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Verkehrsunfälle und Unfallrekonstruktion Medizinische Aspekte

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Rechtsmedizin<br />

2002 · 1:40– 53 © Springer-Verlag 2002<br />

Redaktion:<br />

K.Püschel, Hamburg<br />

Die Beiträge der Rubrik „Weiter- <strong>und</strong> Fortbildung“<br />

sollen dem Facharzt als Repetitorium<br />

dienen <strong>und</strong> dem Wissensstand der Facharztprüfung<br />

für den Arzt in Weiterbildung entsprechen.Die<br />

Rubrik beschränkt sich auf gesicherte<br />

Aussagen zum Thema.<br />

➤ Verkehrsunfalltote<br />

➤ Behandlungsfehler<br />

40 Rechtsmedizin 1·2002<br />

E. Miltner<br />

Abteilung Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Ulm<br />

<strong>Verkehrsunfälle</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Unfallrekonstruktion</strong><br />

<strong>Medizinische</strong> <strong>Aspekte</strong><br />

Im Jahr 1999 wurden in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland 7.772 Personen im Straßenverkehr<br />

getötet, davon 4.640 (60%) als Pkw-Insassen. In der Todesursachenstatistik<br />

gelten als ➤ Verkehrsunfalltote Personen, die innerhalb von 30 Tagen nach<br />

dem Unfall an den Unfallfolgen sterben.<br />

Kausalität<br />

Die Beurteilung der Kausalität zwischen Unfall <strong>und</strong> Tod ist dann relativ problemlos,<br />

wenn ein junger ges<strong>und</strong>er Mensch in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Unfall<br />

an seinen Verletzungen stirbt. Die Kausalitätsbeurteilung wird um so schwieriger,<br />

je länger die Überlebenszeit des Unfallopfers war, je älter die Person war <strong>und</strong> je mehr<br />

Vorerkrankungen sie hatte. Stirbt ein unfallbedingt apallischer Patient zwei Jahre<br />

nach dem Unfall an einer Aspirationspneumonie, wird man die Kausalität zwischen<br />

Unfall <strong>und</strong> Tod bejahen; bei multimorbiden älteren Patienten bleibt nicht selten die<br />

Kausalitätsfrage auch nach Ausschöpfung aller Untersuchungsmöglichkeiten offen.<br />

Ein ➤ Behandlungsfehler oder Pflegefehler unterbricht nicht die Kausalität.<br />

Stirbt ein Unfallopfer aufgr<strong>und</strong> eines Behandlungsfehlers, wird der Tod dem Unfallverursacher<br />

zugerechnet, ungeachtet eines eventuellen zusätzlichen Verfahrens gegen<br />

den betreffenden Arzt.<br />

Alleinunfälle<br />

Besondere Probleme bereiten sog. Alleinunfälle. Kommt ein Fahrzeugführer reaktionslos<br />

von der Fahrbahn ab <strong>und</strong> stirbt nach einer Kollision mit einem Hindernis,<br />

kommen verschiedene Differenzialdiagnosen in Betracht (Tabelle 1). Nach der Untersuchung<br />

des Fahrzeugs zum Ausschluss einer technischen Unfallursache ist die Feststellung<br />

der medizinischen Unfallursache insbesondere bei Einschlafen, Epilepsie<br />

oder Suizid häufig nur als Ausschlussdiagnose möglich.<br />

<strong>Unfallrekonstruktion</strong><br />

Die Rekonstruktion eines Verkehrsunfalls ist gr<strong>und</strong>sätzlich Aufgabe des technischen<br />

Sachverständigen. Müssen zusätzlich Verletzungen festgestellt <strong>und</strong> interpretiert werden,<br />

ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Unfallingenieur <strong>und</strong> Rechtsmediziner<br />

unerlässlich. Dies ist insbesondere der Fall, wenn Insassen beim Unfall aus dem Fahr-<br />

E. Miltner<br />

Abteilung Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Ulm, 89075 Ulm<br />

E-mail: sekr.rechtsmedizin@medizin.uni-ulm.de


Interdisziplinäre Unfallanalyse<br />

➤ Kollisionsgeschwindigkeit<br />

Tabelle 1<br />

Differenzialdiagnose bei unklarem Abkommen von der Fahrbahn<br />

Reaktionsloses Auffahren auf ein anderes Fahrzeug oder Abkommen von der Fahrbahn<br />

Differenzialdiagnose Einschlafen<br />

Neurologische Erkrankung, z. B. Epilepsie<br />

Innere Erkrankung, z. B. Diabetes mellitus, Herzerkrankung<br />

Suizid<br />

Alkohol, Drogen, Medikamente<br />

Kohlenmonoxid<br />

Technischer Mangel<br />

zeug herausgeschleudert<br />

werden <strong>und</strong> der Fahrer<br />

identifiziert werden muss,<br />

bei der Frage der Vermeidbarkeit<br />

von Verletzungen<br />

wegen Nichtbenutzens<br />

vorgeschriebener Sicherheitseinrichtungen,<br />

bei<br />

mehrphasigen Unfällen<br />

<strong>und</strong> bei Fällen von Unfallflucht.<br />

Für die interdisziplinäre<br />

Unfallanalyse<br />

braucht deshalb auch der<br />

Mediziner einige gr<strong>und</strong>le-<br />

gende Kenntnisse über Kinematik <strong>und</strong> Verletzungsmechanismen bei wesentlichen<br />

Unfallarten <strong>und</strong> Kollisionstypen.<br />

Fußgängerunfall<br />

Typischer Ablauf des Fußgänger-Pkw-Unfalls<br />

Abbildung 1 zeigt einen typischen Pkw-Fußgängerunfall eines die Fahrbahn rechtwinklig<br />

querenden Fußgängers, der von einem bremsenden Pkw frontmittig erfasst<br />

wird. Der primäre Anstoß erfolgt zwischen Stoßstange <strong>und</strong> Unterschenkel sowie<br />

Hüfte <strong>und</strong> Haubenvorderkante.Anschließend wird der Fußgänger auf die Haube aufgeladen<br />

<strong>und</strong> prallt mit Schulter <strong>und</strong> Kopf auf die Haube. Der Fußgänger hat nunmehr<br />

die Geschwindigkeit des Pkw angenommen <strong>und</strong> wird, da er nur durch die Haftreibung<br />

auf der Haube gehalten wird, aufgr<strong>und</strong> der Bremsverzögerung nach vorne auf<br />

die Fahrbahn abgeworfen. Beim typischen Pkw-Fußgänger-Unfall ist die Endlage des<br />

Fußgängers vor dem Pkw.<br />

Wird der Fußgänger von einem durchschnittlichen Mittelklasse-Pkw mit einer<br />

➤ Kollisionsgeschwindigkeit in der Größenordnung von 50 km/h erfasst, liegt der<br />

Kopfaufschlagpunkt in der Gegend der Frontscheibenunterkante. Mit zunehmender<br />

Kollisionsgeschwindigkeit wandert dieser Kopfaufschlagpunkt auf der Frontscheibe<br />

nach oben, bis der Fußgänger bei sehr hohen Kollisionsgeschwindigkeiten (meist<br />

>100 km/h) unterfahren wird <strong>und</strong> hinter dem Fahrzeug zur Endlage kommt. Durch<br />

Abb. 1 � Schema eines Fußgängerunfalls (vkoll 40 km/h), zitiert nach [7]<br />

Rechtsmedizin 1·2002 41<br />

Weiterbildung


➤ Ausgangsgeschwindigkeit<br />

➤ Anfahrphase<br />

➤ Aufprallphase<br />

➤ Fahrzeugfront<br />

➤ Überfahren<br />

➤ Überrollung<br />

➤ Streifkollision<br />

42 Rechtsmedizin 1·2002<br />

Abb. 2 � Erfassungsgeschwindigkeit des Fußgängers in Abhängigkeit von der Ausgangsgeschwindigkeit<br />

Verhaken an der Frontscheibenoberkante sind Körperteilungen des Fußgängers möglich.<br />

Dann wird meistens ein Teil des Körpers im Fahrzeug, das andere hinter dem<br />

Fahrzeug aufgef<strong>und</strong>en. Im Kontakt mit der Fahrzeugfront können bei höheren Geschwindigkeiten<br />

Teilamputationen oder vollständige Amputationen der unteren<br />

Gliedmaßen auftreten.<br />

Schon eine geringe Erhöhung der ➤ Ausgangsgeschwindigkeit bei gleichem Reaktionspunkt<br />

wirkt sich erheblich auf die Erfassungsgeschwindigkeit des Fußgängers<br />

aus. Kommt der Pkw-Fahrer bei 50 km/h Ausgangsgeschwindigkeit mit einer<br />

Vollbremsung noch unmittelbar vor dem Fußgänger zum Stehen, wird der Fußgänger<br />

bei 60 km/h Ausgangsgeschwindigkeit <strong>und</strong> sonst gleichen Bedingungen mit über<br />

40 km/h erfasst (Abb. 2).<br />

Verletzungsmuster <strong>und</strong> Fahrzeugfront<br />

Die Pkw-Fußgängerkollision unterteilt sich somit gr<strong>und</strong>sätzlich in die ➤ Anfahrphase<br />

durch das Fahrzeug <strong>und</strong> die ➤ Aufprallphase auf die Straße.Verletzungsmuster<br />

<strong>und</strong> Verletzungsschwere hängen entscheidend von der Struktur der Fahrzeugfront<br />

ab, die im heutigen Straßenverkehr eine große Variabilität erreicht hat. Ein Kopfanprall<br />

gegen die Frontscheibe verläuft meist weniger schwerwiegend als ein Anstoß<br />

gegen die Scheibenrahmen oder die A-Säule (vordere Strebe der Fahrgastzelle). Bei<br />

einer steilen ➤ Fahrzeugfront wie bei einem Bus oder Lkw kommt es initial zu einer<br />

vollen Erfassung auch des Rumpfes <strong>und</strong> evtl. des Kopfes mit einer hohen Energieübertragung<br />

<strong>und</strong> dementsprechend schweren Verletzungen.<br />

Kinder werden aufgr<strong>und</strong> ihres niedrigeren Körperschwerpunkts im Verhältnis<br />

zur Anstoßstelle an der Fahrzeugfront primär nach unten geworfen, vor den Rädern<br />

auf der Fahrbahn mitgeschleift <strong>und</strong> evtl. überfahren oder überrollt.Von ➤ Überfahren<br />

spricht man, wenn sich der Körper der Person, meistens in Längsrichtung, zwischen<br />

den Rädern befand, von ➤ Überrollung, wenn der Körper tatsächlich von einem<br />

Rad überrollt wurde.<br />

Wird der Fußgänger an einem vorderen Fahrzeugeck oder streifend erfasst<br />

➤ (Streifkollision), kann er einen Drehimpuls erhalten <strong>und</strong> schleudert seitlich am<br />

Fahrzeug vorbei mit dem hohen Risiko von Kopfverletzungen durch Anstoß an den<br />

Scheibenrahmen (A-, B- oder C-Säule).


Ist der Unfall aus technischer Sicht<br />

unvermeidbar, bleibt der Autofahrer<br />

bei einem Unfall straffrei<br />

➤ Beulenversatz<br />

➤ Messerer-Bruchkeile<br />

Bei der Spurensicherung müssen die<br />

Kleidungsstücke des Fußgängers genau<br />

untersucht werden<br />

Wurde der Fußgänger angefahren <strong>und</strong><br />

danach überfahren?<br />

Gehrichtung des Fußgängers<br />

Eine der forensisch wichtigen Fragen ist die Frage der Gehrichtung des Fußgängers.<br />

Überquert ein Fußgänger aus der Sicht eines herannahenden Pkw-Fahrers die Straße<br />

von links nach rechts, so ist dieser Fußgänger längere Zeit im Blickfeld des Autofahrers,<br />

<strong>und</strong> dieser kann sein Fahrverhalten darauf einstellen. Tritt ein Fußgänger jedoch<br />

von rechts plötzlich in die Fahrbahn des Pkw, kann der Unfall aus technischer<br />

Sicht unvermeidbar sein. In einem solchen Fall bleibt der Autofahrer straffrei. Deshalb<br />

muss gelegentlich anhand der Bef<strong>und</strong>e überprüft werden, ob der Fußgänger tatsächlich<br />

von rechts nach links die Fahrbahn überquert hat, oder ob es sich hierbei um<br />

eine Schutzbehauptung handelt.<br />

Aus technischer Sicht kann der so genannte ➤ Beulenversatz einen Hinweis zu<br />

Gehrichtung <strong>und</strong> Gehgeschwindigkeit geben. Wird der Fußgänger gehend erfasst,<br />

liegt der Schulter- <strong>und</strong> Kopfaufschlag auf der Motorhaube oder Scheibe weiter in Gehrichtung<br />

des Fußgängers als der Hüftauftreffpunkt. Mit zunehmender Gehgeschwindigkeit<br />

wächst die Distanz zwischen beiden Anschlagpunkten.<br />

Eindeutige Verletzungsbef<strong>und</strong>e sind Unterhaut-Fettgewebsblutungen, Quetschungen<br />

<strong>und</strong> W<strong>und</strong>taschen in Stoßstangen- <strong>und</strong> Haubenhöhe an der Außenseite desjenigen<br />

Beines, das dem Fahrzeug zugewandt war, sowie an der Innenseite des anderen<br />

Beines bei jeweiligem Fehlen von Verletzungen an den anderen Seiten der Beine. An<br />

den langen Röhrenknochen der Beine können anstoßbedingt sog.➤ Messerer-Bruchkeile<br />

entstehen, wobei die Spitze des Bruchkeils die Richtung der Gewalteinwirkung<br />

anzeigt. Der Bruchkeil markiert jedoch im Gegensatz zur anstoßbedingten Weichteilquetschung<br />

nicht die Anstoßhöhe über Sohlenebene.<br />

Schürfspuren an den Schuhsohlen können ebenfalls Aufschluss über die Anstoßrichtung<br />

geben. Im Hinblick auf Beschädigungen <strong>und</strong> Spurenantragungen unerlässlich<br />

ist die Besichtigung der Kleidungsstücke des Fußgängers durch den Rechtsmediziner,<br />

den technischen Sachverständigen <strong>und</strong> ggf. den Spurensachverständigen.<br />

Unfallflucht<br />

Bei Fußgängerunfällen mit Unfallflucht stellt sich nicht nur die Frage nach der Körperposition<br />

des Fußgängers zum Kollisionszeitpunkt, sondern auch die Frage, ob der<br />

Fußgänger im Anschluss noch von einem oder mehreren anderen Fahrzeugen überfahren<br />

oder überrollt wurde.<br />

Bei der Überfahrung kann es je nach Bodenfreiheit des Fahrzeuges zu einer stärkeren<br />

Rumpfkompression <strong>und</strong> auch zu schweren Kopfverletzungen kommen, bei der<br />

Überrollung zu einer flächigen Belastung des Körpers an der jeweiligen Stelle. Bei<br />

dieser Art von Unfällen ist besonders auf Spurenantragungen wie Glas- oder Lacksplitter,<br />

Ölschmutz, Reifenprofilabdrücke an Kleidung <strong>und</strong> Körperoberfläche sowie<br />

vital <strong>und</strong> avital imponierende Verletzungen zu achten.Anhand der Bef<strong>und</strong>e muss zusammen<br />

mit dem technischen Sachverständigen differenziert werden, wer welche<br />

Verletzungen, insbesondere tödliche oder todeswürdige Verletzungen, in welcher Unfallphase<br />

gesetzt hat.<br />

Zweiradunfälle<br />

Entsprechend den Fußgängerunfällen stellt sich hier zunächst die Frage der Fahrrichtung<br />

des Zweiradfahrers. Das Verletzungsmuster eines Zweiradfahrers, der von<br />

einem Pkw erfasst wurde, ist analog zu interpretieren wie beim Fußgängerunfall.<br />

In der Regel sind jedoch die Beschädigungen am Fahrzeug ebenso wie die Verletzungen<br />

am Körper des Zweiradfahrers höher lokalisiert als bei gleicher Kollisionsgeschwindigkeit<br />

beim Fußgängerunfall.<br />

Rad gefahren oder geschoben?<br />

Beim Radfahrer stellt sich gelegentlich die Frage, ob er beim Überqueren der Straße<br />

auf einem Zebrastreifen das Fahrrad vorschriftsmäßig geschoben hat oder gefahren<br />

ist. In diesem Fall muss das Verletzungsmuster gemeinsam mit dem technischen<br />

Sachverständigen in Verbindung mit den Fahrzeugbeschädigungen analysiert wer-<br />

Rechtsmedizin 1·2002 43<br />

Weiterbildung


➤ Sattelverletzungen<br />

➤ Mitverschulden des Radfahrers<br />

➤ Helmtragepflicht<br />

➤ Schädelbasisringtraktionsfraktur<br />

Motorradfahrer sind bei schweren Unfällen<br />

vor allem durch Kopf- <strong>und</strong> Thoraxverletzungen<br />

gefährdet<br />

➤ Schutzkleidung<br />

Die Verletzungsschwere des Motorradfahrers<br />

ist auch von der Endlage im Verhältnis<br />

zum Kollisionsgegner abhängig<br />

➤ Daumenverletzungen<br />

44 Rechtsmedizin 1·2002<br />

den. ➤ Sattelverletzungen am Gesäß sind ein Hinweis dafür, dass der Radfahrer gefahren<br />

ist. Stellt sich heraus, dass der Fahrradfahrer vorschriftswidrig fahrend die<br />

Straße auf dem Zebrastreifen überquert hat, als er von dem herannahenden Fahrzeug<br />

erfasst wurde, bedeutet dies ein ➤ Mitverschulden des Radfahrers mit Kürzungen<br />

bei Schadensersatz <strong>und</strong> Schmerzensgeld.<br />

Schutzhelm <strong>und</strong> Verletzungen<br />

Für Radfahrer besteht keine Helmtragepflicht. Dementsprechend kommt rechtlich<br />

ein Mitverschuldensvorwurf nicht in Betracht. Ungeachtet dessen vermindert ein<br />

ordnungsgemäß getragener Fahrradhelm entscheidend das Kopfverletzungsrisiko.<br />

Bei motorisierten Zweiradfahrern besteht eine ➤ Helmtragepflicht. Ein zugelassener<br />

Schutzhelm muss ordnungsgemäß aufgesetzt <strong>und</strong> mit geschlossenem Kinnriemen<br />

getragen werden. War zum Unfallzeitpunkt ein Schutzhelm nicht ordnungsgemäß<br />

aufgesetzt <strong>und</strong> erlitt der Zweiradfahrer hierdurch vermeidbare Kopfverletzungen,<br />

führt dies rechtlich zu einem Mitverschulden des Zweiradfahrers.<br />

Bei höheren Kollisionsgeschwindigkeiten kann auch der ordnungsgemäß aufgesetzte<br />

Helm eines Motorradfahrers abgeschleudert werden. In diesem Fall ist insbesondere<br />

auf Abdruckmarken des Kinnriemens an der Halsvorderseite zu achten<br />

sowie auf kratzerartige Verletzungen im Gesicht, die beim Abschleudern des Helmes<br />

durch den Kinnbügel eines Integralhelmes entstehen können. Letzten Aufschluss gibt<br />

die Untersuchung des Helmes durch den technischen Sachverständigen. Ist beispielsweise<br />

die Stoßpolsterung des Schutzhelmes komprimiert, ist dies, wenn es sich<br />

nicht um eine vorbestehende Beschädigung handelt, der Beweis dafür, dass sich z. Z.<br />

der Belastung des Helmes der Kopf des Motorradfahrers im Helm bef<strong>und</strong>en haben<br />

muss.<br />

Eine nicht seltene <strong>und</strong> typische Verletzung des Motorradfahrers ist die ➤ Schädelbasisringtraktionsfraktur.Verhakt<br />

sich der Körper des Motorradfahrers beim Unfall,<br />

bewegt sich der Kopf aufgr<strong>und</strong> der Massenträgheit in Fahrtrichtung weiter. Bei Überschreitung<br />

der Belastungsgrenzen reißt der Kopf an seiner schwächsten Stelle ab, in<br />

der Regel an der oft relativ dünnen Schädelbasis zirkulär um das Foramen magnum.<br />

Eine Komplikation dieser Verletzung ist die Luftembolie des rechten Herzens <strong>und</strong> der<br />

Lungenarterien.<br />

Die Belastungsgrenze der Schädelbasis wird früher erreicht, wenn ein Schutzhelm<br />

getragen wird <strong>und</strong> durch seine Masse die Zugbelastung an der Schädelbasis erhöht.<br />

Der Verletzungsmechanismus spricht nicht gegen die Benutzung insbesondere<br />

moderner leichter Helme. Die Entstehung einer Schädelbasisringtraktionsfraktur<br />

erfordert meist eine hohe Kollisionsschwere, so dass zusätzlich schwerste Verletzungen<br />

in anderen Körperregionen vorliegen. Neben dem Kopfverletzungsrisiko, das<br />

durch Tragen eines Helms vermindert werden kann, ist der Motorradfahrer bei<br />

schweren Unfällen vor allem durch Thoraxverletzungen gefährdet.<br />

Stürzt ein Motorradfahrer aus voller Fahrt, hängt die Verletzungsschwere neben<br />

der Schutzhelmbenutzung entscheidend von der getragenen ➤ Schutzkleidung <strong>und</strong><br />

der Tatsache ab, ob sich ein Anprallhindernis in der Abwurf- <strong>und</strong> Abrollbahn befindet.<br />

Prallt ein Motorradfahrer gegen einen Pkw, ist die ungünstigste Konstellation ein<br />

seitlicher Anprall gegen die Fahrgastzelle. Hierbei sind insbesondere der Kopf durch<br />

Anstoß gegen die seitliche obere Dachkante, der vordere Rumpf durch den Fahrgastzellenanprall<br />

<strong>und</strong> die Knie durch direkten Anstoß gegen die Seitenteile gefährdet.<br />

Generell gilt, dass eine um so höhere Verletzungsschwere des Motorradfahrers zu<br />

erwarten ist, je näher sich die Endlage beim Fahrzeug befindet. In diesem Fall hat er<br />

den größten Teil der Aufprallenergie in seinem Körper umgesetzt <strong>und</strong> nicht in einer<br />

Abwurf- oder Abrollstrecke abgebaut.<br />

Frage der Fahrereigenschaft<br />

Bei zwei Motorradaufsassen kann sich die Frage nach der Fahrereigenschaft stellen.<br />

Hier muss – je nach gegebener Kollision – das Verletzungsmuster der beiden Aufsassen<br />

abgeglichen <strong>und</strong> einzelnen Fahrzeugstrukturen oder der Abwurfphase zugeordnet<br />

werden. Handverletzungen, insbesondere ➤ Daumenverletzungen durch den<br />

Kontakt mit dem Lenker, können einen Hinweis auf die Fahrereigenschaft geben.


➤ Gurtanlegepflicht<br />

➤ Energieäquivalente Geschwindigkeit<br />

(EES)<br />

➤ Geschwindigkeitsänderung<br />

delta v<br />

Beim Hochrutschen des Beckengurtes<br />

kann es zu Bauchorganverletzungen<br />

kommen<br />

➤ Gurtverletzungen<br />

Pkw-Insassen<br />

Das wichtigste Element zum Schutz von Pkw-Insassen ist nach wie vor der Sicherheitsgurt.<br />

In Deutschland besteht, wie in den meisten europäischen Ländern, eine<br />

➤ Gurtanlegepflicht. Der korrekt angelegte Sicherheitsgurt schützt in erster Linie<br />

bei Frontalkollisionen, schränkt Sek<strong>und</strong>ärbewegungen beim Seitenanstoß ein <strong>und</strong><br />

verhindert beim Fahrzeugüberschlag in den meisten Fällen, dass der Insasse aus dem<br />

Fahrzeug herausgeschleudert wird.<br />

In Deutschland besteht seit 1976 nach § 21a Absatz 1 StVO eine Gurtanlegepflicht<br />

für Pkw-Insassen während der Fahrt, wobei Ausnahmetatbestände zugelassen sind.<br />

Erleidet ein nichtangegurteter Pkw-Insasse Verletzungen, die bei vorschriftsgemäßer<br />

Gurtbenutzung vermieden worden wären, kann dies rechtlich ein Mitverschulden<br />

bedeuten mit Kürzungen bei Schadensersatz <strong>und</strong> Schmerzensgeld. Serienmäßig sind<br />

in fast allen aktuellen Pkw Dreipunktautomatikgurte eingebaut. Bei den Pkw-Pkw-<br />

Kollisionen entfallen ca. 55% auf Frontalkollisionen, 40% auf Seitenkollisionen <strong>und</strong><br />

5% auf Heckkollisionen.<br />

Bei der technischen <strong>Unfallrekonstruktion</strong> wird häufig auf die ➤ energieäquivalente<br />

Geschwindigkeit EES Bezug genommen. Die EES entspricht der Geschwindigkeit,<br />

die notwendig ist, um bei einem Aufprall auf ein starres Hindernis die gleiche<br />

Fahrzeugbeschädigungsschwere zu erreichen wie beim zu betrachtenden Unfall. Sie<br />

ist ein Maß für den Energieumsatz beim Unfall.<br />

Als Maß für die Insassenbelastung wird oft die ➤ Geschwindigkeitsänderung<br />

delta v des angestoßenen Fahrzeugs verwendet. Wird ein Pkw durch den Anstoß eines<br />

anderen Fahrzeugs beispielsweise von 40 auf 60 km/h beschleunigt oder von 40<br />

auf 20 km/h verzögert, beträgt die delta v 20 km/h.<br />

Frontalkollisionen<br />

◗ Ohne Gurt · Abbildung 3 oben zeigt zunächst den Verlauf einer Frontalkollision mit<br />

nichtangegurtetem Insassen: Der Insasse selbst ist nicht fest mit dem Fahrzeug verb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> wird bei der Kollision lediglich durch die Haftreibung auf der Sitzfläche<br />

gehalten. Kommt es zum Frontalanstoß, deformiert sich zunächst der Fahrzeugvorbau.<br />

Mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung bewegt sich der Insasse nach vorne<br />

<strong>und</strong> prallt im typischen Fall mit den Knien gegen das Armaturenbrett, mit dem<br />

Kopf gegen Frontscheibe, Scheibenrahmen oder A-Säule, <strong>und</strong> als Fahrer zusätzlich<br />

mit dem Rumpf gegen das Lenkrad. Der nichtangegurtete Insasse wird durch den<br />

Aufprall auf die frontalen Fahrzeuginnenstrukturen auf einer Strecke von wenigen<br />

Zentimetern von annähernd der Ausgangsgeschwindigkeit des Fahrzeugs auf 0 km/h<br />

verzögert.<br />

◗ Mit Gurt · Abbildung 3 unten zeigt die identische Situation mit einem angegurteten<br />

Fahrer. Der Fahrer ist durch den Sicherheitsgurt mit dem Fahrzeug verb<strong>und</strong>en. Dadurch<br />

nimmt er in der versteiften Fahrgastzelle durch die frontale Fahrzeugdeformation<br />

an der Verzögerung des Fahrzeugs teil. Im Weiteren gibt der Schultergurt infolge<br />

einer definierten Gurtdehnung eine gewisse Strecke nach, so dass der Oberkörper<br />

nach einer kontrollierten Vorwärtsbewegung abgefangen wird. Hierdurch<br />

steht eine zusätzliche Wegstrecke zur Verfügung, um den Insassen auf 0 km/h zu verzögern.<br />

Aus der Abbildung ergibt sich auch, dass zu erwartende Verletzungen im Kontakt<br />

mit dem Sicherheitsgurt, insbesondere dem Schultergurt, entstehen: Je nach Kollisionsschwere<br />

kommt es zu Prellungen, Rippen- <strong>und</strong> Brustbeinbrüchen sowie Thoraxorganverletzungen<br />

entsprechend dem Schultergurtverlauf, beim Hochrutschen des<br />

Beckengurtes zusätzlich zu Bauchorganverletzungen. Gurtmarken sind unterschiedlich<br />

stark ausgeprägte Schürfungen <strong>und</strong> Hämatome entlang dem Gurtverlauf, die bei<br />

nur teilweiser Ausprägung am ehesten über Knochenvorsprüngen wie den Beckenknochen<br />

zu finden sind.<br />

Gurtmarken <strong>und</strong> ➤ Gurtverletzungen sind paradoxerweise bei sehr schweren<br />

Frontalkollisionen nicht zu erwarten, wenn Fahrzeugfrontstrukturen massiv in die<br />

vordere Fahrgastzelle eingedrungen sind. Da dieser Intrusionsvorgang meist mit Beginn<br />

der Vorwärtsbewegung des Insassen abgeschlossen ist, kann der Oberkörper<br />

Rechtsmedizin 1·2002 45<br />

Weiterbildung


Verschiedene Airbaggrößen wie Full-size,<br />

Mid-size <strong>und</strong> Eurobag sind in den Fahrzeugbestand<br />

integriert<br />

Vor allem Frontinsassen, die nicht aufrecht<br />

sitzen, können durch die Entfaltung<br />

des Airbags verletzt werden<br />

➤ Airbagverletzungen<br />

46 Rechtsmedizin 1·2002<br />

Abb. 3 � Bewegungsverhalten<br />

des nichtangegurteten<br />

(oben) <strong>und</strong><br />

angegurteten (unten)<br />

Pkw-Frontinsassen bei<br />

Frontalkollision, zitiert<br />

nach [1]<br />

des Insassen auf Fahrzeuginnenstrukturen prallen, bevor der Gurt seine volle Rückhaltewirkung<br />

entfalten kann.<br />

◗ Gurtstraffer · Um eine optimale Rückhaltewirkung zu erzielen, sind in manchen Pkw<br />

zusätzlich Gurtstraffer eingebaut. Diese werden durch Sensoren in Abhängigkeit von<br />

der Fahrzeugverzögerung ausgelöst <strong>und</strong> ziehen den Sicherheitsgurt stramm, um eine<br />

optimale Rückhaltewirkung <strong>und</strong> kontrollierte Vorwärtsbewegung des Rumpfes zu<br />

ermöglichen.<br />

◗ Airbag · Ergänzend zum Sicherheitssystem Gurt sind in den meisten modernen<br />

Fahrzeugen Fahrer- <strong>und</strong> Beifahrerairbags vorhanden. Der Airbag löst am Beginn einer<br />

Frontalkollision aus, entfaltet sich in ca. 30–40 ms explosionsartig <strong>und</strong> fängt Kopf<br />

<strong>und</strong> Rumpf des sich vorwärtsbewegenden Insassen ab. Sofort nach der Entfaltung<br />

entweicht das Gas wieder aus dem Airbag. Nach 200 ms besteht keine Schutzwirkung<br />

mehr.<br />

Der Beifahrerairbag ist regelmäßig größer als der Fahrerairbag <strong>und</strong> hat einen<br />

späteren Entfaltungsbeginn als der Fahrerairbag. Verschiedene Airbaggrößen wie<br />

Full-size, Mid-size <strong>und</strong> Eurobag sind im aktuellen Fahrzeugbestand eingebaut. Der<br />

allgemeine Trend geht hin zum voluminösen Full-size-Airbag. Da sich der Airbag explosionsartig<br />

entfaltet, birgt er auch ein eigenes Verletzungspotential. Verletzungsgefährdet<br />

sind insbesondere Frontinsassen, die sich zum Kollisionszeitpunkt nicht<br />

in aufrechter Sitzposition, sondern beispielsweise in einer vornüber gebeugten Haltung<br />

befinden (out of position). Beobachtet werden u. a. Hautverletzungen am Kopf,<br />

Augenverletzungen, Gesichtsschädelfrakturen, Handverletzungen, Schürfungen an<br />

den Unterarmen sowie Verbrennungen durch Austritt heißer Gase bei pyrotechnischer<br />

Zündung.<br />

➤ Airbagverletzungen fallen besonders bei relativ geringer Kollisionsschwere<br />

nahe der Auslöseschwelle ins Gewicht, wenn bei alleiniger Gurtbenutzung sehr wahrscheinlich<br />

keine Verletzungen entstanden wären. Beschrieben wurde bei einer solchen<br />

relativ geringfügigen Frontalkollision im Bereich der Auslöseschwelle des Airbags<br />

eine Halswirbelsäulenzerreißung einer Beifahrerin, die ohne Airbag vermutlich<br />

unverletzt geblieben wäre. Um solche Komplikationen zu vermeiden, sind neuerdings


➤ Mehrstufige Airbags<br />

Der Airbag entfaltet seine optimale<br />

Schutzwirkung nur in Verbindung mit<br />

dem Sicherheitsgurt<br />

➤ mehrstufige Airbags auf dem Markt, die je nach Kollisionsschwere abgestuft auslösen<br />

<strong>und</strong> sich dabei unterschiedlich stark entfalten.<br />

◗ Gurtkraftbegrenzer · Zur Optimierung der Gurt-/Airbagwirkung <strong>und</strong> Reduktion<br />

gurtbedingter Thoraxverletzungen werden in moderne Pkw zunehmend Gurtkraftbegrenzer<br />

eingebaut. Abbildung 4 zeigt die gurtbedingte frontale Thoraxdeformation<br />

am oberen <strong>und</strong> unteren Brustkorb bei einer simulierten Frontalkollision mit angelegtem<br />

Dreipunkt-Automatikgurt, einem auf 4 kN limitierten Gurtkraftbegrenzer<br />

<strong>und</strong> Frontairbag. Die immer noch deutliche frontale Thoraxkompression entsprechend<br />

dem Verlauf des Diagonalgurts trotz Kraftbegrenzung <strong>und</strong> Airbag ist deutlich<br />

zu erkennen.<br />

◗ Nichtangegurtete Frontinsassen <strong>und</strong> Airbag · Der Airbag entfaltet seine optimale Schutzwirkung<br />

nur in Verbindung mit dem Sicherheitsgurt. Der nichtangegurtete Insasse<br />

hat ein erhöhtes Risiko insbesondere für Kopf- <strong>und</strong> Halswirbelsäulenverletzungen,<br />

während er sich im Fahrzeug nach vorne bewegt <strong>und</strong> über den entfalteten Airbag<br />

rutscht.<br />

◗ Fußraumschutz · Zur Vermeidung <strong>und</strong> Reduktion volkswirtschaftlich teurer Verletzungen<br />

der unteren Extremitäten liegt ein weiterer Schwerpunkt in der Weiterent-<br />

Abb. 4 � Frontale Eindrückung<br />

des oberen<br />

<strong>und</strong> unteren Thorax bei<br />

einer simulierten Frontalkollision<br />

mit Dreipunktgurt,<br />

4 kN Gurtkraftbegrenzung<br />

<strong>und</strong><br />

Airbag, zitiert nach [3]<br />

Rechtsmedizin 1·2002 47<br />

Weiterbildung


Die Bewegungsrichtung des Insassen ist<br />

dem Anstoß entgegengerichtet<br />

➤ Seitenairbags<br />

Die korrekt eingestellte Kopfstütze vermindert<br />

das Verletzungsrisiko<br />

48 Rechtsmedizin 1·2002<br />

wicklung der passiven Fahrzeugsicherheit bei Frontalkollisionen, aber auch bei den<br />

Seitenkollisionen, auf dem Fußraumschutz. Hier wären beispielsweise Ausschäumungen<br />

der Fußräume <strong>und</strong> Kniepolster am Armaturenbrett zu erwähnen. Die Vielzahl<br />

<strong>und</strong> Variabilität neuer Entwicklungen macht deutlich, dass das Insassenverletzungsmuster<br />

nur in Kenntnis der jeweiligen Sicherheitseinrichtungen im Fahrzeug<br />

sicher bewertet werden kann.<br />

Seitenkollisionen<br />

Beim seitlichen Anstoß gegen die Fahrgastzelle sind das Bewegungsverhalten <strong>und</strong><br />

die Verletzungsmechanismen der Insassen gr<strong>und</strong>sätzlich anders als bei der Frontalkollision.<br />

Beim Anstoß gegen die Fahrertür beispielsweise wird der stoßnah sitzende<br />

Fahrer von den ins Fahrzeuginnere eindringenden Fahrzeugstrukturen direkt getroffen.<br />

Gleichzeitig ist die Bewegungsrichtung des Insassen anstoßbedingt entgegen<br />

der Richtung der Gewalteinwirkung. Hier besteht insbesondere das Risiko von<br />

Kopfverletzungen durch Anstoß gegen die B-Säule (mittlere Strebe der Fahrgastzelle<br />

zwischen den Seitenscheiben). Frontinsassen viertüriger Pkw sind hierbei stärker<br />

gefährdet als von zweitürigen Pkw, da bei letzteren die B-Säule meist weiter nach<br />

hinten gerückt ist.<br />

Der Sicherheitsgurt verhindert nicht den direkten Anstoß durch die eindringenden<br />

Fahrzeugstrukturen, fixiert jedoch die Insassen vor allem am Becken in nachfolgenden<br />

Fahrzeugbewegungen <strong>und</strong> vermindert die Interaktion zwischen den Insassen.<br />

Da jedoch der Oberkörper aus dem Schultergurt freikommen kann, bestehen<br />

trotz Gurt erhebliche Verletzungsrisiken für Kopf <strong>und</strong> Rumpf. Fahrzeugseitige Schutzmaßnahmen<br />

zur Verletzungsminderung der Insassen bestehen in Verstärkung der<br />

seitlichen Fahrzeugstrukturen <strong>und</strong> zunehmend auch dem Einbau von ➤ Seitenairbags.<br />

Diese schützen je nach Konfiguration teils nur den Rumpf, teils Kopf <strong>und</strong><br />

Rumpf, <strong>und</strong> müssen sich in weniger als 10 ms entfalten. Wegen der direkten Exposition<br />

der Insassen zu den eindringenden Fahrzeugstrukturen sind Seitenkollisionen<br />

bei gleicher Kollisionsschwere für die Insassen wesentlich verletzungsträchtiger als<br />

Frontalkollisionen.<br />

Heckkollisionen<br />

Bei der Heckkollision ist die Bewegungsrichtung des Insassen entgegen dem Anstoß<br />

nach hinten gegen die Rückenlehne. Je nach Kollisionsschwere biegt sich diese unterschiedlich<br />

stark nach hinten durch, um den Anprall zu dämpfen. Eine in der Höhe<br />

korrekt <strong>und</strong> auf eine nur minimale Distanz zum Hinterkopf eingestellte Kopfstütze<br />

vermindert Relativbewegungen zwischen Kopf <strong>und</strong> Rumpf <strong>und</strong> damit die biome-<br />

Abb. 5 � Schematischer Ablauf einer leichten Heckkollision im Freiwilligenversuch, zitiert nach [4]


Unter dem Begriff “Schleudertrauma”<br />

werden diverse objektive <strong>und</strong> subjektive<br />

Beschwerden zusammengefasst<br />

Knöcherne Halswirbelsäulenverletzungen<br />

finden sich selten<br />

➤ Biomechanische Grenzwerte<br />

Sog. Schleudertrauma-Beschwerden können<br />

auch ohne ein durch das Fahrzeug<br />

übertragenes mechanisches Trauma der<br />

Halswirbelsäule auftreten<br />

chanische Belastung der Halswirbelsäule. Eine zu niedrig eingestellte Kopfstütze<br />

wirkt als Hypomochlion, da der Insasse, der anstoßbedingt ohnehin etwas im Sitz<br />

nach oben rutscht, mit dem Kopf über die Kopfstütze nach hinten geschleudert <strong>und</strong><br />

im Bereich der Halswirbelsäule entsprechend der Kollisionsschwere unter Umständen<br />

massiv überstreckt wird.<br />

Abbildung 5 zeigt den typischen Bewegungsablauf einer Heckkollision im Experiment:<br />

Anstoßbedingt prallt zunächst die Rückenlehne gegen den Rumpf. Hierbei<br />

kommt es zu einer äußerlich kaum wahrnehmbaren Scherbewegung im kraniozervikalen<br />

Übergang. Im weiteren Verlauf wird der Insasse im Sitz leicht angehoben. Je<br />

nach Einstellung der Kopfstütze kommt es zu einer mehr oder weniger starken Überstreckung<br />

der Halswirbelsäule. Anschließend bewegen sich Kopf <strong>und</strong> Rumpf aufgr<strong>und</strong><br />

der Elastizität der Rückenlehne nach vorn, wobei diese Vorwärtsbewegung<br />

langsamer <strong>und</strong> energieärmer ist als die intitale Rückwärtsbewegung.<br />

Schleudertrauma<br />

Nach Heckkollisionen, aber auch nach Frontal- <strong>und</strong> Seitenkollisionen, werden vom<br />

Pkw-Insassen häufig unfallbedingte Beschwerden von Seiten der Halswirbelsäule geltend<br />

gemacht. Der volkswirtschaftliche Schaden wird in Milliardenhöhe geschätzt.<br />

Der Begriff Schleudertrauma ist irreführend, da in den meisten Fällen, insbesondere<br />

bei korrekt eingestellten Kopfstützen, eine Schleuderbewegung mit Überstreckung<br />

des Halses nicht stattfindet. Dennoch hat sich dieser Begriff eingebürgert <strong>und</strong> wird<br />

in der Praxis für verschiedenste objektive <strong>und</strong> subjektive Beschwerden <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>e,<br />

die dem Bereich Kopf <strong>und</strong> Hals zugeordnet werden, bei nahezu allen Kollisionstypen<br />

benutzt. Dabei werden unterschiedliche Klassifizierungssysteme verwendet.<br />

Als typische Symptome des so genannten Schleudertraumas werden von den Betroffenen<br />

unter anderem HWS-Beschwerden, teils mit Ausstrahlung in den Arm, Nacken-<br />

<strong>und</strong> Schultermuskelverspannungen, aber auch Übelkeit, Erbrechen, Sehstörungen,<br />

Tinnitus, Konzentrationsstörungen <strong>und</strong> allgemeine Leistungsschwäche angegeben.<br />

Häufig besteht zwischen dem Unfall <strong>und</strong> dem ersten Auftreten der Symptome<br />

ein unterschiedlich langes schmerzfreies Intervall. Bei gleicher Kollisionsschwere<br />

gibt es Verläufe ohne jegliche Beschwerden, mit akuten <strong>und</strong> bald ausheilenden<br />

Beschwerden, aber auch mit protrahiertem oder chronischem Verlauf.<br />

Begutachtungsprobleme<br />

Knöcherne Halswirbelsäulenverletzungen liegen bei den Anspruchstellern fast nie<br />

vor. Begutachtungsprobleme ergeben sich insbesondere bei Unfällen mit geringer<br />

Kollisionsschwere. Da die Beschwerden der Patienten häufig subjektiv <strong>und</strong> kaum oder<br />

gar nicht objektivierbar sind, wurde von Seiten der ➤ Biomechanik versucht, Grenzwerte<br />

der Unfallschwere zu finden, ab denen ein sog. Schleudertrauma entstehen<br />

kann. Auf der Basis von Freiwilligenversuchen wurde konstatiert, dass bei einer Geschwindigkeitsänderung<br />

delta v des vom Heck her angestoßenen Pkw von 10 km/h<br />

oder weniger die Entstehung eines Schleudertraumas bei den Insassen nicht möglich<br />

sei, im Bereich von 11–15 km/h unwahrscheinlich <strong>und</strong> über 15 km/h möglich sei.<br />

Andere Autoren <strong>und</strong> Gutachter lehnen starre Grenzwerte ab.<br />

Die biomechanischen Grenzwerte haben breiten Eingang in die Rechtsprechung<br />

gef<strong>und</strong>en, wenngleich einige Gerichte dieser Entwicklung nicht oder nicht mehr folgen.<br />

Eine neuere Untersuchung hat ergeben, dass so genannte Schleudertrauma-Beschwerden,<br />

allerdings gering <strong>und</strong> kurzzeitig, auch ohne ein durch das Fahrzeug übertragenes<br />

mechanisches Trauma der Halswirbelsäule auftreten können. Trotz jahrzehntelanger<br />

intensiver Forschung <strong>und</strong> kaum mehr überschaubarer Literatur zum<br />

Thema hat sich bis heute keine einhellig akzeptierte Lehrmeinung herausgebildet.<br />

Überschlagunfälle<br />

◗ Variabilität der Verletzungsmechanismen · Fahrzeugüberschläge um die Quer- <strong>und</strong><br />

Längsachse kommen insbesondere bei Fahrfehlern, geplatzten Reifen <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>är<br />

nach Kollisionen vor. Dementsprechend variabel sind die Verletzungen der Insassen.<br />

Dabei können nichtangegurtete, selten auch angegurtete Pkw-Insassen aus dem Fahr-<br />

Rechtsmedizin 1·2002 49<br />

Weiterbildung


➤ Kindersitze<br />

Vor allem in Pkw mit Beifahrerairbags<br />

müssen Kinder auf dem Beifahrersitz<br />

vorschriftsgemäß gesichert werden<br />

➤ Fahrradkindersitze<br />

50 Rechtsmedizin 1·2002<br />

zeug herausgeschleudert werden. Angegurtete Insassen können sich während der<br />

Überschlagphase aus dem Schultergurt lösen, mit dem Oberkörper durch die sich<br />

öffnende Tür nach außen gelangen, zwischen Fahrzeug <strong>und</strong> Untergr<strong>und</strong> eingequetscht<br />

<strong>und</strong> anschließend wieder zurück ins Fahrzeug geschleudert werden.<br />

◗ Fahreridentifizierung bei Herausschleudern der Insassen · Die Identifizierung des Fahrers<br />

anhand der Verletzungsmuster von herausgeschleuderten Insassen ist nur durch<br />

eine subtile interdisziplinäre Analyse des technischen Unfallablaufs zusammen mit<br />

dem Unfallingenieur möglich. Entsprechend den Fahrzeugbewegungen <strong>und</strong> der Kinematik<br />

der Insassen müssen Kontaktstellen <strong>und</strong> Verletzungen identifiziert <strong>und</strong> den<br />

einzelnen Unfallphasen zugeordnet werden. Spurenbef<strong>und</strong>e wie Antragung <strong>und</strong> Verteilung<br />

von Blutspuren im Fahrzeug, z. B. am Airbag, ergänzen die medizinisch-technische<br />

Analyse.Abbildung 6 zeigt einen Gaspedalabdruck an der rechten Schuhsohle<br />

eines aus dem Fahrzeug geschleuderten Pkw-Insassen. Dieser Bef<strong>und</strong> ist in der Regel<br />

für die Fahrereigenschaft des Betreffenden beweisend.<br />

Kindersicherung<br />

In Deutschland müssen seit 1993 nach § 21 Absatz 1a StVO Kinder bis 12 Jahre, die<br />

kleiner als 150 cm sind, im Pkw durch ➤ Kindersitze gesichert werden. Kinder können<br />

durch normale Sicherheitsgurte nur ungenügend gesichert werden <strong>und</strong> haben ein<br />

erhöhtes Verletzungsrisiko durch den Schultergurt. Nichtangegurtete Kinder haben<br />

auch auf den Rücksitzen wegen ihrer geringeren Größe ein erhöhtes Risiko, im Fahrzeug<br />

– auch über die Vordersitze hinweg – umhergeschleudert zu werden. Insbesondere<br />

bei Pkw mit eingebauten Beifahrerairbags ist auf die vorschriftsgemäße Sicherung<br />

von Kindern auf dem Beifahrersitz zu achten.<br />

Auf Fahrrädern dürfen Kinder unter 7 Jahren in ➤ besonderen Sitzen mitgenommen<br />

werden, wenn durch die Sitze oder andere Vorrichtungen gewährleistet ist,<br />

dass die Füße der Kinder nicht in die Speichen des Rades gelangen können. Eine<br />

Helmtragepflicht für Kinder als Mitfahrer besteht nicht, obwohl ein ordnungsgemäß<br />

getragener Schutzhelm das Kopfverletzungsrisiko entscheidend mindert.<br />

Untersuchungsstandards<br />

Körperliche Untersuchungen eines möglichen Verkehrsunfallbeteiligten zu Lebzeiten<br />

erfordern eine differenzierte Erhebung <strong>und</strong> Dokumentation des Verletzungsmusters,<br />

die über den routinemäßigen klinischen Aufnahmebef<strong>und</strong> hinaus gehen.<br />

Das nachfolgende Schema zur Erhebung äußerer Bef<strong>und</strong>e sollte auch bei der klinischen<br />

Untersuchung angewandt werden, wenn Rekonstruktions- oder Begutachtungsfragen<br />

zu erwarten sind.<br />

∑ Besichtigung <strong>und</strong> evtl. Sicherstellung der Kleidung<br />

∑ Asservierung eventueller Spuren (z. B. Glas- oder Lacksplitter)<br />

Abb. 6 � Abdruck des Gaspedals an der<br />

rechten Schuhsohle eines Pkw-Fahrers<br />

nach Frontalkollision


Eine Untersuchung zu Begutachtungszwecken<br />

sollte möglichst zeitnah stattfinden<br />

∑ Feststellung von Körperlänge <strong>und</strong> Gewicht<br />

∑ Komplette äußere Besichtigung mit genauer Beschreibung sämtlicher Verletzungen, auch<br />

von scheinbaren Bagatellbef<strong>und</strong>en, z. B. bei Schürfungen.Wenn möglich, auch Angabe<br />

der Schürfrichtung, Angabe der Höhe der Verletzungen <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>e über Sohlenebene;<br />

bei einer Vielzahl von äußeren Verletzungen zumindest Dokumentation spezifischer Verletzungen<br />

wie Helmabsetzmarken oder Gurtmarken<br />

∑ Fotodokumentation mit Maßstab<br />

∑ Falls der zu Untersuchende Angaben macht: Verletzungsanamnese <strong>und</strong> Dokumentation<br />

subjektiver Bef<strong>und</strong>e wie Schmerz <strong>und</strong> Druckschmerz<br />

Eine Untersuchung zu Begutachtungszwecken sollte möglichst zeitnah stattfinden, da<br />

kleinere Bef<strong>und</strong>e wie Schürfungen oder Druckmarken schon nach kurzer Zeit nicht<br />

mehr nachweisbar sein können.<br />

Die Obduktionsstandards bei Verkehrsunfallopfern entsprechen den üblichen<br />

Standards bei traumatologischen Obduktionen mit insbesondere umfangreichen<br />

Unterhautfettgewebspräparationen einschließlich der Extremitäten mit unfall- oder<br />

fragespezifischen Teilpräparationen.<br />

Je nach Fragestellung sollten Unfallingenieur <strong>und</strong> Rechtsmediziner das Unfallfahrzeug<br />

gemeinsam untersuchen, vor allem wenn Verletzungen bestimmten Fahrzeugstrukturen<br />

zugeordnet werden müssen <strong>und</strong> biologische Spuren zu identifizieren<br />

<strong>und</strong> asservieren sind.<br />

Literatur<br />

1. Appel H,Wanderer U, Meißner S, Barz J, Kallieris D, Mattern R, Schüler F (1984) Mechanik <strong>und</strong> Biomechanik<br />

des Unfalls. In: Wagner HJ (Hrsg) Verkehrsmedizin. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S 51<br />

2. Forster B (1986) In: Forster B (Hrsg) Praxis der Rechtsmedizin. Georg Thieme, Stuttgart New York<br />

3. Kallieris D, Rizzetti A, Mattern R, Morgan R, Eppinger R, Keenan L (1995) On the synergism of the driver<br />

airbag and the 3 point belt in frontal collisions. Proceedings of the 38th Stapp Conference. San Diego, SAE<br />

paper 952700, pp 389–401<br />

4. McConnell WE, Howard RP, Guzman HM et al. (1993) Analysis of human test subject kinematic responses to<br />

low velocity rear end impacts. Society of Automotive Engineers, paper No. 930889<br />

5. Meyer S,Weber M, Kalthoff W, Schilgen M, Castro W (1999) Freiwilligen-Versuche zur Belastung der Halswirbelsäule<br />

durch Pkw-Heckanstöße.Verkehrsunfall Fahrzeugtechnik 37: 13–24<br />

6. Otte D (1997) Unfall- <strong>und</strong> Verletzungsmuster des Verkehrsunfallpatienten. Lehrbuch für präklinische Notfallmedizin,<br />

Bd 3, Kapitel 2.1,Verlagsgesellschaft Stumpf & Kossendey, Edewecht/Wien, S 35–44<br />

7. Ropohl D (1990) Die rechtsmedizinische Rekonstruktion von <strong>Verkehrsunfälle</strong>n. DAT-Schriftenreihe Technik,<br />

Markt, Sachverständigenwesen, Bd 5, S 107<br />

8. Wagner HJ (1984) In: Wagner HJ (Hrsg) Verkehrsmedizin. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo<br />

Rechtsmedizin 1·2002 51<br />

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