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Hessisches KultusministeriumLan<strong>de</strong>sabitur 2007Beispielaufgaben 2005


Hessisches KultusministeriumLan<strong>de</strong>sabitur 2007BeispielaufgabenDeutschLeistungskursBeispielaufgabe A 1Auswahlverfahren:Die Schülerinnen und Schüler wählen eigenhändigaus <strong>de</strong>n vier vorgelegten Vorschlägen einen aus.Einlese- und Auswahlzeit:Bearbeitungszeit:45 Minuten240 MinutenErlaubte Hilfsmittel:Sonstige Hinweise:Wörterbuch zur <strong>de</strong>utschen Rechtschreibungganzschriftliche Exemplare <strong>de</strong>s „Faust“ und <strong>de</strong>s „Galilei“keine1


Lan<strong>de</strong>sabitur 2007Beispielaufgaben 2005_D-LK_A 1I. Thema und <strong>Aufgabe</strong>nstellungTextinterpretationzum Thema: Zwei Gelehrte und zwei Drameneröffnungen im Vergleich: BertoltBrecht: „Das Leben <strong>de</strong>s Galilei" (1938/39); Johann Wolfgang von Goethe: „Faust I"<strong>Aufgabe</strong>n1.2.3.Vergleichen Sie, wie Goethe bzw. Brecht ihre jeweiligen Protagonisten einführen:Erarbeiten Sie vergleichend ihre jeweilige Haltung zum Leben, zu Zeit und Gesellschaftund zur wissenschaftlichen Arbeit.Beziehen Sie in ihre Analyse mit ein, mit welchen Mitteln <strong>de</strong>s Dramas (mit welcheninszenatorischen Mitteln) Goethe bzw. Brecht ihre Hel<strong>de</strong>n in Szene gesetzt haben.(60 BE)Erörtern Sie, was die Autoren zu ihren unterschiedlichen Gestaltungen bewogen habenmag. (20 BE)Begrün<strong>de</strong>n Sie, welcher <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Vertreter von Wissenschaft Ihnen zeitgemäßer,überzeugen<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r wünschenswerter erscheint. (20 BE)2


Lan<strong>de</strong>sabitur 2007Beispielaufgaben 2005_D-LK_A 1Material 1Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eingangsmonolog (gekürzt): Nacht(In einem hochgewölbten, engen gotischen Zimmer Faust unruhig auf seinem Sessel am Pulte.)510152025303540FAUST: Habe nun, ach! Philosophie,Juristerei und Medizin,Und lei<strong>de</strong>r auch TheologieDurchaus studiert, mit heißem Bemühn.Da steh’ ich nun, ich armer Tor,Und bin so klug als wie zuvor!Heiße Magister, heiße Doktor garUnd ziehe schon an die zehen Jahr’Herauf, herab und quer und krummMeine Schüler an <strong>de</strong>r Nase herum -Und sehe, daß wir nichts wissen können!Das will mir schier das Herz verbrennen.Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen,Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel,Fürchte mich we<strong>de</strong>r vor Hölle noch Teufel -Dafür ist mir auch alle Freud’ entrissen,Bil<strong>de</strong> mir nicht ein, was Rechts zu wissen,Bil<strong>de</strong> mir nicht ein, ich könnte was lehren,Die Menschen zu bessern und zu bekehren.Auch hab’ ich we<strong>de</strong>r Gut noch Geld,Noch Ehr’ und Herrlichkeit <strong>de</strong>r Welt;Es möchte kein Hund so länger leben!Drum hab’ ich mich <strong>de</strong>r Magie ergeben,Ob mir durch Geistes Kraft und MundNicht manch Geheimnis wür<strong>de</strong> kund;Daß ich nicht mehr mit sauerm SchweißZu sagen brauche, was ich nicht weiß;Daß ich erkenne, was die WeltIm Innersten zusammenhält,Schau’ alle Wirkenskraft und Samen,Und tu’ nicht mehr in Worten kramen.O sähst du, voller Mon<strong>de</strong>nschein,Zum letztenmal auf meine Pein,Den ich so manche MitternachtAn diesem Pult herangewacht:Dann über Büchern und Papier,Trübsel'ger Freund, erschienst du mir!Ach! könnt’ ich doch auf BergeshöhnIn <strong>de</strong>inem lieben Lichte gehn,3


Lan<strong>de</strong>sabitur 2007Beispielaufgaben 2005_D-LK_A 1Um Bergeshöhle mit Geistern schweben,Auf Wiesen in <strong>de</strong>inem Dämmer weben,Von allem Wissensqualm entla<strong>de</strong>n,In <strong>de</strong>inem Tau gesund mich ba<strong>de</strong>n!4550Weh! steck´ ich in <strong>de</strong>m Kerker noch?Verfluchtes dumpfes Mauerloch,Wo selbst das liebe HimmelslichtTrüb durch gemalte Scheiben bricht!Beschränkt von diesem Bücherhauf,<strong>de</strong>n Würme nagen, Staub be<strong>de</strong>ckt [...]Das ist <strong>de</strong>ine Welt! das heißt eine Welt!Johann Wolfgang von Goethe, Werke (Hamburger Ausgabe, 14 B<strong>de</strong>), Bd. 3, Beck, München 1998, S. 20-21Material 2Bertolt Brecht: Das Leben <strong>de</strong>s Galilei (1937/38) - ein Stück in 15 Bil<strong>de</strong>rn; hier: Bild 1GALILEO GALILEI, LEHRER DER MATHEMATIK ZU PADUA, WILL DAS NEUEKOPERNIKANISCHE WELTSYSTEM BEWEISEN.In <strong>de</strong>m Jahr sechzehnhun<strong>de</strong>rtundneunSchien das Licht <strong>de</strong>s Wissens hellZu Padua aus einem kleinen Haus.Galileo Galilei rechnete aus:Die Sonn steht still, die Erd kommt von <strong>de</strong>r Stell.Das ärmliche Studierzimmer <strong>de</strong>s Galilei in Padua. Es ist morgens. Ein Knabe, Andrea, <strong>de</strong>r Sohn<strong>de</strong>r Haushälterin, bringt ein Glas Milch und einen Wecken.510GALILEI sich <strong>de</strong>n Oberkörper waschend, prustend und fröhlich: Stell die Milch auf <strong>de</strong>nTisch, aber klapp kein Buch zu.ANDREA Mutter sagt, wir müssen <strong>de</strong>n Milchmann bezahlen. Sonst macht er bald einenKreis um unser Haus, Herr Galilei.GALILEI Es heißt: er beschreibt einen Kreis, Andrea.ANDREA Wie Sie wollen. Wenn wir nicht bezahlen, dann beschreibt er einen Kreis um uns,Herr Galilei.GALILEI Während <strong>de</strong>r Gerichtsvollzieher, Herr Cambione, schnurgera<strong>de</strong> auf uns zu kommt,in<strong>de</strong>m er was für eine Strecke zwischen zwei Punkten wählt?ANDREA grinsend: Die kürzeste.GALILEI Gut. Ich habe was für dich. Sieh hinter <strong>de</strong>n Sterntafeln nach.Andrea fischt hinter <strong>de</strong>n Sterntafeln ein großes hölzernes Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Ptolemäischen Systemshervor.15ANDREA Was ist das?GALILEI Das ist ein Astrolab; das Ding zeigt, wie sich die Gestirne um die Er<strong>de</strong> bewegen,nach Ansicht <strong>de</strong>r Alten.4


Lan<strong>de</strong>sabitur 2007Beispielaufgaben 2005_D-LK_A 1202530354045505560ANDREA Wie?GALILEI Untersuchen wir es. Zuerst das erste: Beschreibung.ANDREA In <strong>de</strong>r Mitte ist ein kleiner Stein.GALILEI Das ist die Er<strong>de</strong>.ANDREA Drum herum sind, immer übereinan<strong>de</strong>r, Schalen.GALILEI Wie viele?ANDREA Acht.GALILEI Das sind die kristallnen Sphären.ANDREA Auf <strong>de</strong>n Schalen sind Kugeln angemacht ...GALILEI Die Gestirne. [...]GALILEI Und jetzt laß die Sonne laufen.ANDREA bewegt die Schalen: Das ist schön. Aber wir sind so eingekapselt.GALILEI sich abtrocknend: Ja, das fühlte ich auch, als ich das Ding zum ersten Mal sah.Einige fühlen das. Er wirft Andrea das Handtuch zu, daß er ihm <strong>de</strong>n Rücken abreibe.Mauern und Schalen und Unbeweglichkeit! Durch zweitausend Jahre glaubte die Menschheit,daß die Sonne und alle Gestirne <strong>de</strong>s Himmels sich um sie drehten. Der Papst, dieKardinäle, die Fürsten, die Gelehrten, Kapitäne, Kaufleute, Fischweiber und Schulkin<strong>de</strong>rglaubten, unbeweglich in dieser kristallenen Kugel zu sitzen. Aber jetzt fahren wir heraus,Andrea, in großer Fahrt. Denn die alte Zeit ist herum, und es ist eine neue Zeit. Seit hun<strong>de</strong>rtJahren ist es, als erwartete die Menschheit etwas.Die Städte sind eng, und so sind die Köpfe. Aberglauben und Pest. Aber jetzt heißt es: daes so ist, bleibt es nicht so. Denn alles bewegt sich, mein Freund. [...] Und es ist eine großeLust aufgekommen, die Ursachen aller Dinge zu erforschen: warum <strong>de</strong>r Stein fällt, <strong>de</strong>nman losläßt, und wie er steigt, wenn man ihn hochwirft. Je<strong>de</strong>n Tag wird etwas gefun<strong>de</strong>n.[...]Denn wo <strong>de</strong>r Glaube tausend Jahre gesessen hat, eben da sitzt jetzt <strong>de</strong>r Zweifel. Alle Weltsagt: ja, das steht in <strong>de</strong>n Büchern, aber laßt uns jetzt selbst sehn. Den gefeiertsten Wahrheitenwird auf die Schulter geklopft; was nie bezweifelt wur<strong>de</strong>, das wird jetzt bezweifelt.Dadurch ist eine Zugluft entstan<strong>de</strong>n, welche sogar <strong>de</strong>n Fürsten und Prälaten die goldbesticktenRöcke lüftet, so daß fette und dürre Beine darunter sichtbar wer<strong>de</strong>n, Beine wieunsere Beine. Die Himmel, hat es sich herausgestellt, sind leer. Darüber ist ein fröhlichesGelächter entstan<strong>de</strong>n. [...] Unsere Schiffe fahren weit hinaus, unsere Gestirne bewegensich weit im Raum herum, selbst im Schachspiel die Türme gehen neuerdings weit überalle Fel<strong>de</strong>r. Wie sagt <strong>de</strong>r Dichter? »O früher Morgen ...«ANDREA »O früher Morgen <strong>de</strong>s Beginnens!O Hauch <strong>de</strong>s Win<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>rVon neuen Küsten kommt!«Und Sie müssen Ihre Milch trinken, <strong>de</strong>nn dann kommen sofort wie<strong>de</strong>r Leute.GALILEI Hast du, was ich dir gestern sagte, inzwischen begriffen?ANDREA Was? Das mit <strong>de</strong>m Kippernikus seinem Drehen?GALILEI Ja.ANDREA Nein. Warum wollen Sie <strong>de</strong>nn, daß ich es begreife? Es ist sehr schwer, und ichbin im Oktober erst elf.GALILEI Ich will gera<strong>de</strong>, daß auch du es begreifst. Dazu, daß man es begreift, arbeite ichund kaufe die teuren Bücher, statt <strong>de</strong>n Milchmann zu bezahlen.ANDREA Aber ich sehe doch, daß die Sonne abends woan<strong>de</strong>rs hält als morgens. Da kannsie doch nicht stillstehen! Nie und nimmer.5


Lan<strong>de</strong>sabitur 2007Beispielaufgaben 2005_D-LK_A 165707580GALILEI Du siehst! Was siehst du? Du siehst gar nichts. Du glotzt nur. Glotzen ist nichtsehen. Er stellt <strong>de</strong>n eisernen Waschschüsselstän<strong>de</strong>r in die Mitte <strong>de</strong>s Zimmers. Also das istdie Sonne. Setz dich. Andrea setzt sich auf <strong>de</strong>n einen Stuhl. Galilei steht hinter ihm. Wo istdie Sonne, rechts o<strong>de</strong>r links?ANDREA Links.GALILEI Und wie kommt sie nach rechts?ANDREA Wenn Sie sie nach rechts tragen, natürlich.GALILEI Nur so? Er nimmt ihn mitsamt <strong>de</strong>m Stuhl auf und vollführt mit ihm eine halbe Drehung.Wo ist jetzt die Sonne?ANDREA Rechts.GALILEI Und hat sie sich bewegt?ANDREA Das nicht.GALILEI Was hat sich bewegt?ANDREA Ich.GALILEI brüllt: Falsch! Dummkopf! Der Stuhl!ANDREA Aber ich mit ihm!GALILEI Natürlich. Der Stuhl ist die Er<strong>de</strong>. Du sitzt drauf.FRAU SARTI ist eingetreten, das Bett zu machen. Sie hat zugeschaut: Was machen Sie eigentlichmit meinem Jungen, Herr Galilei?GALILEI Ich lehre ihn sehen, Sarti.FRAU SARTI In<strong>de</strong>m Sie ihn im Zimmer herumschleppen?ANDREA Laß doch, Mutter. Das verstehst du nicht. [...]Bertolt Brecht, Das Leben <strong>de</strong>s Galilei. Schauspiel, Suhrkamp, Frankfurt 1966, S. 7-12 (gekürzt; Bild 1)6


Lan<strong>de</strong>sabitur 2007Beispielaufgaben 2005_D-LK_A 1Korrektur- und Bewertungshinweise- nicht für <strong>de</strong>n Prüfungsteilnehmer bestimmt -II. Erläuterungen1. <strong>Aufgabe</strong>nart: Textinterpretation2. Voraussetzungen gemäß Lehrplan:Die Beschäftigung mit „Faust I" erfolgt gemäß Lehrplan in 13.1.„Das Leben <strong>de</strong>s Galilei" wird als unbekannter Text gegeben. Vorwissen zur Theorie <strong>de</strong>s epischenTheaters und zu Brechts politischer Haltung wer<strong>de</strong>n nicht vorausgesetzt.In 13.1, aber ebenso in 12.1 und 12.2 wur<strong>de</strong> geübt, dramatische und dialogische Texte <strong>de</strong>s 18., 19. und20. Jahrhun<strong>de</strong>rts zu lesen; die Schüler sollten <strong>de</strong>shalb hier in <strong>de</strong>r Lage sein, „inszenatorisch" zu lesen(d.h. Regieanmerkungen mitzulesen und sich die Realisierung eines Textes auf <strong>de</strong>r Bühne mit <strong>de</strong>nMitteln <strong>de</strong>s Theaters vorstellen zu können).3. Anmerkung:Die Schüler arbeiten auf <strong>de</strong>r Grundlage von mehreren Materialblättern. Bei dramatischen Szenen, von<strong>de</strong>nen eine als gut bekannt vorausgesetzt wer<strong>de</strong>n kann („Faust: Nacht"), erscheint das zumutbar.III. LösungshinweiseZu Teilaufgabe 1:Zur methodischen Leistung gehört es, sich vor <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschrift einen Überblick über Inhalt, Thematikund Vergleichbarkeit <strong>de</strong>r Texte zu verschaffen, um die Arbeit einleiten zu können. Zu erwarten istvon <strong>de</strong>r Einleitung eine knappe Einführung in <strong>de</strong>n „Faust" (Thema und evtl. Themata, Bezug zu Autorund Epoche, Problematik <strong>de</strong>s Faust in „Nacht") und erste Hinweise zur Brecht-Szene, die das TertiumComparationis nennt (etwa: auch hier, wie in „Nacht", befin<strong>de</strong>t sich ein Wissenschaftler in seinemHaus bzw. in seinem Studierzimmer; bei<strong>de</strong> sind damit beschäftigt, über Wissen nachzu<strong>de</strong>nken).Die zentrale Textarbeit kann so verfahren, dass sie vom Bekannten zum Unbekannten, von „Faust" zu„Galilei" geht. Sie kann aber auch mit „Galilei" beginnen. Die Bearbeitung mün<strong>de</strong>t schließlich in dievergleichen<strong>de</strong> Auswertung <strong>de</strong>r Ergebnisse.Wichtig sind die Proportionen. Die Beschäftigung mit <strong>de</strong>n Texten (Material 1 und 2) muss textimmanentüberzeugen und die Vergleichsaufgabe im Sinn behalten. Da „Faust" <strong>de</strong>r bekannte Text ist, darf sich <strong>de</strong>rPrüfling hier nicht in Reproduktion und Ausbreitung von Wissen verzetteln. Der neu zu erschließen<strong>de</strong>frem<strong>de</strong> Text verlangt mehr Zuwendung und Zeit.Zu sehen und zu erarbeiten (hier: Beginn mit <strong>de</strong>m Bekannten):Faust ist allein, Goethe gibt seinen Monolog; es ist Nacht (eine Mondnacht), <strong>de</strong>r Raum ist alt, dunkel,zugestellt: ein „verfluchtes dumpfes Mauerloch" voll „Urväterhausrat"; Faust steht an einem Endpunktseiner Karriere als Wissenschaftler; er zieht Bilanz; er bringt seine tiefe Verzweiflung zum Ausdruck.Er hat die aka<strong>de</strong>mischen Studien durchlaufen, hat Titel, hat Schüler und sieht sich doch als Gescheiterten,Unwissen<strong>de</strong>n an; Lehrtätigkeit und die Weitergabe seines Wissens be<strong>de</strong>uten ihm nichts, sind ihmsogar fragwürdig. Die Kollegen verachtet er. Gesellschaft scheint ihn nicht zu interessieren.Er hat sich vom Universitätswissen ab- und magischen Praktiken zugewandt. Er strebt nach gänzlichUnbekanntem, er will <strong>de</strong>n Quellpunkt alles Geschaffenen erschauen („was die Welt/im Innersten zusammenhält").Zugleich spielt er mit <strong>de</strong>m Gedanken, alles hinter sich zu lassen, ins Leben, in die Natur zu7


Lan<strong>de</strong>sabitur 2007Beispielaufgaben 2005_D-LK_A 1fliehen („Flieh! auf! hinaus ins weite Land!"); er sehnt sich hinaus, spricht <strong>de</strong>n Mond draußen als Freundan, aber bleibt, wiewohl „unruhig", „auf seinem Sessel am Pulte" (Regieanmerkung).In Goethes Exposition ist angelegt, dass dieser Einsame sich das Leben nehmen o<strong>de</strong>r tatsächlich ein ganzan<strong>de</strong>res Leben beginnen wird.Die Szenerie ist mittelalterlich. Goethe versetzt die Handlung mit <strong>de</strong>m hochgewölbten gotischen Zimmerzeitlich zurück (Lutherzeit, Zeit <strong>de</strong>s Volksbuches „Faust"). Der Stil, in <strong>de</strong>m Faust spricht, ist aber <strong>de</strong>rexpressive Stil <strong>de</strong>s Sturm und Drang mit vielen rhetorischen Fragen, Ausrufezeichen und wie<strong>de</strong>rholtem„Ach!" und „Weh!": Faust ist das lei<strong>de</strong>nschaftlich aufbegehren<strong>de</strong> Sturm-und-Drang-Genie, ein Rebellgegen Überkommenes. Die Szene ist, typisch für die Entstehungszeit und passend zum Duktus, inKnittelversen geschrieben.Brechts Protagonist Galilei ist Lehrer <strong>de</strong>r Mathematik, Physiker, Empiriker. Die angegebene Jahreszahl(1609) und die Ortsangabe (Padua) suggerieren, dass Brecht <strong>de</strong>n historischen Galilei zeigen will. Alleswirkt sehr realistisch. Es gibt keine Verssprache.Festzuhalten ist aber, dass auch Brecht – wie Goethe – das Zeitalter <strong>de</strong>s Humanismus seiner Handlung alsFolie unterlegt. Und auch Galilei ist, wie Faust, ohne weltliches Gut, sein Studierzimmer ist „ärmlich"genannt. Auch Galilei ist ein unersättlich Forschen<strong>de</strong>r, Zweifeln<strong>de</strong>r, Streben<strong>de</strong>r; auch er stellt ketzerischÜberkommenes in Frage.Aber das Temperament <strong>de</strong>s Brecht'schen Hel<strong>de</strong>n ist <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Faust krass entgegengesetzt, und auch dieszenische Einrichtung stellt Goethe gleichsam auf <strong>de</strong>n Kopf.Es ist nicht Nacht, son<strong>de</strong>rn früher Morgen. Brecht zeigt nicht Scheitern und Verzweiflung, son<strong>de</strong>rn Aufbruch,Unternehmungsgeist, Fröhlichkeit und die „Lust zu leben".Er zeigt mit <strong>de</strong>r Tageszeit bereits symbolisch, worauf es hier ankommt: auf <strong>de</strong>n frühen Morgen <strong>de</strong>sBeginnens, auf die Wen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s von <strong>de</strong>r kirchlichen Lehre und Macht geprägten Mittelalters hin zur forschen<strong>de</strong>n,wissenschafts- und verstan<strong>de</strong>sorientierten Neuzeit, auf die kopernikanische Wen<strong>de</strong> und dasAufbrechen <strong>de</strong>r Kapseln, in <strong>de</strong>r sich die alte Welt geborgen bzw. befangen sah. Der Morgen, die frischeMilch, die hinausfahren<strong>de</strong>n Schiffe und Andrea, das Kind, sind Symbole und Zeichen dieses Neuanfanges.„Zugluft" fährt in alles.Galilei ist nicht in sich selbst versunken wie Faust, son<strong>de</strong>rn er ist ein gera<strong>de</strong>zu besessener Lehrer. SeinSchüler Andrea ist bei ihm, die Szene ist also dialogisch. Noch während Galilei aufsteht und sich wäscht,lehrt er. Die Sprache ist voll Witz, Plastizität und guter Laune und beglaubigt damit die „Lust zu leben".Die Bücher, die Faust ekeln, liegen hier schon neben <strong>de</strong>m Frühstück. Galilei kauft die „teuren Bücher"für seinen Schüler; ihm geht es darum, dass überprüftes Wissen an die Stelle <strong>de</strong>s Glaubens tritt. Das Neuekommt aus <strong>de</strong>n neuen Büchern und aus <strong>de</strong>r Überzeugungskraft <strong>de</strong>s Faktischen (<strong>de</strong>m Experiment). Andreasoll lesen und lernen und seinen Augen trauen. Zwischen Faust und <strong>de</strong>m Volk ist eine große Kluft.Galilei setzt auf das „Volk": Den kleinen Haushälterinnensohn nimmt er als Schüler ernst: er soll dasneue Weltbild in die neue Generation tragen.Mögliches Fazit: Morgen und helles Licht versus Nacht und Mondschein; Anfang versus En<strong>de</strong>; Geselligkeitund Volksnähe versus Einsamkeit; Dialog versus Monolog; Galileis prusten<strong>de</strong> Fröhlichkeit,die Fausts schwermütiger Seelenverfassung gegenübersteht. Leben, Bewegung, Kommen und Gehen undGalileis Körperlichkeit (überhaupt Körperlichkeit, Sinnliches: sich waschen, essen, trinken; <strong>de</strong>r Apfel,<strong>de</strong>r Stuhl, <strong>de</strong>n Galilei herumschleppt) auf Brechts Schauplatz, während Faust am Pulte sitzt; statt <strong>de</strong>rIntrovertiertheit und Geistigkeit Fausts die Extrovertiertheit Galileis.Statt <strong>de</strong>s Lebensexperiments, das Goethe zeigt, zeigt Brecht elementare Experimentalphysik.Faust will letztlich „<strong>de</strong>m Unendlichen näher" kommen, sein Streben geht in Höhe, Tiefe und Unendlichkeit.Galilei aber will die Denkstrukturen verän<strong>de</strong>rn, die i<strong>de</strong>ologischen Verkrustungen aufbrechen, dieGesellschaft neu zu sehen lehren: die wissenschaftliche Einsicht soll die politische und soziale Weltumkrempeln: Galilei verficht <strong>de</strong>n Fortschritt, er will die praktischen Auswirkungen von Forschung undLehre: sein Streben geht ins Weite, er <strong>de</strong>nkt revolutionär.8


Lan<strong>de</strong>sabitur 2007Beispielaufgaben 2005_D-LK_A 1Vorausgesetzt wird, dass die Schüler und Schülerinnen <strong>de</strong>s Leistungskurses sich selbst <strong>de</strong>n methodischenWeg (die Arbeitsschritte) zur Bewältigung von Teilaufgabe 1 suchen.Anfor<strong>de</strong>rungsbereiche: I, II und III (60 BE)Zu Teilaufgabe 2:Zu erkennen (und zu wissen) ist, dass aus Goethes Faustfigur <strong>de</strong>r Stürmer und Dränger spricht, <strong>de</strong>r einerseits<strong>de</strong>r Büchergelehrsamkeit <strong>de</strong>r Aufklärung (<strong>de</strong>s „tintenklecksen<strong>de</strong>n Säkulums", Schiller) überdrüssigist, an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>n Auftrag <strong>de</strong>r Aufklärung zur Selbstverwirklichung <strong>de</strong>s Individuums ernst nimmt:seine Figur will „das Höchste und Tiefste greifen" und sein „eigen Selbst zu ihrem Selbst (<strong>de</strong>m <strong>de</strong>rganzen Menschheit) erweitern". Goethe gestaltet die „Ich-Werdung" und Emanzipation <strong>de</strong>s Menschen imZeitalter <strong>de</strong>r Aufklärung und damit eine brennen<strong>de</strong> geistige Frage seiner Zeit. Das Experiment undProjekt Faust lotet aus, was <strong>de</strong>r Mensch ist. Dass bei ihm auf <strong>de</strong>r Bühne keine nackten Oberkörper dasind, dass Faust we<strong>de</strong>r isst noch trinkt und die Sprache trotz ihres einst als revolutionär empfun<strong>de</strong>nenSturm-und-Drang-Duktus' in unseren Ohren „hoher Stil" ist, gehört zum Kunstverständnis <strong>de</strong>r Goethezeit(„gesoffen" und „grob gere<strong>de</strong>t" wird in Auerbachs Keller: auf <strong>de</strong>r Ebene „flacher Unbe<strong>de</strong>utendheit").Brechts Dramatik dagegen baut auf <strong>de</strong>n Schultern <strong>de</strong>r Realisten und Naturalisten auf; Alltagsrequisitenwie Waschschüssel, Apfel und Stuhl und die Sorge ums Geld und die Milchrechnung verweisen darauf.Der Stil ist ungebun<strong>de</strong>n, die Sprache ist locker und nähert sich (auf kunstvolle Weise) natürlichemSprechen an. Sein Theater will das Volk erreichen, vergnügen und belehren.Brechts Aufklärung zielt nicht auf die subjektive Innerlichkeit, son<strong>de</strong>rn auf die gesellschaftlichen Verhältnisse.Die Schüler und Schülerinnen, die <strong>de</strong>n „Galilei" nicht kennen, können aus <strong>de</strong>m ersten Bildheraus nicht sehen, dass Brecht die Verantwortung <strong>de</strong>s Naturwissenschaftlers und das Schuldigwer<strong>de</strong>nseines Galilei behan<strong>de</strong>lt, wohl aber sollten sie sehen, dass Brecht die gesellschaftlich-politische Relevanzvon Wissenschaft <strong>de</strong>monstriert.Anfor<strong>de</strong>rungsbereiche: II, III (20 BE)Zu Teilaufgabe 3:Inhaltlich sind hier die Schülerinnen und Schüler frei. Entschei<strong>de</strong>nd ist die Qualität ihrer Argumentation.Sie können, etwa mit Bezug auf die Genforschung, in Galilei <strong>de</strong>n zeitgemäßeren Vertreter vonWissenschaft sehen und sein Bewusstsein von <strong>de</strong>n praktischen Auswirkungen seines Tuns gutheißen.Sie können - bei gleichem Bezug - an die Dialektik <strong>de</strong>r Aufklärung und <strong>de</strong>s naturwissenschaftlichenFortschritts <strong>de</strong>nken und sich eher zu <strong>de</strong>m Wissenschaftsskeptizismus Fausts hingezogen fühlen. Vielleichtschütteln sie <strong>de</strong>n Kopf über <strong>de</strong>n Enthusiasmus, mit <strong>de</strong>m Brecht seine Figur ein wissenschaftlichesZeitalter propagieren lässt.Anfor<strong>de</strong>rungsbereich: III (20 BE)IV. Bewertung und Beurteilung„Ausreichend" (5 Punkte) kann eine Leistung genannt wer<strong>de</strong>n, die trotz sprachlicher und methodischerMängel und zu breit reproduzieren<strong>de</strong>r, inhaltsbezogener Anteile insgesamt <strong>de</strong>n vergleichen<strong>de</strong>nAspekt im Blick behält. Einige stichhaltige Merkmale, die Faust und Galilei und die Gestaltung <strong>de</strong>rFiguren vergleichbar machen und in ihrer Unterschiedlichkeit zeigen, sollten dargestellt und ansatzweisereflektiert sein. Die jeweilige szenische Realisation kann für Teilaufgabe 2 eventuell nicht ausgewertetwer<strong>de</strong>n, sie muss aber in Analyse und Interpretation von Teilaufgabe 1 einbezogen sein.Grundkenntnisse zum „Faust" müssen erkennbar wer<strong>de</strong>n.9


Lan<strong>de</strong>sabitur 2007Beispielaufgaben 2005_D-LK_A 1In <strong>de</strong>n Teilaufgaben 2 und 3 muss in Grundzügen erkennbar sein, dass <strong>de</strong>r Schüler o<strong>de</strong>r die Schülerineinen eigenständigen und sachlich zutreffen<strong>de</strong>n Standpunkt zu entwickeln vermag. Dabei sollten Bezügezu <strong>de</strong>n vorliegen<strong>de</strong>n Texten bzw. zum Gesamtwerk <strong>de</strong>s „Faust" vorhan<strong>de</strong>n sein.„Gut" (11 Punkte) ist eine Leistung, die methodisch klug angelegt ist, die auch komplexe Sachverhalteim Ausdruck klar und begrifflich angemessen auszudrücken vermag und die Problematik <strong>de</strong>s„Faust I" und <strong>de</strong>s Eingangsmonologes differenziert verstan<strong>de</strong>n hat. Für <strong>de</strong>n Umgang mit <strong>de</strong>m Brecht-Text sind Beobachtungsgenauigkeit und Wahrnehmungsreichtum maßgeblich.Neben <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>r Tageszeit, <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>n Signalen für die neue Zeit und <strong>de</strong>r Demonstration<strong>de</strong>s Gesellschaftsbezugs von Wissenschaft müssen Charakteristika in <strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>r Figurenspracheund <strong>de</strong>r Szenengestaltung bemerkt und in <strong>de</strong>n Vergleich hineingenommen wer<strong>de</strong>n können.In Teilaufgabe 2 kann vom jeweiligen Thema, von <strong>de</strong>r Epoche und vom Interesse <strong>de</strong>r Autoren aus argumentiertwer<strong>de</strong>n. Hier sollte eine differenzierte und fundierte Darstellung erfolgen.Das in Teilaufgabe 3 abzugeben<strong>de</strong> Votum sollte nicht nur nachvollziehbar begrün<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn auch mitBeispielen ausgestattet sein. Bezüge zu <strong>de</strong>n vorliegen<strong>de</strong>n Texten bzw. zum Gesamtwerk <strong>de</strong>s „Faust"sollten <strong>de</strong>utlich hergestellt wer<strong>de</strong>n.10

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