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Von der Paniglgasse zur - Löcker Verlag

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<strong>Von</strong> <strong>der</strong> Panigl- in die Pinaglgasse


<strong>Von</strong> <strong>der</strong> Panigl- in die Pinaglgasse<br />

Eine Abschweifung vom Bobo- ins Prolo-Wien<br />

Beppo Beyerl & Rudi Hieblinger<br />

<strong>Löcker</strong>


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung <strong>der</strong> Kulturabteilung <strong>der</strong><br />

Stadt Wien (MA7).<br />

© Erhard <strong>Löcker</strong> GesmbH, Wien 2010<br />

Herstellung: Alfa print, Martin<br />

ISBN 978-3-85409-560-6


Inhalt<br />

7 Vorwort<br />

9 Freihaus, Wienfluss, Attentat<br />

Auf <strong>der</strong> Wieden<br />

27 Kozel, kanec, Drachen<br />

In Margareten<br />

47 Raving, Screaming, velký šum<br />

In Mariahilf<br />

69 Aus <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Wiener Luftfahrt<br />

Auf dem Neubau<br />

73 Sturzflut, Unkraut, Tintenfisch<br />

Auf dem Lerchenfeld und in <strong>der</strong> Josefstadt<br />

93 Pelikan und blaue Flasche<br />

In Ottakring<br />

117 Schlachtenglück und Marktwirtschaft<br />

In Rudolfsheim-Fünfhaus<br />

143 Brücken, Sprengstoff, schiefe Hütteln<br />

In Meidling (1)


169 Kutschers Zuflucht<br />

In Meidling (2)<br />

189 Verwendete, zitierte und weiterführende Literatur


Vorwort<br />

<strong>Von</strong> <strong>der</strong> Panigl- in die Pinaglgasse<br />

Eine Abschweifung vom Bobo- ins Prolo-Wien<br />

Wir beide – Beppo Beyerl (Autor) und Rudi Hieblinger (Bibliothekar)<br />

– begaben uns auf eine Stadtwan<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en<br />

Art. Wir starteten in <strong>der</strong> <strong>Paniglgasse</strong> in <strong>der</strong> Nähe des Karlsplatzes<br />

– und endeten in <strong>der</strong> Meidlinger Pinaglgasse. Freilich,<br />

unsere Route war nicht linear, Abschweifungen sind ja integrale<br />

Bestandteile jedes zielorientierten Weges. Diese sorgsam ausgewählten<br />

Umwege führten uns etwa zum legendären 13er, zum<br />

Buchhändler Posch, ins Weinlokal Enrico Panigl, ins Wirtshaus<br />

Sittl am Gürtel und über die Panikengasse zum ehemaligen Meiselmarkt.<br />

Über den Meidlinger Friedhof gelangten wir endlich<br />

zu unserem lang ersehnten Ziel: In die Meidlinger Pinaglgasse,<br />

eine Hundescheißzone mit nur einem Haus, das ausgerechnet<br />

die Nummer drei trägt.<br />

Die lokalen Abschweifungen wollen wir dabei durch inhaltliche<br />

Abschweifungen – soziologische, psychologische und lokalhistorische<br />

Themata – fortsetzen. Wichtig ist für uns dabei eine Mischung<br />

aus Interviews mit Zeitgenossen, aus historischen Rückblenden<br />

sowie aus persönlichen, durchaus subjektiven Eindrücken.<br />

So hoffen wir, nicht nur zu einer Hatscherei mitten durch Wien<br />

an<strong>zur</strong>egen, son<strong>der</strong>n dem Leser neue, oft skurrile Perspektiven und<br />

überraschende, oft witzige Zusammenhänge zu eröffnen.<br />

Damit bietet dieses Buch eine prägnante Erinnerungs- und<br />

Nachhilfe für die Eingeborenen und eine genauso prägnante<br />

Entwicklungshilfe für die Neusiedler.<br />

7


Schlussendlich wollen wir uns bei all jenen, die mit uns ein<br />

Stück des Weges gingen o<strong>der</strong> uns halfen, ein Stück des Weges<br />

zu verstehen, herzlich bedanken. Vor allem bei unseren Frauen.<br />

Wir wissen, was wir an ihnen haben, und sie wissen allzu genau,<br />

was sie sich mit uns eingefangen haben.<br />

Beppo Beyerl, Rudi Hieblinger


Freihaus, Wienfluss, Attentat<br />

Auf <strong>der</strong> Wieden<br />

Der Start in <strong>der</strong> <strong>Paniglgasse</strong><br />

Wir beginnen auf <strong>der</strong> Wieden, einer <strong>der</strong> ältesten Wiener<br />

Vorstädte, einem <strong>der</strong> kleinsten Wiener Bezirke, jedoch nicht<br />

dem allerkleinsten. Unweit <strong>der</strong> Stelle, wo sich heute das alte<br />

Hauptgebäude <strong>der</strong> technischen Universität erhebt, gleich neben<br />

<strong>der</strong> Karlskirche, befand sich bis zum Jahre 1789 <strong>der</strong> so<br />

genannte Spittaler Gottesacker o<strong>der</strong> Armensün<strong>der</strong>-Gottesacker.<br />

Früher mo<strong>der</strong>ten hier die Gebeine des venezianischen<br />

prete rosso, des roten Priesters Antonio Vivaldi, <strong>der</strong> am 28.<br />

Juli 1741 in Wien verstarb und laut einer am Gebäude <strong>der</strong><br />

TU Wien angebrachten Tafel am selben Tag auf dem Gottesacker<br />

begraben wurde. Roter Priester wurde er aber nicht aus<br />

politischen Gründen genannt: seiner Haarfarbe hatte er diese<br />

Bezeichnung zu verdanken.<br />

Der Komponist verließ 1740 Venedig, da seine Kompositionen<br />

in <strong>der</strong> Lagunenstadt für leere Ränge sorgten, und ließ sich<br />

in <strong>der</strong> Donaumetropole nie<strong>der</strong>, um Unterstützung bei Kaiser<br />

Karl VI. zu suchen. Dieser starb jedoch schon im Oktober<br />

1740. Auch Vivaldis Gesundheitszustand – er litt an Asthma –<br />

verschlechterte sich zusehends, sodass er ein paar Monate nach<br />

seiner Ankunft – siehe oben – das Zeitliche segnete.<br />

Wo hinter <strong>der</strong> Karlskirche die Kreuzherrengasse endet, beginnt<br />

auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong> Argentinierstraße die <strong>Paniglgasse</strong>.<br />

Wer o<strong>der</strong> was ist nun ein Panigl ?<br />

9


Wien 1957, die Oberkellner Franz (Hans Moser) und Gustav<br />

(Paul Hörbiger) arbeiten beim knausrigen Cafetier Panigl. Als einer<br />

von ihnen zu einer unverhofften Erbschaft gelangt, übernehmen<br />

die beiden das Café Panigl und führen es als Etablissement mit<br />

zwei getrennten Abteilungen. Die eine Hälfte mutiert zum Musikbox-Espresso<br />

Pinguin, die an<strong>der</strong>e Hälfte verbleibt Alt-Wiener<br />

Kaffeehaus. Das bringt natürlich Missverständnisse und Verwechslungen<br />

mit sich, die sich zum Schluss in Wohlgefallen auflösen.<br />

Der Film heißt »Ober, zahlen !«, die Regie führte E.W. Emo,<br />

das Drehbuch schrieben Hugo Wiener und August Rieger, außerdem<br />

spielten neben den bereits erwähnten »Volksschauspielern«<br />

noch Rudolf Carl und die junge Lotte Ledl mit.<br />

Im amtlichen Wiener Telefonbuch findet sich nur noch eine<br />

Handvoll Träger dieses Namens, wir werden im Verlauf unserer<br />

Reise nochmals auf diesen Namen stoßen. Aber soviel steht fest:<br />

Die Gasse, die sich da von <strong>der</strong> Karlskirche bis <strong>zur</strong> Operngasse<br />

zieht, wurde nach dem altehrwürdigen Geschlecht <strong>der</strong> Panigl benannt,<br />

einem Altwiener Bürgergeschlecht wie etwa die Mollards<br />

o<strong>der</strong> die Paltrams und an<strong>der</strong>e, die hier lebten, wirkten und es sich<br />

wohl ergehen ließen.<br />

Der Herr Inspektor Pinagl<br />

Schon zu Beginn unserer Tour wollen wir einen Silbensprung<br />

wagen, und diese syllabische Metathese führt uns schnurstracks<br />

zum Pinagl. Und den gab es auch, <strong>der</strong> war vor 50 Jahren vielen<br />

Zeitungslesern in Wien bekannt: <strong>der</strong> Kriminalinspektor Pinagl.<br />

Und <strong>der</strong> sollte unsere Aufmerksamkeit zumindest für kurze Zeit<br />

in Anspruch nehmen:<br />

10


Besagter Kriminalinspektor Pinagl wurde geschaffen von einem<br />

gewissen Leopold Hnidek. »Der Bremasl is scho wie<strong>der</strong> net<br />

da, sagte Kriminalinspektor a.D. Pinagl zu seinen Tarockpartnern.<br />

Das schaut ihm ähnlich ...« So beginnt Leopold Hnidek so<br />

gut wie jede seiner Inspektor Pinagl-Geschichten, in denen <strong>der</strong><br />

außer Dienst gestellte Kriminaler seinen wartenden Tarockpartnern<br />

eines seiner Gschichterln aus seinem erfüllten Berufsleben<br />

schil<strong>der</strong>t: Es geht um betrogene Betrüger, um cholerische Vorgesetzte,<br />

vor allem aber um <strong>der</strong> polizeilichen Willkür ausgelieferte<br />

völlig schuldlose Delinquenten, die erst im Zusammentreffen<br />

mit den Polizeiorganen Schuld auf sich laden. Bis dann auf einmal<br />

<strong>der</strong> sehnsüchtig erwartete fehlende Tarockpartner Bremasl<br />

einzutreffen beliebt. Ähnlichkeiten mit Jaroslav Hašek, <strong>der</strong> Hnidek<br />

sicherlich Vorbild war, sind nicht zu überlesen.<br />

Leopold Hnidek wurde am 26. Oktober 1924 (damals, wie<br />

wir wissen, noch kein österreichischer Nationalfeiertag, denn<br />

<strong>der</strong> wurde am 12. November begangen. Allerdings nur bis 1934,<br />

denn von nun an war’s <strong>der</strong> 1. Mai, freilich nicht als »Tag <strong>der</strong> Arbeit«,<br />

son<strong>der</strong>n im Gegenteil als »Tag <strong>der</strong> Proklamation des Ständestaats«)<br />

in eine Arbeiterfamilie hineingeboren. Er wuchs im<br />

Karl-Seitz-Hof in Jedlesee/Floridsdorf auf und entzog sich, als er<br />

die Hauptschule abgeschlossen hatte, <strong>der</strong> Hitlerjugend, indem er<br />

von daheim auszog und sich als Einsiedler auf dem ehemaligen<br />

Donau-Inundationsgebiet nie<strong>der</strong>ließ, in einem Zelt kampierte<br />

und als abgängig galt. Als er glaubte, dass ihn die Funktionäre<br />

<strong>der</strong> Hitlerjugend nicht mehr suchten, trat er eine Lehrstelle in<br />

<strong>der</strong> ehemaligen Urania-Buchhandlung an, wurde 1941 als noch<br />

nicht Siebzehnjähriger zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und<br />

wenig später als in die Deutsche Wehrmacht Rekrutierter an die<br />

Ostfront geschickt.<br />

11


1946 kam er an Leib und Seele versehrt aus französischer<br />

Kriegsgefangenschaft nach Wien <strong>zur</strong>ück, wo er sein erstes Buch<br />

schrieb und veröffentlichte: »Sie waren 17 Jahre«.<br />

Er trat <strong>der</strong> KPÖ bei und wurde Journalist bei <strong>der</strong> Österreichischen<br />

Volksstimme. Nach geraumer Zeit verließ er enttäuscht<br />

Partei und Redaktion wie so viele an<strong>der</strong>e in den Fünfzigerjahren<br />

des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts. Er wurde »freier« Journalist, schrieb<br />

unter verschiedenen Pseudonymen für verschiedene Tages- und<br />

Wochenzeitungen, schrieb die »G’schichten von <strong>der</strong> Omama«,<br />

die erfolgreich waren und von gleich zwei Tageszeitungen in Serie<br />

abgedruckt wurden. Zudem wurde sein Roman »Eva küßt<br />

nur Direktoren« verfilmt.<br />

Trotz vieler Ähnlichkeiten mit Ernst Hinterberger ist er heute<br />

so gut wie vergessen, auch wenn er als Vater des »Heiteren Bezirksgerichts«<br />

angesehen wird und als Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wiener Bezirkszeitungen.<br />

So startete er zunächst mit dem »Favoritener<br />

Wochenblatt«, dem bald weitere Blätter folgen sollten.<br />

Der Inspektor Pinagl, <strong>der</strong> mit dem Pinaglgassen-Pinagl<br />

nichts zu tun hat – o<strong>der</strong> etwa doch, wer weiß das schon so genau<br />

– entstand Anfang <strong>der</strong> Sechzigerjahre des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

Die Pinagl-Geschichten sind verstreut erschienen, eine<br />

kleine Sammlung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt<br />

und mit einem Nachwort von Brigitte Weis komplettiert<br />

wurde, erschien 1988 im Rundblick-<strong>Verlag</strong>. Aus diesem Nachwort<br />

– wir geben das gerne zu – beziehen wir unsere Weisheiten<br />

über Leopold Hnidek. Der Autor selber zog sich eines Tages in<br />

die Karibik <strong>zur</strong>ück – und nicht wie ursprünglich angekündigt<br />

in die Südsee –, lebte in einer kleinen Holzhütte auf <strong>der</strong> Insel<br />

Dominica, wo er 1986 verstarb. Er wurde, wie er es sich gewünscht<br />

hatte, auf seiner Insel unter einer Palme bestattet.<br />

12


Der Start einer abschweifenden Reise


Aber jetzt tatsächlich schnell <strong>zur</strong> <strong>Paniglgasse</strong>. Die beginnt bei<br />

<strong>der</strong> Argentinierstraße; schon das Haus mit <strong>der</strong> Nummer 4 verweist<br />

auf ein für Wien typischen Ereignis. Hier wurde am 15.<br />

September 1848, laut <strong>der</strong> angebrachten Gedenktafel dem »svetový<br />

rok Slovakov«, also dem Heiligen Jahr <strong>der</strong> Slowaken, die<br />

Gründung des ersten slowakischen Nationalrates beschlossen.<br />

Das Pikante am Ereignis in <strong>der</strong> Vielvölkerstadt: es gab damals<br />

noch keine Slowakei, höchstens – wie die slowakischen Geschichtsschreiber<br />

formulieren würden – das »nationale Erwachen«<br />

<strong>der</strong> Slowaken, die heutigen slowakischen Gebiete gehörten<br />

damals noch zu Ungarn.<br />

Das Haus ist übrigens nach einem Jakob Fried benannt. Selbiger<br />

wirkte als Prälat in Wien und war wegen seiner antifaschistischen<br />

Einstellung von 1939 bis 1944 inhaftiert.<br />

Der Bockerer und die <strong>Paniglgasse</strong><br />

In <strong>der</strong> <strong>Paniglgasse</strong> befand sich auch – zumindest im Theaterstück<br />

von Ulrich Becher und Peter Preses – eine Fleischhauerei,<br />

<strong>der</strong>en Besitzer auf den Namen Karl Bockerer hörte. Dieses<br />

Theaterstück wurde am 4. Oktober 1948 im Neuen Theater an<br />

<strong>der</strong> Skala uraufgeführt, den Bockerer spielte Fritz Imhoff, und<br />

Karl Paryla durfte als Hitler auf <strong>der</strong> Bühne rumoren und toben.<br />

»Der Bockerer« beginnt mit folgen<strong>der</strong> Bühnenanweisung:<br />

»Rechts, wie bei Wiens alten Eckhäusern bisweilen üblich, <strong>der</strong><br />

mit Rollbalken verschlossene Laden, vor dem ein Stück Bürgersteig<br />

<strong>der</strong> <strong>Paniglgasse</strong> hinführt.« Trotz dieser seltsamen Grammatik<br />

– vor dem kann nichts hinführen – wurde <strong>der</strong> Bockerer später<br />

einer <strong>der</strong> Evergreens <strong>der</strong> Zweiten Republik.<br />

14


Angeblich saß Alexan<strong>der</strong> Roda Roda im Züricher Exil in einem<br />

Kaffeehaus und wartete wie immer auf seinen Schwiegersohn Ulrich<br />

Becher. Dieser war nach einem Schiurlaub in Tirol am 12.<br />

März 1938 mit dem allerletzten Zug vor <strong>der</strong> Okkupation Österreichs<br />

durch die Nazis in die Schweiz geflüchtet. Becher erzählte<br />

seinem Schwiegervater: »In Wien gibt es noch einen, <strong>der</strong> gegen<br />

den Hitler ist.« Auf die erstaunte Frage von Roda Roda nach dessen<br />

Identität antwortete <strong>der</strong> junge Autor: »Ein Fleischhacker in<br />

<strong>der</strong> Paniglgassse« – die Idee zu dem Theaterstück war geboren.<br />

Verschwunden wie diese Fleischhauerei auf <strong>der</strong> Wieden ist<br />

auch <strong>der</strong> Teehändler Andrew Demmer High Tea, ein gescheiterter<br />

Versuch, britische Lebensart in <strong>der</strong> Wiener <strong>Paniglgasse</strong> 17 zu<br />

etablieren: es sollte ein Szenelokal mit »T-Outlet, T-Bar, T-Restaurant,<br />

T-Museum« entstehen und das 1660 errichtete Haus<br />

des Tobias Adler mit neuem Leben erfüllen. Dieser Tobias Adler<br />

war übrigens Leibkoch von Eleonora Magdalena, <strong>der</strong> dritten<br />

Gattin des Kaisers Leopold I., jenes tapferen Antisemiten, nach<br />

welchem, nachdem er die dort ansässigen Juden hatte vertreiben<br />

lassen, die Leopoldstadt benannt wurde.<br />

Das Lokal wurde als »Goldenes Sieb« ein ziemlicher Renner,<br />

nach dem Ersten Weltkrieg wurde ein italienisches Spezialitätenlokal<br />

namens »Miramare« draus, später eine Weinstube namens<br />

»Zum Tiroler«. In dieser Weinstube verkehrte unter an<strong>der</strong>en<br />

ein gewisser Peter Preses, womit wir wie<strong>der</strong> beim Bockerer<br />

gelandet wären.<br />

Trotz Umbaus des Lokals durch einen Kapazun<strong>der</strong> wie Boris<br />

Podrecca, guten Besuchs und vieler Stammgäste wurde 2007<br />

nach reiflichen Überlegungen <strong>der</strong> Entschluss gefasst, das High<br />

Tea in <strong>der</strong> <strong>Paniglgasse</strong> 17 zuzusperren. Es war einfach nicht<br />

möglich, den Betrieb kostendeckend zu führen.<br />

15


Seitdem verweist nur noch ein in <strong>der</strong> Sonne leuchtendes Teesieb<br />

auf den ehemaligen Namen »Goldenes Sieb« sowie auf den<br />

Umstand, dass Wien keine Insel ist, schon gar keine britische,<br />

wo Teetrinker den Teetrinkerinnen die Türschnalle in die Hand<br />

geben.<br />

Wia sii eigschding is en zwarasechzka<br />

<strong>Von</strong> Norden her bringt uns die Kärntner Straße auf die Wieden.<br />

Trefflich lässt es sich streiten, ob die Bezeichnung Kärntner<br />

Straße sich vom Problembären unter den österreichischen Bundeslän<strong>der</strong>n<br />

herleitet o<strong>der</strong> ganz einfach von den Karren, die von<br />

ihren Kar(r)nern nach Süden gekarrt wurden, es muss ja nicht<br />

unbedingt Kärnten das Ziel sein, Kärnten lässt sich, ein Mindestmaß<br />

an gutem Willen vorausgesetzt, treffsicher vermeiden.<br />

Natürlich gibt es gera<strong>der</strong>e Wege und unkompliziertere Zugänge,<br />

um von <strong>der</strong> Wiedner <strong>Paniglgasse</strong> in die Meidlinger Pinaglgasse<br />

zu gelangen: in weniger als zwanzig Minuten kann<br />

man am Ziel sein, vorausgesetzt, man besteigt den 62er.<br />

Den 62er hat H.C. Artmann in seiner »Ballade fon da zuagschbeadn<br />

Gredenz« verewigt.<br />

Die »Ballade« fängt so an:<br />

16<br />

»mei zimafrau, de weissnbek de schiache haud<br />

de basd guad auf das kanar etwoss gschbaund<br />

und zua gredenz do ged s nua hii<br />

waun nimaund schaud<br />

und schdiald ewech drinad umarnaund«


Letzter Glanz des High Tea


Jetzt lassen wir zwei Vierzeiler <strong>der</strong> im Boogie-Rhythmus vorzutragenden<br />

Ballade aus und zitieren jenen konstituierenden Vierzeiler,<br />

<strong>der</strong> jedoch nicht verrät, wo »de oide weissnbek« daheim ist:<br />

in <strong>der</strong> Wiedner Hauptstraße, im Metzleinstalerhof am Margaretengürtel,<br />

in Meidling in <strong>der</strong> Flurschützstraße o<strong>der</strong> gar schon am<br />

Beginn <strong>der</strong> Breitenfurter Straße. Vielleicht hat das nicht einmal<br />

<strong>der</strong> alte H.C. so genau entscheiden wollen. Drum weiter im Text:<br />

18<br />

»de oede is noch lanz zu ira schwesta<br />

und ens kafeehaus san brofoama mia<br />

doch wia sii eigschding is en zwarasechzka<br />

san mia scho qesn fua da wonunxdia«<br />

Wie gesagt, wir können die Wohnungstür nicht exakt zuordnen;<br />

so wan<strong>der</strong>n wir über den Rilkeplatz <strong>zur</strong> Operngasse und<br />

weiter in die Margaretenstraße. Dort haben wir die nächste Gelegenheit,<br />

Wien als melting pot of nations kennen zu lernen:<br />

Auf <strong>der</strong> Margaretenstraße 8 befindet sich ein bulgarischer Laden,<br />

wo man bulgarische Weine, Wolle, Geschirr, Zeitungen sowie<br />

Flugtickets kaufen kann. Um die Ecke, ein Stückerl Schleifmühlgasse<br />

hinauf, wird’s britisch, denn auf Nummer 8 befindet<br />

sich Bobby’s Foodstore, wo Scones verkauft werden, Newcastle<br />

Brown Ale und an<strong>der</strong>e Britischkeiten.<br />

Der versuchte Mord am Kaiser (Mord Nr. 1)<br />

Vier Schritte weiter ergreifen wir die Gelegenheit, mit einer<br />

ebenso liebgewordenen Legende auf<strong>zur</strong>äumen: Das Ettenreichhaus<br />

in <strong>der</strong> Margaretenstraße 9 hat <strong>der</strong> Kaiser dem Joseph Chris-


tian Ettenreich nicht geschenkt zum Dank für die Errettung vor<br />

einer möglicherweise tödlichen Gnackwatschn des ungarischen<br />

Schnei<strong>der</strong>s Janos Libényi. Nein, dieses Haus stand bereits vor<br />

dem 18. Februar 1853. Der bürgerliche Fleischhauer, Sohn eines<br />

Gastwirts in <strong>der</strong> Siebensterngasse am Spittelberg, ließ sich<br />

das Haus bereits gute zehn Jahre zuvor errichten, baute und bastelte<br />

daran herum, und wenn <strong>der</strong> Abend seine langen Schatten<br />

warf, zog es ihn <strong>zur</strong> nahe gelegenen Bastei, wo er dem Lustwandel<br />

frönte. Just am Abend des 18. Februar 1853 frönte dort<br />

auch <strong>der</strong> junge Kaiser Franz Joseph in Begleitung seines Adjutanten<br />

Maximilian Karl Lamoral Graf von Tyrconell (die heutige<br />

irische Grafschaft Donegal) O’Donnell <strong>der</strong> Lust. Dann trat<br />

<strong>der</strong> ungarische Schnei<strong>der</strong> Janos Libényi in Aktion, insultierte<br />

mit einem Messer Seine Kaiserliche Hoheit am Hinterhaupt,<br />

wurde allerdings von den Herren Ettenreich und O’Donnell<br />

an <strong>der</strong> Finalisierung seines Vorhabens beträchtlich behin<strong>der</strong>t.<br />

Er wurde mittels Säbel und an<strong>der</strong>wärtiger körperlicher Gewalt<br />

unschädlich gemacht, festgenommen und nach kurzem Prozess<br />

eine Woche später bereits hingerichtet. Allerdings keineswegs<br />

auf <strong>der</strong> Simmeringer Had’, wie ein auch heute noch populäres<br />

Lied weiszumachen versucht:<br />

»Auf <strong>der</strong> Simmeringer Had’ hot’s an Schnei<strong>der</strong> verwaht,<br />

und es gschiecht eam schon recht, warum sticht er so schlecht.<br />

Auf <strong>der</strong> Simmeringer Had’ hot’s an Schnei<strong>der</strong> verwaht,<br />

mit <strong>der</strong> Nodl saumt dem Öhr, saumtm Zwirn und <strong>der</strong> Scher’.<br />

Auf <strong>der</strong> Simmeringer Had’ hot’s an Schnei<strong>der</strong> verwaht,<br />

allen sei es a Lehr’, er lebt heut’nimmermehr.«<br />

19


Nein, sein Leben musste <strong>der</strong> arme Janos Libényi nicht am Galgen<br />

auf <strong>der</strong> Simmeringer Had’ lassen, son<strong>der</strong>n bei <strong>der</strong> Spinnerin<br />

am Kreuz, auf <strong>der</strong> heutigen Triester Straße, einem beliebten<br />

Hinrichtungsort über Jahrhun<strong>der</strong>te. Als in den Zwanzigerjahren<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>der</strong> George-Washington-Hof errichtet<br />

wurde, hob man unzählige Skelette verscharrter Hingerichteter<br />

aus, wahrscheinlich auch jenes des unglückseligen Janos<br />

Libényi.<br />

Die Erretter Seiner Majestät hingegen wurden geehrt, <strong>der</strong><br />

bürgerliche Fleischhauer Ettenreich gar in den erblichen Adelsstand<br />

erhoben.<br />

Diesem missglückten Attentat verdankt Wien auch einen<br />

seiner scheußlichsten Sakralbauten, die Votivkirche unweit <strong>der</strong><br />

Universität. Sie steht in ihrer neugotischen Geschmacklosigkeit<br />

in <strong>der</strong>selben stilistischen Klasse wie die Bauwerke von Friedrich<br />

Schmidt. Der unmittelbare Anlass für ihre Errichtung: Die<br />

Wiener mussten auf Wunsch – o<strong>der</strong> Befehl – des Kaiserbru<strong>der</strong>s<br />

Ferdinand Maximilian aus Anlass <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>baren Errettung<br />

des Kaisers Geld spenden, und mit diesen Spendenmitteln<br />

wurde die »Votivkirche« errichtet.<br />

Der Entwurf zu dieser neugotischen Scheußlichkeit stammt<br />

übrigens vom damals 26-jährigen Heinrich Ferstel.<br />

An den tapferen Fleischhacker hingegen erinnert eine Tafel<br />

auf dem Haus Margaretenstraße 9: »Joseph von Ettenreich hat<br />

das Haus zum Grauen Adler erneuert. Er rettete Kaiser Franz Joseph<br />

bei einem Anschlag im Jahre 1853«. Bleibt nur offen: Was<br />

rettete er dem Kaiser ? Sein Billasackerl ? O<strong>der</strong> sein Schnäuzquadrat<br />

? O<strong>der</strong> gar sein Leben ?<br />

20


Schikane<strong>der</strong> und Mozart im Freihausviertel<br />

Vom Haus Margaretenstraße 9 kann man gut auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Straßenseite ein Relief mit dem alten »Freihaus« erkennen.<br />

Das Freihaus, nach seinem Begrün<strong>der</strong> auch Conradswörth<br />

genannt, war <strong>der</strong>einst in den Wiener Vorstädten <strong>der</strong> größte<br />

zusammenhängende Baukomplex, so gehörte es unter an<strong>der</strong>em<br />

dem Türkenverteidiger Ernst Rüdiger Starhemberg. Der<br />

zeigte, was ein Großgrundbesitzer alles kann, und ließ das gesamte<br />

Areal 1683 nie<strong>der</strong>reißen; die Historiker interpretieren<br />

den Kahlschlag des Freihausviertels als notwendige Verteidigungsmaßnahme<br />

gegen den Feind aus dem Osten, die Horden<br />

<strong>der</strong> ungläubigen Türken. Für die waren aber »wir« die wahren<br />

Ungläubigen und sie die Rechtgläubigen und so dreht sich die<br />

Spirale immer weiter.<br />

Nach dem Neuaufbau wurde unter den vielen im Freihaus<br />

herumstehenden Bauten sowohl ein Theater als auch ein Gartensalettl<br />

bekannt. Am Theater – das k.k. privilegierte Wiedner<br />

Theater – wirkte ein aus dem fernen Straubing zugewan<strong>der</strong>ter<br />

Impressario und Stückeschreiber namens Emanuel Schikane<strong>der</strong>,<br />

im Gartensalettl saß Wolfgang Mozart und wurde – angeblich<br />

– vom Impressario mit Speis und Trank festgehalten,<br />

bis er die Zauberflöte fertiggestellt hatte. Diese wurde schließlich<br />

am 30. September 1791 im Wiedner Theater uraufgeführt.<br />

Keine zehn Jahre später konnte Schikane<strong>der</strong> (eigentlich Schickene<strong>der</strong>),<br />

<strong>der</strong> sich nicht zuletzt dank des Erfolgs <strong>der</strong> »Zauberflöte«<br />

finanziell gesundgestoßen sowie einen zusätzlichen Finanzier<br />

in Gestalt des Kaufmanns Bartholomäus Zitterbart <strong>zur</strong><br />

Hand hatte, das Theater an <strong>der</strong> Wien eröffnen. Dieses befand<br />

sich in unmittelbarer Nähe des Freihaustheaters. Schikane<strong>der</strong><br />

21


Skizze des Freihauses


versäumte es nicht, das Freihaustheaterpublikum auf die an<strong>der</strong>e<br />

Seite des Wienflusses zu locken:<br />

»Der Weg ist nicht zu weit,<br />

<strong>der</strong> Fluss auch gar nicht breit<br />

ein Sprung und Ihr seid da !<br />

Nicht wahr, Ihr saget ja !«<br />

Mit Schikane<strong>der</strong> nahm es in weiterer Folge jedoch kein gutes<br />

Ende, er hatte den Zenit seiner Beliebtheit längst überschritten,<br />

die in Folge <strong>der</strong> Napoleonischen Kriege einsetzende Inflation<br />

brachte ihn um sein restliches Vermögen. Er selbst verstarb als<br />

gehässiger, sinnesverwirrter Greis in dem in <strong>der</strong> heutigen Josefstadt<br />

gelegenen Teil <strong>der</strong> Alservorstadt. Die Wiener behalten ihn<br />

zumeist in guter Erinnerung, es gemahnen an ihn eine Gasse,<br />

ein allerdings nicht mehr existieren<strong>der</strong> Steg über den Wienfluss,<br />

das Schikane<strong>der</strong>kino, ein Schlössel in Döbling, ein eigenes Sterbehaus<br />

sowie mannigfaltige Darstellungen seiner Person in seiner<br />

Glanzrolle als Papageno im Weichbild <strong>der</strong> Stadt, etwa auf<br />

einem Haus Ecke Faulmanngasse/Operngasse.<br />

Siegfried Weyr erinnert an Emanuel Schikane<strong>der</strong>:<br />

»In <strong>der</strong> Alservorstadt Nr. 30 (heute Florianigasse 36)<br />

saß er vom Morgen bis zum Abend unbeweglich, in<br />

ein Bettlaken gehüllt, welches auch den Kopf bedeckte.<br />

Erschien ein Frem<strong>der</strong> o<strong>der</strong> alter Freund, ihn zu besuchen,<br />

so streckte er den Kopf aus dem Bettlaken hervor,<br />

starrte den Besucher an und fragte: »Haben Sie<br />

Maria Theresia und den Kaiser Joseph gekannt?« Fiel<br />

23


Siegfried Weyr übrigens gehörte zu jener Sorte von Menschen,<br />

die man heute gerne als »Gutmenschen« diffamiert. Statt sich<br />

von seiner jüdischen Ehefrau scheiden zu lassen, ging er mit ihr<br />

kurz entschlossen in die Emigration. Das nur nebstbei.<br />

Und einen Mühlbach gab’s, <strong>der</strong> das Freihaus von <strong>der</strong> restlichen<br />

Wieden trennte. Der stank entsetzlich zum Himmel<br />

und wurde 1856 zugeschüttet, die heutige Mühlgasse erinnert<br />

noch an dessen Verlauf. Eine Mühle steht allerdings noch – freilich<br />

in verän<strong>der</strong>tem Zustand – die Heumühle. Man muss nur<br />

durch den Eingang des Hauses in <strong>der</strong> Heumühlgasse 9 treten<br />

– Achtung, hat nur am Tage offen – und gewahrt im Inneren<br />

des Gebäudekomplexes, umrahmt von zahlreichen Neubauten,<br />

die mustergültig restaurierte und umgebaute Mühle – im<br />

Privatbesitz.<br />

24<br />

die Antwort bejahend aus, so sprach er einige verwirrte<br />

Worte, zog sich aber schnell unter sein Bettlaken <strong>zur</strong>ück;<br />

wurde die Frage mit »Nein« beantwortet, so erfolgte<br />

<strong>der</strong> Rückzug in größter Eile, von keinem Wort<br />

begleitet. Er starb am 21. September 1812, hinterließ<br />

keinen Kreuzer Bargeld, aber einen »schwarztüchenen«<br />

Frack und sieben Gilets.« (Seite 61 f.)<br />

Siegfried Weyr, <strong>Von</strong> Lampelbrunn bis Hohenwarth.<br />

Durch Wiener Vorstädte und Vororte.<br />

Wien: Schönborn-<strong>Verlag</strong> 1960


Wieden o<strong>der</strong> Wien ?<br />

Ehe wir die Wieden verlassen und den Nachbarbezirk Margareten<br />

betreten, muss uns noch die Ortsbezeichnung »Die<br />

Wieden« beschäftigen. Eine Wieden gibt es nämlich auch in<br />

Retz, in Sankt Michael im Lungau sowie in Oberwölz, und die<br />

tschechische Bezeichnung für Wien lautet Videň, die slowakische<br />

noch ähnlicher, nämlich Viedeň, aber es handelt sich dabei<br />

um Feminina, also um »die Wien«. Folgerichtig heißt es in<br />

»Servus, Březina !«, dem antifaschistischen Spottlied aus den<br />

Dreißigerjahren:<br />

»War ich jingst in Esterreich,<br />

geh durch deitsche Wien,<br />

seh ich auf <strong>der</strong> Kärntnerstrassn SA-Mann marschiern,<br />

denk ich mir, den kenn ich doch,<br />

doch hab ich große Plag,<br />

weiß nicht, kenn ich ihn aus Brno o<strong>der</strong> Prag ...«<br />

Eine umgekehrte Geschlechtsumwandlung passierte dem<br />

Strom, an dem unsere Stadt liegt: Reüssiert <strong>der</strong> Strom im Deutschen<br />

als Frau, so wird diese ab <strong>der</strong> Grenze <strong>zur</strong> Slowakei zum<br />

männlichen »Dunaj«. Auch die Stadt Wien wurde in manchen<br />

slawischen Län<strong>der</strong>n übrigens als »Dunaj« bezeichnet, in Slowenien<br />

blieb ihr dieser Name bis heute.<br />

Eine Videň gibt es übrigens auch auf <strong>der</strong> böhmisch-mährischen<br />

Höhe unweit Velké Mesiřicí im Bezirk Žd’ar nad Sázavou.<br />

Die heißt auf Deutsch – nein, nicht Wieden, son<strong>der</strong>n Wien.<br />

Aber woher kommt Wien ? In <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>schönen Broschüre<br />

<strong>der</strong> MA 45/Wiener Wasserbau »Der neue Wienfluss« heißt es:<br />

25


»Zwischen 400 und 15 v. Chr. besiedelten Kelten den Wiener<br />

Raum. Eine ihrer Siedlungen wurde mit ziemlicher Sicherheit<br />

nach dem Wienfluss benannt. Dieser hieß in <strong>der</strong> keltischen<br />

Sprache vedunia, was soviel wie Waldbach o<strong>der</strong> Holzbach bedeutet.<br />

Etwa 500 Jahre später, nach dem Untergang des Römischen<br />

Reiches, wan<strong>der</strong>ten slawische Stämme ein und übernahmen<br />

den alten keltischen Namen – Vedunia.« – Aus diesem<br />

Gewässernamen hat sich, so nehmen die Sprachwissenschaftler<br />

an, zuerst das Wort Wenia, dann Wienn o<strong>der</strong> Vienne und<br />

schließlich Wien entwickelt. Im Tschechischen sowie im Slowakischen<br />

blieb das alte Vedunia klarer erhalten durch die Formen<br />

Videň bzw. Viedeň.<br />

Der Begriff »Wieden« hingegen leitet sich entwe<strong>der</strong> vom lateinischen<br />

vidualitium, einem Pfarrgut, ab, o<strong>der</strong> von Wittum,<br />

einer Witwenversorgungseinrichtung. Schloss Schönbrunn war<br />

ursprünglich als eine solche für die habsburgischen Witwen<br />

vorgesehen.<br />

So, und mit diesem verwegenen Ausflug in die Sprachetymologie<br />

beschließen wir dieses Kapitel !


Kozel, kanec, Drachen<br />

In Margareten<br />

Kozel aus dem Powidl<br />

Wir gehen die Margaretenstraße Richtung stadtauswärts, verweilen<br />

aber noch ein wenig auf <strong>der</strong> Wieden. Auf einmal stoßen<br />

wir auf einen <strong>der</strong> letzten Reste <strong>der</strong> Planquadratphase.<br />

Diese Phase, in <strong>der</strong> viermal <strong>der</strong> erste Buchstabe des Alphabets<br />

vorkommt, bestimmte in den endenden Siebzigerjahren<br />

und beginnenden Achtzigerjahren des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts die<br />

Enqueten <strong>der</strong> Stadtentwickler und Architekten. Damals war die<br />

Rede von: Entkernung <strong>der</strong> Innenhöfe, also Zusammenlegen <strong>der</strong><br />

Lichtschächte; Standardanhebung, um vom lästigen Substandard<br />

wegzukommen, also weg mit <strong>der</strong> Bassena; Wohnungszusammenlegung,<br />

um dem Zimmer-Kuchl-Paradies zu entrinnen,<br />

kurz: Stadterneuerung und nicht Stadterweiterung.<br />

Aus verschiedenen Gründen sind diese städtebaulichen Prioritäten<br />

bald nach den ersten Enqueten als nicht zielführend und<br />

kontraproduktiv bezeichnet worden. Aber es gibt ein Beispiel,<br />

wo ein Grätzl, ein kleiner Häuserblock, tatsächlich nach den<br />

vorher erwähnten Kriterien umgebaut wurde.<br />

Treten Sie bei <strong>der</strong> Margaretenstraße 34 in den geräumigen,<br />

vielschichtigen, sogar ein bisserl inhomogenen Garten: Rabatte<br />

und Schaukeln, Kin<strong>der</strong>spielplätze und Bankerl, Auslauf- und<br />

Ruhezonen. Dieser Innenhof – die offizielle Bezeichnung lautet<br />

Gartenhof Planquadrat – wurde im Jahr 1977 geschaffen und<br />

27


Hier ist es für Sie ein Leichtes, ein paar Kilo zuzulegen


zählt heute knapp 400 Mitglie<strong>der</strong>. Öffentlicher Raum ? O<strong>der</strong><br />

privater Raum <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> ?<br />

Kommt man schließlich, wie sich’s gehört, auf <strong>der</strong> Margaretenstraße<br />

nach Margareten, erwischt man gleich nach dem ersten<br />

Häuserblock auf Nummer 60, Ecke Franzensgasse, das Powidl.<br />

Dem Powidl stehen Herr Anton Kozel und seine Frau vor.<br />

Und Kozel heißt auch das Bier, das hier ausgeschenkt wird.<br />

In diesem Lokal prosteten Bundeskanzler Fred Sinowatz<br />

und <strong>der</strong> Schriftsteller Pavel Kohout einan<strong>der</strong> zu, wie eine an<br />

<strong>der</strong> Wand hängende Fotografie beweist. Ebenfalls an <strong>der</strong> Wand<br />

hängt hinter Glas ein Exemplar <strong>der</strong> allerletzten »Arbeiterzeitung«,<br />

später nur noch »AZ«, vom 31. Oktober 1991. Die<br />

Schlagzeile lautet schlicht »Adieu« !<br />

Ignoranten bestellten sich im Powidl früher ein Budvar aus<br />

Budweis, das hier ebenfalls ausgeschenkt wurde, weil sie das<br />

Budvar kannten, aber wahre Kenner gehen ins Powidl nicht<br />

nur <strong>der</strong> ausgezeichneten böhmischen Küche wegen, son<strong>der</strong>n<br />

auch wegen des hellen & schwarzen Biers aus dem zentralböhmischen<br />

Velké Popovice. Jetzt gibt es den Nebochanten zum<br />

Trost plzenský prazdroj, das bei weitem überschätzte Pilsener<br />

Urquell.<br />

Das Velkopopovický Kozel und die Brauerei, wo es gebraut<br />

wird (Kozel heißt übrigens auf Deutsch Bock), gehört lei<strong>der</strong><br />

auch schon <strong>zur</strong> Pilsener Biergruppe, nachdem Mitte <strong>der</strong> Neunzigerjahre<br />

die Radegast AG aus Nošovice im Mährisch-Schlesischen<br />

Kreis die Aktienmehrheit <strong>der</strong> nach Aufhebung <strong>der</strong> Verstaatlichung<br />

privatisierten Brauerei übernommen hatte. Die<br />

Radegast-AG wurde dann ihrerseits von <strong>der</strong> Pilsener-Gruppe<br />

übernommen; die wie<strong>der</strong>um wurde 1999 von <strong>der</strong> SAB-Gruppe<br />

(South African Breweries) geschluckt. Manchmal und immer<br />

29


öfter schmeckt man’s. Beim velko, das auch Jaroslav Hašeks<br />

Lieblingsbier war, ist es noch nicht ganz so arg.<br />

Herr Kozel kommt aus Břeclav, einer <strong>der</strong> mährischen Grenzstädte<br />

zu Österreich. Auf Deutsch wird <strong>der</strong> Ort Lundenburg<br />

genannt, auf die ehemalige Verwendung <strong>der</strong> deutschen Sprache<br />

verweist etwa <strong>der</strong> eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e heute noch existierende<br />

Kanaldeckel. Aus Břeclav kam auch die Familie Kuffner, die<br />

1850 die Plank’sche Brauerei in Ottakring übernahm, aber davon<br />

später.<br />

Auch in Břeclav wurde gebraut. Bereits im Jahre 1522 gründeten<br />

die von Liechtenstein eine Brauerei. Die erfuhr das Schicksal<br />

so mancher tschechischer Brauereien, sie wurde von einer<br />

Aktiengesellschaft übernommen, nach 1948 verstaatlicht, nach<br />

1989 wie<strong>der</strong> privatisiert und 1996 zugesperrt. Die Bürger von<br />

Břeclav trauern ihrer Brauerei und ihrem Podlužan (»Podlužan<br />

je naše pivo –Podlužan ist unser Bier !«, hieß es damals) nach,<br />

das auch in die Slowakei exportiert worden war.<br />

Der noch im Juni 1995 eingeführte Břeclavský kanec, zu<br />

deutsch <strong>der</strong> Eber von Lundenburg, konnte die Brauerei auch<br />

nicht mehr retten, und so hat seit dem Jahre 1996 kein einziger<br />

Hektoliter Bier die Pforten <strong>der</strong> Brauerei von Břeclav verlassen.<br />

Ewig schade !<br />

Břeclavský kanec wurde die allerletzte Kreation deshalb genannt,<br />

weil sich gleich hinter <strong>der</strong> Brauerei ein Wildschweingehege<br />

befindet, die »kancí obora«, die auch als Landschaftsbezeichnung<br />

in Verwendung ist.<br />

Wir bitten Herrn Kozel um seine Meinung zu diesem nun<br />

doch schon fast 15 Jahre <strong>zur</strong>ückliegenden Ereignis:<br />

»Sicher ist es schade um das Podlužan«, sagt Herr Kozel. »Es<br />

war zwar nicht das allerbeste tschechische Bier, aber ich bin da-<br />

30


Kanalisation in Břeclav vulgo Lundenburg


mit aufgewachsen. Nach <strong>der</strong> Trennung von Tschechischer Republik<br />

und Slowakei ist <strong>der</strong> slowakische Markt weggebrochen, es<br />

ist zwar noch ordentlich investiert worden, die Brauerei wurde<br />

auf den damals aktuellsten technischen Standard gerüstet, aber<br />

es hat alles nichts geholfen. Übrigens die Brauerei in Uherské<br />

Hradiště, die das Janaček- Bier gebraut hat, die haben sie auch<br />

zugesperrt, aber keine Angst, die Leute müssen nicht verdursten,<br />

außerdem haben viele Gasthausbrauereien aufgesperrt, aber<br />

schade ist es trotzdem ums Podlužan,« soweit Herr Kozel über<br />

einen <strong>der</strong> vielen irreparablen Verluste <strong>der</strong> letzten Jahre in unserem<br />

nördlichen Nachbarland.<br />

Da es in unseren Tagen beinahe zum guten Ton gehört, dass<br />

kaum ein Kriminalroman, ein Reiseführer o<strong>der</strong> ein Krebserkrankungsbetroffenheitsbericht<br />

erscheint, ohne dass darin das<br />

eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Kochrezept enthalten wäre, wollen auch wir<br />

uns diesem Trend nicht ganz verschließen und beschreiben Ihnen<br />

also hier, wie Powidl hergestellt werden kann.<br />

Die Zwetschken werden gewaschen, entkernt und zergatscht<br />

und unter unablässigem Rühren zu einem dicken Brei verkocht.<br />

So ! Jetzt mengen wir Zimt in nicht zu geringer Menge bei,<br />

wenn Sie unbedingt wollen, auch Ingwer, unbedingt aber Zucker.<br />

Dann lösen wir die Einsiedehilfe in Wasser auf und rühren<br />

sie kräftig ein. Die gewonnene Masse wird in Einsiedegläser<br />

heiß abgefüllt, gut verschlossen, alsdann verräumt, aber für<br />

nicht länger als ein Jahr. Sonst wäre die ganze Prozedur für die<br />

Katz gewesen. Mahlzeit !<br />

32


Die Brauerei in Břeclav: Vergoren, vergessen, vorbei


Am Margaretenplatz<br />

Als topografische Bezirkszentrale könnte man den Margaretenplatz<br />

bezeichnen. Am Margaretenplatz Numero 7 steht das<br />

Haus, das einst mit einer tschechischen Aufschrift in roten<br />

Blockbuchstaben versehen war. Die roten Blockbuchstaben<br />

sind im Zuge einer kleinen Renovierung verschwunden. Wie<br />

würde ein Tscheche so eine Nacht- und Nebelaktion bezeichnen<br />

? Mit dem nicht ins Deutsche übertragbaren Begriff »předpředposralnost«, <strong>der</strong> doch soviel treffend bezeichnet. Aber noch<br />

kann man über dem Eingang folgenden Text entziffern. »In diesem<br />

für die Wiener Tschechen historischen Gebäude befand<br />

sich die Redaktion <strong>der</strong> tschechischen Arbeiterzeitung dělnické<br />

listy … dieses Haus war bis 1976 Eigentum <strong>der</strong> tschechoslowakischen<br />

sozialdemokratischen Partei in Österreich.« Vorläufer<br />

dieser Partei war <strong>der</strong> im Jahr 1868 gegründete »Čechoslovanský<br />

dělnický spolek1 «, erst zehn Jahre später wurde in Prag im Gasthaus<br />

»U kaštanu« die erste tschechische Sozialdemokratische<br />

Partei gegründet. Doch 1902 übersiedelte die Prager Parteileitung<br />

nach Wien ins Haus Margaretenplatz 7.<br />

Das Haus gehörte auch nach dem Krieg, als bereits die erste<br />

tschechoslowakische Republik existierte, <strong>der</strong> »Tschechoslowakischen<br />

Sozialdemokratischen Arbeiterpartei«, <strong>der</strong>en langjähriger<br />

Vorsitzen<strong>der</strong> und Landtagsabgeordneter Josef Jírava von seinen<br />

Parteifreunden als »böhmischer König von Wien« bezeichnet<br />

wurde.<br />

1 Richtig gelesen: Slovanský und nicht Slovenský, also in <strong>der</strong> deutschen<br />

Übersetzung tschechoslawischer Arbeiterverein<br />

34


In diesem Gebäude stellte <strong>der</strong> am 6. Februar 1906 geborene<br />

Alois Houdek in <strong>der</strong> Hausdruckerei Flugblätter gegen das NS-<br />

Regime her. Houdek gehörte <strong>der</strong> sogenannten tschechischen<br />

Sektion <strong>der</strong> KPÖ an. Houdeks Wi<strong>der</strong>standsgruppe wurde im<br />

Sommer 1941 verraten, Houdek selbst im Oktober 1941 verhaftet,<br />

am 28. Oktober 1942 zum Tode verurteilt und am 30.<br />

März 1943 im Wiener Landesgericht enthauptet. Bestattet<br />

wurde er am Wiener Zentralfriedhof in <strong>der</strong> Gruppe 40, dem<br />

heutigen Ehrenhain des österreichischen Wi<strong>der</strong>stands gegen das<br />

NS-Regime.<br />

Das zentrale Gebäude am zentralen Platz ist <strong>der</strong> Margaretenhof.<br />

Der Margaretenhof, den Anfang <strong>der</strong> Achtzigerjahre des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts eine Werkzeug vertreibende, mit nach wie vor origineller<br />

Radiowerbung aktive Firma gern devastiert und abgerissen<br />

hätte, wurde von 1884 bis 1885 vom Atelier Fellner und<br />

Helmer errichtet. Früher befand sich an dieser Stelle eine Brauerei,<br />

die wie<strong>der</strong>um Bestandteil des vis-à-vis stehenden »Hofes«<br />

o<strong>der</strong> Schlosses war, das u.a. dem Erzbischof von Gran gehörte.<br />

Diese Brauerei war um 1500 wohlbekannt, nach 1833 wurde<br />

sogar ein zweites Sudhaus mit einem eigenen Lagerkeller für das<br />

»Horner-Bier« errichtet. Ihre Stunde schlug zum Entsetzen <strong>der</strong><br />

Margaretener Biertrinker am 14. Juni 1862: An diesem Tag zerstörte<br />

ein Brand die wichtigsten Teile <strong>der</strong> Brauerei. Übrigens:<br />

Auf die nahe gelegene Bräuhausgasse müssen wir in diesem Zusammenhang<br />

vergessen; im Gegenteil, sie verweist bereits auf<br />

die nächste ehemalige Brauerei in Margareten: auf die Brauerei<br />

»Am Hundsturm«.<br />

Nach dem Abriss <strong>der</strong> Margareten-Brauerei hatte das famose<br />

Architektenduo, das die gesamte Monarchie mit einan<strong>der</strong> stark<br />

35


ähnelnden Theaterbauten überschwemmte, genügend Platz, um<br />

den ebenfalls theatralisch wirkenden Margaretenhof zu errichten.<br />

Die beiden Architekten wollten einerseits Bezüge zum alten<br />

Schloss herstellen – Vorgärten, Alleen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

forcierten sie bereits den Typus des städtischen Zinshauses. So<br />

entstand diese merkwürdige Anlage, ein missing link zwischen<br />

<strong>der</strong> Zinskaserne des sich neigenden 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts und <strong>der</strong><br />

fürstlichen o<strong>der</strong> erzbischöflichen Residenz des Spätbarock.<br />

Natürlich braucht solch stolzes Vorhaben auch eine Statue:<br />

Auf einer Verkehrsinsel vor dem Margaretenhof sehen wir die<br />

heilige Margarete mit ihrem Drachen. Die Sache mit dem Drachen<br />

ist leicht erklärt, heißt es doch in <strong>der</strong> Volksfrömmigkeit<br />

wie folgt:<br />

36<br />

»Barbara mit dem Turm, Margarete mit dem Wurm,<br />

Katharina mit dem Radl, das sind die heiligen drei Madl.«<br />

Die hl. drei Madln sind unter die Gesamtheit <strong>der</strong> stetig von<br />

Region zu Region wechselnden vierzehn Nothelfer zu subsummieren.<br />

Die heilige Margarete von Antiochien – und nur um<br />

diese geht’s, denn mit <strong>der</strong> Tirolerin Margarete Maultasch hat<br />

<strong>der</strong> fünfte Bezirk so gut wie nichts zu tun – wurde nach Folterungen<br />

durch heidnische Folterknechte, wie sie sich nur ein<br />

katholisches Gehirn ausdenken kann, vom Teufel in Gestalt<br />

eines Drachens in Versuchung geführt. Aber vergebens: »Die<br />

Jungfrau schlug das Kreuzeszeichen und setzte dem Untier unerschrocken<br />

den Fuß auf den Nacken. Das Reptil verwandelte<br />

sich in seine wahre Teufelsgestalt (? – die Autoren) und schrie:<br />

Oh, ich bin besiegt. Hätte es ein Mann getan, so wäre es zu ertragen,<br />

aber nun bin ich zu meiner Schande von einer Jungfrau


Noch schreibt man »Margarethenhof«


überwältigt.«, weiß Albert Christian Sellner in seinem »Immerwährenden<br />

Heiligenkalen<strong>der</strong>« zu berichten.<br />

Apropos Kalen<strong>der</strong>: Margaretentag ist <strong>der</strong> 20. Juli und im<br />

Kalen<strong>der</strong>jahr ein wichtiger Lostag: »Margaretenregen bringt<br />

keinen Segen«, o<strong>der</strong> »Regen am Margaretentag bringt viel<br />

Müh’und Plag’«. Außerdem war in vielen Gegenden an diesem<br />

Tag von den Bauern <strong>der</strong> Pachtzins zu entrichten, aber nun genug<br />

mit Heiligen- & Märtyrerinnenseligkeit.<br />

Übrigens: Das Denkmal für jene fromme Jungfer wurde<br />

1886 vom damaligen Bürgermeister Eduard Uhl an diese Stelle<br />

vor dem Margaretenhof verlegt.<br />

Die Bücherei in <strong>der</strong> Pilgramgasse<br />

Biegen wir vom Margaretenplatz in die Pilgramgasse ab, dann<br />

stolpern wir unversehens in eine kleine Episode, die wir niemandem<br />

vorenthalten wollen. Und die Episode beginnt an einem<br />

schwülen Morgen nach einer heißen Augustnacht des Jahres<br />

1978, als gegen fünf, halb sechs <strong>der</strong> Buchhändler Posch,<br />

wohnhaft Wien 5, Pilgramgasse 17, durch eine ungewöhnliche<br />

Lärmentwicklung aus seinen Träumen gerissen wurde. Ein<br />

Blick aus dem Fenster in den Hinterhof gab ihm Rätsel auf: ein<br />

paar Feuerwehrmänner, aufgrund ihrer Uniformierung leicht<br />

als solche zu identifizieren, schoben einen Zivilisten durch eine<br />

Oberlichte in ein Gassenlokal <strong>der</strong> Pilgramgasse 17. In besagtem<br />

Gassenlokal war eine kleine Filiale <strong>der</strong> Städtischen Büchereien<br />

untergebracht, in <strong>der</strong> nicht nur Bücher verliehen wurden,<br />

son<strong>der</strong>n auch Abendveranstaltungen stattfanden. Der legendäre<br />

Franz Bilik von den Brogressiv-Schrammeln, <strong>der</strong> 1983 von ei-<br />

38


ner Raxwand zu Tode stürzte, <strong>der</strong> geheimnisumwobene Unger-<br />

Franz und an<strong>der</strong>e traten hier vor sardinenmäßig geschlichtetem<br />

Publikum auf. Das Pilgramgassenlokal verfügte nämlich über<br />

eine Fläche von nicht einmal fünfzig Quadratmetern.<br />

Lei<strong>der</strong> war <strong>der</strong> Büchereileiter, <strong>der</strong> dies alles organisierte, sein<br />

Name war Franz Fritsch, in hohem Ausmaß suizidgefährdet.<br />

Er kündigte seine Selbstmordabsichten ein ums an<strong>der</strong>e Mal<br />

an, so auch diesmal: Nachdem er sich in <strong>der</strong> Bücherei eingeschlossen<br />

hatte, verständigte er seine Freundin telefonisch über<br />

sein aktuelles suizidales Vorhaben. Da <strong>der</strong> Büchereileiter auf<br />

keinen telefonischen Anruf, Läuten und Türrütteln reagierte,<br />

verständigte die Freundin begreiflicherweise die Polizei, die<br />

auch gleich ein Feuerwehrkommando mitbrachte. Verständigt<br />

wurde aber auch ein Freund des Büchereileiters, ein Postler, <strong>der</strong><br />

soeben vom Nachtdienst heimgekommen war, sich aufs Fahrrad<br />

schwang und im Höllentempo von <strong>der</strong> Schmelz ins Wiental<br />

raste. Da sowohl die Repräsentanten von Polizei als auch<br />

jene <strong>der</strong> Feuerwehr von stattlichem Körperbau waren, einigte<br />

man sich darauf, den schlanken Postler durchs Häuslfenster<br />

im Innenhof ins Büchereiinnere zu heben und zu schieben.<br />

Mit dem Kopf voran beinah in <strong>der</strong> Klomuschel gelandet, fand<br />

er seinen Freund, den Büchereileiter, schlafend, jedoch unversehrt<br />

vor. Dieser verlor in Konsequenz zunächst die leitende<br />

Stellung, dann überhaupt seine Stellung bei <strong>der</strong> Gemeinde<br />

Wien und setzte acht Jahre später tatsächlich seinem Leben<br />

ein Ende.<br />

Sein Nachfolger als Büchereileiter wurde <strong>der</strong> große Schindel,<br />

Robert Schindel, <strong>der</strong> später »Gebürtig« schrieb. Er war Meister<br />

des Delegierens und verfügte sich nur anlässlich »wichtiger« Büchereibesucher<br />

bzw. Büchereibesucherinnen vom Bürokammerl<br />

39


in den Ausleiheraum bzw. hinter die Ausleihetheke. Die Büchereifiliale<br />

in <strong>der</strong> Pilgramgasse 17 war eine sogenannte Thekenbücherei,<br />

wo das Büchereipersonal noch in <strong>der</strong> Lage war, absolute<br />

Herrschaft zu zelebrieren, da das Lesergut keinen Zugang<br />

zu den Bücherregalen hatte. Heutzutage ist bestenfalls noch die<br />

Hegemonie des Büchereipersonals über das Lesergut möglich,<br />

wenn auch nicht mehr über Gebühr üblich.<br />

Robert Schindel verwaltete und gestaltete in seinem sieben<br />

Quadratmeter großen Büro, und wenn <strong>der</strong> Gestaltungsfluss<br />

stockte, ließ er sich von seinen in <strong>der</strong> Regel jüngeren Bücherei-Unterläufeln<br />

ein Fläschchen Weinbrand vom Kunz vis-à-vis<br />

besorgen. So entstanden unsterbliche Verse. In Anerkennung<br />

ihrer Dienste wurden diese Unterläufel nach Dienstschluss zu<br />

einem Wirten ums Eck verzaht, wo sie von Robert Schindel<br />

mit Brechts Ballade vom armen B.B. stundenlang traktiert wurden.<br />

Diese Ballade konnte <strong>der</strong> gute Schindel nämlich auswendig.<br />

Und wenn sie, die Unterläufel, diese neun Vierzeiler nicht<br />

eh schon vorher gekannt hätten, sie wären auf immer und ewig<br />

in ihr Gedächtnis eingebrannt worden.<br />

Robert Schindel verließ ein paar Jahre später die Büchereien,<br />

heuerte beim ORF an, schrieb den später auch verfilmten Roman<br />

»Gebürtig« und reüssierte zu einer noch viel imponieren<strong>der</strong>en<br />

Persönlichkeit, die er als Büchereileiter <strong>der</strong> Filiale Pilgramgasse<br />

eh schon gewesen war.<br />

Im Zuge <strong>der</strong> Strukturbereinigung bei den Städtischen Büchereien<br />

wurde die Filiale Pilgramgasse in den Neunzigerjahren<br />

des vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>ts zugesperrt, beherbergte aber eine<br />

Zeitlang ein Ruefa-Reisebüro. Heute kann in den noch immer<br />

beengten Räumlichkeiten günstig telefoniert werden, in den Senegal<br />

etwa o<strong>der</strong> nach Japan, o<strong>der</strong> man kann das Internet nut-<br />

40


zen, zu welchem Zweck auch immer. Womit wir am Ende dieser<br />

Episode angelangt sind.<br />

Im Beserlpark<br />

Nun folgt ein kleiner Side-step. Wir gehen in die Schönbrunner<br />

Straße, allerdings stadteinwärts, bis wir auf Nummer 34 <strong>zur</strong><br />

Skulptur von Michael Pühringer (die Bezeichnung »Guardian<br />

Angel« verweist auf die Polizeistation im Gassenlokal im selben<br />

Haus) kommen. Hier biegen wir ins offene Tor und landen<br />

nach einem gemütlichen Hatscher durch einen verwinkelten<br />

Schlauch im Willy-Frank-Park.<br />

Grundsätzlich entspricht er <strong>der</strong> Typologie des kleinräumigen<br />

Wiener Beserlparkes: ein paar Spielplätze, ein paar Bankerln, in<br />

einem Winkerl kugelt sicher ein sogenanntes Glumpert herum.<br />

<strong>Von</strong> einem Tor zum an<strong>der</strong>en führen genau 50 Schritte. Der Beserlpark<br />

entstand in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

nach dem Abriss eines verfallenden Grün<strong>der</strong>zeithauses.<br />

Wir wollen indes <strong>der</strong> Frage nachgehen: Wer war dieser Willy<br />

Frank ?<br />

Willy Frank (Deckname Fink) wurde am 12. Februar 1909 in<br />

Steyr geboren, war nach <strong>der</strong> Übersiedelung nach Wien Schlosserlehrling,<br />

verlor seinen Job, schloss sich dem Kommunistischen<br />

Jugendverband (KJV) an und avancierte zu dessen Obmann<br />

in Margareten, später in Floridsdorf. Nach dem Verbot<br />

<strong>der</strong> KPÖ im Mai 1933 wurde er als illegaler Aktivist verhaftet<br />

und im Lager Wöllersdorf interniert. Es gelang ihm nach 1938<br />

die Flucht in die Sowjetunion, wo er ins Zentralkomittee <strong>der</strong><br />

KPÖ kooptiert wurde.<br />

41


Er vertrat energisch die Linie Alfred Klahrs <strong>der</strong> eigenständigen<br />

österreichischen Nation, was zu Konflikten mit deutschen<br />

Genossen im sowjetischen Exil führte. In Konflikt geriet er vor<br />

allem mit Gustav Sobottka, zeitweise KPD-Abgeordneter im<br />

Preußischen Landtag sowie Abgeordneter <strong>der</strong> Roten Gewerkschafts-Internationale<br />

in Moskau. In dem vom DÖW herausgegebenen<br />

Band »Österreicher im Exil. Sowjetunion 1934 –<br />

1945. Eine Dokumentation, Wien 1999« ist nachzulesen, »dass<br />

Manifestationen eines österreichischen Patriotismus starke Anfeindungen<br />

durch deutsche Antifaschisten unter den Kriegsgefangenen<br />

nach sich zogen. Als österreichische Antifa-Schüler<br />

beispielsweise in Talizy eine eigene Wandzeitung gestalteten,<br />

wurde diese von den deutschen Kursteilnehmern heruntergerissen.<br />

Auch im Antifa-Lager von Krasnogorsk wurde <strong>der</strong> österreichische<br />

Separatismus heftig attackiert.«<br />

Willy Frank wirkte in den Reihen <strong>der</strong> Roten Armee, ab<br />

Herbst 1944 kämpfte er zusammen mit Friedl Fürnberg, Franz<br />

Honner und an<strong>der</strong>en als Mitglied des 1. österreichischen Freiheitsbataillons<br />

im Rahmen <strong>der</strong> Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee.<br />

Am 19. Februar 1945 wurde er bei einem Gefecht mit<br />

SS-Einheiten durch einen Kopfschuss unweit des slowenischen<br />

Dorfes Smuka, südlich von Žužemberk, getötet.<br />

Soweit zu diesem kleinen Wiener Beserlpark. Über die<br />

Grüngasse nähern wir uns dem Wienfluss und erreichen die<br />

Pilgramgasse.<br />

42


Auf je<strong>der</strong> Bruck ein Nepomuk<br />

Noch vor <strong>der</strong> Pilgrambrücke muss er uns allerdings auffallen,<br />

<strong>der</strong> Brückenheilige aus dem tschechischen Pomuk, genannt Jan<br />

Nepomuk.<br />

Die Geschichten mit dem Verrat des Beichtgeheimnisses <strong>der</strong><br />

Königin sind dem Bereich »Lügen und Legenden« zuzuordnen.<br />

Besagter Nepomuk konnte das Beichtgeheimnis gar nicht verraten,<br />

da er gar nicht <strong>der</strong> Beichtvater <strong>der</strong> Königin war. Hingegen<br />

amtierte er als Leiter <strong>der</strong> Rechtsabteilung des Prager Erzbischofs.<br />

Bis am 20. März 1393 eine Art Vergleichsverhandlung<br />

zwischen König Wenzel IV. und dem Prager Erzbischof stattfand<br />

– und <strong>der</strong> Rechtsberater <strong>der</strong> geistlichen Macht von den<br />

Schergen <strong>der</strong> weltlichen Macht kurzerhand verhaftet und in<br />

den folgenden Nacht von <strong>der</strong> Karlsbrücke in einem Sack in die<br />

Moldau gestürzt wurde.<br />

Auf einmal hob in vielen katholischen Län<strong>der</strong>n die Karriere<br />

des Jan aus Pomuk als standfester Brückenheiliger an. Die Rekatholisierung<br />

<strong>der</strong> zentraleuropäischen Län<strong>der</strong> führte zu einer<br />

Nepomukisierung in überraschendem Ausmaß. In manchen<br />

Gegenden – im fernen Elsaß, aber auch in Nie<strong>der</strong>- und Oberösterreich<br />

– konnte bald keine Brücke bestehen ohne die sie<br />

behütende Statue des »Heiligen Johannes«. Ja richtig, heilig gesprochen<br />

wurde er auch, und zwar im Jahr 1729.<br />

In den tschechischen Län<strong>der</strong>n duellieren einan<strong>der</strong> die Statuen<br />

des Jan aus Pomuk mit den Statuen des Jan Hus. Trifft man<br />

auf ersteren Jan, hält man sich höchstwahrscheinlich an einem<br />

Ort mit ehemaliger deutsch-katholischer Besiedlung auf. Stößt<br />

man hingegen auf eine Statue des zweiteren Jan, lässt dies auf<br />

eine kontinuierliche tschechisch-hussitische Besiedlung schlie-<br />

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Auf je<strong>der</strong> Bruck’ ein Nepomuk


ßen. Jan Hus wurde 1415, genau 22 Jahre nach dem Tod des<br />

katholischen Rechtsgelehrten, während des Konzils von Konstanz<br />

von den Amtsträgern <strong>der</strong>selben Kirche auf dem Scheiterhaufen<br />

verbrannt, obwohl ihm von Sigismund, dem Bru<strong>der</strong> von<br />

König Wenzel, freies Geleit zugesichert worden war.<br />

Bei unserem letzten Kontrollgang mussten wir allerdings<br />

feststellen, dass <strong>der</strong> gesamte Nepomuk samt Sockel verschwunden<br />

war und sich offenbar im Nirwana aufgelöst hat.<br />

Nun nehmen wir Abschied vom Bezirk Margareten – und<br />

von den weißen Margariten, auf denen wir vielerorts herumgetrampelt<br />

sind. Diese Gehsteig-Graffiti wurden von den Kaufleuten<br />

rund um den Margaretenplatz forciert, um ein Zeichen<br />

zu setzen <strong>zur</strong> Identifizierung mit dem Bezirk. Korrekterweise<br />

hätten sie jedoch die heilige Gretl – Sie wissen schon, die mit<br />

dem Drachen – auf die Gehsteige färbeln lassen müssen. Und<br />

Wien wär wie<strong>der</strong> ein Stück bunter geworden.<br />

Über den Wienfluss führt uns die Pilgrambrücke, wo die<br />

Otto-Wagner-Station <strong>der</strong> ehemaligen Stadtbahn, jetzt <strong>der</strong> U4,<br />

von einem Kiosk gequetscht wird, in dem sich neuerdings eine<br />

McDonald’s-Filiale befindet. Dahinter das Café Pilgram, das<br />

sich nicht ganz entscheiden kann, ob es <strong>der</strong> amerikanischen<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> österreichischen Kultur verpflichtet ist: »Koffee to go«<br />

können wir lesen. Der öffentliche Raum vor <strong>der</strong> Station wird<br />

somit zerschnitten und zerrissen: ein Durchgang, ein Weg direkt<br />

vor dem Stationsgebäude ist gerade noch übriggeblieben.<br />

Und wir überschreiten den Fluss, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Stadt zwar nicht das<br />

Gepräge, aber den Namen gegeben hat.

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