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Stellungnahme DGKJP - Zentrales ADHS Netz

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<strong>Stellungnahme</strong> der Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie,Psychosomatik und Psychotherapie (<strong>DGKJP</strong>) zum Barmer GEK Arztreport 2013 über dieHäufigkeit von Diagnosen einer hyperkinetischen Störung und der Verordnung vonMedikamenten zu ihrer BehandlungDer in den letzten Tagen veröffentlichte Barmer GEK Arztreport von 2013, der das ambulantärztlicheVersorgungsgeschehen in den Jahren 2006 bis 2011 untersucht, stellt die Analyseder Diagnosehäufigkeiten von <strong>ADHS</strong> (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) undder Häufigkeit der Verordnungen von Medikamenten zur Behandlung von <strong>ADHS</strong> bei Kindern,Jugendlichen und Erwachsenen in der Versichertenstichprobe in den Mittelpunkt. Anhandder Analyse der Versichertendaten stellt der Report einen Anstieg der Diagnoseraten vonHyperkinetischen Störungen nach ICD-10 zwischen 2006 bis 2011 um 49%, bei Kindern undJugendlichen im Alter von 0 bis 19 Jahren von 2,9% auf 4,14% in 2011 fest. Am häufigstenwird die Diagnose bei den 9- bis 11-Jährigen festgestellt und zwar in 8,1% der Fälle. In derAltersgruppe von etwa 10 Jahren wird diese Diagnose bei knapp 12% der Jungen und 4,4%der Mädchen gestellt. Von den im Jahr 2000 geborenen Kindern erhalten insgesamt 19,4%der Jungen und 7,8% der Mädchen im Alter zwischen 6 und 11 Jahren mindestens einmal imuntersuchten Zeitraum die Diagnose einer Hyperkinetischen Störung.Diese Ergebnisse haben Anlass zu besorgten Kommentaren gegeben. Zur Einschätzung dieserErgebnisse ist jedoch ein Vergleich der anhand von Krankenscheinen ermitteltenDiagnoseraten mit den systematischen wissenschaftlichen Erhebungen zur Häufigkeit von<strong>ADHS</strong> notwendig. Nach internationalen Studien liegt die Häufigkeit von <strong>ADHS</strong> bei Kindernund Jugendlichen nach den Diagnosekriterien von DSM-IV etwa ab dem Alter von 4 Jahrenbei rund 5%, wobei im Kindesalter höhere Prävalenzen als bei Jugendlichen festgestelltwerden und bei Jungen rund dreimal häufiger die Diagnose gestellt wird. EpidemiologischeStudien in Deutschland kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Nach den erheblich strengerenDiagnosekriterien von ICD-10 liegt die Häufigkeit dieser Störung deutlich unter dieser Rate.Im deutschen Gesundheitssystem wird zwar nach ICD-10 diagnostiziert, doch können darinauch Diagnosen nach DSM-IV verschlüsselt werden, was in der diagnostischen Praxis häufiggeschieht. Daher liegt die in der Versichertenstichprobe ermittelte Häufigkeit der Diagnosevon rund 4% im oberen Bereich der aufgrund systematischer Erhebungen erwarteten1


Auftretenshäufigkeit der Störung und auch die deutlich höheren Raten bei Jungen liegennoch im erwarteten Bereich. Der Anteil von 20% aller Jungen, die im Jahre 2000 geborenwurden und bei denen im Alter von 6 bis 11 Jahren eine solche Diagnose gestellt wurde liegtjedoch deutlich über dem auf der Grundlage von empirischen Studien erwarteten Wert. Esist daher zu vermuten, dass in der klinischen Routineversorgung ein erheblicher Anteil vonFehldiagnosen auftritt, wobei sowohl Überdiagnostizierung (d.h. ein Patient erhältfälschlicherweise die Diagnose) als auch Unterdiagnostizierung (d.h. ein Patient erhältfälschlicherweise die Diagnose nicht) vorkommen können. Genauere Aussagen wären nuranhand von wissenschaftlichen Studien möglich, in denen die in der klinischenRoutineversorgung gestellten Diagnosen den systematischen Erhebungen gegenübergestelltwerden. Solche Studien sind für Deutschland dringend geboten.Eine Ursache für Fehldiagnosen liegt vermutlich darin, dass die in den Leitlinien derDeutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik undPsychotherapie (<strong>DGKJP</strong>) empfohlenen diagnostischen Untersuchungen in derRoutineversorgung nicht durchweg beachtet werden. Auch diese Vermutung ließe sichjedoch erst durch genauere Studien bestätigen.Der Barmer-GEK-Report weist auch auf die gestiegenen Raten von Methylphenidat-Verordnungen hin, wobei die verordneten Tagesdosen nur bis 2010 zugenommen haben. ImAlter von 0 bis 19 Jahren erhielten 2% eine <strong>ADHS</strong>-spezifische Arzneimittelverordnung. Diehöchsten Verordnungsraten für Methylphenidat liegen demnach im Alter von 10 bis 14Jahren, bei knapp 7% der Jungen und 2% der Mädchen, die mindestens ein Rezept im Jahrerhalten haben. Nach den Leitlinienempfehlungen der <strong>DGKJP</strong> sollte Pharmakotherapie nacheiner umfassenden Psychoedukation entweder primär oder nachrangig nach psychosozialenInterventionen nur dann erfolgen, wenn erhebliche Funktionseinschränkungen vorliegen. Beieinem deutlichen Anteil der Kinder und Jugendlichen mit <strong>ADHS</strong> (und geringerenFunktionseinschränkungen) ist daher eine Pharmakotherapie nicht indiziert. DiePharmakotherapie muss kontinuierlich meist über Jahre erfolgen. Die im Barmer-GEK-Reportgenannten Verordnungsraten liegen deutlich unter den dort ermittelten Diagnoseraten.Danach erhalten rund 50% der der Diagnostizierten mindestens eine Verordnung, was imEinklang mit den Leitlinien liegen kann. Der Anteil der kontinuierlich Behandelten wird indem Report nicht angegeben, liegt aber nach anderen Studien erheblich unter dem Anteilder Patienten mit einer Verordnung pro Jahr. So zeigten etwa Schubert und Kollegen, dass2


etwa die Hälfte der Patienten nach 280 Tagen keine Medikamente mehr erhielten und nurein geringer Anteil der Patienten mit einer empfohlenen Tagesdosis über einen längerenZeitraum behandelt wurde (Schubert et al., 2003).Insofern ist keine generelle Überversorgung aus diesen Zahlen abzulesen, wobei auch hiernicht bestimmt werden kann, wie hoch der Anteil der medikamentös behandelten Patientenist, bei denen eine Pharmakotherapie nicht indiziert ist und wie hoch der Anteil dermedikamentös nicht behandelten Patienten ist, bei denen eine Pharmakotherapie indiziertwäre. Die Leitlinien der <strong>DGKJP</strong> empfehlen eine sehr genaue Überprüfung der Effekte derMedikation bei der Einstellung und in regelmäßigen Abständen Kontrolluntersuchungen.Gegenwärtig ist nicht bekannt, in welchem Umfang diese Empfehlungen in der klinischenRoutineversorgung umgesetzt werden.Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Barmer GEK-Arztreport 2013 zur Häufigkeit von<strong>ADHS</strong> und ihrer medikamentösen Behandlung wichtige Fragen aufwirft. Die Ergebnissesollten Anlass geben, wissenschaftlich zu überprüfen, ob und in welchem Umfang Diagnostikund Therapie in der klinischen Versorgung von den Empfehlungen der evidenzbasiertenLeitlinien der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaften, die gegenwärtig unterFederführung der <strong>DGKJP</strong> aktualisiert werden, abweichen.QuellenBarmer GEK Arztreport (http://presse.barmer-gek.de/barmer/web/Portale/Presseportal/Subportal/Presseinformationen/Aktuelle-Pressemitteilungen/130129-Arztreport-2013/PDF-Arztreport-2013,property=Data.pdf)Döpfner, M., Breuer, D., Wille, N., Erhart, M., Ravens-Sieberer, U., & Bella Study Group.(2008). How often do children meet ICD-10/ DSM-IV criteria of Attention Deficit-/Hyperactivity Disorder and Hyperkinetic Disorder? Parent based prevalence rates in anational sample-results of the BELLA study. European Child and Adolescent Psychiatry, 17(supplement 1), 59-70.Döpfner, M., Lehmkuhl, G., Schepker, R., & Frölich, J. (2007). Hyperkinetische Störungen(F90). In Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik undPsychotherapie, Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Klinikärzte für Kinder- undJugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie & Berufsverband der Ärzte für KinderundJugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (Hrsg.), Leitlinien zur Diagnostikund Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (3. überarb.und erw. Aufl., S. 239-254). Köln: Deutscher Ärzte Verlag3


Huss, M., Hölling, H., Kurth, B.M., Schlack, R. (2008) How often are German children andadolescents diagnosed with ADHD? Prevalence based on the judgement of health careprofessionals: results of the german health and examination survey (KiGGS). Eur ChildAdolesc Psychiatry 17(Suppl1): 52–58Schubert I, Köster I, Adam C, Ihle P, Döpfner M, Lehmkuhl G: Psychopharmakaverordnungenbei Kindern und Jugendlichen mit Behandlungsanlass „Hyperkinetische Störung”. Journal ofPublic Health: Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften 2003; 11: 306–24.Schubert, I., Köster, I. & Lehmkuhl, G. (2010). Prävalenzentwicklung von hyperkinetischenStörungen und Methylphenidatverordnungen. Deutsches Ärzteblatt 107, 615-622Taylor, E., Döpfner, M., Sergeant, J., Asherson, P., Banaschewski, T., Buitelaar, J., Coghill, D.,Danckaerts, M., Rothenberger, A., Sonuga-Barke, E., Steinhausen, H. C., & Zuddas, A. (2004).European clinical guidelines for hyperkinetic disorder -- first upgrade.Für die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik undPsychotherapie (<strong>DGKJP</strong>) am Mittwoch, 6. Februar 2013Prof. Dr. Manfred DöpfnerProf. Dr. Dr. Tobias BanaschewskiProf. Dr. Gerd Schulte-Körne4

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