreferentialität absolut setzt, die Systemtheorie also auf<br />

<strong>der</strong> Annahme einer »autopoietischen Abkapselung« basiert<br />

(Zima 2000: 342). Entscheidend und konstitutiv für die Welt<br />

sind demnach die Logiken <strong>der</strong> Einzelsysteme und nicht <strong>der</strong>en<br />

Verschränkung o<strong>der</strong> Verkopplung (vgl. Luhmann 1995: 174).<br />

Gerade in diesen Verschränkungen, Grenzfixierungen o<strong>der</strong> -<br />

verän<strong>der</strong>ungen zeigen sich aber die historisch-spezifischen<br />

Macht- und Herrschaftsverhältnisse.<br />

Damit verweigert sich Luhmann einer macht- und herrschaftskritischen<br />

Perspektive und sein Relationalitätspostulat wird eindimensional,<br />

weil Relationen in seiner Theorie autopoietischer<br />

Systeme in diesen und <strong>der</strong>en konstitutiven Selbstreproduktionslogik<br />

ihren Ausgangspunkt nehmen und immer wie<strong>der</strong><br />

an diese zurückgebunden bleiben. Ganz im Gegensatz zu herrschaftskritischen<br />

Zugängen, beispielsweise in machtanalytischer<br />

o<strong>der</strong> neo-marxistischer Variante. Denn diese fokussieren gerade<br />

auf den »Gesamteffekt dieser Beweglichkeiten« (Foucault 1999:<br />

114), das heißt gerade die Gestalt und vor allem die<br />

Gestaltungsformierung <strong>der</strong> Herrschaftspositionen: Die Grenzstellen,<br />

die Grenzreproduktionen und damit die Bearbeitung <strong>der</strong><br />

Grenzen »<strong>der</strong> Systeme«, um nochmals Luhmanns Terminologie<br />

zu verwenden, rücken dann in den analytischen Fokus. »Situationen<br />

<strong>der</strong> Missachtung«, wie sie für die Soziale <strong>Arbeit</strong> konstitutiv<br />

sind, weil diese das Ergebnis frem<strong>der</strong> und eigener Regulierungs-<br />

und Regierungsstrategien darstellen, entstehen eben<br />

genau dann, »wenn es soziale Akteure gibt, die die Macht haben,<br />

bestimmten Bevölkerungsgruppen die soziale Anerkennung zu<br />

verweigern« (Hillebrandt 2004: 136). Systemtheoretisch ist<br />

durch den Verweis auf die je »eigene Gesellschaftsbeschreibung«<br />

<strong>der</strong> einzelnen Funktionssysteme eine solche<br />

Analyseperspektive ausgeschlossen (Luhmann 1995: 147).


System und Subjekt 263<br />

System, Subjekt und Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

Gemeinsam ist konstruktivistischen wie machtanalytischen<br />

Zugängen also, dass sie auf die Notwendigkeit einer radikalen<br />

Dezentrierung des zentrierten Subjektmodells aufmerksam<br />

machen können: Das Subjekt ist nicht mehr »Herr im eigenen<br />

Haus« (®i¾ek 2004). Dieser Hinweis ist gerade angesichts <strong>der</strong><br />

konstitutiven Einlagerung subjektzentrierter Annahmen in traditionelle<br />

wie aktuelle Konzepte Sozialer <strong>Arbeit</strong> entscheidend –<br />

und findet bisher, wie <strong>der</strong> Verweis auf jüngere adressaten- und<br />

nutzerbezogene Konzepte gezeigt hat, zu wenig Berücksichtigung.<br />

Während allerdings konstruktivistische Zugänge im<br />

Sinne <strong>der</strong> Luhmannschen Systemtheorie aus dieser Einsicht<br />

eine Verschiebung <strong>der</strong> menschlichen Akteure in die Außenwelt<br />

<strong>der</strong> Funktionssysteme und zugleich die Rollenübernahme durch<br />

die Systeme vorschlagen, geht es machtanalytischen<br />

Vorgehensweisen um den Hinweis auf die differenten, historisch-spezifischen<br />

Konstruktionsmodi <strong>der</strong> Subjektivierung<br />

selbst. Machtanalytische – wie auch dekonstruktive – Ansätze<br />

basieren also auf <strong>der</strong> Annahme, dass man das »Subjekt nicht als<br />

schlechthin Erstes ansetzen« kann, denn es »gehorcht vielleicht<br />

einem Subjektprinzip, ist aber keines« (Waldenfels 1987: 115)<br />

– und genau dieses Prinzip gilt es jeweils historisch-spezifisch<br />

zu rekonstruieren. Für die Wissenschaft Sozialer <strong>Arbeit</strong> heißt<br />

das aktuell, die in den entstehenden post-wohlfahrtsstaatlichen<br />

Gesellschaften (vgl. Beiträge in Bütow/Chassé/Hirt 2007;<br />

Kessl/Otto 2008/i.E.) dominierenden Subjektivierungsweisen<br />

in den Blick zu nehmen und <strong>der</strong>en Regelmäßigkeiten nachvollziehbar<br />

und transparent deutlich zu machen – vor allem in<br />

Bezug auf die damit verbundene Ermöglichung o<strong>der</strong><br />

Verunmöglichung von Handlungsoptionen für die direkten<br />

Nutzerinnen und Adressaten. Für die Soziale <strong>Arbeit</strong> als professionelle<br />

– und damit als pädagogische wie politische – Akteurin<br />

sollte das unseres Erachtens heißen, sich ihrer selbst als Instanz<br />

<strong>der</strong> (Re)Produktion dieser Subjektivierungsweisen zu begreifen


264<br />

und das eigene Tun dementsprechend skeptisch auf die eigenen<br />

Regulierungs- und Regierungsaktivitäten zu befragen.<br />

Einer sich (gesellschafts)kritisch verstehenden Soziale <strong>Arbeit</strong>,<br />

wie sie dieses Handbuch zu beför<strong>der</strong>n versucht, kann es daher<br />

nicht um die Vermittlung eines scheinbar gegebenen Verhältnisses<br />

von System und Subjekt (Individuum und Gesellschaft),<br />

nicht um einen scheinbar eindeutigen Perspektivwechsel von<br />

<strong>der</strong> systemischen auf die subjektive Ebene (Subjektorientierung),<br />

nicht um eine Substitution <strong>der</strong> autonomen Subjektfigur<br />

durch die (Funktions)Systemfigur (Systemtheorie), son<strong>der</strong>n<br />

sollte es um die analytische wie professionelle<br />

Inblicknahme und Bearbeitung <strong>der</strong> historisch-spezifischen<br />

Formate <strong>der</strong> Subjektivierung gehen.<br />

Anmerkungen<br />

System und Subjekt<br />

1 Mit dem Begriff <strong>der</strong> Subjektzentrierung werden im Folgenden<br />

Deutungsweisen kategorisiert, die das Subjekt als gegebenen, relativ<br />

autonom aktionsfähigen Einzel-Aktanten theorie-systematisch<br />

(Descartsches Cogito Ergo Sum) wie -politisch (klassischer<br />

Humanismus) voraussetzen. Demgegenüber wenden subjektkritische<br />

Perspektiven in <strong>der</strong> erkenntniskritischen Denktradition von Friedrich<br />

Nietzsche, Sigmund Freud und Martin Heidegger ein, dass eine solche<br />

Annahme in ihrer immanenten Metaphysik stecken bleibe (vgl.<br />

Derrida 1976: 21ff.) und demgegenüber ein de-zentrierter<br />

Subjektbegriff gedacht werden müsse: »Es kommt also dazu, daß die<br />

Gegenwart (...) nicht mehr als die absolute Matrixform des Seins,<br />

son<strong>der</strong>n als eine ›Bestimmung‹ und ein ›Effekt‹ gesetzt wird« (ebd.:<br />

23).<br />

2 Ähnliches ist auch für die jüngsten Versuche <strong>der</strong> Etablierung einer<br />

sozialpädagogischen Agency-Forschung zu konstatieren, wenn die<br />

Vertreter/innen davon sprechen, dass »Personen (...) UrheberInnen<br />

ihrer Handlungen (sind)« (Hirschler/Homfeldt 2006: 46).<br />

3 In den aktuellen Versuchen zur Grundlegung einer sozialpädagogi-


System und Subjekt 265<br />

schen Agency-Forschung (vgl. Anmerkung 2) deutet sich die<br />

Diskussion des zugrunde gelegten Subjektbegriffs zwar an manchen<br />

Stellen an, wenn beispielsweise Hans-Günther Homfeldt, Wolfgang<br />

Schröer und Cornelia Schweppe (2007: 245) aktuell im Anschluss an<br />

Christian Reutlingers <strong>Arbeit</strong>en für eine kritische Perspektive auf soziale<br />

Entwicklung plädieren, die nicht nur die Selbstentwicklung, son<strong>der</strong>n<br />

auch das »Entwickelt-Werden« <strong>der</strong> Menschen in den Blick nehme, und<br />

außerdem die Begrenzung <strong>der</strong> sozialpädagogischen Biografie- und<br />

Nutzerforschung auf »die biografische Verarbeitung von sozialpädagogischen<br />

Programmen« kritisieren (ebd.: 247). Allerdings ist <strong>der</strong> von<br />

ihnen beanspruchte Analysefokus auf eine soziale Einbettung <strong>der</strong><br />

Akteure statt eines Fokus auf »immanente individuelle Fähigkeiten«<br />

eine zugespitzte Dichotomie, die nicht nur hinter die immanenten subjekttheoretischen<br />

Grundannahmen <strong>der</strong> meisten vorliegenden Biografieund<br />

Nutzerforschungsprojekte zurückfällt, son<strong>der</strong>n auch für eine<br />

Aufnahme subjektkritischer Einwände unzureichend bleibt – das illustriert<br />

die gleichzeitige Formulierung subjektzentrierter Annahmen <strong>der</strong><br />

Agency-Protagonisten selbst (vgl. Anmerkung 2).<br />

4 Die Frage nach möglichen Gründen wird noch dadurch provoziert,<br />

dass einzelne <strong>der</strong> benannten AutorInnen bereits vor fast 20 Jahren<br />

selbst wegweisende, wenn auch (bisher) wenig rezipierte, <strong>Arbeit</strong>en zu<br />

einer subjektkritischen Perspektive in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> vorgelegt<br />

haben (vgl. Bolay/Trieb 1988).<br />

5 Anspruch dieser Perspektiven ist es, die Ereignishaftigkeit von<br />

Praktiken und die Regelmäßigkeiten des Sag- und Sichtbaren zu<br />

rekonstruieren (vgl. Waldenfels 2004), um dessen nur regionale<br />

Gültigkeit auszuweisen, seine immanenten Ausschlussformen aufzudecken<br />

und die Grenzen zu markieren, an denen manches als Fremdes<br />

zurückgewiesen wird, um <strong>der</strong> Identität des Einheimischen seine<br />

Legitimität zu verleihen.<br />

Mindestens in Bezug auf die <strong>Arbeit</strong>en von Axel Honneth ist die<br />

Einschätzung <strong>der</strong> Ausblendung dieser Perspektiven inzwischen zu<br />

modifizieren, da er sich in den letzten Jahren explizit mit <strong>der</strong> jüngeren<br />

Rezeption machtanalytischer Vorgehensweisen auseinan<strong>der</strong>gesetzt<br />

hat (vgl. Honneth/Saar 2003).


266<br />

System und Subjekt<br />

6 Luhmanns selbst gestellte analytische Aufgabe ist enorm. Denn ihn<br />

treibt nicht weniger um, als die Erarbeitung einer universalen Theorie<br />

für das Soziale. Es gehe ihm, so formuliert er in <strong>der</strong> Einleitung zu<br />

Soziale Systeme, seines Grundrisses einer allgemeinen Theorie (sic!),<br />

um die »Universalität <strong>der</strong> Gegenstandserfassung in dem Sinne, daß<br />

sie als soziologische Theorie alles Soziale behandelt und nicht nur<br />

Ausschnitte« (Luhmann 1987: 9). Luhmanns Entwurf einer<br />

Systemtheorie ist daher auch in die Gruppe <strong>der</strong> »Supertheorien« einzuordnen,<br />

einem Theorietypus, <strong>der</strong> »totalisierend verfährt«<br />

(Demirovic 2001: 25), indem theoretische Gegenpositionen gleich<br />

integriert und re-interpretiert werden, das heißt »sich selbst und ihren<br />

Gegensatz selbst erklärt« (Luhmann 1978: 18, zit. nach Demirovic<br />

2001: 25). Auch diese Totalisierung kann theorie-architektonisch faszinieren,<br />

bleibt damit doch – zumindest dem eigenen Anspruch nach<br />

– keine systematische Lücke offen.<br />

7 Die vorgeschlagene Differenzierung in zwei Rezeptionsphasen ist<br />

nicht als eindeutige Chronologie <strong>der</strong> systemtheoretischen Debatten in<br />

<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> zu verstehen, son<strong>der</strong>n als analytische<br />

Differenzierung und Klarstellung. Denn die beiden unterschiedenen<br />

Rezeptionsstränge verlaufen teilweise parallel nebeneinan<strong>der</strong> her<br />

bzw. in gegenseitiger Verschränkung zum gleichen Zeitpunkt.<br />

8 Der konstitutive Ausgangspunkt einer radikal-relationalen Analyseperspektive<br />

sind die konfliktiven, ambivalenten, heterogenen und<br />

miteinan<strong>der</strong> verstrickten sozialen Praktiken, die zwischen Akteuren<br />

und Akteuren und »Dingen« (Bruno Latour) in ihrer permanenten<br />

(Re)Produktion existent werden. Theorie-systematisch knüpfen praxistheoretische<br />

Perspektiven (vgl. Reckwitz 2003) vor allem an neomarxistische<br />

Zugänge (Althusser; Poulantzas), machtanalytische<br />

Ansätze (Foucault; Studien zur Gouvernementalität), hegemonietheoretische<br />

Entwürfe (Laclau/Mouffe) und sprachanalytische Deutungsmuster<br />

(Wittgenstein; Derrida; Butler) an.


System und Subjekt 267<br />

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Vorsorge und Fürsorge<br />

Michael Opielka<br />

Das Begriffspaar »Vorsorge und Fürsorge« erinnert in seiner<br />

Anwendung auf das Feld <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> heute an ein weiteres,<br />

zeitgemäßer erscheinendes Begriffspaar, nämlich<br />

»Prävention und Kompensation«. Im Sinne eines sozialökologischen<br />

Nachhaltigkeitsdiskurses kommt dabei <strong>der</strong> Prävention<br />

(ex ante) ein höheres Prestige zu als <strong>der</strong> Kompensation (ex<br />

post), da erstere eine Kosten- wie eine Leidensverringerung<br />

erhoffen lässt. In <strong>der</strong> sozialpolitischen Begriffsgeschichte (dazu<br />

Kaufmann 2003) kommen »Vorsorge und Fürsorge« ganz ähnliche<br />

Bedeutungen, wenngleich sehr unterschiedliche Verwendungen<br />

zu. Üblicherweise wird am deutschen Fall eine<br />

institutionelle Trias von »Sozial-/Versicherung, Versorgung,<br />

Fürsorge« diskutiert, unterdessen von einigen AutorInnen um<br />

den vierten Institutionentyp <strong>der</strong> »BürgerInnenversicherung«<br />

erweitert (Opielka 2004). »Fürsorge« gilt dabei häufig als <strong>der</strong><br />

älteste Sozialpolitiktyp, zurückgehend auf frühneuzeitliche<br />

Versuche, die vor allem religiös basierte Armenfürsorge unter<br />

kommunal- o<strong>der</strong> zentralstaatlicher Aufsicht zu rationalisieren<br />

(z.B. Poor Laws, Speenhamland, Elberfel<strong>der</strong> System, Straßburger<br />

System). Der Begriff »Vorsorge« findet sich in <strong>der</strong><br />

Begriffsgeschichte bislang nicht systematisch eingeführt, kann<br />

aber einerseits mit den Systemprinzipien Sozialversicherung<br />

und Versorgung verknüpft werden, an<strong>der</strong>erseits aber auch diffus<br />

mit marktbasierten Ansparstrategien (z.B. Lebensversicherung)<br />

o<strong>der</strong> öffentlichen Infrastrukturinvestitionen. Das<br />

insoweit schillernde Begriffspaar »Vorsorge und Fürsorge« soll<br />

daher im Folgenden analytisch als Spannungsfeld nicht nur in<br />

einer Zeitachse vorher – nachher, son<strong>der</strong>n vor allem als analytische<br />

Kategorie zur Untersuchung des Spannungsverhältnisses<br />

von Sozialpolitik und Sozialer <strong>Arbeit</strong> gefasst werden: in beiden


272<br />

Vorsorge und Fürsorge<br />

Bereichen ist die Spannung von Prävention und Kompensation<br />

angelegt.<br />

Der Zusammenhang von Sozialpolitik und Sozialer <strong>Arbeit</strong> ist<br />

komplex. Zugleich nimmt die Soziale <strong>Arbeit</strong> im Gesamtgefüge<br />

des mo<strong>der</strong>nen Sozialstaats eine noch immer unterschätzte Rolle<br />

ein. In einem beeindruckenden Vergleich <strong>der</strong> Entwicklung sozialer<br />

Dienste in Deutschland, Frankreich und Großbritannien<br />

gelangt Thomas Bahle zu einem Ergebnis, das diese Unterschätzung<br />

auf den ersten Blick revidieren kann: »Ohne Zweifel<br />

beginnen sich überall die Beziehungen zwischen den wohlfahrtsstaatlichen<br />

Sicherungen und <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>swelt zu lösen, die<br />

als zentrales Erbe <strong>der</strong> Industriegesellschaft für den<br />

Wohlfahrtsstaat betrachtet werden können. Die sozialen<br />

Dienste spielen in dieser Hinsicht eine Pionierrolle, auch deshalb,<br />

weil sie niemals eng mit den Erwerbsstrukturen verbunden<br />

waren. Insofern können die Sicherungsformen, die sich<br />

heute in diesem Bereich ausprägen, durchaus modellgebend für<br />

an<strong>der</strong>e Bereiche des Wohlfahrtsstaates sein. (…) Nicht<br />

Klassenkonflikte und Statussicherung, son<strong>der</strong>n die Kooperation<br />

zwischen Akteuren und das Ziel <strong>der</strong> Gleichheit haben die sozialen<br />

Dienstleistungen langfristig geprägt. Auf dieser Grundlage<br />

könnte es dem Wohlfahrtsstaat gelingen, eine neue institutionelle<br />

Basis für das gegenwärtige Jahrhun<strong>der</strong>t zu finden.«<br />

(Bahle 2007, 31) Soziale <strong>Arbeit</strong> als Dienstleistung, genauer: als<br />

personenbezogene soziale Dienstleistungsarbeit (Olk/Otto<br />

2003) wird in dieser mo<strong>der</strong>nisierungstheoretischen Perspektive<br />

sozialpolitisch zentral und optimistisch positioniert. Allerdings<br />

zeigt ein genauerer Blick in Bahles Studie, dass die von ihm<br />

verwendete Typologie sozialer Dienste – stationär, teilstationär,<br />

Tageseinrichtung, ambulant mit den Funktionen Heilen,<br />

Pflegen, Wohnen, Betreuen, Erziehen, Beraten, Haushalt,<br />

Mobilität, Verpflegung – vor allem hoch standardisierte Dienste<br />

erfasst und ausdrücklich »nicht (…) die klassische ›multifunktionale‹<br />

und ›offene‹ Sozialarbeit, die von ihrem Grundverständnis<br />

her we<strong>der</strong> auf bestimmte Funktionen spezialisiert ist


Vorsorge und Fürsorge 273<br />

noch regelmäßig an einem festen Ort stattfindet« (Bahle 2007,<br />

37). Dieser Beschränkung des Begriffs <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

muss man jedoch aus zwei Gründen nicht folgen: ihr unterliegt<br />

eine Engführung, die mit <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> als Disziplin und<br />

Profession heute nicht mehr verbunden werden kann<br />

(Otto/Thiersch 2001); sie entspricht aber auch nicht einer vor<br />

allem im englischsprachigen Raum vertretenen Konzeption <strong>der</strong><br />

systematischen Verknüpfung von Sozialer <strong>Arbeit</strong> (social work)<br />

und »Sozialer Wohlfahrtspolitik« (Gilbert/Terrell 2005), einer<br />

Politik sozialer Dienste, die von Funktionen ausgeht und nicht<br />

von einem materialen Professionsmodell. Es erscheint daher<br />

möglich, Bahles politisch-analytisches Resümee als Ausgangspunkt<br />

für die folgenden Überlegungen heranzuziehen, zumal er<br />

sich in seiner <strong>Arbeit</strong> nicht mehr weiter mit <strong>der</strong> Professionsdimension<br />

beschäftigt. Dass »Kooperation zwischen Akteuren<br />

und das Ziel <strong>der</strong> Gleichheit« den Bereich sozialer Dienste prägen<br />

und diese damit eine Zukunftssignatur für die Sozialpolitik<br />

setzen, erscheint nämlich vielen BeobachterInnen hoch<br />

bedroht.<br />

Dies gilt vor allem dann, wenn seit Mitte <strong>der</strong> 1990er Jahre in<br />

<strong>der</strong> Sozialpolitik ein Wandel hin zu einer Politik <strong>der</strong><br />

»Aktivierung« beobachtet wird, <strong>der</strong> zunehmend zu einer<br />

Sozialpädagogisierung <strong>der</strong> Sozialpolitik zu führen scheint,<br />

allerdings weniger im Sinne eines emanzipativen, an<br />

Teilhaberechten orientierten Politikkonzepts, vielmehr als<br />

Maßgabe einer sozial-psychischen Steuerungsstrategie, die<br />

individuelle Einstellungen und habituelle Orientierungen einer<br />

umfassenden Marktorientierung unterwerfen möchte.<br />

Prävention wird dann als sozialtechnokratische Disziplinierung<br />

gefasst. Dabei wird ein neuer sozialpolitischer Gouvernementalismus,<br />

eine Reorientierung <strong>der</strong> Staatstätigkeit hin zu einem<br />

»manageriellen Staat« (Rüb 2003) wahrgenommen, <strong>der</strong> die<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> selbst auf die Durchsetzung von Marktstrategien<br />

hin diszipliniert (Kessl 2005). Diese umfassende »Transformation<br />

of the Welfare State« (Gilbert 2002) lässt freilich fra-


274<br />

Vorsorge und Fürsorge<br />

gen, ob es nicht doch Sozialpolitikkonzepte geben könnte und<br />

ob möglicherweise bereits Anzeichen hierfür zu erkennen sind,<br />

die <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> nicht nur quantitativen Zuwachs, son<strong>der</strong>n<br />

auch teilhabeorientierte Qualitäten versprechen.<br />

Ich möchte dieser Problemstellung in drei Schritten nachgehen.<br />

Im ersten Schritt werde ich die ambivalente Beziehung von<br />

Sozialpolitik und Sozialer <strong>Arbeit</strong> untersuchen und eine<br />

Triangulation <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> aus sozialpolitischer und<br />

soziologischer Sicht vorschlagen. Im zweiten Schritt werde ich<br />

dies für die sozialpolitische Perspektive durchführen und im<br />

dritten einige Anfor<strong>der</strong>ungen an die Professionalität Sozialer<br />

<strong>Arbeit</strong> in einer Bürgergesellschaft skizzieren. Der Optimismus<br />

<strong>der</strong> folgenden Überlegungen speist sich aus einer analytischen<br />

Differenzierung. Ich schlage vor, die in <strong>der</strong> bisherigen<br />

Diskussion zum Verhältnis von Sozialpolitik und Sozialer<br />

<strong>Arbeit</strong> vorherrschende Dichotomisierung Markt-Staat bzw.<br />

Trias von Markt-Staat-Gemeinschaft (wobei statt dem soziologischen<br />

Steuerungsmodus Gemeinschaft auch von Kooperation,<br />

Solidarität o<strong>der</strong> »Dritter Sektor« die Rede ist), die sich<br />

auch in <strong>der</strong> Wohlfahrtsregimetypologie Gøsta Esping-<br />

En<strong>der</strong>sens (liberal-sozialdemokratisch-konservativ) nie<strong>der</strong>schlägt<br />

(Esping-An<strong>der</strong>sen 1990), zu erweitern: um einen vierten<br />

Regimetyp des »Garantismus«, <strong>der</strong> sich um Menschen- und<br />

Teilhaberechte und den Steuerungsmodus Ethik konstituiert<br />

(Opielka 2004, 2006). Die Frage lautet, ob ein solcher<br />

Regimetyp nicht nur eine sozialpolitische Perspektive aufweist,<br />

son<strong>der</strong>n hier vor allem, ob er einer <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> <strong>der</strong> Zukunft<br />

nützt. Die <strong>der</strong>zeit verwendeten Zukunftsbegriffe einer »aktivierenden«<br />

o<strong>der</strong> »investiven« Sozialpolitik werden im Licht <strong>der</strong><br />

»garantistischen« Wohlfahrtsregimekonzeption jedenfalls vorsichtig<br />

zu verwenden sein.


Vorsorge und Fürsorge 275<br />

1. Sozialpolitik und Soziale <strong>Arbeit</strong>:<br />

eine ambivalente Beziehung<br />

Die sozialpolitische Konstituierung <strong>der</strong> Sozialpädagogik hat<br />

Lothar Böhnisch bereits 1982 ziemlich genau formuliert: »Die<br />

Sozialpolitik bildet den historisch-politischen Horizont, vor<br />

dem sich die institutionelle Sozialpädagogik entfaltet und <strong>der</strong><br />

sie gleichzeitig begrenzt.« (Böhnisch 1982, 1) Zugleich diagnostizierte<br />

er: »Dass die Sozialpolitik <strong>der</strong> Zukunft über die<br />

›alte soziale Frage‹ hinaus zu einem verallgemeinerten<br />

Lebenslagenbezug und zu einer materiellen Politik sozialer<br />

Rechte werden muss und dann nicht mehr im Korsett sozialstaatlicher<br />

Balance agieren kann, ist eine historische<br />

Notwendigkeit.« (ebd., 153; Herv. M.O.) Jener mehr als ein<br />

Vierteljahrhun<strong>der</strong>t alte Optimismus aus <strong>der</strong> Frühzeit universitärer<br />

Sozialpädagogik erscheint heute gebrochen. So ruht<br />

Galuskes »Flexible Sozialpädagogik« (Galuske 2002) zwar auf<br />

einer systematischen Analyse <strong>der</strong> Sozialpolitik auf. Deutlich<br />

wird hier allerdings eine gegenüber dem frühen Böhnisch markant<br />

pessimistischere Zukunftsperspektive <strong>der</strong> Sozialpolitik,<br />

die um Codes wie Neoliberalismus und Bürgerarbeit kreist und<br />

<strong>der</strong> Sozialpädagogik wenig Positives ankündigt, eine sozialpolitische<br />

Konstituierung <strong>der</strong> Sozialpädagogik scheint wenig vorstellbar.<br />

Betrachten wir zur Überprüfung dieser Beobachtung<br />

den Diskurs um das Verhältnis von Sozialpädagogik und<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong>.<br />

Während die Soziale <strong>Arbeit</strong> zumindest theoretisch – und praktisch<br />

in vielen Län<strong>der</strong>n (Skandinavien, Großbritannien, teils in<br />

den USA) – ihren systematischen Bezug zur Sozialpolitik nicht<br />

verhehlt, scheint die Sozialpädagogik als erziehungswissenschaftliche<br />

Subdisziplin staatsfern: wie ihre große Schwester,<br />

die Schulpädagogik, verleugnet sie vor allem in Deutschland<br />

ihre Staats- und damit Politikkonstituierung und vergibt sich<br />

damit die Chance einer wahrheitsnäheren, also wissenschaftlichen<br />

Reflexion ihrer Konstituierung. Eine denkbare Lösung,


276<br />

Vorsorge und Fürsorge<br />

nämlich die Integration von Fachhochschul- und Universitätsausbildung<br />

in Professional Schools <strong>der</strong> Universitäten, unter<br />

mehr o<strong>der</strong> weniger dauerhafter Mitwirkung <strong>der</strong> Fachhochschulstrukturen,<br />

wird hierzulande noch wenig angedacht. Ein positives<br />

Beispiel ist das von Fabian Kessl als drittes Szenario einer<br />

Nach-Bologna-Entwicklung skizzierte Modell: »Fachhochschulen<br />

und Universitäten koordinieren ihre Bachelor- und<br />

Masterstudiengänge bundes- und landesweit. Die jeweils konkreten<br />

Kooperationsformen zwischen den beteiligten<br />

Hochschulen werden regional ausgehandelt und umgesetzt.<br />

(…) Der gemeinsam formulierte Slogan lautet: Für das kämpfen,<br />

was Wohlfahrtsstaatlichkeit sein könnte.« (Kessl 2006, 82)<br />

Kessl kann sich dabei auf die »Münsteraner Erklärung« des 6.<br />

Bundeskongresses Soziale <strong>Arbeit</strong> 2005 beziehen, in <strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>t<br />

wird, die »Qualifizierung des beruflichen Nachwuchses<br />

und die gemeinsame Weiterentwicklung Sozialer <strong>Arbeit</strong> durch<br />

›Schools‹ o<strong>der</strong> ›Departments‹ auf universitärem Niveau zu<br />

gewährleisten« (Münsteraner Erklärung 2005, 2). Dass Kessl<br />

diesem Szenario »am wenigsten Realisierungschancen« (Kessl<br />

2006, 83) gibt, liegt auch an <strong>der</strong> geringen Forschungsbasis <strong>der</strong><br />

Fachhochschulen, so dass die universitären Vertreter <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> Reputationsmin<strong>der</strong>ungen fürchten. Letztlich<br />

würde das Szenario bedeuten, die Fachhochschulen – zumindest<br />

<strong>der</strong>en Bereiche <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> – in diese Schools aufzulösen.<br />

Die österreichische und auch die schweizerische<br />

Hochschulpolitiken wie<strong>der</strong>holen seit den 1990er Jahren lei<strong>der</strong><br />

die deutschen Erfahrungen, sie bauen einseitig auf<br />

Fachhochschulen und vernachlässigen damit die akademische<br />

Präsenz <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>.


Vorsorge und Fürsorge 277<br />

2. Vorsorge und Fürsorge:<br />

Sozialpolitische Reflexion<br />

Sozialpolitik wurde und wird mit präventiven, also vorsorgenden<br />

Wirkungen begründet. Sie soll Kriminalität verhin<strong>der</strong>n,<br />

Demokratie und Frieden bewahren und Fundamentalismen<br />

überflüssig machen. Zudem soll sie nachgehende, reparierende<br />

und insoweit fürsorgende Interventionen vermeiden. Dahinter<br />

stehen zwei starke Annahmen, eine empirische und eine theoretische.<br />

Die starke empirische Annahme besteht darin, dass<br />

sozialpolitische Interventionen soziale Wirkungen haben. Die<br />

starke theoretische Annahme besteht in einem Standardkonzept<br />

gleichheitsorientierter Normalität, dessen Abweichungen<br />

Intervention begründen, wobei sich dabei noch eine sozialtechnokratische<br />

und eine sozialutopische Variante unterscheiden<br />

lassen. Befürworter und Kritiker bei<strong>der</strong> Annahmen finden sich<br />

in <strong>der</strong> sozialpolitischen, sozialpädagogischen und soziologischen<br />

Literatur.<br />

Eine Neuorientierung <strong>der</strong> Diskussionslage dürfte sich nach<br />

1989, dem Zusammenbruch <strong>der</strong> klassischen Kapitalismus-<br />

Kommunismus-Dualität, insoweit ergeben haben, als die<br />

Standardkonzepte von Normalität neu justiert wurden. Die<br />

sozialutopische Wirkungsvariante scheint erschöpft, <strong>der</strong><br />

Fortfall des kompetitiv sozialistischen Musters führte zu einer<br />

Reformulierung sozialreformerischer Programmatiken (»Workfare<br />

statt Welfare«, Mindest- statt Lebensstandardsicherungen,<br />

Marktsteuerung, investive Sozialpolitik usf.). Sie lassen sich als<br />

eine Konzentration sozialpolitischer Interventionen zugunsten<br />

von mehr o<strong>der</strong> eben weniger voraussetzungsvollen sozialen<br />

Garantien beschreiben. Allerdings müssen sich auch diese <strong>der</strong><br />

genannten empirischen und theoretischen Kritik stellen.<br />

Prävention wird dabei methodisch von Intervention abgegrenzt,<br />

unterliegt allerdings einem »generellen Gefährdungsverdacht«<br />

(Böllert 2001, 1397), weil Handlungs- und Verursachungsketten<br />

sozialer Probleme meist nicht eindeutig, Präventions-


278<br />

Vorsorge und Fürsorge<br />

bemühungen damit häufig unspezifisch angelegt sind. Am<br />

Beispiel von zwei Politikfel<strong>der</strong>n – Gesundheit und Armut –<br />

werden nun empirische und theoretische Annahmen kontrastiert:<br />

was genau wird unter sozialen Garantien bzw. sozialen<br />

Grundrechten in diesen Politikfel<strong>der</strong>n diskursiv verhandelt?<br />

Welche Präventionswirkungen werden damit jeweils verknüpft?<br />

Welche empirischen und welche theoretischen Evidenzen<br />

werden in den Diskursen vorgetragen? Welche Rolle<br />

spielen sozialpolitische Diskurse in diesem Zusammenhang?<br />

Im Gesundheitsbereich, <strong>der</strong> unterdessen (einschließlich <strong>der</strong><br />

Rehabilitation) zum zweitgrößten sozialpädagogischen<br />

<strong>Arbeit</strong>sfeld nach <strong>der</strong> Jugendhilfe wuchs (Schröer/Sting 2006,<br />

25ff.), lassen sich die stärksten Traditionen des Themas<br />

Prävention beobachten. Die Erwartungen an Leistungssteigerungen<br />

und Kostensenkungen durch Prävention sind<br />

hoch. Zugleich soll »hohe Lebensqualität« gesichert, wie eine<br />

Reduzierung von »20 bis 30 Prozent <strong>der</strong> heutigen<br />

Gesundheitsausgaben in Deutschland« (Klotz u.a. 2006, 608)<br />

ermöglicht werden. Der Präventionsdiskurs wird im Diskurs<br />

<strong>der</strong> neueren Medizin und Gesundheitswissenschaft als<br />

»Gesundheitsför<strong>der</strong>ung« geführt (Hurrelmann u.a. 2004), entfernt<br />

sich damit von verhaltensmoralischen und punitiven<br />

Diskursen, die auch in <strong>der</strong> sozialpädagogischen Literatur als<br />

körperbezogene Sozialdisziplinierung kritisch reflektiert wurden<br />

und werden (Hirschler/Homfeldt 2006). Möglicherweise<br />

hat <strong>der</strong> sozial- und gesundheitspolitische Diskurs auf jene<br />

Kritik reagiert und die individualistische Perspektive <strong>der</strong><br />

Lebensqualität dagegen in Anschlag gebracht. Allerdings haben<br />

sich seitdem auch die gesundheitspolitischen Koordinaten verschoben.<br />

Zunehmend erscheint das Problem <strong>der</strong> Rationierung,<br />

einer institutionalisierten Dauer-Triage die sozialpolitischen<br />

Garantien auf eine bestmögliche Gesundheitsversorgung für<br />

jede und jeden zu unterminieren. Bezogen auf unsere<br />

Fragestellung heißt das:


Vorsorge und Fürsorge 279<br />

• Der sozialpolitische Diskurs fokussiert auf Kostenbegrenzung;<br />

• Gesundheitsför<strong>der</strong>ung und Prävention sollen zugleich individuelle<br />

Lebensqualität und kollektive Kostensenkung<br />

organisieren. Eine Skalierung bei<strong>der</strong> Ziele und eine systematische<br />

Diskussion ihrer Optimierung geschieht kaum;<br />

• empirische und theoretische Evidenzen für die Wirksamkeit<br />

von Prävention sind hoch. Dies gilt allerdings eher<br />

für die Zieldimension Lebensqualität als für diejenige <strong>der</strong><br />

Kostensenkung;<br />

• sozialpolitische Diskurse scheinen von erheblicher Bedeutung.<br />

Die Integration beispielsweise <strong>der</strong> Gesundheitsför<strong>der</strong>ung<br />

in die Ausbildungsordnungen <strong>der</strong> medizinischen<br />

Profession (Hurrelmann u.a. 2004) kann als Langzeitergebnis<br />

<strong>der</strong> Präventionsdiskurse <strong>der</strong> 1970er und 1980er<br />

Jahre gelten.<br />

Die deutsche Dominanz von arbeitnehmerfinanzierten<br />

Sozialversicherungen und die Möglichkeit <strong>der</strong>en Mittel zu verteilen<br />

ohne in den sichtbareren Steuerhaushalt eingreifen zu<br />

müssen, reduzieren zwangsläufig die Reichweite von Prävention.<br />

Empirisch erweisen sich hier Systeme <strong>der</strong> Bürgerversicherung<br />

– wie in <strong>der</strong> österreichischen und schweizerischen<br />

Kassenfinanzierung (Opielka 2004, Carigiet/Opielka 2006) –<br />

o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> Steuerfinanzierung – wie in Großbritannien – als<br />

überlegen.<br />

Bereits das weiter oben genannte Zitat von Böhnisch zu einer<br />

»materiellen Politik sozialer Rechte« (Böhnisch 1982, 1) bezog<br />

sich auf soziale Garantien gegen Armut. Seitdem haben sich die<br />

Diskurse ausdifferenziert. Im sozialdemokratischen Mainstream<br />

<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Sozialpädagogik wird zwar die Exklusionsneigung<br />

des lohnarbeitszentrierten Sozialstaatsmodells<br />

reflektiert. Allerdings verbleiben die Konzepte sozialer<br />

Garantien gewöhnlich innerhalb dieses Modells, dessen mangelhafte<br />

armutspräventive Wirkung nicht zuletzt mit dem


280<br />

Vorsorge und Fürsorge<br />

Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht <strong>der</strong> deutschen<br />

Bundesregierung (2005) evident wurde.<br />

Starke Annahmen über präventive Wirkungen wurden mit den<br />

sozialdemokratischen Konzepten des »aktivierenden<br />

Sozialstaats« verbunden. Aktivierungskonzepte existieren<br />

jedoch in allen politischen Lagern, gleichwohl mit sehr unterschiedlichen<br />

Annahmen und Effekten. Die von Esping-<br />

An<strong>der</strong>sen mit dem Begriff <strong>der</strong> »Dekommodifizierung«<br />

beschriebene Zentralfunktion des mo<strong>der</strong>nen Wohlfahrtsstaates<br />

– die Reduzierung <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>smarktabhängigkeit <strong>der</strong> Ware<br />

(commodity) <strong>Arbeit</strong>skraft durch arbeitsmarktexterne<br />

Existenzsicherungsoptionen – (Esping-An<strong>der</strong>sen 1990), wurde<br />

durch die Aktivierungs-Agenda in eine Re-Kommodifizierung<br />

verdreht (<strong>der</strong>s. 2002).<br />

Entscheidend erscheint dabei die Alternativlosigkeit, mit <strong>der</strong><br />

diese Agenda im politischen wie im sozialpolitikwissenschaftlichen<br />

Kontext behauptet wird. Bezogen auf unsere<br />

Fragestellung heißt das:<br />

• Der Mainstream des neueren Armutsdiskurses rekonstruiert<br />

Armut im Wesentlichen als Mangel existenzsichern<strong>der</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>splätze. Durch »Aktivierung« und »workfare« soll<br />

eine umfassende Teilnahme bzw. Teilhabe am <strong>Arbeit</strong>smarkt<br />

und darüber die Beseitigung von Armut erreicht werden.<br />

Der hierzu alternative, »garantistische« Diskurs um<br />

Grundeinkommen bezweifelt mit dem Verweis auf die<br />

»Working Poor« die behauptete Integrationskraft des<br />

<strong>Arbeit</strong>smarktes für die Gesamtbevölkerung und empfiehlt<br />

auch deshalb eine Lockerung des <strong>Arbeit</strong>sbegriffs;<br />

• die Präventionswirkungen des »Aktivierungs«-Diskurses<br />

zielen auf die Wie<strong>der</strong>herstellung von Vollbeschäftigung,<br />

diejenigen des konkurrierenden Grundeinkommensdiskurses<br />

auf die Universalisierung sozialer Bürgerrechte;<br />

• empirische Evidenzen sind für beide Positionen wi<strong>der</strong>sprüchlich.<br />

Theoretische Evidenzen sprechen eher für die


Vorsorge und Fürsorge 281<br />

»garantistische« Position, da diese mit einer individualistischen<br />

und expressiven Sozialmoral mo<strong>der</strong>ner Bürger eher<br />

übereinstimmt;<br />

• sozialpolitische Diskurse konstituieren auch hier die politische<br />

Wirklichkeit.<br />

Insoweit sich die Soziale <strong>Arbeit</strong> dem Rekommodifizierungsprogramm<br />

wi<strong>der</strong>setzt, geschieht dies unter dem<br />

Verweis auf die Verletzung von Grundrechten. Irritieren<strong>der</strong>weise<br />

übersehen die meisten ihrer kritischen Vertreter (z.B.<br />

Cremer-Schäfer 2006, Dahme u.a. 2003), dass die von ihnen<br />

postulierte o<strong>der</strong> zumindest als verschwindend bedauerte »alte«,<br />

nämlich sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatlichkeit selbst<br />

fundamental an die Lohnarbeitszentrierung gebunden war. Die<br />

nun verstärkte Kopplung von <strong>Arbeit</strong>smarkt- und Sozialpolitik<br />

stellt insoweit nur eine Neuakzentuierung des <strong>Arbeit</strong>s- und<br />

Leistungsethos <strong>der</strong> produktivistischen <strong>Arbeit</strong>erbewegung um<br />

eine liberale Annahme des »Sieges des Kapitalismus« nach<br />

1989-90 dar. Eine wohlfahrtsregimetheoretische Verortung dieser<br />

Diskurse kann diese Unklarheiten min<strong>der</strong>n. Sie zeigt, dass<br />

die Garantie von Grundrechten bisher im Sozialstaat zu wenig<br />

entwickelt wurde. Amartya Sens in <strong>der</strong> Sozialpolitikdebatte<br />

zunehmend reüssieren<strong>der</strong> Fähigkeitenansatz (»capability<br />

approach«) erscheint vor diesem Hintergrund nicht einfach nur<br />

als eine Auflistung kluger Teilhabeansprüche ohne systematische<br />

Rangordnung (so Hirschler/Homfeldt 2006, 50), son<strong>der</strong>n<br />

als »garantistisches« Programm (Opielka 2004, 232), das gegen<br />

die Dominanz <strong>der</strong> etablierten Trias <strong>der</strong> Wohlfahrtsregime (sozialdemokratisch,<br />

liberal, konservativ) stark gemacht werden<br />

sollte.


282<br />

Vorsorge und Fürsorge<br />

3. Professionalität Sozialer <strong>Arbeit</strong><br />

in <strong>der</strong> Bürgergesellschaft<br />

In einem wi<strong>der</strong>sprüchlichen, keineswegs immer linearen,<br />

mo<strong>der</strong>nisierungstheoretischen Annahmen folgenden Prozess<br />

haben sich soziale Grundrechte auf die Agenda geschoben,<br />

meist bewusst intendiert durch soziale Akteure, nicht selten<br />

freilich als Nebenfolge rein funktional gedachter Entscheidungen.<br />

Es ist dieser komplexe Prozess, den »Neo-<br />

Institutionalisten« in <strong>der</strong> Soziologie und den Politikwissenschaften<br />

fokussieren und dabei feststellen, wie eine<br />

»Weltkultur« (Meyer 2005) entstand, die den Kern des<br />

»Europäischen Sozialmodells« kulturell einschließt – trotz<br />

scheinbarer Gegenbewegungen. Jener Kern ist die Gleichheit<br />

des Menschen, sind Freiheit und Solidarität, gleichsam die<br />

Werte <strong>der</strong> Französischen Revolution, von Christentum und<br />

Aufklärung, die sich in den Menschenrechten universalisierten<br />

und in an<strong>der</strong>en Kultur- und Religionskreisen auch deshalb auf<br />

Resonanz stoßen, weil sie die Wirklichkeit auf den Begriff bringen.<br />

Die beiden diskutierten Fragestellungen (Gesundheit,<br />

Armut) rekonstruierten sozialpolitische Wertkonflikte, die nicht<br />

nur zwischen individuellen und kollektiven Akteuren, son<strong>der</strong>n<br />

auch je in ihnen selbst beobachtet werden können (Meyer 2004,<br />

73; Opielka 2007).<br />

Die Soziale <strong>Arbeit</strong> befindet sich heute in einer unerfreulichen<br />

Opferrolle gegenüber Sozialreformen, die den sozialen Status<br />

ihrer Klienten abwerten. Der Grund für dieses tendenzielle<br />

Versagen liegt in ihrer Depolitisierung und ihrer Deprofessionalisierung.<br />

Depolitisierung deshalb, weil we<strong>der</strong> die<br />

praktischen noch die akademischen VertreterInnen <strong>der</strong><br />

Disziplin bewusst die Abwertung ihrer KlientInnen wollen,<br />

zugleich aber zu wenig politische Reflexivität gelehrt und kommuniziert<br />

wird. Deprofessionalisierung deshalb, weil die<br />

deutschsprachige Soziale <strong>Arbeit</strong> – ganz an<strong>der</strong>s als bspw. Social<br />

Work in den USA – ihre fehlende, auf die eher forschungs-


Vorsorge und Fürsorge 283<br />

schwachen Fachhochschulen begrenzte Akademisierung oft<br />

auch noch mit dem naiven Verweis auf Praxisnähe begrüßt. In<br />

einer Wissensgesellschaft ist damit die systemische Bedeutungsarmut<br />

programmiert.<br />

Der Trend zur Personenzentrierung, wie er in <strong>der</strong><br />

Sozialpsychiatrie und teils <strong>der</strong> Jugendhilfe zu beobachten ist,<br />

bietet daher unter dem Fokus Vorsorge und Prävention Chancen<br />

für eine kontextuierte und zugleich individualisierte Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong>. Eine Reihe neuer, auch in <strong>der</strong> Sozialgesetzgebung verankerter<br />

Instrumente wie <strong>der</strong> »Integrierte Behandlungs- und<br />

Rehabilitationsplan (IBRP)«, »Individuelle Hilfepläne (IHP)«,<br />

»Persönliche Budgets (PB)« und die »Hilfeplankonferenz<br />

(HPK)« sind Bestandteil einer Neuorientierung sozialer und<br />

gesundheitlicher Dienstleistungen, die von vielen Beobachtern<br />

als Ausdruck einer zunehmenden Marktorientierung verstanden<br />

werden, teils eingebaut in »Neue Steuerungsmodelle« vor<br />

allem <strong>der</strong> kommunalen Sozialpolitik wie »New Public<br />

Management (NPM)« und einer zielgesteuerten Unternehmensführung<br />

(Management by Objectives, MBO; Qualitätsmanagement)<br />

in sozialen Einrichtungen (Seim 2000, Otto/Schnur<br />

2000). Kritiker rechnen das Konzept <strong>der</strong> »Evidenzbasierten<br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>« umstandslos in die Kategorie <strong>der</strong> neoliberalen<br />

Refigurationen des <strong>Sozialen</strong> (Ziegler 2006). Doch lassen sich<br />

die Diskurse um eine Wirkungsorientierung <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

keineswegs ausschließlich neo-bürokratisch und neoliberal verorten,<br />

sie beinhalten auch die Chancen zu einer Neuformulierung<br />

von Professionalität Sozialer <strong>Arbeit</strong> (Otto 2007).<br />

Von beson<strong>der</strong>er Bedeutung für die Soziale <strong>Arbeit</strong> erscheint<br />

dabei das Instrument <strong>der</strong> Evaluation, insbeson<strong>der</strong>e in seiner<br />

Ausprägung als qualitative Evaluationsforschung (Opielka u.a.<br />

2007).<br />

Die gegenwärtig spürbare Beunruhigung unter den MitarbeiterInnen<br />

<strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong> hat ihre Ursache darin, dass<br />

hinter den neuen Entwicklungen letztlich fiskalische<br />

Sparinteressen stehen. Effizienzsteigerung durch bürokratische


284<br />

Vorsorge und Fürsorge<br />

Prozeduren wird bezweifelt. Der Grund liegt in einem<br />

Misstrauen gegenüber <strong>der</strong> »großen« Sozialpolitik. Dieses<br />

Misstrauen ist nicht unberechtigt. Seit Mitte <strong>der</strong> 1990er Jahre,<br />

nicht zufällig auch seit dem Ende <strong>der</strong> Ost-/West-Blockkonfrontation<br />

und dem weltweiten »Sieg des Kapitalismus«,<br />

hat sich in den westlichen Wohlfahrtsstaaten die Rhetorik<br />

»from welfare to workfare«, ein Paradigma <strong>der</strong> »Aktivierung«,<br />

eines »aktivierenden Sozialstaats« durchgesetzt (Opielka<br />

2004). Diese »Transformation des Wohlfahrtsstaats« (Gilbert<br />

2002) zielt darauf hin, die Erwerbs- o<strong>der</strong> besser: Lohnarbeitszentrierung<br />

<strong>der</strong> Sozialpolitik wie<strong>der</strong> verschärft durchzusetzen.<br />

Die VertreterInnen dieser Transformation wollen die<br />

Prozesse sozialpolitischer »Dekommodifizierung« rückgängig<br />

machen. Was in den politischen Diskursen als »neoliberal«<br />

bezeichnet wird, meint in <strong>der</strong> Regel den Kampf für ein möglichst<br />

liberales Wohlfahrtsregime, das auf Leistungsgerechtigkeit<br />

(am Markt) abhebt und die Idee <strong>der</strong> »Eigenverantwortung«<br />

verallgemeinert, auch wenn die Eigenkräfte<br />

ungleich verteilt sind.<br />

Hier liegt nun <strong>der</strong> Grund für das Unbehagen vieler politisch<br />

sensibler Mitarbeiter und Betroffener im Sozialbereich. Man<br />

spürt, dass die Legitimität sozialpolitischer Investitionen immer<br />

wie<strong>der</strong> neu erkämpft werden muss. Wer sich advokatorisch,<br />

anwaltlich auf die Seite <strong>der</strong> sozial Schwächsten stellt, benötigt<br />

einen gesellschaftspolitisch sensiblen und kenntnisreichen<br />

Blick. Zur professionellen Dienstleistungskunst gehört, die<br />

Teilhaberechte <strong>der</strong> KlientInnen mit an<strong>der</strong>en Rechten und<br />

Pflichten abzuwägen. Sie, die Professionellen, »müssen lernen,<br />

eine feine Linie zu ziehen zwischen zu offen formulierten<br />

Kontrakten einerseits, in denen Profitmotive einfließen und<br />

durch Qualitätsmin<strong>der</strong>ung Kostenersparnisse erzwungen werden<br />

können, und den zu restriktiv formulierten Kontrakten<br />

an<strong>der</strong>erseits, durch die eine Kommodifizierung sozialer Hilfen<br />

entsteht, welche die Rolle professioneller Praxis schwächt und<br />

die Qualität sozialer Dienste min<strong>der</strong>t.« (Gilbert 2000, 153)


Vorsorge und Fürsorge 285<br />

Die sozialpolitische Konfiguration, die für die Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

zukunftsträchtig erscheint, kann dabei als »garantistisch«<br />

bezeichnet werden. Der Fokus auf das Individuum wird darin<br />

selbst systemisch, funktional gefasst, Individualisierung also<br />

gesellschaftlich kontextuiert. »Garantismus« heißt zunächst,<br />

dass wohlfahrtsstaatliche Sicherung im Kern an Grundrechten<br />

gebunden ist und nicht an das Erwerbssystem. Dass dies historisch<br />

auch die Agenda sozialer Dienste und damit <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> bildet, sollte als motivierende Erkenntnis für die Zukunft<br />

des Sozialstaats gelten können.<br />

Literatur<br />

Bahle, Thomas, 2007, Wege zum Dienstleistungsstaat. Deutschland,<br />

Frankreich und Großbritannien im Vergleich, Wiesbaden: VS <strong>Verlag</strong><br />

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Schweizer Bürger?, in: Carigiet, Erwin/Mä<strong>der</strong>, Ueli/Opielka,<br />

Michael/Schulz-Nieswandt, Frank (Hg.), Wohlstand durch<br />

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Vergleich, Zürich: Rotpunkt <strong>Verlag</strong>, 15-45<br />

Cremer-Schäfer, Helga, 2006, Neoliberale Produktionsweise und <strong>der</strong><br />

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Budrich<br />

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286<br />

Vorsorge und Fürsorge<br />

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Galuske, Michael, 2002, Flexible Sozialpädagogik. Elemente einer<br />

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Weinheim/München: Juventa<br />

Gilbert, Neil, 2000, Dienstleistungskontrakte: Strategien und Risiken, in:<br />

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Kaufmann, Franz-Xaver (2003): Sozialpolitisches Denken. Die deutsche<br />

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<strong>der</strong> Studiengänge im Feld Sozialer <strong>Arbeit</strong>, in: Schweppe/Sting 2006,<br />

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Klotz, Theodor/Haisch, Jochen/Hurrelmann, Klaus, 2006, Prävention und<br />

Gesundheitsför<strong>der</strong>ung: Ziel ist anhaltend hohe Lebensqualität, in:<br />

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<strong>der</strong>s., 2005, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen,<br />

Frankfurt: Suhrkamp<br />

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gestalten. Zu den Aufgaben <strong>der</strong> Hochschulen in <strong>der</strong> Neubestimmung<br />

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Olk, Thomas/Otto, Hans-Uwe (Hg.), 2003, Soziale <strong>Arbeit</strong> als


Vorsorge und Fürsorge 287<br />

Dienstleistung. Grundlegungen, Entwürfe und Modelle,<br />

München/Unterschleißheim: Luchterhand<br />

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Otto, Hans-Uwe, 2007, Zum aktuellen Diskurs um Ergebnisse und<br />

Wirkungen im Feld <strong>der</strong> Sozialpädagogik und Sozialarbeit –<br />

Literaturvergleich nationaler und internationaler Diskussion.<br />

Expertise im Auftrag <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>sgemeinschaft für Kin<strong>der</strong>- und<br />

Jugendhilfe – AGJ (unter Mitarbeit von Stefanie Albus, Andreas<br />

Polutta, Mark Schrödter, Holger Ziegler), Berlin: AGJ<br />

<strong>der</strong>s./Oelerich, Gertrud/Micheel, Heinz-Günter (Hg.), 2003, Empirische<br />

Forschung und Soziale <strong>Arbeit</strong>. Ein Lehr- und <strong>Arbeit</strong>sbuch,<br />

München/Unterschleißheim: Luchterhand<br />

<strong>der</strong>s./Schnur, Stephan (Hg.), 2000, Privatisierung und Wettbewerb in <strong>der</strong><br />

Jugendhilfe. Marktorientierte Mo<strong>der</strong>nisierungsstrategien in internationaler<br />

Perspektive, Neuwied/Kriftel: Luchterhand,<br />

<strong>der</strong>s./Thiersch, Hans (Hg.), 2001, Handbuch <strong>der</strong> Sozialarbeit/<br />

Sozialpädagogik, 2. Aufl., Neuwied/Kriftel: Luchterhand<br />

Rüb, Friedbert, 2003, Vom Wohlfahrtsstaat zum ›manageriellen Staat‹?<br />

Zum Wandel des Verhältnisses von Markt und Staat in <strong>der</strong> deutschen<br />

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299<br />

Schröer, Wolfgang/Sting, Stephan, 2006, Vergessene Themen <strong>der</strong> Disziplin<br />

– neue Perspektiven für die Sozialpädagogik?, in: Schweppe/Sting<br />

2006, 17-30


288<br />

Vorsorge und Fürsorge<br />

Schweppe, Cornelia/Sting, Stefan (Hg.), 2006, Sozialpädagogik im Übergang.<br />

Neue Herausfor<strong>der</strong>ungen für Disziplin, Profession und<br />

Ausbildung, Weinheim/München: Juventa<br />

Seim, Sissel, 2000, Marktförmige Steuerungsmodelle und Nutzerpartizipation<br />

– Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Otto/Schnur<br />

2000, 155-173<br />

Ziegler, Holger, 2006, Evidenzbasierte Soziale <strong>Arbeit</strong>. Über managerielle<br />

Praktiken in neo-bürokratischen Organisationen, in: Schweppe/Sting<br />

2006, 139-155


AutorInnen<br />

Baig, Samira, Mag.a, Studium <strong>der</strong> Psychologie, Lektorin am Studiengang<br />

Sozialarbeit <strong>der</strong> FH Campus Wien, Supervisorin & Coach in freier Praxis,<br />

Stv. Leitung des arbeitspsychologischen Zentrums <strong>der</strong> Health Consult<br />

Ges.m.b.H.<br />

Forschungsschwerpunkte: Diversitykompetenz in Supervision, Coaching<br />

und Beratung; sozialpsychologische Aspekte von Managing Diversity und<br />

Interkulturalität.<br />

Bakic, Josef, Dr., Studium <strong>der</strong> Pädagogik und Psychologie, Studiengang<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> an <strong>der</strong> FH Campus Wien, Nebenberuflicher Lektor am<br />

Institut für Bildungswissenschaften <strong>der</strong> Universität Wien. Mitbegrün<strong>der</strong><br />

des Vereins KriSo – Kritische Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />

Forschungsschwerpunkte: Beruf und Bildung, Theorien Sozialer <strong>Arbeit</strong>,<br />

aktuelle Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Sozialarbeit und Sozialpädagogik.<br />

Bettinger, Frank, Prof. Dr., Studium <strong>der</strong> Pädagogik, Sozialpädagogik und<br />

Sozialwissenschaften, Fachbereich Sozialpädagogik/Sozialarbeit an <strong>der</strong><br />

EFH Darmstadt, Vorstandsmitglied im Bremer Institut für Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

und Entwicklung (BISA+E) an <strong>der</strong> Hochschule Bremen; Mitarbeit im<br />

<strong>Arbeit</strong>skreis Kritische Soziale <strong>Arbeit</strong> (AKS);<br />

Forschungsschwerpunkte: Kritische Kriminologie und Soziale <strong>Arbeit</strong>;<br />

Sozialer Ausschluss und Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />

Brückner, Margrit, Prof.in Dr.in, Studium <strong>der</strong> Soziologie,<br />

Gruppenanalytikerin und Supervisorin (DGSv), Fachbereich Soziale<br />

<strong>Arbeit</strong> und Gesundheit an <strong>der</strong> Fachhochschule Frankfurt.<br />

Forschungsschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse; Frauen und Geschlechterforschung<br />

Häusliche Gewalt; das Unbewusste in Institutionen;<br />

Internationale Care-Debatte.<br />

Diebäcker, Marc, Dipl.-Soz.-Wiss., Studium <strong>der</strong> Politikwissenschaft,<br />

Geschichte und <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>, Studiengang Soziale <strong>Arbeit</strong> an <strong>der</strong> FH


290<br />

AutorInnen<br />

Campus Wien. Mitbegrün<strong>der</strong> des Vereins KriSo – Kritische Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />

Forschungsschwerpunkte: Politische Theorien, Staat und Soziale <strong>Arbeit</strong>;<br />

Sozialpolitik; Sozialraum & Politischer Raum; Stadtentwicklung und<br />

Gemeinwesenarbeit.<br />

Dimmel, Nikolaus, Prof. DDr., Studium <strong>der</strong> Rechtswissenschaften,<br />

Politikwissenschaft und Soziologie, Diplomierter Sozialmanager,<br />

Rechtswissenschaftliche Fakultät an <strong>der</strong> Universität Salzburg, Leiter <strong>der</strong><br />

Lehrgänge für Sozialmanagement und Migrationsmanagement an <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Universität Salzburg.<br />

Forschungsschwerpunkte: Wohlfahrtsstaat; Sozialpolitik und Sozialrecht;<br />

Sozialmanagement und Soziale Dienste; Armut und soziale Kontrolle;<br />

<strong>Arbeit</strong>smarktpolitik & Workfare.<br />

Dzierzbicka, Agnieszka, Univ.-Ass.in Dr.in, Studium <strong>der</strong> Pädagogik,<br />

Soziologie und Politikwissenschaft, Institut für Bildungswissenschaft <strong>der</strong><br />

Universität Wien.<br />

Forschungsschwerpunkte: Vertrags- und Vereinbarungskultur; Cultural<br />

Studies und Gouvernementalität.<br />

Egger, Rudolf, Ao.Univ.-Prof. Dr., Studium <strong>der</strong> Pädagogik, Soziologie und<br />

Betriebswirtschaftslehre, Institut für Erziehungswissenschaft an <strong>der</strong> Karl-<br />

Franzens-Universität Graz.<br />

Forschungsschwerpunkte: Biographie- und Evaluationsforschung;<br />

Wissenschaftstheorie; Interpretative Sozialforschung; Methoden <strong>der</strong><br />

Erziehungswissenschaft.<br />

Fürst, Roland, Mag.(FH) DSA, Studium <strong>der</strong> Sozialarbeit und<br />

Sozialwissenschaften, Department Soziale <strong>Arbeit</strong> an <strong>der</strong> FH Campus<br />

Wien.<br />

Forschungsschwerpunkte: Methoden und Theorie <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>;<br />

Sozialmanagement & Öffentlichkeitsarbeit; Soziale <strong>Arbeit</strong> im<br />

Zwangskontext/Kontrollauftrag; aktuelle Diskurse in <strong>der</strong> <strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

und Sozialpolitik.


AutorInnen 291<br />

Galuske, Michael, Prof. Dr. phil., Studium <strong>der</strong> Sozialpädagogik und<br />

Germanistik, Institut für Sozialpädagogik und Soziologie <strong>der</strong> Lebensalter<br />

an <strong>der</strong> Universität Kassel.<br />

Forschungsschwerpunkte: Mo<strong>der</strong>nisierungstheorie; <strong>Arbeit</strong>slosigkeit und<br />

arbeitsgesellschaftlicher Wandel; Armut und Ausgrenzung; Methoden<br />

Sozialer <strong>Arbeit</strong>; Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe.<br />

Hammer, Elisabeth, DSAin, Mag.a, Studium <strong>der</strong> Sozialarbeit und Ökonomie,<br />

Studiengang Soziale <strong>Arbeit</strong> an <strong>der</strong> FH Campus Wien. Mitbegrün<strong>der</strong>in<br />

des Vereins KriSo – Kritische Soziale <strong>Arbeit</strong>.<br />

Forschungsschwerpunkte: Sozialpolitik und Ökonomie; Armut und soziale<br />

Sicherung, aktuelle Diskurse in Sozialpolitik und Sozialer <strong>Arbeit</strong>.<br />

Kessl, Fabian, M.A. Dr., Studium <strong>der</strong> Erziehungswissenschaften und<br />

Politikwissenschaften, Fakultät für Pädagogik <strong>der</strong> Universität Bielefeld.<br />

Forschungsschwerpunkte: (Politische) Theorie Sozialer <strong>Arbeit</strong>, Empirie<br />

<strong>der</strong> Lebensführung, Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit.<br />

Kolland, Franz, Ao.-Prof. Dr., Studium <strong>der</strong> Soziologie, Universitätsprofessor<br />

am Institut für Soziologie <strong>der</strong> Universität Wien;<br />

Forschungsschwerpunkte: Alterns- und Lebenslaufforschung; Entwicklungssoziologie.<br />

Opielka, Michael, Prof. Dr. rer. soc, Studium <strong>der</strong> Rechtswissenschaften,<br />

Erziehungswissenschaften, Ethnologie/Anthropologie, Philosophie und<br />

Soziologie, Fachbereich Sozialwesen an <strong>der</strong> Fachhochschule Jena,<br />

Lehrbeauftragter an <strong>der</strong> Universität Bonn (Master Sozialmanagement);<br />

Geschäftsführer des Instituts für Sozialökologie in Königswinter.<br />

Forschungsschwerpunkte: Sozialpolitik, soziologische Theorie,<br />

Psychoanalyse, Religions- und Kultursoziologie.<br />

Rosenbauer, Nicole, Dr.in, Studium <strong>der</strong> Erziehungswissenschaft,<br />

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik,<br />

Erwachsenenbildung und Pädagogik <strong>der</strong> Frühen Kindheit (ISEP) an <strong>der</strong><br />

Technischen Universität Dortmund.


292<br />

AutorInnen<br />

Forschungsschwerpunkte: Organisationstheorie und -forschung;<br />

Professionalisierung Sozialer <strong>Arbeit</strong>; Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfeforschung;<br />

Hilfen zur Erziehung.<br />

Scherr, Albert, Prof. Dr., Studium <strong>der</strong> Soziologie, Direktor des Instituts für<br />

Sozialwissenschaften an <strong>der</strong> Pädagogischen Hochschule Freiburg.<br />

Forschungsschwerpunkte: Gesellschafts- und Subjekttheorie; Theorien <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialen</strong> <strong>Arbeit</strong>; Bildungsforschung; Fremdheitskonstruktionen und<br />

Rassismus in <strong>der</strong> Einwan<strong>der</strong>ungsgesellschaft.<br />

Stelzer-Orthofer, Christine, Ass.-Prof.in Dr.in, Studium <strong>der</strong> Sozialwirtschaft,<br />

Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik an <strong>der</strong> Johannes<br />

Kepler Universität Linz.<br />

Forschungsschwerpunkte: Armut; <strong>Arbeit</strong>slosigkeit; <strong>Arbeit</strong>smarkt- und<br />

Sozialpolitik;<br />

Winkler, Michael, Prof. Dr., Studium <strong>der</strong> Pädagogik, Germanistik,<br />

Geschichte und Philosophie, Institut für Erziehungswissenschaft, Lehrstuhlinhaber<br />

für Allgemeine Pädagogik und Theorie <strong>der</strong> Sozialpädagogik<br />

an <strong>der</strong> Friedrich Schiller-Universität Jena.<br />

Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte <strong>der</strong> Pädagogik und <strong>der</strong><br />

Sozialpädagogik; pädagogische Gegenwartsdiagnose; Hilfen zur<br />

Erziehung; Übergänge von Ausbildung in Beruf.

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