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Grundlagen Kulturwissenschaft - Interculture Journal

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Inhalt<br />

Klaus P. Hansen<br />

Zulässige und unzulässige<br />

Komplexitätsreduktion beim<br />

Kulturträger Nation<br />

Jörg Scheffer<br />

Entgrenzung durch neue Grenzen:<br />

Zur Pluralisierung von Kultur<br />

Stefanie Rathje<br />

The Definition of Culture -<br />

An Application-Oriented Overhaul<br />

Mario Schulz<br />

Kann man komplexe<br />

transnationale Kollektive<br />

beschreiben, ohne unzulässig<br />

die Komplexität zu reduzieren?<br />

online-Zeitschrift für Interkulturelle Studien<br />

I Jahrgang 8 I Ausgabe 8 I www.interculture-journal.com<br />

Tagungsband der Forschungsstelle <strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong><br />

Wir, die oder alle?<br />

Kollektive als Mittler einer<br />

komplexen Kulturwirklichkeit<br />

Gastherausgeber: Jörg Scheffer<br />

Herausgeber:<br />

Jürgen Bolten<br />

Stefanie Rathje<br />

Forschungsstelle<br />

<strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong><br />

2009


Tagungsband der Forschungsstelle <strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong><br />

Forschungsstelle<br />

<strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong><br />

Gastherausgeber: Dr. Jörg Scheffer (Passau)<br />

Herausgeber:<br />

Prof. Dr. Jürgen Bolten (Jena)<br />

Prof. Dr. Stefanie Rathje (Berlin)<br />

Wissenschaftlicher Beirat:<br />

Prof. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Ahrens (Würzburg)<br />

Prof. Dr. Manfred Bayer (Danzig)<br />

Prof. Dr. Klaus P. Hansen (Passau)<br />

Prof. Dr. Jürgen Henze (Berlin)<br />

Prof. Dr. Bernd Müller-Jacquier (Bayreuth)<br />

Prof. Dr. Alois Moosmüller (München)<br />

Prof. Dr. Alexander Thomas (Regensburg)<br />

Chefredaktion und Web-Realisierung:<br />

Mario Schulz<br />

Editing:<br />

Susanne Wiegner<br />

Fachgebiet:<br />

Interkulturelle Wirtschaftskommunikation<br />

Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />

ISSN: 1610-7217<br />

www.interculture-journal.com


1<br />

7<br />

19<br />

35<br />

59<br />

Inhalt<br />

Einleitung: Auf der Suche nach neuen Kulturträgern<br />

Jörg Scheffer<br />

Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion<br />

beim Kulturträger Nation<br />

Klaus P. Hansen<br />

Entgrenzung durch Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

Jörg Scheffer<br />

The Definition fo Culture: An Application-Oriented Overhaul<br />

Stefanie Rathje<br />

Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben,<br />

ohne unzulässig die Komplexität zu reduzieren?<br />

Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur<br />

Kollektivbeschreibung<br />

Mario Schulz


Einführung des Gesamtherausgebers<br />

Dr. Jörg Scheffer<br />

Scheffer: Einführung<br />

Auf der Suche nach neuen Kulturträgern<br />

Die <strong>Kulturwissenschaft</strong>en schreiben traditionell kulturelle Erscheinungen<br />

bestimmten Kulturträgern zu. Zu den häufigsten<br />

zählen Ethnie, Volk, Nation, Raum, Region oder Staat. Aufgrund<br />

ihrer klaren Konturen, ihrer Geschlossenheit und Identität<br />

verleihen sie Kultur Prägnanz. Sie fixieren das Fluide,<br />

konkretisieren das Abstrakte und kategorisieren das Mehrdeutige.<br />

Ihren Stellenwert erhalten sie nicht zuletzt in der<br />

Funktion, jeden kulturbezogenen Diskurs mit Verständnis fördernden<br />

Begriffen zu versorgen. Ob Maori, Mailänder oder<br />

Mexikaner, die unterlegten Träger suggerieren und transportieren<br />

Evidenz: Das Bezeichnete erscheint als gegebener,<br />

ganzheitlicher und konkreter Gegenstand unserer Wirklichkeit.<br />

Spätestens seit den neunziger Jahren wird diese übersichtliche<br />

Kulturwelt jedoch angezweifelt. Die zunehmende Globalisierung<br />

zeigt sich als Entankerungsprozess, der kulturelle<br />

Differenzen teilweise abstandslos werden lässt. Die überkommenen<br />

Klassifizierungsgewohnheiten geraten infolge einer<br />

neu entdeckten Kulturwirklichkeit unter Beschuss. Homogenes<br />

entpuppt sich als Konstrukt, Ganzheit als Fiktion. Damit<br />

einher geht die wachsende Kritik an den theoretischen<br />

und methodischen Prämissen einstiger Zuweisungen. Die bisherigen<br />

Kulturträger, so die gewonnene Erkenntnis, sind<br />

Konstruktionen allzu weit gehender Komplexitätsreduktion.<br />

Die Suggestion ihrer Gegenständlichkeit ist durch methodisch<br />

manipulierte Verdinglichung zustande gekommen.<br />

Ihr suchen die Kritiker mit neuen und fast trägerlosen Konzepten<br />

zu begegnen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten<br />

hat sich dabei ein weites Spektrum alternativer Deutungsmuster<br />

entfaltet, das zwischen dem traditionellen Verharren und<br />

dem radikalen Verzicht auf Kultur (u.a. Abu Lughod 1991)<br />

große Varianz zeigt (stellvertretend genannt seinen Appadurai<br />

1996, Bhabha 1994, Hannerz 1996). Hatte Wimmer<br />

(1996) in Anlehnung an Gellner die kulturelle Welt metaphorisch<br />

als Bild beschrieben, dessen Konturen sich bei näherer<br />

Betrachtung auflösen, geht es Globalisierungstheoretikern<br />

unlängst auch darum, den Prozess des Verlaufens frischer<br />

Farbe einzufangen: Der von Wimmer beschriebene Wechsel<br />

„von Modigliani zu Kokoschka“ (Wimmer 1996:404), so ließe<br />

sich ergänzen, kann neben kaum fixierbaren Momentaufnahmen<br />

auch völlige Konturlosigkeit aufweisen. Entsprechend<br />

werden die klassischen Kulturträger im Zeichen einer<br />

Kontextualität, Transkulturalität, Hybridität, Multilokalität oder<br />

Relationalität dekonstruiert. Das einst „komplexe Ganze“<br />

(Tylor 1871) gerät gänzlich komplex.<br />

1<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Scheffer: Einführung<br />

So fortschrittlich diese unterschiedlichen Konzeptionen in ihrem<br />

theoretischen Anspruch erscheinen, so wenig hilfreich<br />

erweisen sie sich allerdings häufig für die praktische Forschung.<br />

Zum einen deuten sie im Selbstlegitimierungsprozess<br />

die kulturelle Wirklichkeit nun unter ihrem Blickwinkel mit der<br />

gleichen Konsequenz und Dogmatik aus, die sie bei den klassischen<br />

Trägerkonzepten noch kritisierten. Dabei geraten persistente<br />

Erscheinungen oder gemeinschaftliche Prägungen oft<br />

ebenso aus dem Blick, wie das verbreitete (interkulturelle)<br />

Interesse, lediglich vorherrschende Muster zu erfassen.<br />

Zum anderen lassen sich die neuen Konzepte nur in geringer<br />

Dosierung empirisch konkretisieren. Zwei- oder dreifache Differenz<br />

oder die Dynamik zwischen zwei oder drei Faktoren<br />

lässt sich noch bewältigen, nicht aber Differenz oder Dynamik<br />

schlechthin. Wissenschaftliche Beschreibung kommt nicht<br />

ohne Komplexitätsreduktion, aus und kulturwissenschaftliche<br />

Beobachtungen müssen ihre Ergebnisse an einem Träger<br />

festmachen. Diese Grundvoraussetzungen praktischer Forschung<br />

sind bei den neuen Ansätzen aber nicht mehr gegeben.<br />

Sie müssen mit dem (impliziten) Rekurs auf die Trägerkonzepte<br />

- und sei es nur in semantischer Hinsicht - erkauft<br />

werden. Als „Zombie-Kategorien“ (Beck 2002:24), die in ihrem<br />

traditionellen (scheinbar beerdigten) Beschreibungsmodus<br />

den aktuellen sozialen und kulturellen Gegebenheiten<br />

nicht mehr Rechnung tragen, finden sie stets (lebendig) Eingang<br />

in unsere kulturbezogene Kommunikationspraxis.<br />

In jüngerer Zeit wurde mit dem Konzept der Transdifferenz<br />

ein weiterer Neologismus ins Spiel gebracht, das die Klassifizierungslogik<br />

auch für Phänomene jenseits des Differenten<br />

öffnet (Breining et al. 2002, Allolio-Näcke et al. 2005). Dabei<br />

werden die gängigen binären Unterscheidungen anerkannt,<br />

die für kulturelle Benennungen, Zuteilungen und Orientierungen<br />

unerlässlich sind. Gleichzeitig aber soll Transdifferenz<br />

all das Widerspenstige und Abweichende mit einschließen,<br />

das sich in dieses Raster nicht fügen lässt. Lösch (2005:28f.)<br />

bemüht hier die Metapher eines gepflegten Gartens, der neben<br />

allen geordneten Phänomenen auch Unkraut aufweist.<br />

Als transdifferente Erscheinung läuft es - gleich ungetrockneter<br />

Farbe in einem Bild - durch bestehende Ordnungen hindurch.<br />

Der heuristische Wert des „Sowohl-als-auch-Denkens“ manifestiert<br />

sich bereits in diversen Veröffentlichungen. Was jedoch<br />

in theoretischer Hinsicht kreative Freiräume zur Beschreibung<br />

des „Querliegenden“ geschaffen hat, beschneidet<br />

den Nutzen in der analytischen Praxis. Letztlich birgt jede<br />

Operationalisierung erneut die Gefahr eines Reduktionismus<br />

(vgl. dazu auch Breining / Lösch 2005:454). In dem Zusammenhang<br />

bleibt auch zu fragen, wie die konzeptionelle Tren-<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 2


Scheffer: Einführung<br />

nung von Differentem und Transdifferentem in der Praxis<br />

vorgenommen wird. Auch Unkraut lässt sich - je nach Blickwinkel<br />

- als gewolltes Element in die Ordnung eines Gartens<br />

bringen.<br />

Die Beiträge der vorliegenden Ausgabe widmen sich einem<br />

weiteren Trägerkonzept, das in den vergangenen Jahren vor<br />

allem durch Hansen (2003:158ff., 2009) in seinem analytischen<br />

Potenzial weiter erschlossen und ausdifferenziert wurde:<br />

Kollektivität. Jenseits der Ganzheit von Kultur bieten Kollektive<br />

Differenzierungsangebote, die der komplexen Kulturwirklichkeit<br />

variabel begegnen, sie in Abhängigkeit vom Erkenntnisinteresse<br />

unterschiedlich strukturieren und dabei ein<br />

breites Angebot an Beschreibungstermini einbringen können.<br />

Im Rahmen einer Tagung, die von der Forschungsstelle<br />

<strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong> am 16.11.2007 unter dem<br />

Titel „Komplexe Ganzheit oder gänzliche Komplexität - die<br />

neuen Paradigmen der <strong>Kulturwissenschaft</strong>“ in Passau durchgeführt<br />

wurde, griffen die Referenten und Autoren des Heftes<br />

diese Optionen in unterschiedlicher Weise auf:<br />

Klaus P. Hansen widmet sich dem Kollektiv Nation. Er zeigt,<br />

dass nicht die oft unterstellte Homogenität diese zusammenhält,<br />

sondern vielmehr kollektive Mehrfachzugehörigkeiten<br />

oder „Polykollektivität“. Hansen veranschaulicht wie Interaktionsregeln<br />

und Institutionen den Kollektiven Kohäsion verleihen<br />

und wie sie in präkollektiven und pankollektiven Zusammenhängen<br />

funktionieren. Auf Grundlage dieser Prozesse<br />

können Nationen letztlich als Unikatskonglomerate analysiert<br />

werden.<br />

Jörg Scheffer beschreibt kulturelle Kategorisierungen als Praxis<br />

der Grenzziehung. Da sich diese auf ein vorgegebenes Arsenal<br />

räumlich-semantischer Vorkategorisierungen bezieht, ist<br />

sie für eine Kulturwirklichkeit außerhalb dieser Einteilungen<br />

strukturell blind. Sein „selektives Kulturkonzept“ sieht stattdessen<br />

eine Verortung von Kollektiven vor, die interessenabhängig<br />

den aktuellen kulturellen Gegebenheiten Konturen<br />

verleihen. Kultur folgt dabei nicht mehr räumlichen Einteilungen<br />

sondern umgekehrt.<br />

Stefanie Rathje setzt in ihrer Kritik am traditionellen Kulturkonzept<br />

und dessen Kohärenzpostulat den Kollektivbegriff<br />

ebenfalls als Differenzierungsmittel ein: In der Unterscheidung<br />

von Kollektiv und Kultur einerseits und Individualität<br />

und Pluralität andererseits, entwickelt sie eine Vier-Felder-<br />

Matrix, mit der sich sowohl das Kohärenz-Paradigma überwinden,<br />

als auch eine präzise Beschreibung der kulturellen<br />

Gegebenheiten vornehmen lässt. Letzteres macht sie anhand<br />

konkreter Praxisbeispiele und aktueller Anwendungsbezüge<br />

deutlich.<br />

3<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Scheffer: Einführung<br />

Mario Schulz analysiert schließlich die Komplexität des Kollektivs<br />

der deutsch-tschechischen bzw. der deutschslowakischen<br />

Historikerkommission. Um die Arbeits- und<br />

Wirkungsweise dieses transnationalen Akteurs mit Hilfe qualitativer<br />

Experteninterviews herauszuarbeiten, greift er auf<br />

Hansens Konzept der Multikollektivität zurück. Überzeugend<br />

wird belegt, dass eine zunächst methodisch notwenige Komplexitätserhöhung<br />

dazu dienen kann, kulturelle Komplexität<br />

in einem zweiten Schritt Verständnis fördernd zu senken. Die<br />

Perspektive Kollektivität erweist sich dabei erneut als viel versprechender<br />

Mittler einer komplexen Kulturwirklichkeit.<br />

Jörg Scheffer<br />

Passau im Juli 2009<br />

Literatur<br />

Abu Lughod, L. (1991): Writing against Culture. In: Fox, R. G. (Hrsg.): Recapturing<br />

Anthropology. Working in the present. Santa Fe: School of<br />

American Research Press, S. 137-162.<br />

Allolio-Näcke, L, Kalscheuer, B. / Manzeschke, A. (2005): Differenzen anders<br />

denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/M.:<br />

Campus.<br />

Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large. Cultural dimensions of globalization.<br />

Minnesota: University of Minnesota Press.<br />

Beck, U. (2002): The Cosmopolitan Society and its Enemies. Theory, Culture<br />

& Society 19 (1-2), S. 17-44.<br />

Bhabha, Homi K. (1994): The Location of Culture. London: Routledge.<br />

Breining, H. / Gebhardt, J. / Lösch, K. (Hrsg.) (2002): Multiculturalism in<br />

Contemporry Societies. Perspectives on Difference and Transdifference.<br />

Erlangen: Universitätsbund.<br />

Breining, H. / Lösch, K. (2005): Lost in Transdifference. Thesen und Anti-<br />

Thesen. In: Allolio-Näcke, L. / Kalscheuer, B. / Manzeschke, A. (Hrsg.): Differenzen<br />

anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz.<br />

Frankfurt/M.: Campus, S. 454-455.<br />

Hannerz, Ulf (1996): Transnational Connections: Cultures, people, places.<br />

London: Routledge.<br />

Hansen, K. P. (2003): Kultur und <strong>Kulturwissenschaft</strong>. Tübingen, Basel: UTB.<br />

Hansen, K. P. (2009): Kultur, Kollektiv, Nation. Passau: Stutz.<br />

Lösch, K. (2005): Begriff und Phänomen der Transdifferenz. Zur Infragestellung<br />

binärer Differenzkonstrukte. In: Allolio-Näcke, L. / Kalscheuer, B. /<br />

Manzeschke, A. (Hrsg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer<br />

Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/M.: Campus, S. 26-49.<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 4


Scheffer: Einführung<br />

Tylor, Edward B. (1871): Primitive culture. Researches into the development<br />

of mythology, philosophy, religion, language, art and custom. London: J.<br />

Murray.<br />

Wimmer, A. (1996): Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen<br />

Grundbegriffs. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie<br />

48 (3), S. 401-425.<br />

5<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Scheffer: Einführung<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 6


Zulässige und unzulässigeKomplexitätsreduktion<br />

beim<br />

Kulturträger Nation<br />

Prof. Dr. Klaus P. Hansen<br />

Universität-Passau/ Forschungsstelle<br />

<strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong><br />

Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />

Abstract<br />

Once again the question is raised, what is a nation? It is not<br />

as usually is taken for granted a homogenous object. This incorrect<br />

premise is of venerable age, but strongly cherished<br />

today by the bulk of interculturalists. It is high time to discard<br />

this premise. This does not mean, however, that we have to<br />

do without the concept of nation. Without doubt a nation is<br />

an object of distinctiveness and singularity. But how might it<br />

be described? The article offers suggestions how it could be<br />

done.<br />

1. Quantitative und qualitative Reduktion<br />

Kultur schwebt nicht über den Wassern, sondern wird konkret<br />

an Gegenständen angetroffen, die man Kulturträger<br />

nennen könnte. Der wichtigste, weil am häufigsten bemühte<br />

von ihnen ist das ethnische Kollektiv mit seinen Erscheinungsformen<br />

Stamm, Volk und Nation. Die Ethnologie, die Erfinderin<br />

des wissenschaftlichen Kulturbegriffs, wandte ihn in ihren<br />

Anfängen ausschließlich auf solche Stämme und Völker an,<br />

die damals primitiv genannt wurden. Sie erforschte archaische,<br />

noch nicht modernisierte Gesellschaften. Diese Einengung<br />

wurde ab 1930 überwunden. Die amerikanische Ethnologie,<br />

die dort cultural anthropology heißt, entwickelte ab<br />

diesem Zeitpunkt das Paradigma national character, welches<br />

davon ausging, dass nicht nur überschaubare Stämme und<br />

Völkerschaften, sondern auch moderne Nationen eine einheitliche<br />

Kultur besitzen (Mead 1951). Man begründete diese<br />

Annahme über die identische Sozialisation, die alle Landsleute<br />

im Stadium der Kindheit durchlaufen haben sollen (Mead<br />

1928). Neben der Theorie lieferte dieser Ansatz, der sich auch<br />

culture and personality school nannte, praktische Ergebnisse,<br />

die, da der 2. Weltkrieg kurz bevor stand, auch von Militärstrategen<br />

zur Kenntnis genommen wurden (Gorer 1948, Potter<br />

1954).<br />

Die Renaissance des Kulturbegriffs, die ab 1980 einsetzte und<br />

die moderne <strong>Kulturwissenschaft</strong> ins Leben rief, führte zu einer<br />

Ethnologisierung vieler Disziplinen. Gegenüber der Mutterwissenschaft<br />

kamen jetzt neue Kulturträger hinzu. Nicht<br />

mehr nur ethnischen Kollektiven wurde Kultur zugesprochen,<br />

sondern man erweiterte den Kulturbegriff und wandte ihn<br />

auf alle denkbaren Kollektive an (Subkultur, Unternehmenskultur<br />

etc. galten als Kulturträger) (Nünning / Nünning 2003).<br />

Dennoch blieb die Nation, obwohl ihre ethnischen Ursprünge<br />

fragwürdig geworden waren, weiterhin der wichtige Kulturträger,<br />

der bei den Disziplinen Landeskunde, cultural studies<br />

und Interkulturelle Kommunikation unangefochten im Vor-<br />

7<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />

dergrund stand. Seit der Renaissance des Kulturbegriffs ist die<br />

Ethnologie zweigeteilt. Die Traditionalisten erforschen weiterhin<br />

nicht-westliche und nicht-modernisierte Völkerschaften<br />

- beispielsweise in Süd-Ost-Asien - die Fortschrittlichen aber,<br />

die sich Europäische Ethnologie nennen und worin sich teilweise<br />

die alte Volkskunde (Hartinger 1993) verbirgt, analysieren<br />

mit Hilfe des Kulturbegriffs den Alltag moderner Nationen<br />

(Warneken 2000).<br />

Um Kollektive als Kulturträger zu erforschen, muss – wie eigentlich<br />

immer in der Wissenschaft – eine gewisse Komplexitätsreduktion<br />

vorgenommen werden. Aufgrund der schieren<br />

Quantität gilt das für den Kulturträger Nation umso mehr.<br />

Doch Reduktion ist nicht Reduktion: Es gibt zulässige, die nur<br />

die Quantität verringern, und unzulässige, welche darüber<br />

hinaus die Qualität des Gegenstandes antasten. Quantitative<br />

Reduktionen sind unvermeidlich, und sie sind solange nicht<br />

schlimm, wie sie Strukturen und wesentliche Merkmale nicht<br />

antasten. Genau diesen Vorwurf muss man aber den qualitativen<br />

Verfahren machen, die Wesentliches weglassen und deren<br />

Ergebnisse insofern nicht durch die Wirklichkeit gedeckt<br />

sind.<br />

Der Kulturträger Nation ist ein beliebtes Opfer qualitativer<br />

Komplexitätsreduktion, die in Form der Homogenitätsprämisse<br />

auftritt. Konkret besteht sie darin, dass man 8 Millionen<br />

Österreichern oder den fast 300 Millionen Amerikanern ein<br />

partielles Gleichverhalten unterstellt. Zum Beispiel gleiche<br />

Werte, gleiche Wahrnehmungsformen, gleiche Symbole und<br />

eine gleiche Denkweise, die man Mentalität nennt. Die Homogenitätsprämisse<br />

reduziert die Qualität der Heterogenität,<br />

die ein wesentliches Merkmal pluralistischer Nationen darstellt,<br />

und diese Reduktion ist nötig, damit der Moloch Nation<br />

dem Kulturbegriff zugänglich wird.<br />

2. Die Homogenitätsprämisse<br />

Die Homogenitätsprämisse besitzt eine lange Geschichte und<br />

tritt in verschiedenen Formen auf. Entweder kommt sie metaphysisch<br />

spekulativ daher oder als pseudo-empirische Theorie.<br />

Die antiken Geschichtsschreiber neigten der zweiten Form<br />

zu und führten das Gleichverhalten innerhalb der Völker entweder<br />

auf das Klima oder die politischen Institutionen zurück.<br />

Beide Annahmen gehen davon aus, dass eine vorgeordnete<br />

Gegebenheit, die auf alle Volksgenossen einwirkt, eine so<br />

weit gehende, prägende Kraft besitzt, dass sich die Geprägten<br />

gleichen. Aufgrund der Polis und der von ihr ausgehenden<br />

Freiheitsliebe hielten Isokrates und Herodot die Griechen<br />

für kampfesstärker als die Perser, denen durch die Staatsform<br />

der Tyrannei jeder Mannesmut genommen sei. Im Unter-<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 8


Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />

schied dazu begründete Aristoteles die griechische Überlegenheit<br />

aus dem milden Klima seiner Heimat. 1<br />

Die Mehrheit der Autoren, die sich über Unterschiede zwischen<br />

den Völkern äußern und dabei Homogenität voraussetzen,<br />

macht sich gar nicht die Mühe, eine zu Ende gedachte<br />

Begründung zu liefern. Man geht davon aus, dass sich Völker<br />

und Nationen aus einer ethnischen Urzelle entwickelten 2<br />

, tut<br />

dann aber nicht den nächsten nahe liegenden Schritt, die<br />

Homogenität auf genetische Verwandtschaft zurückzuführen.<br />

Vielleicht schwingt es unterschwellig mit, aber laut und deutlich<br />

sagt das niemand, denn bewiesen wäre es erst, wenn<br />

man aus deutschen Testpersonen das Pünktlichkeits-Gen isoliert<br />

hätte.<br />

Im 18. Jahrhundert konnte Herder da noch mutiger sein. Er<br />

hob die Homogenitätsprämisse ins Religiöse und metaphysisch<br />

Spekulative. Gott schuf nicht den Menschen, so ließe<br />

sich verschärft sagen, sondern die Völker. Mit diesem Schachzug<br />

konnte er das Miteinander von Gleichheit und Ungleichheit<br />

erklären. Als Volksgenossen unterscheiden sich die Menschen,<br />

was schon bei Hautfarbe und Körperbau beginnt, um<br />

dann darüber wieder zusammen zu finden, dass Völker Varianten<br />

des Menschlichen sind. Herder, das wäre genauer zu<br />

untersuchen, spricht weniger von Kultur als vom Völkischem:<br />

von "völkischer Seele" oder "völkischer Ganzheit" (vgl. Willoweit<br />

/ Fehn 2007). Der Kulturbegriff kommt indes selten<br />

vor. Ihn bringen erst später die Ethnologen ins Spiel, indem<br />

sie das Völkische Kultur nennen. Seitdem erscheint die Homogenitätsprämisse<br />

unter diesem Namen, dem aber lange,<br />

da Herders spekulative Philosophie moderneren Maßstäben<br />

nicht mehr genügte, eine Theorie fehlte. Sie wurde erst im<br />

20. Jahrhundert durch die bereits erwähnte culture and personality<br />

school geliefert. Im Rahmen des Paradigmas national<br />

character wurde auf wissenschaftlich ernst zu nehmendem<br />

Wege die Homogenitätsprämisse zu begründen versucht. Die<br />

Antwort lautete, Nationalkultur und Nationalcharakter entstehen<br />

durch Sozialisation. Weil die Eltern ihre Kinder auf<br />

gleiche Weise erziehen, soll es zur charakterlichen Angleichung<br />

kommen. Seitdem haben wir dicke Bücher über den<br />

amerikanischen Nationalcharakter, deren Thesen heute noch<br />

zu finden sind. Das Ganze besitzt aber einen Schönheitsfehler:<br />

Die Homogenität wird nicht durch die Erziehung geschaffen,<br />

sondern liegt ihr voraus.<br />

Eine Minderheit der modernen <strong>Kulturwissenschaft</strong>ler bezweifelte<br />

jedoch die Homogenitätsprämisse, wobei zwei Argumente<br />

ins Feld geführt wurden. Clifford Geertz, der herausragende<br />

Kulturanthropologe Amerikas, schrieb seiner Zunft<br />

ganz grundsätzlich ins Stammbuch, dass sie mit einem deterministischen<br />

Kulturbegriff arbeite. Ethnologie und sonstige<br />

9<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />

<strong>Kulturwissenschaft</strong>en betrieben ihr Geschäft so, als würde<br />

Kultur normativ Verhaltensweisen vorschreiben, die, wenn<br />

man dazu gehören wollte, befolgt werden müssten. Dieser<br />

Determinismus-Vorwurf trifft natürlich auch die Homogenitätsprämisse,<br />

denn nur Determinanten erzeugen Gleichheit.<br />

Gegen diesen falschen Ansatz hebt Geertz den Angebotscharakter<br />

von Kultur hervor. Sie stelle Zeichen und Verhaltensmöglichkeiten<br />

bereit, die von den Individuen verschieden<br />

– also nicht homogen - realisiert würden (Geertz 1973). Die<br />

Kritik des Soziologen Ulrich Beck nimmt ihren Ausgang von<br />

folgender Überlegung. Kultur, so seine Metapher, sei kein<br />

fest verschlossener Container, aus dem nichts heraus oder in<br />

den nichts hinein gelange. Beim Kulturträger Nation sei das<br />

besonders offensichtlich. In unserer globalisierten Welt stünden<br />

alle Länder weit offen und es finde ein permanenter<br />

Transfer zwischen ihnen statt. Da alles im Fluss sei, so Becks<br />

Resultat, wäre Homogenität nicht möglich (Beck 1998). 3<br />

Wolfgang Welsch (1995) sekundiert mit dem Zusatz, dass sie<br />

noch nie möglich war und verweist auf ältere Globalisierungen<br />

wie das römische Reich und die Völkerwanderung.<br />

So richtig diese Kritik ist, schießt sie doch über das Ziel hinaus.<br />

Im Grunde stellen Geertz und Beck, wenn man ihre<br />

Schriften genau liest, die Gegenständlichkeit des Kulturträgers<br />

Nation in Abrede. Für sie ist Nationalität Konstruktion<br />

und Einbildung. Das aber läuft unserem Empfinden zuwider.<br />

Wenn wir in Spanien sind, kommt uns alles spanisch vor, und<br />

wenn wir einen Film sehen, der in Deutschland spielt, erkennen<br />

wir die Heimat. Nationen, das ist nicht nur eine Erfahrung,<br />

sind erkennbar. Sie zeigen nationalspezifische Besonderheiten,<br />

die sie von anderen Nationen unterscheiden.<br />

Wenn sie aber erkennbar sind, müssen sie Gegenständlichkeit<br />

besitzen, die aber eben nicht in Homogenität besteht. Daher<br />

sollte man den Nationenbegriff nicht auf die Halde menschlicher<br />

Irrtümer werfen, sondern nur die verfälschende Homogenitätsprämisse<br />

aufgeben. Die qualitative Komplexitätsreduktion<br />

müsste rückgängig gemacht und durch eine quantitative<br />

ersetzt werden.<br />

3. Neukonzeption des Begriffs Nation<br />

Dazu stellt sich als erstes die Frage, was für eine Art Kollektiv<br />

ist die Nation? Ich unterscheide Kollektive ersten Grades von<br />

solchen zweiten Grades. Die ersteren bestehen aus Individuen;<br />

die letzteren über diese hinaus vor allem aus Kollektiven.<br />

Ein Tennisclub besteht aus Mitgliedern; der Deutsche Gewerkschaftsbund<br />

hingegen, ein Kollektiv zweiten Grades, besteht<br />

aus Einzelgewerkschaften, also aus Kollektiven ersten<br />

Grades.<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 10


Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />

Nationen sind Kollektive zweiten Grades in einem noch weiteren<br />

Sinne als mein Gewerkschaftsbeispiel. Der Deutsche<br />

Gewerkschaftsbund setzt sich aus stark ähnlichen Kollektiven<br />

ersten Grades zusammen, die man Zwillingskollektive nennen<br />

könnte. Unter dem Dach der Nation hingegen finden wir<br />

nicht nur unendlich viele, sondern vor allem auch unendlich<br />

verschiedene Kollektive. Unter dem deutschen Dach drängeln<br />

sich Briefmarkensammler, Esoteriker, Neonazis, Schützen-<br />

und Karnevalsvereine, Hobbyclubs, Wirtschaftsunternehmen,<br />

terroristische Vereinigungen und, besonders deutsch, die Gesellschaft<br />

zur Rettung des Genetivs. Selbst Kollektive zweiten<br />

Grades wie Innungen und Interessenverbände sind darunter.<br />

Das hervorstechende Merkmal einer modernen Nation nenne<br />

ich deshalb Polykollektivität. Sie setzt Pluralismus voraus,<br />

denn die einzelnen Kollektive verfolgen andere Interessen<br />

und leben nach anderen Werten.<br />

Das entscheidende Merkmal der Polykollektivität, aus dem die<br />

Staatsform Demokratie ihre Legitimation bezieht, wird von<br />

der Homogenitätsprämisse unterschlagen. Diese entscheidende<br />

Qualität wird durch die Komplexitätsreduktion eliminiert,<br />

wodurch der Kulturträger Nation in einem seiner wesentlichsten<br />

Punkte entstellt wird. Nationen werden nicht<br />

durch Homogenität bestimmt, sondern durch Heterogenität.<br />

Von der Basis Heterogenität und Polykollektivität lassen sich<br />

weitere Merkmale ableiten. So die Funktion von Kollektiven<br />

zweiten Grades, die darin besteht, das Miteinander der Kollektive<br />

zu regeln. Das gilt um so mehr für das Dachkollektiv<br />

Nation, das für die Erhaltung, Steuerung und Zähmung von<br />

Polykollektivität verantwortlich ist.<br />

Diese Funktionen wird auf vielfache Weise erfüllt. Dabei<br />

kommt ihm folgendes Phänomen zur Hilfe. Die meisten der<br />

das Dachkollektiv ausmachenden Kollektive sind nicht so<br />

scharf und hermetisch von einander abgegrenzt, wie wir<br />

meinen. Da Individuen vielen Kollektiven angehören, sind diese<br />

irgendwie miteinander verschränkt oder ragen gegenseitig<br />

in sich hinein. In einem Tennisclub, genauso wie in einer Einzelgewerkschaft,<br />

treffen Katholiken auf Protestanten, Vegetarier<br />

auf Schnitzelfreunde, Schwaben auf Bayern. Das liegt an<br />

der Multikollektivität der Individuen, wie ich es nenne, d.h. an<br />

der Tatsache, dass der Einzelne vielen Kollektiven angehört.<br />

Ich bin bekennender Rheinländer, Volvo-Fahrer, Atheist,<br />

Hochschullehrer, Tennisspieler und Hausbesitzer.<br />

Die Multikollektivität sorgt dafür, dass die Mehrzahl der Kollektive<br />

präkollektiv mit einander verbunden ist. Der Begriff<br />

präkollektiv betont dabei, dass diese Vernetzung nichts mit<br />

dem Konstitutionsgrund und Kollektiv-Zweck zu tun hat,<br />

sondern davon unabhängig existiert. Die Religionszugehörig-<br />

11<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />

keit der Mitglieder eines Tennisclubs hat nichts mit der eigentlichen<br />

Kollektivität dieses Clubs zu tun; aber dennoch ist<br />

sie vorhanden und die Religionen ragen in den Club hinein,<br />

was Virulenz bekommen würde, wenn ein Muslim um Aufnahme<br />

nachsuchte. Wie wichtig die präkollektiv greifende<br />

Multikollektivität für ein Gemeinwesen ist, sehen wir am Beispiel<br />

derjenigen, die ihm den Rücken kehren wollen. Mit allen<br />

Mitteln versuchen Sekten Außeneinflüsse fern zu halten und<br />

alle präkollektiven Elemente zu reduzieren. Man wohnt zusammen,<br />

verbringt zusammen die Freizeit und heiratet nur<br />

untereinander. Sekten verweigern sich den Prinzipien der Kollektivität,<br />

indem sie die unterschwelligen Verbindungen zu<br />

anderen Kollektiven kappen.<br />

Die Multikollektivität der Individuen fungiert als Gegenmittel<br />

zur Polykollektivität der Nation, die immer der Gefährdung<br />

ausgesetzt ist, in ihre Bestandteile auseinander zu fallen. Multikollektivität<br />

setzt einerseits Polykollektivität voraus, sonst<br />

hätte das Individuum keine Auswahl, dämpft andererseits<br />

aber ihre atomisierende Tendenz. Auch bewusst und geplant<br />

reguliert das Dachkollektiv Nation seine uneinheitliche Vielfalt.<br />

Zum einen durch Bereitstellung von Interaktionsregeln<br />

und zum anderen durch Überwachung der Kommunikationsmittel.<br />

Im Vereins- und Körperschaftsrecht bietet der Nationalstaat<br />

Formen der Kollektivbildung an und regelt durch<br />

die verschiedensten Gesetze den Umgang sowohl der Individuen<br />

miteinander als auch der Kollektive. Bei Verstößen dagegen<br />

droht das Strafrecht mit Sanktionen. Man erkennt: Die<br />

Funktionen der Nation ergeben sich aus ihrem Hauptmerkmal<br />

der Polykollektivität.<br />

Nationen sorgen aber auch für Kommunikation zwischen all<br />

den Individuen und Kollektiven. Jede Nation besitzt ihre staatlich<br />

überwachte Nationalsprache. In besonderen Fällen können<br />

das, wie in der Schweiz, mehrere Sprachen sein. Über<br />

Dia- und Soziolekte hinweg sichert das Dachkollektiv auf verschiedene<br />

Weise die Verständigungsfähigkeit, damit die verschiedenen<br />

Kollektive kommunizieren können. Was sich pauschal<br />

so einfach sagt, ist in der Wirklichkeit höchst kompliziert<br />

und beschäftigt den linguistisch orientierten Teil der Interkulturellen<br />

Kommunikation (vgl. Kiesling / Paulston 2005). Das<br />

Gleiche gilt für Umgangsformen und die non-verbale Kommunikation.<br />

Auch sie besitzen über die verschiedenen Verhaltensgewohnheiten<br />

der Kollektive und Kollektiv-Gruppen hinweg<br />

einen Kern des Gemeinsamen, sozusagen eine Etikette<br />

des Normalen. Kurzum: Im Bereich der Kommunikation im<br />

weitesten Sinne übt die Nation eine, wie ich es nenne, pankollektive<br />

Funktion aus, sodass sich Professor und Penner verständigen<br />

können. Die pankollektive Funktion ermöglicht Polykollektivität<br />

als kommunikatives Handeln.<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 12


Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />

An dieser Stelle taucht folgender Einwand auf. Nachdem die<br />

Homogenitätsprämisse verworfen wurde, erkennt man nun,<br />

dass sowohl im Bereich der Gesetze und Institutionen als<br />

auch in jenem der Kommunikation Homogenität herrscht.<br />

Deutschland ist dahingehend einheitlich, dass sich eine<br />

Mehrheit an bestimmte Gesetze hält, sich in bestimmte Institutionen<br />

einfügt und sich derselben Kommunikationsmittel<br />

im weitesten Sinne bedient. Ist das aber jene Homogenitätsprämisse,<br />

die der traditionelle Kulturbegriff meint? Ja und<br />

Nein! An die Sprache, die Teil der Kultur ist, denkt man wohl,<br />

nicht aber an Gesetze und Institutionen, die Gleichverhalten<br />

nicht kulturell vorgeben, sondern sozusagen geplant erzwingen.<br />

D.h. die Kritik am Homogenitätspostulat muss differenziert<br />

werden. Bei aller Polykollektivität muss das Dachkollektiv<br />

Nation als Mischung aus Homogenität und Heterogenität gesehen<br />

werden. Da der homogene und heterogene Bereich<br />

funktional verschieden sind, führt diese Aussage in keinen<br />

Widerspruch. Die Heterogenität rührt von der Polykollektivität<br />

her, während die Homogenität auf einer pankollektiven Ebene<br />

diese Polykollektivität regelt. Heterogen sind die Kommunikationspartner,<br />

homogen aber Kommunikationsmittel und<br />

die Modalitäten ihres Umgangs mit einander. Wenn ein deutscher<br />

Katholik mit einem deutschen Kommunisten streitet,<br />

sind sie bezüglich ihrer Interessen und Denkinhalte heterogen;<br />

homogen jedoch ist, dass sie deutsch sprechen und gewisse<br />

Benehmensvorschriften wahren. Das muss so sein,<br />

denn sonst wäre eine funktionierende Kollektivität unter dem<br />

Dach Nation nicht möglich.<br />

Aber müsste nicht auch die Geschichte, die eine Nation erlebt,<br />

Homogenität verbürgen. Wiederum lautet die Antwort<br />

Ja und Nein. Sicherlich sind die historischen Fakten für alle<br />

Volksgenossen dieselben. Daneben aber gehört zur Geschichte<br />

auch die Deutung dieser Fakten, nachdem sie geschehen<br />

ist. Bei ihr jedoch hört die Homogenität sofort auf, denn hier<br />

wirkt sich wieder die Polykollektivität aus. Es gibt nicht nur<br />

eine Deutung, sondern je nach Interessenlage der Betroffenen<br />

verschiedene und widersprüchliche. Die rivalisierenden<br />

Interessen der Kollektive führen zunächst zu rivalisierenden<br />

Deutungen der Geschichte. Sobald diejenigen, die das historische<br />

Ereignis erlebten, gestorben sind, hört der Deutungsstreit<br />

meistens jedoch auf und mündet in eine Mehrheitsdeutung,<br />

die oft offiziellen Charakter annimmt. Wir sehen das<br />

am Beispiel des Nationalsozialismus. Der Deutungsstreit ist<br />

vorüber und im Großen und Ganzen setzte sich eine kritische<br />

und nichts beschönigende Sicht durch wie an der landesweiten<br />

Ablehnung der Neonazis und anderer Unbelehrbarer<br />

sichtbar wird. Im Bereich Geschichte zeigt sich insofern das<br />

gleiche Miteinander von Homogenität und Heterogenität, das<br />

ebenfalls in keinen Widerspruch mündet, da sie hinter einan-<br />

13<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />

der angeordnet sind. In der zeitlichen Nachbarschaft der historischen<br />

Ereignisse herrscht Heterogenität und Streit, der<br />

dann mit zeitlichem Abstand in Homogenität mündet.<br />

4. Die Nation als Unikatskonglomerat<br />

Ich kehre zum Ausgangsproblem zurück: Wenn man den Nationenbegriff<br />

nicht verwerfen will, muss eine neue Gegenständlichkeit<br />

präsentiert werden. Die traditionelle bestand aus<br />

zwei Komponenten: Eine Nation galt erstens als besonderes<br />

und also einmaliges Gebilde, das zweitens in sich homogen<br />

war. Die Homogenität haben wir relativiert, an der Besonderheit<br />

und Singularität der Nationen aber können wir festhalten.<br />

Wir müssen sie nur eben als Miteinander von Homogenität<br />

und Heterogenität begreifen.<br />

Worin aber konstituiert sich Besonderheit? Eine, und zwar<br />

eine homogene, stellten wir bereits fest: die Kommunikationsmittel,<br />

die Sprache und die Umgangsformen. Die haben<br />

die Nationen für sich und sind dem Angehörigen einer anderen<br />

Nation verschlossen. Wenn interkulturelles Training eine<br />

Berechtigung hat, dann hier, in diesem homogenen Bereich.<br />

Den homogenen Besonderheiten stehen die heterogenen gegenüber,<br />

die sich aus der Polykollektivität ergeben. Jede Nation<br />

besitzt Kollektive, die es in dieser Ausprägung nur unter<br />

ihrem Dach gibt. Ich nenne sie Unikatskollektive. Die Gesellschaft<br />

zur Rettung des Genetivs gibt es nur in Deutschland;<br />

genauso wie Schützen- und Karnevalsvereine. Solange es<br />

noch den Meisterbrief gab, war der deutsche Handwerker<br />

einmalig auf der Welt, ebenso wie – ebenfalls aussterbend -<br />

der habilitierte Professor. Unikatskollektive müssen keine<br />

Randerscheinungen sein. Die amerikanische National Rifle<br />

Association etwa ist ein ebenso einmaliges wie höchst einflussreiches<br />

Kollektiv. Dennoch sind Unikatskollektive selten,<br />

und das liegt daran, dass die westlichen Nationen nah bei<br />

einander liegen.<br />

Zwischen diesen Nationen besteht eine weitgehende Kollektiv-Analogie,<br />

die aber trotz grundsätzlicher Gleichheit Variationsmöglichkeiten<br />

erlaubt. Jede demokratische Nation braucht<br />

Parteien, welche die in allen modernen Gesellschaften vorhandenen<br />

Interessen vertreten. Dass es Parteien geben muss,<br />

ist durch transnationale Faktoren wie Demokratie und<br />

Marktwirtschaft vorgegeben, bei der Ausgestaltung dieser<br />

Kollektive stehen jedoch Spielräume offen. Die deutsche SPD<br />

hat Einiges mit der Labour Party gemeinsam, ohne ihr aber<br />

gänzlich zu entsprechen. Wenn man die Partei als Ganzes<br />

sieht, präsentiert sie sich als singuläres deutsches Kollektiv.<br />

Betrachtet man indes ihre Bestandteile, treten transnationale<br />

oder pankollektive Elemente zutage.<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 14


Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />

Trotz der Kollektiv-Analogien, wie sie in bestimmten Gruppierungen<br />

von Nationen zu finden sind, reicht der übrigbleibende<br />

Rest an Unterschiedlichkeit, um dem Dachkollektiv Nation<br />

Besonderheit im Sinne von – das Englische besitzt ein treffenderes<br />

Wort – distinctiveness zu verleihen. Wenn man sich die<br />

gesamte Polykollektivität vor Augen hält, leuchtet das umso<br />

mehr ein. Zum einen addieren sich die Unterschiedlichkeiten<br />

der einzelnen Kollektive und zum anderen resultieren Beziehungen<br />

zwischen ihnen, die ebenfalls durch die Unterschiedlichkeiten<br />

geprägt sind. Nationalspezifisch sind ja nicht nur<br />

die Kollektive selbst, sondern ebenso, das folgt stringent, die<br />

Beziehungen, Feindschaften, Differenzen und Rivalitäten zwischen<br />

ihnen. Dabei schaukeln sich die Unterschiedlichkeiten<br />

weiter auf. Labour und Conservative Party unterscheiden sich<br />

in vielen Punkten von SPD und CDU. Diese Punkte schlagen<br />

sich ebenfalls in ihrem Verhältnis zu einander nieder, sodass<br />

sich die englischen Parteien gegenseitig anders empfinden als<br />

die deutschen. Wie sehr sich die Unterschiedlichkeiten aufschaukeln,<br />

sehen wir gerade am Beispiel des Lokführerstreiks,<br />

der für einen Amerikaner schwer zu verstehen ist. Jede westliche<br />

Nation hat Lokführer und Gewerkschaften, doch was<br />

wir gerade ohnmächtig beobachten, ist urdeutsch. Die Lokführer<br />

sind Teil unseres effektiven Transportsystems, das von<br />

vielen Menschen täglich benutzt wird, und wenn hier die Räder<br />

still stehen, tut es der Gesellschaft weh. In den USA würde<br />

dem Streik diese schmerzhafte Komponente fehlen. Eine<br />

weitere Facette des Streiks fehlte in den USA ebenfalls: Die<br />

deutschen Gewerkschaften sind in Dachorganisationen zusammengefasst,<br />

woraus die GDL ausgescherte. Dadurch<br />

kämpft sie an zwei Fronten, gegen die Bahn einerseits und<br />

andererseits gegen die anderen Bahn-Gewerkschaften.<br />

Damit zum letzten Punkt meiner Aufzählung nationalspezifischer<br />

Bereiche. Ich nenne ihn die nationale Agenda. Wenn<br />

wir die Nachrichten einschalten, werden wir mit einem Mix<br />

an Themen konfrontiert, der einerseits eine gewisse Zeit konstant<br />

bleibt, sich andererseits permanent ändert. Dieser Mix<br />

muss nicht hauptsächlich aus deutschen Themen bestehen.<br />

Selbst wenn internationale dominieren, besitzt jede Nation<br />

ihre eigene Zusammenstellung. Daneben gibt es aber auch<br />

rein deutsche Themen wie derzeit die Eisbären Knut und Flocke.<br />

Nationaltypisch ist die Agenda vor allem bei den langfristigen<br />

Dauerthemen, welche die besonderen Differenzen innerhalb<br />

einer Nation klar hervortreten lassen. Für Amerika heißen diese<br />

Themen gun control, Abtreibung, Todesstrafe. An ihnen<br />

zeigen sich immer wieder die tiefen kollektiven Risse, die<br />

durch die USA gehen. Wenn ich ein landeskundliches Buch<br />

über die USA zu schreiben hätte, würde ich mich auf solche<br />

spezifischen und singulären Differenzen konzentrieren, weil<br />

15<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />

an ihnen die besondere Polykollektivität wohl am besten erkennbar<br />

ist.<br />

Aber nicht nur das Was der nationalen Agenda ist entscheidend,<br />

sondern auch das Wie. Jeder deutsche Zeitungskiosk ist<br />

insofern ein Abbild deutscher Polykollektivität, als an ihm die<br />

verschiedenen deutschen Kollektivinteressen medial bedient<br />

werden. Wenn der Lokführerstreik deutsch ist, dann wird er<br />

durch die Berichterstattung noch ein Stück deutscher, denn<br />

den Fakten gesellen sich jetzt die typischen Wahrnehmungen<br />

deutscher Kollektive hinzu. Die FAZ wird den Streik in erster<br />

Linie als Vernichtung von Arbeitsplätzen sehen, wohingegen<br />

die Frankfurter Rundschau eine Gefährdung des traditionellen<br />

Gewerkschaftssystems erkennen wird.<br />

Fazit: Wenn Dachkollektive eine empirisch beschreibbare Singularität<br />

besitzen, muss ihnen irgendeine Art an realer Gegenständlichkeit<br />

zugrunde liegen. Ihr Hauptmerkmal besteht<br />

in der Polykollektivität, die nicht als Zufallsaddition oder Chaos<br />

zu sehen ist, sondern als zusammenhängendes Konglomerat,<br />

dem bestimmte Faktoren Kohäsion verleihen. Solche Faktoren<br />

sind einmal die Interaktionsregeln und Institutionen;<br />

des Weiteren bestehen sie in präkollektiven und pankollektiven<br />

Zusammenhängen. Nicht nur äußere politische Grenzen<br />

halten folglich das Konglomerat zusammen, sondern diese<br />

inneren Kohäsionskräfte. Nationen sind wie ein Mikadospiel,<br />

das man auf den Tisch kippt. Die Stäbchen liegen scheinbar<br />

zusammenhanglos über einander. Wenn man aber versucht,<br />

eins zu entfernen, wackelt der ganze Haufen. Jeder Politiker<br />

wird das bestätigen: Wenn er das Gesetz, das Kollektiv A<br />

wollte, erlässt, schreit Kollektiv B.<br />

Nationen sind Unikatskonglomerate. Der erste Teil dieser Begriffsbildung<br />

soll auf die Besonderheit und Singularität von<br />

Dachkollektiven verweisen; der zweite sowohl auf die Polykollektivität<br />

als auch auf die eigentümliche Art der Kohäsion, die<br />

trotz aller Verschiedenheit herrscht. Diese Kohäsion ist ein<br />

paradoxes Phänomen und beruht auf mindestens drei Faktoren.<br />

Den ersten und einfachsten erkennen wir in den Homogenitätsinseln<br />

der für alle geltenden Gesetze und Institutionen,<br />

der gemeinsamen Kommunikationsmittel und dem<br />

ebenso gemeinsamen Schicksal der Geschichte. An zweiter<br />

Stelle ist die über die einzelnen Kollektive hinausgreifende<br />

Multikollektivität zu berücksichtigen, die auf präkollektive<br />

Weise Kollektive verklammert. Wenn ich im Turnverein und<br />

im Literaturzirkel Mitglied bin, hängen diese beiden Kollektive,<br />

zumindest latent, durch das Bindeglied meiner Person zusammen.<br />

Ähnlich wirkt das pankollektive Element. Dass wir<br />

Deutschen in einer Demokratie leben, verbindet uns sowohl<br />

unter einander als auch über die politischen Grenzen hinaus<br />

mit unseren westlichen Nachbarn. Ansonsten herrscht in Uni-<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 16


Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />

katskonglomeraten aber die Differenz der Polykollektivität,<br />

die ja eher der Tendenz zur Entzweiung huldigt. Sie kommt<br />

aber insofern nicht zum Tragen, als die Differenzen genau auf<br />

einander abgestimmt, sozusagen in einander verhakt und dadurch<br />

miteinander verwoben sind.<br />

Noch eine letzte Anmerkung. Die Theorie, dass die Gegenständlichkeit<br />

von Nationen als Unikatskonglomerat bestimmt<br />

werden kann, relativiert die Ergebnisse der modernen Nationenforschung<br />

(Gellner 1983, Anderson 1983, Hobsbawn<br />

1991, Wehler 2001). Sie setzte 1983 durch die Bücher von<br />

Gellner und Anderson sowie 1991 von Hobsbawm ein, die bis<br />

auf wenige Abweichungen alle drei in die gleiche Richtung<br />

gehen. Nationen, so ließe sich zusammenfassen, sind keine<br />

natürlich gewachsenen Gruppierungen, wie noch Smith<br />

(1986) in seinem Beharren auf "ethnic origins" meinte, sondern<br />

dem Zufall zu dankende, machtpolitische Gebilde. Auf<br />

diese künstlich erzeugte Realität wird ein ebenso künstliches<br />

wie falsches Bild der Nation aufgepfropft. Die Realität ist ethnisch<br />

uneinheitlich und auch ansonsten heterogen; das Bild<br />

aber gibt sie als völkische Einheit und homogene Kultur aus.<br />

Anderson (1983) fügt mit seinem Begriff "imagined communities"<br />

dem eine weitere Facette hinzu 4 . Wir sehen die Nation,<br />

die ja eigentlich eine amorphe Masse bildet, wie eine<br />

überschaubare Gemeinschaft. Bei diesen Neuansätzen, welche<br />

die traditionelle Nationenvorstellung als Konstruktion<br />

bloßstellen, wird leicht der Eindruck erweckt, dass die Nation<br />

nur eine eingebildete Gegenständlichkeit besitzt und keine<br />

reale. Dem wurde hier mit Hilfe des Begriffs Unikatskonglomerat<br />

entgegen getreten.<br />

Literatur<br />

Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities. London: Verso.<br />

Beck, Ulrich (1998): Was ist Globalisierung? Frankfurt: Suhrkamp.<br />

Gellner, Ernest (1983): Nations and Nationalism. Oxford: Blackwell.<br />

Geertz, Clifford (1973): The Interpretation of Cultures. New York: Basic<br />

Books.<br />

Geertz, Clifford (1996): Die Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des<br />

20. Jahrhunderts. Wien: Passagen-Verlag.<br />

Gorer, Geoffrey (1948): The American People. A Study in National Character.<br />

New York: W. W. Norton.<br />

Hartinger, Walter (1993): Volkskunde zwischen Heimatpflege und kritischer<br />

Sozialarbeit. In: Hansen, Klaus P. (Hrsg.): Kulturbegriff und Methode. Der<br />

stille Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften. Tübingen: Narr, S.<br />

41-58.<br />

17<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />

Hobsbawm, Eric J. (1991): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität<br />

seit 1780. Frankfurt: Campus-Verlag.<br />

Isaac, Benjamin (2005): The Invention of Racism in Classical Antiquity.<br />

Princeton: University Press.<br />

Kiesling, Scott F. / Paulston, Christina B. (Hrsg.) (2005): Intercultural Discourse<br />

and Communication. The Essential Readings. Malden: Blackwell.<br />

Mead, Magaret (1928): Coming of Age in Samoa. New York: Morrow.<br />

Mead, Magaret (1951): The Study of National Character. In: Lerner, Daniel<br />

(Hrsg.): The Policy Sciences. Recent Developments in Scope and Method.<br />

Standford: Standford University Press, S. 70-85.<br />

Nünning, Ansgar / Nünning, Vera (2003): Konzepte der <strong>Kulturwissenschaft</strong>en.<br />

Stuttgart: J.B. Metzler Verlag.<br />

Potter, David M. (1954): People of Plenty. Economic Abubdance and the<br />

American Character. Chicago: University of Chicago Press.<br />

Renan, Ernest (1990): What is a Nation? (englische Übersetzung) In: Bhabha,<br />

Homi K. (Hrsg.): Nation and Narration. London / New York: Routledge,<br />

S. 8-22.<br />

Smith, Anthony D. (1986): The Ethnic Origins of Nations. Oxford / New<br />

York: Oxford University Press.<br />

Warneken, Bernd Jürgen (2000): Zum Kulturbegriff der Empirischen <strong>Kulturwissenschaft</strong>.<br />

In: Fröhlich, Siegfried (Hrsg.): Kultur. Ein interdisziplinäres<br />

Kolloquium zur Begrifflichkeit. Halle: Landesamt für Archäologie, S. 207-<br />

214.<br />

Wehler, Hans-Ulrich (2001): Nationalismus. Geschichte, Folgen, Formen.<br />

München: C.H. Beck Verlag.<br />

Welsch, Wolfgang (1995): Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und<br />

das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt: Suhrkamp.<br />

Willoweit, Dietmar / Fehn, Janine (Hrsg.) (2007): Johann Gottfried Herder,<br />

Staat, Nation, Humanität. Ausgewählte Texte. Würzburg: Königshausen<br />

und Neumann.<br />

1<br />

Eine genauere Darstellung der antiken Homogenitätsthesen<br />

gibt Benjamin Isaac (2004) in „The Invention of Racism in<br />

Classical Antiquity“. Der Titel ist etwas irreführend, da Isaac<br />

vor allem zeigt, dass in der Antike Xenophobie zu erkennen<br />

ist, nicht aber Rassismus.<br />

2 Das hält sich bis zu Anthony D. Smith (1986).<br />

3 Die gleiche Argumentation trägt Clifford Geertz (1996) vor.<br />

4<br />

Diese von Benedict Anderson 1983 aufgestellte Behauptung<br />

geht übrigens auf Ernest Renan und dessen Vorlesung<br />

"Qu'est-ce qu'une nation?" von 1882 zurück (Renan 1990).<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 18


Entgrenzung durch neue<br />

Grenzen: Zur Pluralisierung<br />

von Kultur<br />

Dr. Jörg Scheffer<br />

Lehrstuhl für Anthropogeographie,<br />

Universität Passau<br />

Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

Abstract<br />

In an age characterised by globalisation, there is an inherent<br />

contradiction between, on the one hand, the theory-driven<br />

deconstruction of cultural boundaries and, on the other, the<br />

perpetuation of cultural classifications that are founded in<br />

patterns shaped by real-life practice – and this is a contradiction<br />

that creates conflicts between some of the fundamental<br />

concepts used in cultural studies disciplines. Culture is in this<br />

sense often described in the distinctive borders of nations or<br />

as a dynamical entity, where differences and intercultural<br />

comparisons are unworkable.<br />

In an attempt to overcome this discrepancy, we will present a<br />

new approach to defining what constitutes culture, an approach<br />

that comprehends culture as something intimately<br />

related to a specific spatial context and area of research interest.<br />

This enables us to undertake a variable regionalisation<br />

of cultural characteristics, with the aid of which archetypal<br />

paradigms and modes of action rooted in prevailing spatial<br />

concepts can be investigated. The pluralisation of such cultural<br />

regions helps us to break out of a way of thinking that is<br />

shaped by pre-defined cultural areas and provides us with a<br />

conceptional alternative with which the nation-state approach<br />

to Intercultural Communication can be supplemented.<br />

1. Einführung: Grenzen, Raumbilder und Kultur<br />

Alltäglich ist von räumlichen Grenzen die Rede. Als Strukturierungsmerkmal<br />

einer komplexen Welt haben sie nicht nur<br />

Eingang in die Sprache gefunden, sondern sind tief im kollektiven<br />

Bewusstsein verankert. Ist in den Medien von chinesischem<br />

Wirtschaftswachstum, europäischer Außenpolitik oder<br />

bayerischer Bierzeltverordnung zu hören, so ist implizit eine<br />

Abgrenzung im Spiel, die unserem Diskurs einen konkreten<br />

Gegenstand beschert und die Kommunikationsfähigkeit darüber<br />

gewährleistet. Auf Grundlage einer gesellschaftlich geteilten<br />

Vorstellung des räumlichen Gegenstandes ist entsprechend<br />

klar, was dazu gehört und was nicht, wo sich das „Innen“<br />

und das „Außen“ befindet und welche grundlegenden<br />

Merkmale den Gegenstand kennzeichnen. Ohne all dies stets<br />

neu definieren zu müssen, schaffen Grenzen in semantischen<br />

Regionalisierungen Verständnis und Orientierung, sie fungieren<br />

allgemein als probates Mittel der Komplexitätsreduzierung.<br />

Die Etablierung räumlicher Kategorisierungen in der Kommunikation<br />

hat jedoch auch dazu geführt, dass der Zusammenhang<br />

zwischen dem räumlich Bezeichneten und dessen<br />

Merkmalen oft nicht mehr kritisch hinterfragt wird. Dies wird<br />

19<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

besonders dann problematisch, wenn die Ursprungskriterien<br />

einer Abgrenzung in den Hintergrund geraten und die Einteilung<br />

für andere Attribute pauschal herhalten muss.<br />

Im Umgang mit kultureller Differenz ist der Bezug zu Unterteilungskriterien,<br />

die nicht unmittelbar mit Kultur im Zusammenhang<br />

stehen, besonders virulent: Wer von französischer<br />

Lebensart oder Wiener Mentalität spricht, bezieht sich implizit<br />

auf eine politisch oder administrativ – nicht unbedingt aber<br />

kulturell – begründete Einteilung eines Landes oder einer<br />

Stadt. Erst in dem vorab festgelegten Rahmen kommen<br />

schließlich kulturelle Attributierungen zur Geltung. Sie signalisieren<br />

spezifisch vorherrschende Eigenschaften, die dann<br />

leicht als eigentliches Regionalisierungsmerkmal missdeutet<br />

werden.<br />

Auch die in der interkulturellen Kommunikation üblichen nationalen<br />

Kulturzuweisungen bedienen sich einer politischen<br />

Vorregionalisierung, die dann vereinheitlichend mit kulturellen<br />

Merkmalen aufgefüllt wird. Entsprechend sind auch die<br />

Kulturgrenzen, entlang derer verschiedene Ausprägungen<br />

benannt und verglichen werden sollen, a priori<br />

(fremd)definiert.<br />

In Folge dieser Praxis kommt es zur permanenten Reproduktion<br />

bestehender Einteilungen, bei der auf Dauer politische Kategorisierungen<br />

in kulturelle Kategorisierungen transformiert<br />

werden. Begleitet wird die Verwechselungsgefahr von einer<br />

Homogenisierung der bezeichneten Einheit nach innen und<br />

einer Distanzierung nach außen. Der „Italiener“ oder der<br />

„Koreaner“ – so das Implikat – teilt kulturelle Eigenschaften<br />

exklusiv mit seinen Landsleuten; spezifisch italienische (oder<br />

koreanische) Denk- und Handlungsweisen konzentrieren sich<br />

exakt auf das Staatsgebiet (oder auf jene, die dem Staatsgebiet<br />

angehören). Damit pressen die etablierten Beschreibungstermini<br />

kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten<br />

in festgelegte Grenzen, während kulturelle Formationen jenseits<br />

dieser Grenzen unberücksichtigt bleiben. Hingegen<br />

schwindet mit dem Verzicht auf entsprechende Kultur-<br />

Begrenzungen auch die Möglichkeit ihrer Unterscheidung.<br />

Der folgende Beitrag setzt sich mit dieser Kategorisierungspraxis<br />

von Kultur kritisch auseinander, indem die eher theoriegeleiteten<br />

Argumente einer Entgrenzung von Kultur (Kap.<br />

2) der pragmatischen Begrenzungspraxis in der Interkulturellen<br />

Kommunikation gegenüber gestellt werden (Kap. 3). Zwischen<br />

den scheinbar unvereinbaren Positionen einer Begrenzung<br />

und Entgrenzung von Kultur soll schließlich ein selektives<br />

Kulturverständnis als konzeptionelle Alternative vorgestellt<br />

werden (Kap. 4 und 5). Dabei ist zu zeigen, dass der erwähnte<br />

Raumbezug kultureller Kategorisierungen nicht nur<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 20


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

die Ursache sondern auch die Lösung des Problems einer kulturellen<br />

Verabsolutierung darstellen kann (Kap. 6).<br />

2. Grenzen und die Verabsolutierung von Kollektivität<br />

Die Gefahr, kulturelle Unterschiede in absolute Grenzen zu<br />

setzen, ist bereits im Verständnis des (allgemein gefassten)<br />

Kulturbegriffs angelegt. Begreift man Kultur üblicherweise als<br />

etwas gemeinschaftlich Geteiltes, als überindividuelle Denk-<br />

und Handlungsmuster, so beinhaltet dies eine partielle<br />

Gleichheit (oder zumindest Vergleichbarkeit) aller Kollektivmitglieder.<br />

Es sind kollektiv geteilte Eigenschaften oder<br />

„Standardisierungen“ (Hansen 2003), die eine spezifische<br />

Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit bestimmen. Diese Zuordnung<br />

enthält Gewicht, wenn man als weiteres Kennzeichen<br />

von Kultur akzeptiert, dass diese im Verlauf eines längeren<br />

Enkulturationsprozesses lernend angeeignet wird und dadurch<br />

nicht spontan oder beliebig wechselbar ist. Obwohl<br />

sich beispielsweise die Sprache, ein bestimmtes Geschmacksempfinden,<br />

der Kommunikationsstil oder eine andere Standardisierung<br />

bei Personen grundsätzlich ändern kann, nimmt<br />

dies, abhängig von der Internalisierung, doch gewisse Zeitspannen<br />

in Anspruch. Eine solche Stabilität verschafft Kultur<br />

Distinktionskraft und festigt die Kollektivzugehörigkeit.<br />

Das Merkmal der (lernend angeeigneten) Kollektivität verdichtet<br />

Kultur zu einer umgrenzbaren Einheit, indem es in räumlicher<br />

Kontingenz gedacht wird. Gleich Punkten auf der Erdoberfläche,<br />

bilden dabei die Kollektivmitglieder ein geschlossenes<br />

Gebiet. Auf diese Weise kommt es zu einer Homogenisierung<br />

der entsprechenden Region, in welcher scheinbar die<br />

gesamte Bevölkerung die gleichen Standardisierungen teilt.<br />

Mit dieser Vorstellung sind auch die Voraussetzungen einer<br />

übergreifenden Benennung dieser vermeintlichen Einheit gegeben.<br />

Eine weitere Grenzziehung wird schließlich erreicht, wenn die<br />

über einzelne Standardisierungen unterschiedenen Kollektive<br />

zu „Kulturen“ verabsolutiert werden. Ein nach spezifischen<br />

kulturellen Kriterien („Lebensfreude brasilianischer Einwohner“)<br />

oder auch anderen politischen oder administrativen<br />

Vorgaben (der „Staat Brasilien“) benannter Rahmen wird in<br />

eine kulturelle Ganzheit („die brasilianische Kultur“) umgedeutet.<br />

Alle Kollektive, die darüber hinaus existieren und vielfach<br />

staatliche Grenzen überschreiten (z.B. portugiesische<br />

Sprache, katholischer Glaube), müssen sich infolge der rahmengebenden<br />

Benennung („brasilianisch“) in diese Passform<br />

fügen. Im Ergebnis wird eine kulturelle Entität („Brasilien“)<br />

konstruiert, deren Grenzen sich aber auf Grundlage kultureller<br />

Einzelmerkmale mehrheitlich nicht belegen lassen (vgl. da-<br />

21<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

zu Scheffer 2003). Die vieldiskutierte Weltgliederung Huntingtons<br />

(1996), der ebenfalls mehrere Einzelkriterien in holistische<br />

„Civilizations“ umdeutet, steht hierfür ebenso Pate,<br />

wie eine Vielzahl älterer Weltgliederungen aus der Disziplingeschichte<br />

der Geographie (im Überblick Böge 1997).<br />

Obwohl die Interkulturelle Kommunikation gerade das Ziel<br />

verfolgt, kulturelle Unterschiede zu vermitteln, haftet ausgerechnet<br />

ihr die Problematik verabsolutierender Grenzziehungen<br />

an. Bekannt ist in diesem Zusammenhang die Kritik von<br />

Wolfgang Welsch an dem Konzept der Interkulturalität<br />

(Welsch u.a. 1992, 1999). Danach kennzeichnet das interkulturelle<br />

Kulturverständnis ein separatistischer Charakter, der –<br />

in Anlehnung an Herders Kugel- oder Inselanalogie – noch<br />

immer von der veralteten Vorstellung innerer Homogenität<br />

und äußerer Abgrenzbarkeit herrührt. In dem Bestreben, diese<br />

Unterschiedlichkeit durch wechselseitige Bezüge und Vergleiche<br />

zu vermitteln, perpetuiert das interkulturelle Denken<br />

ausgerechnet die unterstellten Kulturgrenzen. Aus der binären<br />

Logik des Innen und Außen resultiert laut Welsch eine<br />

strukturelle Kommunikationsunfähigkeit, die eine tatsächliche<br />

Annäherung der Kulturen verhindert. Dasselbe Problem erkennt<br />

Welsch in dem Konzept der Multikulturalität, da auch<br />

hier vom Zusammenleben bereits verschiedener Kulturen<br />

ausgegangen wird. Um den grenzüberschreitenden Konturen<br />

und der aktuellen Vielfalt der Lebensformen Rechnung zu<br />

tragen, tritt Welsch für das Konzept der Transkulturalität ein,<br />

das die alten – meist nationenbezogenen – Klassifikationsschemen<br />

überwindet: Transkulturalität soll anzeigen, „dass<br />

wir uns jenseits der klassischen Kulturverfassung befinden;<br />

und dass die neuen Kultur- und Lebensformen durch diese<br />

alten Formationen wie selbstverständlich hindurchgehen“<br />

(Welsch 1992:5). Gelöst von den oben beschriebenen kontingenten<br />

Kollektivmustern, ist damit die kulturelle Vielfalt in<br />

den neuen Denkformen und Metaphoriken des Gewebes, der<br />

Verflechtung oder der Vernetzung zu begreifen (vgl. Welsch<br />

1992:18).<br />

In ähnlicher Weise bestrebt, einerseits den dynamischen Globalisierungsprozessen<br />

in ihren komplexen Auswirkungen auf<br />

Kultur zu entsprechen sowie andererseits die problematischen<br />

Homogenisierungs- und Distinktionsmechanismen überkommener<br />

Kulturmodelle aufzubrechen, sind in den vergangenen<br />

Jahren diverse Konzeptalternativen entstanden (im Überblick<br />

Jackson / Crang / Dwyer 2003, Mitchell 2003). Sie kommen in<br />

den unterschiedlichen Terminologien der Hybridität, Mélange,<br />

Créole, Flüsse oder Netzwerke zum Ausdruck. Unabhängig<br />

von ihrer jeweiligen Akzentuierung ist ihnen eine klare Distanz<br />

zum starren, raum- und nationenbezogenen Kultures-<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 22


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

senzialismus und der Idee der kulturellen Territorialisierung<br />

gemeinsam.<br />

Während dabei stets der Gefahr einer Verabsolutierung von<br />

Kultur begegnet wird, ist jedoch als Kehrseite der Verlust der<br />

eingangs genannten kollektiven Unterscheidungsmöglichkeiten<br />

zu beklagen. Denn wahrgenommene Kulturunterschiede<br />

können ohne Grenzen weder verortet noch räumlich kategorisiert<br />

werden. Streng genommen verliert dann auch eine<br />

raumbezogene Terminologie („Brasilien“, „China“, „Bayern“)<br />

für Kultur an Plausibilität. Dass selbst die schärfsten Kritiker<br />

kulturräumlicher Kategorisierungen in ihren Beiträgen auf<br />

eben jene zurückgreifen, zeigt überdeutlich, wie stark diese<br />

Kategorisierungen in unseren Sprach- und Denkmustern verwurzelt<br />

sind. Ihre Dekonstruktion untergräbt nicht nur kulturbezogene<br />

Differenzierungen im Alltag, sondern gefährdet<br />

letztlich auch die Fähigkeit zur sprachlichen Verständigung.<br />

3. Grenzen und ihre Mängel im interkulturellen Vergleich<br />

Im Gegensatz zu den Dekonstruktions- und Entgrenzungsbestrebungen<br />

vieler Kulturtheoretiker, orientieren sich die Ansätze<br />

aus der interkulturellen Praxis weiterhin an territorialisierbaren<br />

Kulturunterschieden. Die globalisierungsbedingte<br />

Annäherung der Kulturen wird hier weniger als grenzüberschreitender<br />

Vermischungsprozess antizipiert, sondern vielmehr<br />

als Vermittlungsaufgabe: Globalisierung macht kulturelle<br />

Fremdheit erst spürbar und löst sie nicht auf. In den vielen<br />

Feldern der interkulturellen Kommunikation gilt es diese<br />

Fremdheit in ihrer relativen Unterschiedlichkeit zu erfassen.<br />

So interessieren sich Marketingexperten bei der Erschließung<br />

neuer Absatzmärkte für die dort geltenden Farbsymboliken,<br />

sprachliche Konnotationen oder das spezifische Humorverständnis,<br />

während sich im Ausland tätige Manager mit den<br />

kulturspezifischen Do’s und Don’ts bei Geschäftskontakten<br />

vertraut machen oder Designer die besonderen Geschmacksvorlieben<br />

der ausländischen Zielgruppen ins Visier nehmen.<br />

Die jeweils zu analysierenden „Kulturen“ sind dafür vorab<br />

klar umrissen. Sie folgen in der Regel nationalen Grenzen, die<br />

eine einfache Orientierung bieten. Der Adressat kann nach<br />

Maßgabe seiner Interessen jedem Ort bestimmte Standardisierungen<br />

zuordnen. In seinem kulturellen Homogenitätsanspruch<br />

ist er dabei ungleich toleranter als die genannten Kritiker<br />

kulturräumlicher Kategorisierungen, da ihm bereits Hinweise<br />

auf vorherrschende Kulturmerkmale weiter helfen. Dass<br />

einzelne Personen oder Gruppen von der vorgenommenen<br />

Generalisierung abweichen, ist für eine auf die Mehrheit der<br />

potentiellen Konsumenten ausgerichtete Markterschließung<br />

23<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

oder für die Berücksichtigung gesellschaftlich akzeptierter<br />

Handlungsweisen unerheblich. Jede Kategorisierung erfolgt<br />

zweckspezifisch und i.d.R. nicht nach Maßgabe einer adäquaten<br />

Repräsentation der Minderheiten.<br />

Die ständig wachsende Nachfrage an „Kulturinformationen“<br />

in der Praxis korrespondiert mit einer kulturvergleichenden<br />

Methodologie, die ebenso kulturräumliche Kategorisierungen<br />

mit klaren Grenzen voraussetzt. Dies lässt sich für die zwei<br />

grundlegenden Vergleichsperspektiven, die etische, kulturübergreifende<br />

ebenso wie die emische, kulturangepasste Perspektive,<br />

zeigen (vgl. dazu Berry 1980, Helfrich 1999).<br />

Der etische Ansatz sucht für Kulturen einheitliche Vergleichsmaßstäbe<br />

anzuwenden, die universell gültig sind. Dafür<br />

müssen die Kulturmerkmale kulturübergreifend ausgeprägt<br />

und dem Forscher ex-ante bekannt sein. Vorab bestimmt<br />

der Forscher dabei Kollektivität nicht nur sachlich,<br />

sondern auch räumlich. Standardisierungen werden in ein<br />

vorgegebenes (staatliches) Raster gezwängt und erst in dieser<br />

Einteilung mit Hilfe quantitativer Erhebungstechniken ermittelt<br />

und verglichen. Die in Indexwerten erfassten Standardisierungen<br />

stehen im Ergebnis meist für nationale Kulturunterschiede,<br />

deren Grenzen selbst dann nicht hinterfragt werden,<br />

wenn die Indexwerte pro Land gleich ausfallen. So bescheinigt<br />

beispielsweise Geert Hofstede in seinen Studien den<br />

Staaten Indonesien und Indien eine ähnliche Ausprägung in<br />

der Kulturdimension „Machtdistanz“ und Deutschland und<br />

Großbritannien die Übereinstimmung in der Dimension<br />

„Maskuliniät/Feminität“ (Hofstede 2001:500). Wenn es darum<br />

geht, die kulturelle Vielfalt der Erde in adäquaten räumlichen<br />

Termini zu strukturieren, greift Hofstedes Praxis der nationalen<br />

Vorregionalisierung offensichtlich zu kurz, da sich die<br />

gewählten Einheiten über die gewählten Kulturdimensionen<br />

kulturell nicht begründen lassen. Hofstede und andere Vertreter<br />

einer etisch-quantitativen Kulturvergleichsforschung nehmen<br />

lediglich eine (partielle) Kulturerfassung für jede einzelne<br />

Nation vor (etwa die Standardisierung Machtdistanz in Großbritannien),<br />

nicht jedoch eine Erfassung von Kollektivität (etwa<br />

das Kollektiv mit einer bestimmten Machtdistanz).<br />

Demgegenüber begründen der leichte Zugriff auf etablierte<br />

Vergleichseinheiten und statistisch-pragmatische Aspekte die<br />

nationenspezifische Vereinheitlichung der Stichproben. Entsprechend<br />

räumt beispielsweise Triandis für die empirische<br />

Arbeit der kulturvergleichenden Psychologie ein,<br />

“[that] cultures and societies are enormously heterogeneous. This is especially<br />

the case when large national entities are mentioned as substitutes for<br />

culture. Strictly speaking, nations and cultures are very different concepts,<br />

but it is convenient to use the nation label to describe a sample if the data<br />

have been collected in one place and there is no adequate other information<br />

about the sample.” (Triandis 1984:8)<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 24


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

Dass faktisch die meisten Kulturvergleiche in nationalen Bezügen<br />

vorgenommen werden, verdeutlicht den Nutzen dieser<br />

Generalisierungspraxis auch unabhängig von der Datenverfügbarkeit.<br />

Sie wird freilich mit einem erheblichen Informationsverlust<br />

erkauft, der sich bei der Erforschung von Gemeinsamkeiten<br />

und Unterschieden jenseits der Staatsgrenzen<br />

deutlich abzeichnet (vgl. dazu Hermans / Kempen 1998,<br />

Straub 2003, Smith 2004).<br />

Obwohl die emische gegenüber der etischen Perspektive<br />

nicht auf eine universale Vergleichbarkeit kultureller Einteilungen<br />

ausgerichtet ist, kommt auch sie nicht ohne eine exante<br />

vorgenommene Grenzziehung aus: Der emische Ansatz<br />

forscht innerhalb eines kulturellen Kontextes nach Aspekten,<br />

die für dessen Struktur oder Funktion Bedeutung haben. Weil<br />

diese Aspekte nur von innen heraus verstanden und spezifisch<br />

erfasst werden können, ist ein vergleichender Bezug zu<br />

allen anderen Kulturen auf der Welt per se nicht gegeben.<br />

Kultur erschließt sich vielmehr über eine relative Differenz, die<br />

sich über die Sammlung kritischer Interaktionssituationen<br />

zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen zu einzelnen<br />

Kulturstandards schrittweise verdichten lässt (vgl. Thomas<br />

2003). Weil jedoch auch hierbei vorab feststeht, welche Kulturen<br />

in ihrer Unterschiedlichkeit kontrastiert werden, ist erneut<br />

eine räumliche Prädestination mit nationalen Konturen<br />

im Spiel. Bedingte die universale Vergleichbarkeit der Kulturdimensionen<br />

bei Hofstede eine inhaltliche Einengung von<br />

Kultur, ist es bei der emischen Vergleichspraxis gerade die<br />

Voraussetzung einer nationalen Unterschiedlichkeit, die potenzielle<br />

Kulturstandards reglementiert. Der in der Praxis als<br />

Nationenvergleich konzipierte Kulturvergleich kann ausschließlich<br />

die Kulturstandards aufdecken, die zwei Länder in<br />

ihrer Gegensätzlichkeit prägen. Folglich entgehen auch der<br />

emischen Perspektive kleinräumige, grenzüberschreitende<br />

und überregionale Ausprägungen, so wie es zuvor bereits für<br />

die etische Perspektive moniert wurde. Es wird nicht der Existenz<br />

oder der räumlichen Formation von Kollektiven empirisch<br />

nachgegangen, sondern lediglich der kulturellen Eigenheit<br />

einer vorab bestimmten Bevölkerung.<br />

Zusammenfassend lässt sich für die kulturvergleichende Forschung<br />

ein Rückgriff auf räumliche Grenzen und Einheiten<br />

konstatieren, der sich forschungslogisch aus der notwendigen<br />

Festlegung des kulturellen Vergleichsgegenstandes begründet.<br />

Damit trägt sie jedoch ungewollt zu der erwähnten Verwechselung<br />

von kulturellen und nationalen Grenzen bei. Mit<br />

der räumlich identischen Platzierung von einzelnen Standardisierungen<br />

in immer denselben (ursprünglich nationalen)<br />

Grenzen wird auf Dauer eine problematische Festigung national-kulturräumlicher<br />

Einheiten im oben kritisierten Sinne er-<br />

25<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

reicht. Mag man dies und die damit einher gehenden Gefahren<br />

(u.a. Überhöhung nationaler Unterschiede, Stereotypisierung)<br />

noch in Kauf nehmen, sind es vor allem die einer<br />

starren Generalisierung geschuldeten Erkenntnisdefizite, die<br />

gegen den schematisierten Einsatz nationenbezogener Vergleichskonzepte<br />

in der interkulturellen Praxis sprechen.<br />

4. Zum Verständnis selektiver Kulturräume<br />

Mit den diversen interkulturellen Tätigkeitsfeldern sind spezifische<br />

Anliegen verbunden, die sich auf unterschiedliche Aspekte<br />

einer Fremdkultur beziehen. Wurde oben bereits für<br />

das interkulturelle Marketing und Management beispielhaft<br />

auf die jeweilige Relevanz einzelner Standardisierungen verwiesen<br />

(Humor, Sprache, Geschmack), so zeigt sich darin ein<br />

gerichtetes, selektives Interesse, das von einer ganzheitlichen<br />

Kulturbetrachtung wegführt. Interkulturelle Fragestellungen<br />

gehen von Akteuren oder Akteursgruppen aus, die in Abhängigkeit<br />

von den Tätigkeitsfeldern und Aufgabenbereichen<br />

jeweils vollkommen unterschiedliche Ansprüche an die Auswahl<br />

der Standardisierungen stellen.<br />

Angesichts der Vielfalt potenziell relevanter Standardisierungen<br />

ist keineswegs davon auszugehen, dass all diese Standardisierungen<br />

die gleichen Bevölkerungsteile kennzeichnen.<br />

Die über eine gemeinsame Sprache definierten Kollektive<br />

müssen nicht kongruent mit jenen sein, die sich über einen<br />

spezifischen Geschmacks- oder ein Humorverständnis einteilen<br />

lassen. Folglich erscheint es wenig sinnvoll, vorab benannte<br />

Gemeinschaften („die Franzosen“), vorgegebene Räume<br />

oder räumliche Semantiken („Frankreich“) für Kulturvergleiche<br />

heranzuziehen. Die eingangs kritisierte Verabsolutierung<br />

von kulturellen Einzelmerkmalen zu kulturellen Einheiten umkehrend,<br />

gilt es vielmehr die jeweils variierende Verbreitung<br />

kultureller Spezifika in den Blick zu nehmen. Diese Spezifika<br />

sind ausschließlich an den interkulturellen Interessen einzelner<br />

Akteure zu orientieren. Entsprechend kann es nicht die objektive<br />

und allgemein gültige Repräsentation von Kultur geben,<br />

sondern lediglich verschiedene, interessensabhängige Repräsentationen.<br />

Zielsetzung eines selektiven Kulturraumkonzeptes<br />

ist es, solche Repräsentationen in räumlicher Perspektive<br />

zu erfassen (vgl. Scheffer 2007).<br />

Bislang wurde die traditionelle Verknüpfung von Kultur und<br />

Raum insbesondere darin kritisiert, dass stets vorgegebene<br />

Grenzen (und seien sie nur semantischer Art) zum Einsatz<br />

kamen, die die kulturellen Gegebenheiten in immer dieselben<br />

räumlichen Einteilungsmuster fügten. Da aber Räume und<br />

Grenzen die kulturellen Gegebenheiten keineswegs festlegen,<br />

gilt es die Raumzentrierung kultureller Kategorisierungen auf-<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 26


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

zugeben. An ihre Stelle tritt die interessenabhängige Erfassung<br />

einzelner Standardisierungen. Im Rückgriff auf die terminologische<br />

Vielfalt erdräumlicher Kennzeichnungen werden<br />

so variable Repräsentationen möglich, die den kulturellen<br />

Gegebenheiten und Forschungsfragen spezifisch Rechnung<br />

tragen können. Indem Kultur von politischen, administrativen<br />

oder naturräumlichen Fixierungen befreit wird, kann sie als<br />

eigentliches Regionalisierungskriterium in den Mittelpunkt<br />

rücken.<br />

Die Logik eines räumlichen Kulturdenkens dreht sich damit<br />

um: Statt vorregionalisierte Kulturen in ihren Merkmalen zu<br />

betrachten, ist nach der räumlichen Verbreitung dieser<br />

Merkmale selbst zu fragen. Statt die nationale Ausprägung<br />

einer bestimmten Standardisierung (wie etwa Machtdistanz)<br />

zu fokussieren, zählt das Interesse der geographischen Verteilung<br />

dieser Ausprägung. Grenzen orientieren sich somit an<br />

Kollektivität und nicht umgekehrt. Die Kriterien für Kollektivität<br />

gehen allein von den spezifisch thematischen und den<br />

spezifisch regionalen Interessen der Akteure aus.<br />

In dieser skizzierten Grundperspektive eines selektiven Kulturkonzeptes<br />

lassen sich nun die aufgeworfenen Kritikpunkte in<br />

Theorie und Praxis neu diskutieren:<br />

• Homogenisierung und Verabsolutierung von Kultur<br />

In der Gegenwart ist die Evidenz von kulturellen Mischungen<br />

unbestreitbar, wenngleich sich die globalisierungsbedingten<br />

Auswirkungen auf Kultur in regionaler und substantieller Hinsicht<br />

stark unterscheiden. Noch immer verweist die regionale<br />

Erfahrung spezifischer Standardisierungen auf die Existenz<br />

räumlich benachbarter Bevölkerungen mit einer bestimmten<br />

kulturellen Prägung (vgl. dazu auch Moosmüller 1997). Eine<br />

pauschale Verkennung dieser Unterschiede, wie sie wiederholt<br />

unter Betonung der globalen Kontaktmöglichkeiten vorgetragen<br />

wird, müsste das große wissenschaftliche wie auch<br />

praxisbezogene Interesse an kulturellen Unterschieden negieren<br />

und der Disziplin der Interkulturellen Kommunikation in<br />

weiten Bereichen den Forschungsgegenstand absprechen.<br />

Vielmehr stellt sich angesichts der Komplexität kultureller Unterschiede<br />

die Frage, in welchem Kontext Unterscheidungen,<br />

die stets mit einer Vereinheitlichung des Bezeichneten einhergehen,<br />

angemessen sind. Dies kann freilich nicht generalisierend<br />

festgestellt, sondern nur in Abhängigkeit eines jeweils<br />

bestehenden Interesses beurteilt werden. Mit der Aufgliederung<br />

und Perspektivengebundenheit der Standardisierungen<br />

begegnet ein selektives Kulturverständnisses der Gefahr früherer<br />

Verabsolutierungen. Es relativiert die Bedeutung der<br />

jeweiligen Repräsentation im Anbetracht ihrer vielfältigen Alternativen.<br />

Kontextgebunden wird es jeweils möglich, eine<br />

27<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

Bestimmung, Abgrenzung und Generalisierung von Kultur<br />

nachvollziehbar zu gestalten und ihre zeitliche und räumliche<br />

Dynamik abzuschätzen.<br />

• Binäre Logik von Ein- und Ausschluss<br />

Da Kulturträger verschiedene Standardisierungen teilen, sind<br />

sie verschiedenen Kollektiven von unterschiedlicher Größe<br />

und in unterschiedlicher räumlicher Kontingenz zurechenbar.<br />

So impliziert das Konzept einer selektiven Kulturregionalisierung<br />

eine globale kulturelle Zusammengehörigkeit in mannigfachen,<br />

jeweils unterschiedlichen Standardisierungen bei<br />

gleichzeitiger Differenz in anderen Merkmalen. Die Zugehörigkeit<br />

oder Nichtzugehörigkeit ist selektiv und führt in Abhängigkeit<br />

vom jeweiligen Kriterium zu jeweils unterschiedlichen<br />

Formationen. Damit erhält die von Kritikern wie Welsch<br />

geforderte Überwindung eines Denkens von Ein- und Einschluss<br />

eine Option, die mit der begrenzenden, interkulturellen<br />

Vergleichspraxis kompatibel ist.<br />

• Fehlende räumliche und sachliche Spezifikation in der<br />

Vergleichspraxis<br />

Als methodologisches Manko der etischen und emischen<br />

Vergleichskonzepte ist neben der räumlichen Prädestination<br />

der Vergleichseinheit wiederholt die inhaltlich-sachlichen Verallgemeinerungen<br />

kritisiert worden. Am Beispiel der Arbeit<br />

Hofstedes lässt sich stellvertretend die Frage aufwerfen, ob<br />

Untersuchungsergebnisse etwa aus einem multinationalen<br />

Computerkonzern auch außerhalb des untersuchten Unternehmens<br />

hinreichende Gültigkeit besitzen und „Kultur“ adäquat<br />

repräsentieren kann (vgl. z.B. Layes 2003, Hansen<br />

2003). Die übliche Forschungsorientierung an nationalen<br />

Grenzen verleiht der Frage nach einer angemessenen Repräsentation<br />

weiteres Gewicht, da die kontextabhängigen Forschungsergebnisse<br />

nun auf die Lebensbereiche eines Landes<br />

ausgedehnt werden. Solange der umfassende Anspruch besteht,<br />

Kulturen über Kulturdimensionen oder Kulturstandards<br />

allgemein und dauerhaft zu repräsentieren, werden diese<br />

Einwände Berechtigung haben. Beschränkt sich der Anspruch<br />

hingegen auf einen spezifischen Bereich (z.B. einen Computerkonzern),<br />

für den die erhobenen Kulturmerkmale ausschließlich<br />

ihre Gültigkeit beanspruchen, dann kann diese Kritik<br />

nicht verfangen. Das Konzept einer selektiven Kulturregionalisierung<br />

reduziert in diesem Sinne seinen Geltungsanspruch<br />

von vorneherein. Im Kontext sachlicher und beliebig<br />

formulierbarer räumlicher Interessen wird deutlich, nach wessen<br />

und welcher Maßgabe Standardisierungen betrachtet<br />

werden. Selektive Kulturräume sind somit Produkte von kontextgebundenen<br />

Differenzierungen, die sich jedoch in dieser<br />

Relationierung empirisch nachvollziehbar gestalten lassen.<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 28


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

5. Anwendungsbereiche und Potenziale selektiver Kulturräume<br />

Die einzelnen sachlichen und räumlichen Interessen, die den<br />

Blick auf Kultur vorgeben, können als spezifischer kulturräumlicher<br />

Kontext bezeichnet werden. Er beschreibt den jeweils<br />

gültigen individuellen Anforderungskatalog einer Regionalisierung.<br />

Er trifft naturgemäß auf vollkommen unterschiedliche<br />

kulturelle Gegebenheiten, die Differenzierungen<br />

erleichtern oder erschweren können.<br />

In dem Versuch, die Regionalisierungsbedingungen für verschiedene<br />

Anforderungen zu schematisieren, werden zwei<br />

Hauptkriterien angesetzt (vgl. Abb. 1): Zum einen gilt es zu<br />

berücksichtigen, wie komplex und heterogen sich der spezifische<br />

kulturräumliche Kontext ausnimmt. Fremdkulturell stark<br />

beeinflusste Kontexte werden eine Differenzierung von Standardisierungen<br />

erschweren und häufig unmöglich machen,<br />

relativ einheitliche Kontexte hingegen erleichtern. Zum anderen<br />

ist für eine Differenzierung bedeutsam, auf welche Raumdimension<br />

mit welcher Anzahl von Kulturträgern das Akteursinteresse<br />

abstellt. Nicht alle kleinräumigen Kontexte mit wenigen<br />

Kulturträgern sind ungeachtet ihrer Differenzierbarkeit<br />

für eine Regionalisierung auch sinnvoll. Beide Kriterien lassen<br />

sich in ihren extremen Ausprägungen kombinieren und in<br />

Hinblick auf eine räumliche Differenzierbarkeit abschätzen.<br />

29<br />

großräumige<br />

Erfassung,<br />

größere<br />

Personenzahl<br />

von der Regionalisierung<br />

betroffen<br />

Regionalisierung von<br />

Unterschieden und<br />

Gemeinsamkeiten nach<br />

„innen“ und „außen“<br />

möglich (Standardisierungen<br />

A-C).<br />

hohe Komplexität,<br />

starke Vermischung<br />

der<br />

relevanten<br />

Eigenschaften<br />

A<br />

B<br />

C<br />

geringe Komplexität,<br />

geringe Vermischung<br />

der<br />

relevanten<br />

Eigenschaften<br />

Regionalisierung von<br />

Unterschieden nur<br />

nach „außen“ möglich;<br />

nach „innen“ Suche<br />

von Gemeinsamkeiten<br />

(Standardisierungen C).<br />

kleinräumige<br />

Erfassung,<br />

nur wenige<br />

Personen von<br />

der Regionalisierung<br />

betroffen<br />

Abb. 1. Kriterien und Möglichkeiten einer selektiven Kulturregionalisierung<br />

Auf der linken Seite des Schemas ist die Kombination von einer<br />

großräumigen, stark generalisierenden Erfassung und einer<br />

geringen Komplexität der kulturellen Gegebenheiten<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

wiedergegeben. Sie begünstigt eine selektive Kulturregionalisierung.<br />

Konzentrierte Standardisierungen können dabei häufig<br />

sowohl nach „innen“ als Unterschiede in einem Untersuchungsgebiet<br />

wie auch nach „außen“ als Gemeinsamkeiten<br />

gegenüber einem abweichend geprägten Umfeld unterschieden<br />

werden. Als interkulturelles Forschungsziel bietet sich die<br />

Erfassung von spezifisch relevanten Gemeinsamkeiten und<br />

Unterschieden in sog. ausländischen, vermeintlich fremdkulturellen<br />

Regionen an, die etwa für das Nachfrageverhalten,<br />

den Umgang mit Behörden, die Bedienung von lokalen Märkten,<br />

die Kundenkontakte oder generell die konfliktfreie<br />

Kommunikation Bedeutung tragen. Während erkannte Gemeinsamkeiten<br />

das Verständnis mit den Interaktionspartnern<br />

grundlegend erleichtern, halten die erkannten Differenzen zu<br />

einem kultursensiblen Handeln und einer Verständnis fördernden<br />

Vermittlung an. Einen zusätzlichen Aufschluss geben<br />

räumliche Kulturunterschiede, wenn es gelingt, ihren Erklärungsgehalt<br />

für bestimmte Fragestellungen einzubringen.<br />

Disziplinübergreifend wird die Forschung in jüngster Zeit verstärkt<br />

auf kulturelle Parameter als Explanans für regionale<br />

(Wirtschafts-)Entwicklung aufmerksam (vgl. z.B. Landes 1999,<br />

Harrison / Huntington 2002, Faschingeder 2004). Eine Erforschung<br />

räumlicher Korrelationen bestimmter Denk- und<br />

Handlungsmuster mit ökonomischen oder auch sozialen Variablen<br />

kann u.a. regionalwirtschaftlichen und entwicklungspolitischen<br />

Fragestellungen zu neuen kulturbezogenen Erklärungszusammenhängen<br />

verhelfen. Gelingt es, die spezifische<br />

Wirksamkeit regional vorherrschender Standardisierungen<br />

aufzudecken, so lassen sich endogene Stärken strategisch<br />

nutzen und relative Schwächen besser bewältigen.<br />

Auf der rechten Seite des Schemas sind thematische Akteursinteressen<br />

wiedergegeben, die sich auf einen heterogenen<br />

und kleinräumigen Forschungskontext mit einer geringen Anzahl<br />

von Personen beziehen. Die Seite beschreibt interkulturelle<br />

Interaktionssituationen, wie sie etwa im innerbetrieblichen<br />

Miteinander von größeren Unternehmen, in multikulturellen<br />

Teams global tätiger Organisationen oder in international<br />

zusammengesetzten Forschergruppen auftreten. Eine<br />

räumliche Erfassung bestehender Unterschiede nach „innen“<br />

ist in diesem Kontext wenig hilfreich. Es besteht aber weiterhin<br />

die Möglichkeit, im Sinne des selektiven Kulturverständnisses<br />

Gemeinsamkeiten zu eruieren, um eine Unterscheidung<br />

nach „außen“, gegenüber einem selektiv unterscheidbaren<br />

„Anderem“ vorzunehmen. Erkannte Gemeinsamkeiten<br />

können hier trotz aller vordergründigen Unterschiedlichkeit<br />

der Betroffenen eine einigende Klammer schaffen. Sie erleichtern<br />

mitunter die Verständigung und bieten Anknüpfungspunkte<br />

für ein kollektives Bewusstsein und eine gemeinsame<br />

Identität.<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 30


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

In das weite Feld zwischen den beschriebenen Polen „Groß-<br />

und Kleinräumigkeit“ sowie „hohe und geringe Komplexität“<br />

lassen sich diverse interkulturelle Forschungsfragen einhängen,<br />

die sich über räumliche Differenzierungen von Kultur viel<br />

versprechend angehen lassen. Im Verständnis des Konzeptes<br />

kann Kultur als charakteristisches Merkmal von Regionen eingesetzt<br />

oder als Merkmal bestehender Regionen hinterfragt<br />

werden. Aufschlüsse über die Wirkung bestimmter Standardisierungen<br />

machen es aussichtsreich, nach der regionalen Verteilung<br />

und Häufung solcher Merkmale gezielt zu forschen<br />

und ihre Grenzen auszuloten, während auf umgekehrtem<br />

Wege die Bevölkerungen ausgewählter Räume nach beliebigen<br />

Kriterien analysiert werden können. Auch die unterschiedliche<br />

Wirksamkeit der Globalisierung lässt sich über<br />

einzelne Standardisierungen und nach individuellen Homogenitätskriterien<br />

differenziert betrachten. Zugleich lassen sich<br />

jene Einflussfaktoren, ob physischer oder anthropogener Art,<br />

regionsspezifisch reflektieren, die einer Uniformierung trotzen.<br />

In allen Fällen ist entscheidend, dass erst über die variierbaren<br />

Raumbezüge die Voraussetzungen erbracht werden, Denk-<br />

und Handlungsweisen aus der traditionellen Verzahnung mit<br />

fixen Kultur-Raum-Einheiten herauszulösen. Erst jetzt können<br />

sie vollkommen variabel auf unterschiedlichste regionale und<br />

sachliche Forschungsanliegen übertragen werden.<br />

6. Fazit: Entgrenzung durch neue Grenzen<br />

Eine Entgrenzung von Kultur ist nur unter Verzicht auf kollektiven<br />

Unterscheidungen zu erreichen. Diese - nicht zuletzt für<br />

die interkulturelle Praxis problematische - Konsequenz ergibt<br />

sich allerdings nur dann, wenn kulturelle Unterschiede auf<br />

holistische Ganzheiten bezogen werden und die Berücksichtigung<br />

von Einzelmerkmalen ausbleibt. Transkulturelle, hybride<br />

oder homogenisierte Kulturphänomene allein geben wenig<br />

Anlass, die Idee räumlich differenzierbarer Kulturunterschiede<br />

konzeptionell zu verwerfen, solange regionale Unterschiede<br />

in einzelnen Standardisierungen fortbestehen und die Kriterien<br />

für diese Unterschiede an den Adressaten ihrer Erfassung<br />

Maß nehmen. Diese Adressaten können aus den Feldern der<br />

interkulturellen Wirtsschaftskommunikation ebenso stammen,<br />

wie aus der interkulturellen Bildungsarbeit, der Mediation,<br />

angewandten Entwicklungsarbeit oder der kulturwissenschaftlichen<br />

<strong>Grundlagen</strong>forschung. Mit den diversen Anwendungsmöglichkeiten<br />

gehen stets unterschiedliche Kulturregionalisierungen<br />

einher, welche die Grenzen traditioneller Kulturzuweisungen<br />

jeweils aufbrechen, präzisieren oder auch in<br />

groben Zügen bestätigen können. Als transnationale oder<br />

31<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

transregionale Formationen stellen sie den üblichen Raum-<br />

und Begriffsbildern alternative Kulturrepräsentationen entgegen,<br />

statt sie immer wieder zu bestätigen. Damit Kollektive<br />

über Standardisierungen nach den verschiedenen Ansprüchen<br />

differenziert werden können, sind neue und ungewohnte<br />

Raum- und Sachbegriffe zur Kulturerfassung einzubringen.<br />

Während in räumlicher Hinsicht das Gesamtinventar geographischer<br />

Positionsbestimmungen offen steht, geht es in sachlicher<br />

Hinsicht um die Aufnahme teils neuer originärer Charakterisierungen.<br />

Auf diese Weise vervielfältigen sich auch jene kulturbezogenen<br />

Grenzziehungen, die allen (emischen oder etischen) Unterscheidungsmethodiken<br />

zugrunde liegen. So bleibt die binäre<br />

Ordnungslogik bestehen, um sich zugleich aber stets im<br />

Zeichen ihrer Pluralisierung zu relativieren.<br />

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© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 34


The Definition of<br />

Culture:<br />

An application-oriented<br />

overhaul<br />

Prof. Dr. Stefanie Rathje<br />

Professur für Unternehmensführung<br />

und Kommunikation,<br />

Hochschule für Technik und Wirtschaft<br />

Berlin<br />

Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

Abstract<br />

This article revisits traditional definitions of culture to establish<br />

a sound criticism of existing coherence-based approaches.<br />

By expanding the one-dimensional concept of culture to a<br />

four-field-matrix, a likewise contemporary and practical concept<br />

of culture is formulated which is also likely to supply reasonable<br />

answers to disputed questions regarding the formation<br />

of cohesion in society. It is finally argued that the prevalent<br />

diagnosis of multicollectivity should be expanded to a<br />

desideratum of radical multicollectivity, the goal of providing<br />

increasing individual access to ever more collectives, leading<br />

to an increase in both social stability and developmental dynamics.<br />

1. The paradigm of coherence in the traditional concept<br />

of culture: that which unifies<br />

Our everyday understanding of culture is characterized by an<br />

expectation of uniformity.<br />

The most common understanding of culture is one that imagines<br />

a high level of internal uniformity within a social system.<br />

Previously, this concept was limited to contexts of ethnicity or<br />

nationality (e.g. "Italians dress smartly"), while today common<br />

characteristics are often ascribed to quite different social<br />

systems of various sizes (e.g."the liberal values of the Christian-European<br />

West," "Our customer-oriented corporate culture,"<br />

"The cooperative leadership culture among women").<br />

These formulations share a similar understanding of culture<br />

as an expression of coherence. The contradictory nature of<br />

these assertions becomes clear when we, for example, meet a<br />

sloppy Italian, when it occurs to us that the local janitor with<br />

dictatorial tendencies is indeed a European, when we reflect<br />

on the immense complexity of international companies, or<br />

even on our authoritarian class teacher who was far from cooperative<br />

and yet a woman, but this does not prevent us<br />

from continuing to seek that which unifies these groups.<br />

The idea of cultural coherence has a long tradition. Herder<br />

imagined cultures based upon a unifying principle he called<br />

the Volksseele ("spirit of the people"), leading to comprehensive<br />

social homogeneity. The works of respected ethnologists<br />

from the first half of the 20th century continued this notion<br />

of uniformity, which led them to define culture in terms of<br />

"internal coherence" (Kluckhohn 1949:35) or as a "consistent<br />

pattern of thought and action" (Benedict 1934:42)<br />

within human groups. Even under later thinkers, culture is<br />

described as the "collective programming of the mind"<br />

(Hofstede 1984:13) or as a "universal organization and typi-<br />

35<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

cal orientation system for a given society" (Thomas 2003:<br />

138). These so-called cultural standards appeared to provide<br />

a consistent description of structured general principles. Coherence<br />

as a sign of culture even drives certain managers<br />

within large corporate organizations as they attempt to standardize<br />

their corporate culture in the name of competitive<br />

advantage (cf. Peter / Waterman 1982) through the establishment<br />

of certain shared assumptions, values and artefacts<br />

(Schein 1995:30).<br />

The concept of cultural uniformity has already been persuasively<br />

criticized within various scientific disciplines<br />

In the field of sociology, Max Weber describes the fragmentation<br />

of social units due to internal functional specialization<br />

into a variety of "of ultimate positions toward the world"<br />

(Weber 1922/1980:499, translation by author). Cultural<br />

transfer research in the fields of linguistics and history has<br />

illuminated "various penetration and adoption processes"<br />

between national cultures (Espagne / Greiling 1996:13) and<br />

reveals national territories to be "artificial things whose own<br />

identity is legitimized not only through the foreignness evident<br />

between the categories of 'at home' and 'abroad,' but<br />

also through the appropriation of particular aspects of that<br />

very foreign thing" (Espagne / Greiling 1996:10). The postmodern<br />

philosophers also recognize a radical plurality of general<br />

cultural principles and lifestyles within contemporary societies<br />

(Lyotard 1986, Welsch 1991).<br />

Subsequently, the bearers of culture to which the concept of<br />

cultural uniformity was usually attached have been dismantled<br />

or "deconstructed." This is especially clear in the narrower<br />

field of postcolonial studies in which cultural phenomena<br />

exist as the results of complex historical processes<br />

(Bhabha 1997:182) and the vehicle of civilization known as<br />

the "nation" is revealed to be a purely discursive construct<br />

(cf. Bhabha 1990). In the organizational sciences the concept<br />

of uniform business cultures is exposed as little more than the<br />

wishful thinking of managers seeking simplicity in a complicated<br />

and even contradictory corporate environment (Martin<br />

1992). Even the assumed bastions of cultural consistency<br />

such as the division of human beings into two discrete gender<br />

groups with certain "cultural" signs has been called into<br />

question as a social construct by feminist research (Butler<br />

2003).<br />

To be able to examine cultural phenomena in an environment<br />

lacking uniformity, therefore, dynamic and highly-flexible<br />

concepts must be employed. Bhabha, for example, describes<br />

such a process in the communicative negotiation that takes<br />

place within cultures in defiance of internal uniformity as<br />

"hybridization" (Bhabha 1997:182ff.). Welsch likewise comes<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 36


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

to the conclusion that cultures are "internally characterized<br />

by the pluralization of possible identities" and externally<br />

show "contours that transcend traditional borders." (Welsch<br />

1995:42, translation by author) As a result, Welsch offers a<br />

new perspective beyond existing limitations of cultural composition<br />

in his formulation of "transculturality."<br />

2. The Stubbornness of the Coherence Paradigm - The<br />

lure of simplicity<br />

"Today [the] assumptions of the traditional concept of culture<br />

have become untenable." (Welsch 1995:39, translation by<br />

author)<br />

Although contemporary scientists - even in unrelated disciplines<br />

- would agree with the above statement, the coherence<br />

paradigm of the traditional definition of culture remains<br />

stubbornly in place. Besides the obvious fact that simple<br />

structures are easier to grasp than complex or even contradictory<br />

ones, two further reasons for the remarkable ‘stickiness’<br />

of the coherence concept must be considered:<br />

Cultural uniformity is politically expedient.<br />

This assertion is nicely illustrated by two opposing concepts<br />

found in contemporary political discourse today, both being<br />

rooted in cultural models based on coherence.<br />

The concept of Leitkultur, introduced by the political scientist<br />

Bassam Tibi (2002), describes the desideratum of a consensus<br />

in social values, that is, a homogeneity of shared values<br />

within a society. The term "German Leitkultur," for example,<br />

has been employed by conservative politicians in Germany in<br />

the context of the immigration debate to elicit feelings of a<br />

disappearing common national tradition and a longing for a<br />

presumably more pristine and homogeneous world.<br />

The multicultural approach, however, frequently associated<br />

with the Canadian philosopher Charles Taylor (1993), is<br />

aimed at the protection and the recognition of cultural differences<br />

by the state. This approach would, at first glance, appear<br />

to stand in clear opposition to demands of cultural uniformity<br />

and the notion of a Leitkultur. The connotations of<br />

exoticism and the implicit fascination with the foreign along<br />

with the strengthening of the rights of suppressed or marginalized<br />

groups have likewise become politically attractive especially<br />

on the political left. Few have made the observation,<br />

however, that multiculturalism is essentially a kind of "Leitkultur<br />

in sheep's clothing." Taylor's understanding of culture<br />

is anchored in the same traditional coherence paradigm, preferring<br />

"substantive agreement on value" and "sufficient in-<br />

37<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

tellectual homogeneity" (Taylor 1991:52) while reducing social<br />

differences to the level of ethnic groups. Individuals are<br />

therefore always the "bearers of one and only one perspective"<br />

(Reckwitz 2001:183). They are unable to deny their<br />

membership in a discrete group, and they are forced to perpetuate<br />

this group's identity for the purposes of cultural<br />

preservation. "As an official codification of identities and traditions,"<br />

multiculturalism demands, "not the preservation of<br />

negotiated forms of mutual recognition" but instead prevents<br />

the "debate between cultural groups regarding accepted or<br />

appropriate interpretations" (Bienfait 2006:38, translation by<br />

author).<br />

In the political context, the implementation of either a Leitkultur<br />

or multiculturalism approach – both of which are obviously<br />

built upon a foundation of culture as coherence – is an<br />

easy one indeed. On the one hand, both can be implemented<br />

in policy without difficulty while both eliminate the need for<br />

potentially difficult discussions with external (i.e. "foreign" or<br />

"incompatible") elements.<br />

Existing criticism of the coherence approach to culture is inadequate.<br />

Another reason for the continued existence of the cultural<br />

coherence paradigm can be found in the very criticism of coherence<br />

itself. As mentioned above, much of the resistance to<br />

coherence as a viable approach to understanding culture rests<br />

upon the work of deconstructionists:<br />

“Unlike those forms of critique which aim to supplant inadequate concepts<br />

with, 'truer' ones, [...] the deconstructive approach puts key concepts‚ under<br />

of 'erasure' [...] But since they have been superseded dialectically, and<br />

there are no other, entirely different concepts with which to replace them,<br />

there is nothing to do but to continue to think with them.” (Hall 1996:1)<br />

The existing criticism of the coherence approach has convincingly<br />

revealed the obsolescence of older definitions of culture<br />

and, at the same time, that of the associated political<br />

structures they support. However, the deconstructionists<br />

rarely offer positive alternative models from which social desiderata<br />

might then be derived.<br />

To the critics themselves, this lack is also frequently evident.<br />

Reactions such as that of Spivak’s Strategic Essentialism approach<br />

(Spivak 1993:3) betray an awareness of the inadequacy<br />

of their intellectual tools, while allowing them to be<br />

employed to offer discriminated groups a purely pragmatic<br />

means to empowerment. Spivak permits, therefore, the use<br />

of deconstructed approaches under certain political circumstances.<br />

In the long term, of course, such a model will remain<br />

ineffective because it describes no mechanisms for social development.<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 38


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

Another attempted solution to the coherence dilemma can<br />

be found in the supporters of hybrid or transcultural approaches.<br />

These perspectives recognize the quite plausible<br />

characterization of culture as a heterogeneous and dynamic<br />

product of communication. Rather than attributing this dynamic<br />

to the myriad influences that cultures exercise upon<br />

one another or through their mutual contact generally, proponents<br />

of the hybrid or transcultural approaches imagine<br />

idealized social and political phenomena: individuals should<br />

recognize that since cultures do indeed flow into and permeate<br />

one another, people should likewise be more tolerant and<br />

open (cf. Mae 2001 on Japanese society). In principle this position<br />

cannot be disputed. However, the illogical linking of a<br />

plausible diagnosis to (perhaps well-intentioned) social desiderata,<br />

it will be shown, ignores the familiar processes of human<br />

group formation while offering in its place little more<br />

than political pandering.<br />

The goal of this article, therefore, will be the establishment of<br />

a sounder criticism of coherence-based approaches and,<br />

linked to this criticism, the formulation of a likewise contemporary<br />

and practical concept of culture which is also likely to<br />

supply reasonable answers to the questions regarding the<br />

formation of cohesion in society.<br />

3. Differentiation of the Cultural - A Practical Analysis<br />

Matrix<br />

A single definition for the concept of culture is insufficient.<br />

The heated debates around "Leitkultur" and "multiculturalism"<br />

reveal the following: the concept of culture is charged<br />

with connotations both of belonging and of disenfranchisement,<br />

of inclusion and of overreaching (cf. Huntington 2006).<br />

When excessively politicized, the term exaggerates each simple<br />

folkloric characteristic into either elite criticism or a threat<br />

of impending loss. The tiny word "culture" bears extreme<br />

burdens of social order as well as delusions of every kind, so<br />

that it is hardly adequate any more for use in reasonable discussions.<br />

As a countermeasure, one could try to reduce the<br />

concept of "culture" again simply to the barest traditions of<br />

discrete groups, but the masking of the social power structure<br />

components that are always present in cultural practices<br />

would then lead to a purely descriptive understanding of culture<br />

that likewise would offer no clues for political action.<br />

If culture as a single concept is pitched either too far or too<br />

narrowly, it becomes unsuitable for social debate. Therefore,<br />

in the following description, broader conceptual categories<br />

will necessarily be juxtaposed with the word "culture" in an<br />

39<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

effort to formulate a more practical approach to the term.<br />

The inclusion of additional aspects provides an opportunity to<br />

reduce the overinflated idea of "culture" to a manageable<br />

scale and forms a more differentiated basis for further investigation.<br />

In addition to standard cultural customs, an applicationoriented<br />

cultural concept must also consider the collective<br />

aspects of belonging and participation.<br />

The first conceptual addition which seems necessary in the<br />

reworking of the general understanding of culture is the<br />

broadening of the cultural perspective of human coexistence<br />

to include a collective perspective. Collectivity will here refer<br />

to the "formal and structural" aspects of human groups<br />

(Hansen 2009, translation by author). Employing this approach,<br />

the "cultural" can then be (carefully and selfconsciously)<br />

reduced to its content, to the "customs" (or<br />

"habits" as in Tylor 1871:1) of individuals in interaction. This<br />

distilled understanding of culture is related to the pragmatic<br />

approach of Wittgenstein in which culture is most evident<br />

where one finds "shared practices" (Welsch 1995:43). The<br />

emphasis on customs and habits is a broad formulation and<br />

includes cognitive resources such as common knowledge references<br />

(Wissensvorrat) as well as patterns of behavior. Such<br />

customs may be inconsistent or even contradictory while being<br />

constantly subject to change. It is not necessary for the<br />

members of certain collectives to internalize these habits, nor<br />

do they have to be put into practice or even be generally accepted.<br />

In order for them to be called "culture," habits simply<br />

need to be familiar to the individuals in interaction. In contrast<br />

to personal idiosyncrasies, cultural peculiarities are a plural<br />

phenomenon. Culture begins, therefore, where people<br />

interact in groups. It ends with the characteristics of the individual.<br />

In order to defend such a pared-down formulation of culture<br />

against accusations of simplicity or naiveté, it must be supplemented<br />

by a collective perspective which itself deals (in<br />

contrast to the simple group customs) with issues of group<br />

affiliation. Which criteria are employed to determine whether<br />

an individual is accepted as a legitimate and respected member<br />

of a group, a collective, or a society? Who possesses the<br />

authority and the influence to make such a decision, and<br />

conversely who lacks the same authority? Who controls access<br />

to the resources that empower people to make such decisions?<br />

Questions of affiliation and participation have frequently<br />

been at the center of cultural criticism. Bourdieu's capital<br />

theory with its description of the malleability of economic,<br />

social, and symbolic capital delivers a set of tools useful in the<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 40


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

explanation of social power differences arising from the unjust<br />

distribution of cultural authority (Bourdieu 1982). Fraser's<br />

model of status recognition likewise distinguishes the authority<br />

of economic exclusion from its cultural value hierarchy in<br />

the disenfranchisement of certain groups despite their possession<br />

of economic capital (Fraser 1995).<br />

These and similar attempts will not be treated here in detail.<br />

What is, however, crucial for the development of an application-oriented<br />

concept of culture is, above all, the division between<br />

an understanding of culture at the level of cultural customs<br />

and the related collective perspective at the level of belonging.<br />

Such a division is, of course, problematic since cultural<br />

practices as communicative codes always contain relationship<br />

cues that reach back to the collective level. Nevertheless,<br />

this division seems to be necessary from a theoretical<br />

perspective, since both levels do not necessarily develop in<br />

concert. Cultural customs can influence collective affiliations,<br />

however - as in the example of purely economic access conditions<br />

to groups –they do not necessarily have to. Furthermore,<br />

group theory demonstrates that shared cultural characteristics<br />

are not a prerequisite for the development of a group<br />

identity and the resulting phenomena of exclusion and devaluation<br />

of outsiders (Tajfel 1982).<br />

Also from a practical standpoint, the separation of cultural<br />

and collective perspective makes sense because their mixture<br />

frequently leads to impasses in discussions of social matters.<br />

This is well illustrated by the recent headscarf (hijab) debates<br />

in France and Germany, for example. A headscarf can act, of<br />

course, on the level of the cultural, simply as a practical article<br />

of clothing like a baseball cap, protecting the individual who<br />

wears it from sun, wind, or rain. It may be nothing more than<br />

a fashionable accessory that fits nicely with the other articles<br />

of clothing an individual chooses to wear or, like a turban or<br />

a hood in certain instances, may indicate an adherence to<br />

certain religious doctrines. On the collective level, the headscarf<br />

may be interpreted like the team scarves common<br />

among European football fans as a tangible political sign of<br />

affiliation with a specific group or the rejection of another.<br />

The social debate on this topic is seldom about the cultural<br />

custom of wearing a certain type of clothing, but rather<br />

about its assumed symbolic power, signifying either the demarcation<br />

of one group or the oppression of another. Mixing<br />

the cultural and collective levels leads to passionate discussions<br />

about headscarf bans (a serious encroachment into the<br />

cultural level), thus preventing - at the collective level - the<br />

necessary political examination of the suspected underlying<br />

problem: the social marginalization or oppression of groups.<br />

41<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

An application-oriented concept of culture must furthermore<br />

distinguish between plural and individual perspectives.<br />

Supplementing an understanding of the cultural with the collective<br />

alone does not supply a sufficient theoretical approach<br />

for a more sophisticated criticism of the coherence-based understanding<br />

of culture. Because culture, as explained above,<br />

refers to individuals in the plural, the traditional perception of<br />

culture often excludes the individual completely from examination.<br />

It thus avoids dealing with the dilemma that on a<br />

group level, the concreteness of cultural phenomena cannot<br />

be denied, while each individual member of a culture, however,<br />

is equipped with the freedom to process those cultural<br />

offers in a completely unique way.<br />

The reduction of culture to the plural perspective alone hence<br />

encourages the well-justified criticisms of essentialism and<br />

totalitarianism. The radical deconstruction of culture as a collective<br />

phenomenon to a form that allows only individual<br />

claims elicits, however, accusations of naiveté, as it neglects<br />

the hard factors of collective membership.<br />

Therefore, an application-oriented concept of culture must<br />

acknowledge the fact that belonging to specific cultures<br />

bears great influence on the individuals, but this influence is<br />

in no way deterministic. "Every element of a group (is) not<br />

only the member of a society, but is moreover, something<br />

beyond that " (Simmel 1983:283, translation by author), the<br />

individual is never completely subsumed in the group. It is,<br />

instead, "simultaneously inside and outside" (Ritsert<br />

2000:71). To adequately illustrate this dialectic of individual<br />

and group, hence, the traditional plural perspective of culture<br />

must be supplemented (and not replaced) by an individual<br />

perspective.<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 42


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

Exh. 1: Culture as a matrix – The expansion of the traditional usage of<br />

the term "culture" to include the collective and individual perspectives<br />

Considering these terminological requirements of the word<br />

culture, the result is not a single definition of the word that,<br />

as has been shown here, will be either too narrow or too<br />

broad. What becomes clear instead is in one sense an expansion<br />

of the scope of the cultural to include the collective. In<br />

another sense, the standard plural understanding of culture<br />

will include the individual as well. Culture as a complex holistic<br />

phenomenon can then be analyzed through the use of the<br />

four-field matrix shown above. Employing this tool, questions<br />

regarding the customs of certain collectives are addressed in<br />

the cultural/plural field while the collective/plural field can be<br />

used to investigate the rules of membership and participation<br />

in collectives. The cultural/individual field is dedicated to the<br />

interdependencies between individuals and culture, while the<br />

collective/individual field describes the individual's membership<br />

in discrete collectives. This article will demonstrate that<br />

such a differentiation of culture (rather than reliance on a<br />

one-dimensional definition) allows a much more precise description<br />

of cultural phenomenon while furthermore providing<br />

a more sound critical foundation against the traditional<br />

coherence-oriented understanding of culture.<br />

4. Revision of the Coherence Paradigm - Almost Completely<br />

Wrong<br />

In order to more clearly understand the mistakes of traditional<br />

interpretations of the term "culture," the assumptions<br />

of the existing coherence paradigm will be applied to each of<br />

43<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

the single fields in the four-dimensional matrix. The second<br />

step then will be to replace the inadequate answers with<br />

more viable models.<br />

The traditional understanding of culture is characterized by<br />

congruence between the cultural and collective levels.<br />

Initially, it must be said that the traditional understandings of<br />

culture do not address the differentiation between the level<br />

of customs and that of membership or affiliation. Instead, a<br />

great deal of congruence between culture and collective is<br />

assumed. This then leads to the assumption that, on the one<br />

hand, customs or traditions end where the collective ends,<br />

while on the other hand there is little overlap between collectives<br />

and therefore smaller collectives arise within larger ones.<br />

This approach then assumes that a certain collective, like the<br />

German nation for example, could be adequately understood<br />

through certain attributes that are common to all Germans<br />

and are shared by members of no other collectives. Furthermore,<br />

one could claim that membership in a certain collective<br />

– a Bavarian shooting club, for example – necessitates the<br />

membership in certain other collectives as well: in this example,<br />

the Catholic Church, adult men, the Bavarian conservative<br />

political party, and fans of folk music.<br />

The plural perspective of the traditional concept of culture is<br />

marked by internal coherence as well as border coherence.<br />

Because the congruence of the cultural and collective levels is<br />

frequently assumed, findings that originate in a traditional,<br />

coherence-based understanding of culture are often the same<br />

for both levels. It is then often assumed that collectives and,<br />

by extension, cultures, are characterized by very clear and<br />

non-porous borders to other collectives and cultures. This will<br />

hereafter be referred to as border coherence. In the context<br />

of cultural customs, there is an expectation of homogeneity<br />

and assumed acceptance that hereafter will be referred to as<br />

internal coherence. According to these premises, it is not only<br />

absolutely clear who is German and who is not, who is a Berliner<br />

and who is not, who is a police officer and who is not,<br />

but it is also clear what values or behavior each group will<br />

display. According to the traditional understanding of coherence,<br />

therefore, if it says "German," "Berliner," or "police<br />

officer," on the package, there must be a "German," "Berliner,"<br />

or "police officer," inside.<br />

Internal coherence is assumed to be the foundation of cultural<br />

continuity.<br />

The traditional coherence paradigm further extends the diagnosis<br />

of internal coherence to include the idea of coherence<br />

in attitudes or behavior as a necessary demand to preserve<br />

the group’s continuity. This notion has become especially ap-<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 44


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

parent in the recent Leitkultur debates in Germany. On the<br />

one hand, it is postulated that a certain system of values actually<br />

exists to which everybody who can be identified as<br />

German subscribes. On the other hand there is a demand<br />

that everyone recognize this canon of values since failure to<br />

do so would lead to German culture going downhill. Another<br />

illustration of this same perspective can be found in the context<br />

of corporate culture that on the one hand presents itself<br />

in terms of coherence ("Our company is marked by certain<br />

values which all our employees share") while at the same<br />

time demanding that internal coherence be practiced ("Our<br />

enterprise can only be successful if all our employees live our<br />

culture") (cf. Rathje 2009 for a detailed representation of the<br />

coherence paradigm in the corporate culture debate). The<br />

logical contradiction contained in the above statements that<br />

indeed something self-evident cannot be demanded at the<br />

same time is simply ignored.<br />

The individual perspective of the traditional concept of culture<br />

is marked by primary collectivity and attributive congruence.<br />

As has already been demonstrated, the traditional understanding<br />

of culture is rarely concerned with the role of the<br />

individual. Accordingly, its findings concerning the individual’s<br />

perspective turn out to be quite simple.<br />

At the level of the collective, the traditional perspective prefers<br />

a diagnosis of primary collectivity which can be imagined<br />

as the individual's main collective allegiance – normally understood<br />

as the membership in a national collective. This assumption<br />

is so deeply rooted in daily experience that it is<br />

rarely questioned. Management guidebooks offering intercultural<br />

advice, for example, typically describe the "Czechs" or<br />

the "Chinese" without considering other group memberships<br />

such as academics, blue-collar workers, philosophers, engineers,<br />

thirty-somethings, or retirees. The German son of Vietnamese<br />

immigrants, for example, despite his passing of the<br />

bar exam, years of work in national politics, and lacking any<br />

experience with the homeland of his parents will still be<br />

asked by interview partners how he can cope with being<br />

"Vietnamese" in Germany. Even theoretical approaches like<br />

multiculturalism are founded upon the same primary collective<br />

assumptions in which an individual is assigned to one<br />

single collective.<br />

At the cultural level, the traditional understanding presumes<br />

an observable attributive congruence in the individual. This is<br />

the assumption that since the characteristics within a collective<br />

are themselves coherent and furthermore, since an individual<br />

belongs primarily to one collective, it must follow that<br />

the characteristics of an individual are compatible with his or<br />

45<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

her primary collective. Therefore, knowing that someone has<br />

grown up in the tradition of the "Christian/European West",<br />

certain assumptions could be made regarding his or her opinions<br />

on parliamentary democracy or on the Ten Commandments.<br />

Although this assumption would be rejected by most<br />

people as a terrible generalization, it dominates our day to<br />

day understanding of culture. It forms the basis for political<br />

assumptions comparable to the "Leitkultur" model and<br />

sometimes fosters some odd offspring indeed. In an informal<br />

study carried out by a television station on the quality of pizzerias<br />

in Berlin, for example, only the nationality of the cooks<br />

was examined based on the assumption that only Italian<br />

cooks – and all Italian cooks without exception – would be<br />

capable to make a reasonable pizza dough.<br />

Exh. 2: The coherence paradigm in the traditional concept of culture<br />

The following segment will be dedicated to the revision of<br />

the traditional concept of culture and its representations of<br />

border coherence, internal coherence, primary collectivity and<br />

attributive congruence.<br />

The relationship between cultures and collectives is characterized<br />

by incongruence.<br />

The starting point for this critical discussion will be an examination<br />

of the assumption of congruence between cultures<br />

and collectives. As mentioned above, there is already substantial<br />

evidence found, for example in the fields of Cultural and<br />

Post-colonial Studies, for the mutual influence and interpenetration<br />

of human customs. Such customs are not bound by<br />

the borders that tend to be drawn around discrete collectives.<br />

Likewise, these customs are not exclusively attached to certain<br />

collectives, but instead permanently branch out, evolve,<br />

fray, and create hybrid forms. They are capable of practically<br />

everything except for stopping at the borders between collectives.<br />

The well established concepts of interculturality and<br />

transculturality, which themselves were created in order to<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 46


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

illustrate and describe the processual nature of culture, are<br />

actually tautological terms since cultural processes always occur<br />

"between" or "through" others. The effects of such interaction<br />

are amplified today in an environment rich with<br />

novel opportunities for collective membership and collective<br />

cross fertilization. While it may have been possible in the past<br />

to assume that a West German coal miner will vote for the<br />

social democratic labor party, increasing social variety, geographical<br />

mobility, and access to global communication networks<br />

cause the borders of collectives to shift and overlap:<br />

Not all Bavarian Catholics will vote for the Bavarian Christian<br />

conservative party. Brazilian teenagers go crazy for a German<br />

pop group whose style is rooted in a Japanese youth movement.<br />

A woman and an African American can become the<br />

German chancellor or the US president. The assumption of<br />

congruence between collective and culture has simply become<br />

untenable.<br />

Differentiation and multicollectivity must be accepted as<br />

characteristics of a viable concept of culture rather than internal<br />

coherence and primary collectivity.<br />

Further analysis of the traditional concept of culture within<br />

the four-field matrix will begin in the "cultural/plural" field<br />

which has typically been characterized by a coherence of collective<br />

customs. This assumption has already been dislodged<br />

by the existing critique of the coherence concept. Acknowledged<br />

approaches that describe the development and perpetuation<br />

of culture - the concept of "cultural memory"<br />

(Assmann 1992) for example - have demonstrated that members<br />

of a culture have access to a heterogeneous pool of cultural<br />

resources. Depending on current needs of their groups<br />

they recall pieces of the past respectively. The content of a<br />

culture at any given moment can therefore never be categorized<br />

as coherent.<br />

This principle can be illustrated with the variety of political<br />

orientations within a society. When, for example the various<br />

parties in Germany - including banned parties - recall elements<br />

of their common past, they reflect a wide spectrum of<br />

political orientations that influence German socio-political life.<br />

If, on the one hand, the German political landscape and the<br />

parties that inhabit it can be considered an integral component<br />

of German culture, it must also be accepted on the<br />

other hand that a fundamental feature of this culture is internal<br />

differentiation. This proof of heterogeneity, contradiction,<br />

and variety among the cultural customs also finds application<br />

in all other contexts of human interaction. Fundamental differentiation,<br />

therefore, must be recognized as a counterthesis<br />

to any postulation of internal coherence.<br />

47<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

The claim of differentiation as a characteristic of cultural customs<br />

is closely related to the developments in the field of individual<br />

collective membership. While the traditional concept<br />

of culture understood this relationship between individuals<br />

and their collectives to be one marked by primary collectivity,<br />

the accelerating increase in the number of available collectives<br />

and their mutual influence demands a fundamental revision<br />

of this perspective. In the past, if an individual were born<br />

into a specific collective, he or she - under normal circumstances<br />

- would remain there as one of its members. Today it<br />

is increasingly difficult to predict how many or precisely to<br />

which collectives an individual may belong. Membership in<br />

the collective "German professors," for example, does not<br />

allow for further assumptions about whether a member of<br />

that collective also belongs to the collective of "news magazine<br />

readers," and/or "tabloid readers;" whether he or she is<br />

part of the "classical music fan" collective and/or the "rock<br />

music fan" collective. An American hedge fund manager can<br />

be an active member of the Catholic Church, he can vote<br />

left-progressive, and in his free time take a course in gourmet<br />

cooking with a world-famous French chef. Hansen terms the<br />

rather simple assumption that an individual belongs to many<br />

collectives at the same time "multicollectivity" (2000: 196).<br />

This finding is opposed to traditional models that prefer primary<br />

collectivity. Taken to its logical conclusion, the model of<br />

multicollectivity leads away from monolithic and essentialist<br />

views of individual identity that appears to be constantly endangered<br />

by variety and contradiction. Instead, multicollectivity<br />

offers an additive understanding of collective membership<br />

and cultural practices. Individuals are able to add collective<br />

memberships and cultural customs without having to sacrifice<br />

existing ones.<br />

Collective cohesion is nourished by an individual's multicollective<br />

identification with a variety of groups and the resulting<br />

familiarity with differences.<br />

While the traditional concept of culture looks to internal coherence<br />

as a source of stability, a revised understanding of<br />

culture, which assumes differentiation among cultural customs<br />

and individual multicollectivity, must find new explanations<br />

for the apparent cohesion of groups. The intuitive plausibility<br />

of the traditional perspective ("The more alike we are,<br />

the less likely there will be conflicts."), a familiar assumption<br />

easily gained from personal experiences in small groups like<br />

bowling clubs or work teams, certainly makes the exploration<br />

of questions regarding the cohesion of complex collectives be<br />

they businesses or nations very difficult indeed.<br />

Nevertheless, closer consideration reveals that the sources of<br />

cohesion are to be found precisely in the concepts of multi-<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 48


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

collectivity and differentiation themselves. In this way the organizational<br />

sciences long ago were able to demonstrate that<br />

individuals who simultaneously belong to several organizational<br />

entities act as "Linking Pins" (cf. Likert 1967) between<br />

the groups they represented. Accordingly, individual multicollectivity,<br />

through its very variety, provides a network-like stability<br />

of greater group connections (Hansen 2000:196f.). Recent<br />

organizational science has furthermore been able to<br />

prove that familiarity with cultural differences forms a stable<br />

basis for organizational cohesion (cf. Rathje 2004). Transferred<br />

to a social context, these findings would indicate that<br />

it is not the internal coherence of customs that is vital for cohesion,<br />

but rather the familiarity with the differences creating<br />

a framework of normality that alone is sufficient for identification:<br />

"We recognize [...] [divergent] points of view, and<br />

when we hear them, we know that we are at home" (Hansen<br />

2000:232, translation by author).<br />

Radical individuality is the result of differentiation and multicollectivity.<br />

Adhering to the claims of cultural differentiation and multicollectivity,<br />

attachments to the traditional assumptions regarding<br />

individual attributive congruence must also be abandoned.<br />

The fact that individuals are simultaneously part of numeous<br />

collectives that produce divergent cultural practices will result<br />

in a radically individual processing of cultural offers due to<br />

reciprocal interaction with their unique biological and biographical<br />

foundations.<br />

In this way, the collective memberships of an individual only<br />

allow for the conclusion which cultural practices that individual<br />

is familiar with, which patterns of behavior or rational<br />

concepts he or she is conversant with. What that individual<br />

makes of this peculiar constellation of influences, however,<br />

remains an open question. It is possible, for example, that a<br />

middle-class youth who takes cello lessons and learns Latin<br />

may grow up to become a star lawyer or possibly an urban<br />

squatter. A civil servant might begin as an idealistic patriot<br />

who thrives in the bureaucratic process or else he might secretly<br />

despise the inefficiency of the system and dream to<br />

himself of revolution.<br />

Furthermore, studies on the effects of migration show that<br />

effectively processing cultural differences may not be the<br />

challenge it seems to be at first glance. Instead it belongs to<br />

an individual's "daily bread" of self-assurance and shaping<br />

one’s identity. Thus the navigation of contradictory cultural<br />

norms or values by no means leads to confusion or disorientation<br />

(Auernheimer 1988, Hill 1990). It only becomes stress-<br />

49<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

ful or otherwise burdensome if accompanied by discrimination<br />

or disenfranchisement on the collective level (Badawia<br />

2002).<br />

The diagnosis referred to as border coherence must be retained<br />

in its traditional form.<br />

After internal coherence, primary collectivity and attributive<br />

congruence are replaced by differentiation, multicollectivity<br />

and radical individuality, the collective/plural field still remains<br />

to be examined.<br />

The traditional concept of culture postulated the existence of<br />

border coherence, that is, the assumption that collective<br />

membership (but not cultural membership) is unambiguously<br />

regulated. Unfortunately, no modifications to this approach<br />

can be made within the broad revision of the traditional concept<br />

of culture. The diagnosis of cultural differentiation, multicollectivity,<br />

and radical individuality do not allow the borders<br />

between collectives to be seen as blurrier, more porous or<br />

even non-existent. Precisely this was the greatest flaw in recent<br />

coherence criticism: the posit of free-floating collective<br />

membership means throwing out the baby with the bath water.<br />

In order to be part of a culture, it is sufficient to be familiar<br />

with that culture's customs. In order to be the member of<br />

a collective, palpable criteria must be fulfilled.<br />

Groups attach quite varied (explicit or implicit; standard or<br />

erratic) requirements to the membership and acceptance of<br />

the individuals within them. The investment in appropriate<br />

clothing or a cool story, for example, might gain an individual<br />

access to an exclusive club. A person's gender might support<br />

preferred placement in high-level management. Having academic<br />

parents facilitates access to higher education later in<br />

life. The result, however, the granting of recognition, participation,<br />

and respect is always unambiguous: one is either part<br />

of the collective or one is not. The mechanisms that, on the<br />

level of culture, are complex and blurry, following a kind of<br />

"x as well as y" logic, are indeed quite well-defined on the<br />

level of the collective. An individual can simultaneously be the<br />

member of many collectives, he or she can lose or refuse<br />

membership, but the same individual cannot be simultaneously<br />

part of and not part of the same collective. Either he<br />

has access to the group or he does not. Either she is accepted<br />

or she is not. Although the coherence paradigm is an obsolete<br />

tool in the understanding of culture it retains its usefulness<br />

in a collective context. Cultures overlap, intertwine, and<br />

influence one another, but the borders drawn by collectives<br />

are firm.<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 50


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

Exh. 3: Diagnoses of a contemporary concept of culture<br />

5. Conclusions - the levers of radical multicollectivity<br />

The expansion of the traditional, one-dimensional concept of<br />

culture to include three other fields in a larger matrix has enabled<br />

a thorough revision of the coherence paradigm. In the<br />

segment to follow it will become clear in what ways this new<br />

understanding of culture can be put to use in practical discussions<br />

of social issues. Special emphasis will be placed on<br />

much-discussed issues related to migration. An applicationoriented<br />

concept of culture must be able to supply substantial<br />

starting points for the creation of more humane social conditions.<br />

The question then becomes, in which of the four fields<br />

of the matrix political efforts can be enacted to strengthen<br />

social cohesion.<br />

Encroachment on the cultural/plural field is illogical and counterproductive.<br />

The concept of Leitkultur is associated with the cultural/plural<br />

field and requires internal coherence or the adaptation of a<br />

certain group's customs to the customs of the supposed majority<br />

in the larger population. This demand for adaptation<br />

goes beyond the mere observance of laws that apply to every<br />

member of a society. Instead, it requires the acceptance of<br />

certain opinions, positions on specific issues, expressive fluency<br />

or even the acquisition and presentation of certain<br />

clothing styles.<br />

Irrespective of the fact that such an approach that embraces<br />

uniformity is to be rejected under the diagnosis of differentiation,<br />

there are additional arguments against attempts to exert<br />

influence over the cultural/plural field.<br />

Ethically such encroachment should be considered extremely<br />

problematic simply because it would represent an inadmissi-<br />

51<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

ble interference with the freedom of various groups to establish<br />

their own lifestyles.<br />

Here Habermas speaks of a "decoupling" of two "levels of<br />

integration:" a political level that protects legal behavior, and<br />

a cultural level. Only at the first level, a constitutional state<br />

may exercise influence, or demand conformity from its citizens<br />

(Habermas 1993:183ff.). Demands that themselves secure<br />

"the dominance of a particular Leitkultur," (Bienfait<br />

2006:157) however, must be recognized as fundamentally<br />

illegitimate.<br />

The recent example of the debates on headscarf bans in several<br />

European nations illustrates this fact especially clearly.<br />

The intention of a woman wearing a headscarf - how freely<br />

or how unwillingly she wears the garment and furthermore<br />

how this act is publicly interpreted is neither possible to determine<br />

nor is it justifiable. Even arguments of unjust oppression<br />

must end at the woman's own undeniable claim of individual<br />

autonomy. Otherwise, extending the faulty logic, unhealthy<br />

high-heeled shoes would also have to be forbidden<br />

arguing that they express women's status as victims of male<br />

sexual domination (despite the fact that they subject themselves<br />

to this obvious torture quite willingly) limiting their perception<br />

so strongly that they wear their chains with pride.<br />

The rejection of organized interference on the level of culture<br />

should not lead to the assumption that cultural practices of<br />

all kinds should be embraced and are themselves off limits to<br />

criticism. On the contrary, cultural customs on the collective<br />

level frequently represent, as should already be quite clear, an<br />

expression of the dominance of one group over another.<br />

Nevertheless, changes in one group cannot be accomplished<br />

through the interference of another. Ethical considerations<br />

aside, such attempts have a specific practical limitation: they<br />

don’t work. Social-psychological theories on the formation of<br />

social identity and group conflict (among others Tajfel /<br />

Turner 1995) prove convincingly that interventions at the cultural<br />

level lead to defensive actions within the subordinate<br />

group, accompanied by feelings of inferiority and separation<br />

from the dominant out-group. Typical consequences include<br />

an increased demand for internal conformity, disruption of<br />

communication and radicalization by depersonalizing the outgroup.<br />

Interference on the cultural level, therefore, typically elicits<br />

the opposite of what was intended.<br />

Approaches in the cultural/individual field possess a patronizing<br />

character.<br />

The same is true of potential approaches in the cultural/individual<br />

field. It has already been shown that the re-<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 52


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

sults of radical individuality originate in the unique processing<br />

of exposure to cultural differentiation. This can be considered<br />

as an individual's own initiative that "can neither be collectively<br />

shaped nor influenced politically" (Bienfait 2006:172,<br />

translation by author). This finding contradicts traditional<br />

multicultural perspectives that "cultivate political care of the<br />

individual identity and hold the government responsible for<br />

the successful self-discovery of the individual" (Bienfait<br />

2006:172). Instead, the individuals create their own identities.<br />

The well-known idea postulated by so many social scientists<br />

(cf. Wierlacher 2003) of something “third” evolving from the<br />

processing of two opposites is thus neither necessary nor<br />

helpful. To find their own identity, individuals need no "third<br />

spaces" (cf. Bhabha / Rutherford 1990) or "third chairs"<br />

(Badawia 2002) which implicitly recognize the outdated<br />

models of primary collectivity and internal coherence. Individuals<br />

add memberships and process cultural practices attached<br />

to them into something unique. Employing the above<br />

metaphors, they are constantly adding new space and stacking<br />

multiple chairs onto one another. Any efforts to interfere<br />

externally will be interpreted as a form of paternalism.<br />

Influence in the collective/plural field possesses a purely appellative<br />

character.<br />

Having demonstrated that interference with the cultural level<br />

is doomed to fail, the same must be said of any intervention<br />

in the collective/plural field. This has been the classical domain<br />

of critical theory that defends its position against the<br />

diagnosis of border coherence with its demands for equal<br />

discourse in the absence of dominance or oppression.<br />

As noble and desirable as the demands of critical theorists<br />

are, they do not promise to be ever successful, because they<br />

fight against social conditions that appear to be a universal<br />

product of human group processes and thus cannot simply<br />

be abolished. Political influence in the collective/plural field<br />

that seeks to limit group dominance and in turn demands<br />

tolerance and openness has thus often been accused of encouraging<br />

"discursive civil utopia" (Eder 1995:276) lacking<br />

practical solutions:<br />

"The public discussion forums are not openly accessible, nor are the institutionalized<br />

decision processes themselves free of bias or party influence. One<br />

reason for the problems of recognition and acceptance is that the public<br />

debates are characterized by political marginalization which itself excludes<br />

any objection and contradiction of the subordinate group in question."<br />

(Bienfait 2006:153, translation by author)<br />

Reasonable approaches promote multicollectivity.<br />

Finally, we are left with a single field in which external political<br />

influence may indeed be possible: the collective/individual<br />

53<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

field. While it seems impossible to change the amoral rules of<br />

collective membership, it may indeed be possible to offer an<br />

individual access to a broader range of collectives. The diagnosis<br />

of multicollectivity is thus expanded to the desideratum<br />

of radical multicollectivity, the goal of providing increasing<br />

individual access to ever more collectives.<br />

Multicollectivity as a goal then offers an effective diagnostic<br />

foundation for the evaluation of political efforts. Concepts<br />

worthy of political support therefore, are those that promote<br />

and expand an individual's inclusion into additional groups.<br />

Conversely, programs that prevent or limit individual access<br />

to certain collectives should be recognized as counterproductive.<br />

Accordingly, the existence of certain concentrations of ethnic<br />

or other groups - Turkish communities or graduate student<br />

housing - is to be considered as "neutral" in a multicollective<br />

sense, as long as members of these groups have the ability<br />

and means to come and go freely. A demand for political action<br />

arises when it comes to a concentration of poverty and<br />

high crime rates preventing e.g. children from getting access<br />

to higher education and thus isolating and locking them out<br />

from membership in a range of collectives from the start. Encouraging<br />

access to civic activities by, for example, promotion<br />

of plural citizenship represents an effort to increase multicollectivity<br />

and therefore should be worthy of support. Forbidding<br />

the headscarf, on the other hand - irrespective of the<br />

previous discussion of the ineffectiveness of manipulation on<br />

the cultural level - should be recognized as a mistake, since it<br />

would lead to the elimination of access for a certain group (in<br />

this case women) to certain social functions (schools and public<br />

places). Efforts to bring children of different social and national<br />

background together in common projects - be they violin<br />

lessons, soccer matches or even efforts to encourage girls<br />

to become more active in math and science - should be encouraged<br />

as they foster multicollectivity without disenfranchising<br />

other groups, and so forth.<br />

As a political concept, the encouraging of multicollectivity<br />

fosters and accelerates a variety of desirable social processes.<br />

Multicollectivity, on the one hand, provides stability and cohesion.<br />

As the collective memberships of a single individual<br />

increase, the stabilizing strength of the collective network<br />

likewise increases. The familiarity of the cultural differences<br />

within society is multiplied and the likelihood that another<br />

individual will be looked upon as a possible member of a<br />

shared collective is also intensified. Tolerance and willingness<br />

to compromise rise accordingly since individual radicalization<br />

is only possible through extreme limitation of collective membership.<br />

It is no accident, for example, that cults and terrorist<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 54


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

organizations isolate their members and prevent them from<br />

engaging with groups outside their own.<br />

On the other hand, encouraging multicollectivity increases<br />

the developmental dynamic of a society. The more access individuals<br />

have on the collective level to a wide variety of social<br />

groups, the more intensive the competition among cultural<br />

customs will become. The expansion of access to collectives<br />

allows individuals to develop familiarity with alternative<br />

ways of life leading to a constant examination of one's own.<br />

They are provided with the possibility to autonomously appropriate<br />

something that fits or reject it if it doesn’t. Thus,<br />

the selection of customs that themselves have been able to<br />

withstand repeated testing is accelerated. Collectives, then,<br />

that are committed to their own customs (and which collective<br />

isn’t?) cannot rely on missionary work to persuade others.<br />

They can instead offer access to others and trust that<br />

their practices will prevail when they are made known and<br />

acquire a level of familiarity. Likewise, they must accept if this<br />

does not happen. For radical multicollectivity cannot be ideologically<br />

manipulated: The result of expanded collective<br />

membership always remains open and its effect on the individual<br />

stays radically individualized.<br />

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57<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />

Acknowledgement<br />

The author wishes to thank Dr. James McDonald (University<br />

of Jena) for his translation support.<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 58


Kann man komplexe<br />

transnationale Kollektive<br />

beschreiben ohne unzulässig<br />

die Komplexität zu<br />

reduzieren?<br />

Einige Anregungen zu<br />

einem neuen Modell zur<br />

Kollektivbeschreibung<br />

Mario Schulz<br />

Forschungsstelle<br />

<strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong><br />

Passau<br />

Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

Abstract<br />

The question how to describe complex collectives without<br />

unduly reducing their complexity gains in importance when<br />

dealing with transnational expert committees that are<br />

developing outputs with high societal relevance.<br />

This article takes the example of the German-Czech and<br />

German-Slovak historics commission to examine the mode of<br />

operation in such organizations and explains how complex<br />

collectives can produce robust solutions, that have not been<br />

possible in usual political interaction.<br />

Based on Hansen’s concept of collectives the author suggests<br />

a new model to describe the functioning of complex<br />

collectives that stays manageable while not falling into the<br />

trap of oversimplifying interactional dynamics.<br />

1. Problemstellung<br />

Im Zuge weltweiter politischer, sozialer und ökonomischer<br />

Verflechtungstendenzen entstanden als eine Folge in den<br />

letzten Jahren komplexe transnationale Kollektive aus Wissenschaftlern,<br />

deren primäre Aufgabe es ist, tragfähige Lösungen<br />

für aktuelle Herausforderungen zu erarbeiten. Neben<br />

den klassischen (internationalen) Politikfeldern 1<br />

, wie z.B. Umwelt,<br />

Energie und Sicherheit (Windhoff-Héritier 1987:21ff.),<br />

in denen die Expertise sogenannter Expertenkommissionen<br />

(zur allgemeinen Systematik siehe weiter bei: Siefken 2003,<br />

Burckhardt 2005:27ff.) genutzt werden, gewann als eine Folge<br />

der Verflechtungen in den letzten Jahren das Politikfeld<br />

„Gemeinsame Geschichte“ an Bedeutung. In der Folge entstanden<br />

auch historisch orientierte transnationale Expertenkommissionen.<br />

So entschieden sich aktuelle die Tschechische<br />

Republik und das Fürstentum Liechtenstein im Juni 2009 (!)<br />

für die Einrichtung einer gemeinsamen Historikerkommission<br />

zur Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte. Dies ist umso<br />

mehr von Interesse, da beide Länder bis dato, aufgrund der<br />

ungelösten historischen Fragen, noch keine diplomatischen<br />

Beziehungen aufgenommen haben (o.A. 2009). 2<br />

Einen idealtypischer Vertreter – und für den tschechischliechtensteinischen<br />

Fall auch ein Vorbild - stellt die deutschtschechische<br />

und deutsch-slowakische Historikerkommission<br />

(im Weiteren auch Historikerkommission oder Kommission)<br />

dar. Als wissenschaftlich hochkarätig besetztes Gremium, bestehend<br />

aus tschechischen, slowakischen und deutschen Historikern,<br />

agiert sie auf dem konfliktbeladenen Politikfeld<br />

deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Gemeinsame<br />

Geschichte. Sie „produziert“ im „Verborgenen“ (Kohler<br />

59<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

1995) von der Öffentlichkeit „robuste Ergebnisse“ 3<br />

, die die<br />

„historisierten Konflikte“ 4 (Schulz 2009) zwischen den beteiligten<br />

Ländern „löst“ (zur allgemeinen Kritik gegenüber<br />

Expertenkommissionen siehe: Meister 2004:31ff.).<br />

Trotz seines vielfältigen Einsatzes und seiner konstruktiven<br />

Lösungen ist das Expertenkommissionsmodell 5<br />

im Politikfeld<br />

Gemeinsame Geschichte im Allgemeinen (Cattaruzza / Sacha<br />

2007) und die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische<br />

Kommission im Besonderen, ein weitgehend „unbekanntes<br />

Instrument“ (Schulz 2006). Dies liegt – neben der Tatsache,<br />

dass die Kommission bewusst nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit<br />

agiert – auch in der Tatsache begründet, dass sie<br />

ein wissenschaftlich schwer zu beschreibendes Kollektiv darstellt.<br />

Die Mitglieder der Kommission sind von nationalen Gremien<br />

berufene Wissenschaftler, was ihre Zugehörigkeit zu einem<br />

nationalen Kollektiv quasi festschreibt. Gleichzeitig gehören<br />

sie in ihrer Funktion als Experten kleinen geschlossenen Fachcommunities<br />

an, die spezielle „Standardisierungen“ im Sinne<br />

von Hansen (Hansen 2003:140-141, 2009a:66) ausgeprägt<br />

haben, die sich häufig nationalen Verortungen entziehen.<br />

Neben den fachlichen und organisatorischen Determinanten<br />

sind die Mitglieder auch Individuen mit jeweils einzigartigen<br />

Biographien (Siefken 2003:490, Burckhardt 2005). Als Transnationaler<br />

Akteur hat sich die Gesamtheit der Mitglieder als<br />

Historikerkommission im Laufe ihres Bestehens gegenüber<br />

anderen Akteuren im Politikfeld Gemeinsame Geschichte jedoch<br />

darüber hinaus auch eine eigene Handlungsmächtigkeit<br />

(Kaiser 1969, Olbers 2009) geschaffen.<br />

Eine angemessene Beschreibung der Arbeits- und Wirkungsweise<br />

des Kollektivs Historikerkommission, die ihre Erfolge<br />

erklärt, ohne die Komplexität ihres Zustandekommens unzulässig<br />

zu reduzieren, erweist sich als problematisch. Politikwissenschaftliche<br />

akteurzentrierte Ansätze liefern zur Beantwortung<br />

der Frage vorwiegend Erklärungsmuster zur Konstitution<br />

und der Bestimmung der Handlungsressourcen (siehe<br />

ausführlich Schneider / Janning 2006:92-94). Bei der Beantwortung<br />

der Frage, wie trotz der Heterogenität der Mitglieder<br />

tragfähige Ergebnisse produziert werden können, stoßen diese<br />

allerdings an ihre methodischen Grenzen. Vor allem die<br />

Interaktionen innerhalb des komplexen sozialen Gebildes und<br />

die hierdurch entstehenden Kultur- und Kollektivkonstruktionen<br />

bei der Lösungsfindung bleiben weitestgehend unbeleuchtet.<br />

Hier setzen in den letzten Jahren verstärkt Kultur-<br />

und Kommunikationswissenschaftler an. Ausgehend von einem<br />

erweiterten Kommunikationsbegriff (Luhmann<br />

1984:193) interpretieren sie die produzierten Ergebnisse von<br />

Kollektiven als kulturelle Kommunikationsprodukte (vgl.<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 60


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

Bolten 2000). So postuliert z.B. Bolten, dass kulturelle Eigenschaften<br />

„nicht anders als auf kommunikativem Weg geäußert<br />

werden können“ (Bolten 2001:135). Nach diesem Verständnis<br />

ist jedes menschliche Kollektiv als Kulturproduzent<br />

zu verstehen (siehe z.B. Hansen 2000:206-216), dessen Ergebnisse<br />

als prozesshafte Kommunikationsprodukte analysiert<br />

werden können. Aus dieser Perspektive können die Ergebnisse<br />

der Kommission als konkrete „Lösungen“ (Watzlawick,<br />

Weakland et al. 2001) verstanden werden, da sie ihre kollektive<br />

Entstehung und die individuelle Verarbeitung als wesentliches<br />

Merkmal in sich tragen.<br />

Sowohl Kommunikations- als auch <strong>Kulturwissenschaft</strong>ler stehen<br />

allerdings vor der Herausforderung, die Entstehung solcher<br />

Lösungen prozessual zu beschreiben, ohne dabei auf der<br />

einen Seite unzulässige Komplexitätsreduktionen vorzunehmen,<br />

die zu einer Verfälschung der Ergebnisse führen, und<br />

auf der anderen Seite die Komplexität der kollektiven Prozesse<br />

ins Unendliche zu steigern und so verständliche und übertragbare<br />

Erklärungsmodelle unmöglich zu machen.<br />

Eine These, die im Rahmen dieser Untersuchung vertreten<br />

wird, lautet daher: Um komplexe Kommunikationsprodukte<br />

eines Kollektivs, wie z.B. die Lösungen der Kommission erklären<br />

zu können, ist es notwendig, zunächst die Komplexität<br />

des Untersuchungsgegenstandes zu erhöhen. Erst dann ist im<br />

zweiten Schritt wieder eine Komplexitätsreduktion in Form<br />

von realitätsnahen Ergebnissen möglich.<br />

Um die Komplexität des Kollektivs Historikerkommission sichtbar<br />

zu machen, wird im Folgenden die Historikerkommission<br />

als Transnationaler Akteur vorgestellt. Neben der Geschichte<br />

der Kommission und deren wesentlichen Ergebnissen liegt<br />

der Fokus auf der Offenlegung der Heterogenität der Mitglieder.<br />

In einem zweiten Schritt werden ihre Lösungen mit Hilfe<br />

traditioneller kulturwissenschaftlicher Modelle analysiert und<br />

deren Schwächen hinsichtlich unzulässiger Komplexitätsreduktion<br />

herausgearbeitet. Darauf aufbauend werden dann<br />

Anregungen für ein angemesseneres Erklärungsmodell in<br />

Form von Hypothesen vorgestellt.<br />

Die folgenden Analysen basieren auf den Ergebnissen einer<br />

empirischen Studie aus dem Jahr 2007 (Schulz 2010). Dabei<br />

wurden aktive und ehemalige Mitglieder der Historikerkommission<br />

im Rahmen ausführlicher Experteninterviews zu ihrer<br />

Arbeit in der Kommission befragt. Die Interviews wurden mit<br />

Hilfe qualitativer Methoden kodiert und ausgewertet.<br />

61<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

2. Transnationaler Akteur Historikerkommission<br />

Die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Historikerkommission<br />

kann als Transnationaler Akteur im Politikfeld<br />

Gemeinsame Geschichte auf eine 20jährige Geschichte zurückblicken.<br />

Aufgrund ihrer Aufgabe, „historisierte Konflikte“<br />

zu lösen, stehen neben ihrer Entwicklung auch die während<br />

dieser Zeit „produzierten“ Ergebnisse als wichtige Referenzpunkte<br />

für das Verständnis der Arbeits- und Wirkungsweise<br />

dieser Kommission zur Verfügung.<br />

2.1. Entwicklung der Historikerkommission<br />

Die Historikerkommission wurde 1990 auf beiderseitigen<br />

Wunsch des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Václav<br />

Havel und des deutschen Staatspräsidenten Richard von<br />

Weizsäcker und auf Initiative vom damaligen Außenminister<br />

der Bundesrepublik Deutschland Hans-Dietrich Genscher und<br />

dem damaligen ersten nichtkommunistischen Außenminister<br />

der Tschechoslowakei Jiří Dienstbier als deutschtschechoslowakische<br />

Historikerkommission ins Leben gerufen.<br />

In der Erklärung der beiden Außenminister nach ihrem Gründungstreffen<br />

in Nürnberg am 2. Februar 1990 wurde ihr Auftrag<br />

der folgendermaßen formuliert:<br />

„Aufgabe der Kommission soll es sein, die gemeinsame Geschichte der<br />

Völker beider Länder, vor allem in diesem Jahrhundert, gemeinsam zu erforschen<br />

und zu bewerten. Die Kommission sollte alle diese Fragen in breiten<br />

historischem Kontext erforschen, einschließlich der positiven Seiten des<br />

gegenseitigen Zusammenlebens, aber auch der tragischen Erfahrungen der<br />

Völker beider Länder in Zusammenhang mit dem Beginn, dem Verlauf und<br />

den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges.“ (Genscher / Dienstbier 1990,<br />

Historikerkommission 1990-2007).<br />

Durch die Formulierung des Auftrages wurde zugleich die<br />

Grundlage für die Entstehung einer transnationalen, politikberatenden<br />

Kommission gelegt. Es wurden keine „neuen“<br />

nationalen Institute gegründet, sondern es wurde eine Neugründung<br />

initiiert, die sich aus deutschen und tschechoslowakischen<br />

„nahmhafte[n] Fachwissenschaftler[n]“ (Genscher<br />

/ Dienstbier 1990) rekrutiert, die angehalten wurden, kooperativ<br />

zusammenarbeiten. Bereits zuvor wurde die Historikerkommission<br />

schon durch den Regierungsbeschluss der ČSFR<br />

Nr. 51/ 90 vom 25. Januar 1990 bestätigt, in dem die Minister<br />

für Auswärtige Angelegenheiten verpflichtet werden, die<br />

Arbeit finanziell zu unterstützen (Biman 2001:450).<br />

Die Historikerkommission nahm nach anfänglichen Diskussionen<br />

bezüglich ihrer Besetzung im Rahmen einer Tagung vom<br />

14.-16. Juni 1990 in Prag die Arbeit auf. 6<br />

Auf dieser „Grün-<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 62


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

dungstagung“ wurde im Schlusskommunique festgehalten,<br />

dass<br />

„die Katastrophen der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts in<br />

größeren historischen Zusammenhängen und insbesondere vor dem Hintergrund<br />

des langfristigen Zusammenlebens von Tschechen, Slowaken,<br />

Deutschen und Juden gesehen werden müssen. Dabei gilt es, den Blick<br />

nicht nur auf das Trennende, sondern auf das Verbindende zu lenken“.<br />

(Historikerkommission 1990b)<br />

Die Historikerkommission (1990b) setzte sich zum Ziel, „die<br />

historische Forschung in beiden Ländern auf längere Zeit zu<br />

fördern“. Ebenfalls wurde festgehalten, dass die Kommission<br />

hierfür eine Reihe von Kolloquien für die nächsten Jahre anvisiert,<br />

die die weitere Arbeit der Historikerkommission strukturieren<br />

sollten (Historikerkommission 1990b). Diese Liste wurde<br />

auf dem zweiten Treffen konkretisiert. Als Arbeitsmodus<br />

einigte man sich zunächst auf die Etablierung von sektionalen<br />

Arbeitsgruppen. Diese sollten aber in „enger Kooperation“<br />

(Historikerkommission 1990a) zusammenarbeiten. Arbeitsthemen<br />

sollten weitestgehend im Konsens beschlossen werden.<br />

Die bilaterale Kommission wurde im Vertrag zwischen der<br />

Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik und<br />

der Bundesrepublik Deutschland über gute Nachbarschaft<br />

und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 27. Februar<br />

1992 im Artikel 27 nochmals verankert:<br />

„Die Vertragsparteien werden alle Aktivitäten unterstützen, die zu einem<br />

gemeinsamen Verständnis der deutsch-tschechoslowakischen Geschichte,<br />

vor allem dieses Jahrhunderts, beitragen. Dazu gehört auch die Arbeit der<br />

gemeinsamen Historikerkommission und der unabhängigen deutschtschechoslowakischen<br />

Schulbuchkonferenzen.“ (Freundschaftsvertrag<br />

1992)<br />

Die Trennung der Tschechischen und der Slowakischen Republik<br />

1993 dokumentiert sich auch in der veränderten Konstitution<br />

der Kommission. Die tschechoslowakische Seite teilte<br />

sich in eine Tschechische und eine Slowakische Sektion auf.<br />

Die Mitglieder der Deutschen Sektion sind in beiden Kommissionen<br />

vertreten (Historikerkommission 1993). Die Deutsch-<br />

Tschechische Erklärung aus dem Jahr 1997 unterstrich noch<br />

einmal den besonderen Stellenwert der Kommissionsarbeit:<br />

„Beide Seiten stimmen darin überein, dass die historische Entwicklung der<br />

Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen insbesondere in der ersten<br />

Hälfte des 20. Jahrhunderts der gemeinsamen Erforschung bedarf und<br />

treten daher für die Fortführung der bisherigen erfolgreichen Arbeit der<br />

deutsch-tschechischen Historikerkommission ein.” (Erklärung 1997)<br />

Auf Basis dieser beiden Verträge arbeitet die Kommission bis<br />

heute zusammen. Die Entwicklung der Kommission lässt sich<br />

insgesamt in zwei Phasen zusammenfassen: Während in der<br />

ersten Phase von 1990-1995 die chronologische Sichtung der<br />

63<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

deutsch-tschechisch-slowakischen Beziehungen im Vordergrund<br />

stand, liegt der Fokus der Arbeit seit 1996 auf der<br />

konkreten Analyse der in der ersten Phase identifizierten Themen<br />

(Biman 2001:452-453). Dies spiegelt sich auch in der<br />

Wahrnehmung der selbst definierten Aufgaben und den Ergebnissen<br />

wieder.<br />

Hans Lemberg, langjähriges Mitglied und ehemaliger Vorsitzender<br />

der Deutschen Sektion, formuliert die Aufgaben, die<br />

die Historikerkommission aus dem politischen Auftrag für<br />

sich abgeleitet hat, folgendermaßen:<br />

• „heiße Eisen im bilateralen Verhältnis anzupacken […]<br />

und dicke Bretter mit Geduld zu bohren;<br />

• über den wissenschaftlichen Diskurs hinaus auf ein breiteres<br />

Publikum zu wirken […] aber auch auf dem uns (gemeint<br />

sind die Mitglieder der Historikerkommission) wenig<br />

geläufigen Weg über die Medien;<br />

• durch Konferenzen [...] Tagungsbänden und weiteren<br />

Publikationen [...] den Fundus von Erkenntnissen zu erweitern<br />

und den Forschungsstand voranzubringen;<br />

• Forschungen anderer zu stimulieren oder zu ermuntern;<br />

• zu einer stärkeren Vernetzung der academic community<br />

auf dem Gebiet der vergleichenden Beziehungsgeschichte<br />

(auch wenn jeweils nur bilateral) beizutragen – bis hin zu<br />

den im Fachgespräch geförderten persönlichen Beziehungen“<br />

(Lemberg 1998:7)<br />

Hieraus ergeben sich auch die Ziele, die die Kommission seit<br />

der Gründung verfolgt:<br />

“Die Ziele haben sich grundsätzlich nicht geändert. Es geht darum, durch<br />

unabhängige wissenschaftliche Arbeit indirekt zur Verständigung zwischen<br />

Deutschland und Tschechien und den Deutschen und Slowaken beizutragen.<br />

Das heißt, dass es nicht das Ziel ist, eine Geschichtsschreibung zu produzieren,<br />

die keine neuralgischen Themen mehr anspricht. Im Gegenteil, es<br />

geht darum, durch unabhängige wissenschaftliche Arbeit eine Kultur des<br />

ständigen Kontaktes zwischen Deutschen und Tschechen und Slowaken<br />

Geschichtswissenschaft zu einer Ressource zu machen, die indirekt der<br />

Verständigung dient.” (Interview Mitglied 1)<br />

Die Umsetzung der Ziele gestaltete sich in der Vergangenheit<br />

durch die Komplexität des Akteurs und des Politikfeldes Gemeinsame<br />

Geschichte zwischen Deutschen, Tschechen und<br />

Slowaken“ nicht immer leicht.<br />

Da die Kommission als eine unabhängige Expertenkommission<br />

von den Politikern aus den beteiligten Ländern eingesetztes<br />

wurde, ist sie als Akteur in verschiedenen, sich teilweise<br />

überlagernden und bedingenden Regelsystemen eingebunden.<br />

So steht sie auf der einen Seite als Akteur, der sich mit<br />

dem Thema der Gemeinsamen Geschichte beschäftigt, im<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 64


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Als politikberatende<br />

Institution muss sie sich mit den besonderen Regeln der politischen<br />

Systeme auseinandersetzen. Diese Problematik potenziert<br />

sich, da es sich um eine originär wissenschaftliche Institution<br />

handelt, die wiederum eigene Regelsysteme aufweist.<br />

Letztendlich steht die Kommission als öffentlicher Akteur<br />

auch unter Beobachtung der Medien (ausführlich: Schulz<br />

2009).<br />

Die Komplexität der Historikerkommission als wissenschaftlicher,<br />

politik- und öffentlichkeitsberatender Transnationaler<br />

Akteur im Politikfeld Gemeinsame Geschichte, mit der Aufgabe,<br />

historisierte Konflikte zu lösen, erhöht sich zusätzlich<br />

durch die Heterogenität der Mitglieder innerhalb der Kommission.<br />

Diese kommen aus den drei beteiligten Nationen:<br />

Deutschland, Tschechien und der Slowakei. Vor allem die nationale<br />

Zugehörigkeit spielt für Historiker im Allgemeinen eine<br />

nicht zu unterschätzende Rolle, wie folgende Beobachtung<br />

von Christoph und Sebastian Conrad (2002:19) verdeutlicht:<br />

„Das ‚Nationale’ und der Nationalstaat prägten die Geschichtswissenschaft<br />

in sehr verschiedenen Formen und in<br />

den einzelnen Ländern auch nicht in gleichen Maße“. Wenn<br />

„Historiker auf internationalen Kongressen zusammen“ kamen,<br />

„taten sie es [in der Regel] als Vertreter von Nationen,<br />

was auch immer sie sonst noch verband. Niemand empfand<br />

stärker den Druck zur nationalen Identifikation, als diejenigen,<br />

die aus ‚Nationen ohne Staat’ kamen“ (zur<br />

grundlegenden Problematik siehe hierzu Conrad / Conrad<br />

2002:20-23 und zur speziellen Situation in Ostmitteleuropa:<br />

Hadler: 2002).<br />

Gleichzeitig sind die Mitglieder Historiker, mit unterschiedlichen<br />

Forschungsschwerpunkten und Zugängen. Daneben<br />

gehören sie aufgrund ihrer individuellen Biografien unterschiedlichen<br />

Milieus an. Das Bild nationaler „homogener Einheiten“<br />

im Bezug auf geschichtswissenschaftliche Interpretationen<br />

ist daher trotz der kohäsiven Kraft des Nationalen aufgrund<br />

der aufgezeigten Heterogenität zu einfach (vgl. Conrad<br />

/ Conrad 2002:20-21).<br />

2.2. Ergebnisse der Historikerkommission<br />

Trotz der beschriebenen Komplexität kann die Historikerkommission<br />

auf eine Vielzahl von Ergebnissen verweisen. Um<br />

den Unterschied zwischen rein quantifizierbaren Produkten<br />

und den Produkten als Kommunikationsprodukte deutlich zu<br />

machen, wird im Folgenden eine begriffliche Trennung von<br />

„Ergebnissen“ und „Lösungen“ vorgenommen. Von „Ergebnissen“<br />

wird immer dann gesprochen, wenn das konkrete<br />

Resultat der Forschungstätigkeit gemeint ist, „Lösungen“<br />

65<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

verweisen demgegenüber auf den kommunikativen Entstehungs-<br />

und Wirkungsprozess der Ergebnisse.<br />

Insgesamt sind bisher 16 Tagungsbände, wobei fünf in Vorbereitung<br />

bzw. in Bearbeitung sind, entstanden, die einen<br />

tiefen Einblick in die komplexe Beziehungsgeschichte von<br />

Deutschen, Tschechen und Slowaken liefern. Darüber hinaus<br />

veröffentlichte die Kommission sechs weitere Publikationen in<br />

Form von Erklärungen bzw. Stellungnahmen oder von Herausgeberschaften<br />

(Stand Ende 2007). Neben den anfangs<br />

zweimal und jetzt aktuell einmal jährlich stattfindenden Treffen<br />

veranstaltete die Historikerkommission weiterhin eine<br />

Vielzahl weiterer Veranstaltungen, wie Runde Tische, <strong>Journal</strong>istenseminare<br />

oder Podiumsdiskussionen.<br />

Die Jahrestreffen der Kommission sind zugleich mit öffentlich<br />

zugänglichen Tagungen verbunden, die in zunehmendem<br />

Maße auch unter Beteiligung internationaler Wissenschaftler<br />

durchgeführt werden. Die Tagungen finden alternierend einmal<br />

in Tschechien, dann der Slowakei und dann wieder in<br />

Deutschland statt. Ein weiterer Pfeiler der Kommissionsarbeit<br />

ist die jährliche Vergabe von Stipendien an Nachwuchswissenschaftler<br />

(ein aktuellen Überblick gibt die Homepage der<br />

Historikerkommission: Historikerkommission 1990-2007).<br />

Hervorzuheben aus dieser quantitativen Aufzählung von Ergebnissen<br />

sind vor allem drei, die aufgrund ihrer kommunikativen<br />

Wirkung als Lösungen bezeichnet werden können.<br />

Eine Publikation, die sog. „Skizze“ nimmt in der Vielzahl von<br />

Sammelbänden und Veröffentlichungen, die das gesamte<br />

Spektrum deutsch-tschechischer, deutsch-slowakischer Beziehungen<br />

abdecken, eine Sonderrolle ein (Gemeinsame<br />

Deutsch-Tschechische Historikerkommission 1996). Die Skizze<br />

wurde 1995 als eine Art Zwischenfazit von der Kommission in<br />

Angriff genommen. Entstanden ist eine gemeinsame Überblicksdarstellung<br />

deutsch-tschechischer Geschichte, in der<br />

deutsche und tschechische Historiker festhalten, was bisher<br />

schon gesichert vertretbar ist.<br />

Eine weitere, sehr wichtige Lösung ist die gemeinsame Festlegung<br />

einer Opferzahl der Vertreibung / Aussiedlung der<br />

Deutschen (Historikerkommission 1996). Auf tschechoslowakischer<br />

Seite wurde bis zu diesem Zeitpunkt eine Zahl von<br />

max. 10.000 Opfern offiziell vertreten, während auf deutscher,<br />

und hier vor allem auf sudetendeutscher Seite, von<br />

250.000 Opfern gesprochen wurde. Die große Diskrepanz<br />

der nationalen Perspektiven machte die Festlegung einer historisch<br />

gesicherten Zahl zu einem brisanten Politikum. Die<br />

Historikerkommission ermittelte eine Zahl von max. 30.000<br />

Opfern, die mittlerweile auch von politischen Interessenver-<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 66


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

bänden in beiden Ländern weitestgehend Ländern akzeptiert<br />

wurde.<br />

Eine dritte Lösung stellt eine gemeinsame Sprachregelung für<br />

die schmerzhaften Vorgänge der Nachkriegszeit dar: Wurden<br />

die Sudetendeutschen nach dem Krieg „vertrieben“ oder<br />

(nur) „ausgesiedelt“? Sollte man für diesen Prozess einen<br />

neutralen Begriff verwenden oder einigt man sich auf einen<br />

der in den Ländern bekannten Begriffe der Vertreibung oder<br />

Aussiedlung? Die Historikerkommission einigte sich schließlich<br />

auf das Begriffspaar „Vertreibung / Aussiedlung“<br />

(Historikerkommission 1995).<br />

Die Lösungen der Historikerkommission haben einerseits in<br />

ihrer kommunikativen Wirkung unbestreitbar zu einer Annäherung<br />

der beteiligten Staaten beigetragen. Andererseits ist<br />

bislang wenig erforscht, wie solche erfolgreichen Lösungen,<br />

die auf politischer Ebene offensichtlich nicht möglich waren,<br />

zustande kommen. Eine angemessene Beschreibung der Arbeits-<br />

und Wirkungsweise des Transnationalen Akteurs Historikerkommission<br />

kann daher auch Modellcharakter für die<br />

allgemeine kulturwissenschaftliche Beschreibung heterogener,<br />

komplexer Kollektive besitzen.<br />

Im Folgenden sollen daher zur Verfügung stehende kulturwissenschaftliche<br />

Ansätze auf ihr Erklärungspotential hin untersucht<br />

werden, bevor in einem nächsten Schritt Grundzüge<br />

eines neuen Modells präsentiert werden.<br />

3. Traditionelle kulturwissenschaftliche Erklärungsansätze<br />

Zur Beschreibung des Kollektivs Historikerkommission steht<br />

eine Vielzahl kulturwissenschaftlicher Ansätze bereit. So existieren<br />

einerseits statische Modelle, die Individuen primär einem<br />

Kulturträger, z.B. Ethnie, Nation, Milieu oder Schicht,<br />

zuordnen und damit die Heterogenität eines Transnationalen<br />

Akteurs vor allem als Aufeinandertreffen bzw. Aufeinanderprallen<br />

unterschiedlicher (national-)kultureller Gruppen beschreiben.<br />

Zum anderen entstehen trägerlose Konzepte von Kultur, die<br />

demgegenüber eher kulturelle Dynamik, Differenzen, Hybridität,<br />

Entgrenzung, Entankerung und Relationalität betonen<br />

und innerhalb eines Transnationalen Akteurs eine Durchdringung,<br />

bzw. Auflösung von Nationalkulturen diagnostizieren<br />

würden.<br />

Beide Ansätze sollen im Folgenden anhand des Beispiels der<br />

Historikerkommission auf ihre Anwendbarkeit überprüft werden.<br />

67<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

3.1. Trägerlose Modelle<br />

Die Historikerkommission ist als heterogener Transnationaler<br />

Akteur im Politikfeld Gemeinsame Geschichte aktiv. Eine erste<br />

naheliegende Vermutung lautet, dass die Mitglieder im Sinne<br />

trägerloser Kulturmodelle als „transkulturell“ (Welsch 2002)<br />

zu charakterisieren seien. Im Gegensatz zum traditionellen<br />

Verständnis von Kulturen als homogenen, abgeschlossenen<br />

„Containern“ (Beck 1998) konstatiert Welsch „eine Pluralisierung<br />

möglicher Identitäten“ innerhalb von Kulturen, die „extern<br />

grenzüberschreitende Konturen“ aufweisen (Welsch<br />

2002:1). Kulturen werden so tendenziell für alle anderen Kulturen<br />

zu Binnengehalten oder Trabanten: „ Es gibt nicht nur<br />

kein strikt Eigenes, sondern auch kein strikt Fremdes mehr. “<br />

(Welsch 2002: 2). Das Konzept der Transkulturalität schafft<br />

einen synergetischen Handlungskontext, der eine Hybridkultur<br />

als Gemeinschaftliches über kulturelle Grenzen hinweg<br />

erzeugt (Bolten 2006:149-150.)<br />

Übertragen auf die Historikerkommission bedeutet dies, dass<br />

deren Mitglieder sich selbstverständlich innerhalb der deutschen,<br />

tschechischen und slowakischen Geschichte bewegen<br />

könnten. Sie seien aufgrund ihrer „transkulturellen“ Formation<br />

in der Lage, ihre Ideen kritisch mit anderen Traditionen zu<br />

vergleichen. Die vermutete Transkulturalität der Mitglieder ist<br />

aus der Perspektive von Welsch eine Folge des veränderten<br />

Zuschnitts heutiger Kultur in Folge von Vernetzung, Hybridisierung,<br />

Umfassendheit der kulturellen Veränderungen (kulturelle<br />

Mischung) und der Auflösung der Fremd-Eigen-Differenz<br />

(Welsch 2002).<br />

Zweifel an der Passgenauigkeit dieses Konzeptes ergeben sich<br />

allein schon aus der Betrachtung der Entwicklung der Historikerkommission.<br />

Seit gut 20 Jahren versammeln sich jährlich<br />

Professoren aus 3 Nationen und finden „Lösungen“, die sie<br />

selber teilweise als „Kompromiss“ oder „kleinster gemeinsamer<br />

Nenner“ zwischen den beteiligten nationalkulturellen<br />

Grupen bezeichnen. Diese Prävalenz nationaler Zugehörigkeit<br />

unterstreicht folgendes Zitat:<br />

“[...] und die Arbeit an dem Bändchen verlangte natürlich viele Kompromisse.<br />

Und dieses ‚Grüne Heft’ atmet förmlich diese Kompromisse, wo dann<br />

natürlich auch viele von uns sagten: ‚Verflucht, da haben wir uns über den<br />

Tisch ziehen lassen’ und die anderen haben sich natürlich auch so gefühlt<br />

und gesagt, dass auch sie teilweise über den Tisch sich haben ziehen lassen.<br />

Wenn jemand das selber formuliert hätte, dann hätte er es bestimmt<br />

anders formuliert. Das ist aber natürlich etwas, was wir gemeinsam getan<br />

haben, und wir wollten das ja auch gemeinsam abschließen. Und um das<br />

zu dokumentieren, haben wir ja auch diese demonstrative Form des Nebeneinanderstehens<br />

des Textes (deutsch-tschechisch) gewählt, der inhaltlich<br />

identisch ist... Die gemeinsame Arbeit an dem Grünen Buch hat zwar<br />

viel Redaktionsarbeit und viel Feilen an einzelnen Begriffen verursacht, aber<br />

es war dann aber auch ein gemeinsamer Konsens.“ (Interview Mitglied 7)<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 68


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

Auch die Tatsache, dass es scheinbar notwendig war, eine<br />

gemeinsame Sprachregelung zu finden, die beide Seiten, die<br />

tschechoslowakische und die deutsche mit einbezieht, lässt<br />

an dem Konzept der Transkulturalität in dieser Radikalität<br />

zweifeln.<br />

Noch deutlicher werden diese Zweifel, wenn man sich die<br />

Beschreibung der Arbeitsmethode zur Erstellung der „Skizze“<br />

anschaut: Ferdinand Seibt, ein langjähriges Mitglied, formulierte<br />

vor den Beratungen den Wunsch an die Teilnehmer,<br />

dass sie doch daran denken sollen, dass es zwar zwei Fußballmannschaften<br />

gebe, es aber durchaus erlaubt sei, Eigentore<br />

zu machen (Interview Mitglied 22). Die Mitglieder der<br />

Kommission besitzen also ein ausgeprägtes Selbstverständnis<br />

als Vertreter nationaler Geschichtsinterpretationen. Diese nationale<br />

Zugehörigkeit besitzt für die Mitglieder hohe Bedeutung<br />

und kann nicht als Folklore oder simulierte Einheit abgetan<br />

werden. Die Schärfe kollektiver Trennung zwischen Eigenkultur<br />

und Fremdkultur, also zwischen tschechischer,<br />

deutscher und slowakischer Geschichtsauffassung, bleibt<br />

auch über Jahre sichtbar bestehen.<br />

Eine Interpretation der Historikerkommission als transkulturell<br />

erweist sich damit als unzulässig, da sie impliziert, kollektive<br />

Zugehörigkeiten z.B. zu Nationen könnten von den beteiligten<br />

Individuen problemlos abgelegt werden, um in etwas<br />

Neuem wie der Kommission aufzugehen. Zum anderen liefern<br />

sie keine Erklärungen für die größtenteils schmerzhaften<br />

Prozesse der Zusammenarbeit.<br />

3.2. Statische Modelle<br />

Das Gegenteil zur Hypothese der Transkulturalität stellen traditionelle<br />

statische Modelle dar, die Individuen primär als Vertreter<br />

eines bestimmten Kollektivs verstehen. In diesem Fall<br />

würden die beteiligten Historiker der Kommission vor allem<br />

als Vertreter dreier Nationalkulturen agieren und die jeweilige<br />

nationale Auffassung von Geschichte vertreten (exemplarisch:<br />

Schwarz 2002). Die Kommission als Transnationaler Akteur<br />

dient nach diesem Verständnis nur dazu, dass die Streitigkeiten<br />

nicht nach außen dringen. Dieses Bild wird vor allem von<br />

den Medien und Interessengruppen des Öfteren gezeichnet.<br />

Exemplarisch hierfür kann die Aussage vom Zeit-Redakteur<br />

Thomas Kleine-Brockhofff aus dem Jahr 1996 herangezogen<br />

werden. Er schreibt, dass<br />

„ein Besuch bei der gemeinsamen Historikerkommission [....] ein verstörendes<br />

Erlebnis sein [kann]. Er bietet einen Blick in eine Werkstatt der Verständigung<br />

und zugleich ein Schlachtfeld der Nationalismen“ (Kleine-Brockhoff<br />

1996).<br />

69<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

Die Ursachen für Auseinandersetzungen innerhalb der Kommission<br />

sind nach Aussagen der interviewten Mitglieder jedoch<br />

vielschichtig. Sie reichen von fachlichen und methodischen<br />

Differenzen bis hin zu individuellen Verhaltensweisen<br />

einzelner Mitglieder. Die Auseinandersetzungen „verlaufen<br />

auch nicht auf dem Niveau der deutsch-tschechischen Beziehungen“,<br />

wie ein Mitglied dies pointiert formuliert (Interview<br />

Mitglied 10). Die Konfliktlinien können quer durch nationale<br />

Lager gehen. Selten stimmen nationale Positionen und Konfliktpositionen<br />

überein, wie die Mitglieder in den geführten<br />

Interviews erklärten.<br />

Der gescheiterte Versuch der Kommission, eine Art zweiter<br />

„Skizze“ zu entwerfen, die darlegen sollte, in welchen Bereichen<br />

die beteiligten Nationen in ihrer Auffassung gemeinsamer<br />

Geschichte noch keine Einigung erzielt haben, demonstriert<br />

eindrücklich, dass die Vermutung eines Aufeinandertreffens<br />

von drei Nationen, bzw. drei nationalen Geschichtsinterpretationen<br />

die Realität verfehlt.<br />

So scheiterte dieses Projekt nicht etwa an unüberbrückbaren<br />

Gegensätzen zwischen den deutschen, tschechischen und<br />

slowakischen Historikergruppen:<br />

„Der Versuch ist daran gescheitert, weil es in den nationalen Sektionen<br />

schon unmöglich war, sich auf eine nationale Position zu einigen, die man<br />

dann sozusagen als nationalen Standpunkt gegenüber der anderen Seite<br />

vertreten könnte.“ (Interview Mitglied 7)<br />

Die Homogenitätserwartung an Primärkollektive, wie sie statische<br />

Konzepte nahelegen, in diesem Fall die Vorstellung einer<br />

nationalen Geschichtsinterpretation, welche die beteiligten<br />

Historiker prägte, verfängt also ebenfalls nicht. Es wird<br />

deutlich, dass die Verwendung solcher Modelle zu einer unzulässigen<br />

Komplexitätsreduktion führt, die keine nachvollziehbaren<br />

Erklärungsansätze für die Arbeitsweise der Kommission<br />

liefert (siehe auch zum Verhältnis Homogenität und<br />

Nation (Homogenitätsprämisse) in diesem Heft: Hansen<br />

2009b).<br />

Insgesamt wird deutlich: Weder traditionelle, statische Modelle<br />

noch die neueren, trägerlosen Konzepte sind in der Lage,<br />

die Arbeits- und Wirkungsweise der Historikerkommission in<br />

ihrer Komplexität angemessen zu beschreiben, da sie keine<br />

Erklärungsgrundlage anbieten, wie innerhalb des transnationalen,<br />

heterogenen Kollektivs Historikerkommission Ergebnisse,<br />

bzw. Lösungen erarbeitet werden, die in der Folge zu einer<br />

Verständigung der drei Staaten beitragen.<br />

Weiterhin wird deutlich, dass sich die Fragen nach dem Kulturträger<br />

(in diesem Fall die Historikerkommission) und die<br />

Frage nach der Kulturproduktion (Entstehung von Lösungen)<br />

unmittelbar bedingen. Ein Modell, das den komplexen Ge-<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 70


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

genstand Historikerkommission erklären will, muss daher beide<br />

Aspekte – auch in ihrer Wechselwirkung – betrachten.<br />

4. Anregungen zu einem neuen Modell<br />

Nachdem die Aussagekraft traditioneller kulturwissenschaftlicher<br />

Modelle zur Beantwortung der Frage, wie eine komplexe<br />

transnationale Kommission zusammenarbeitet und Lösungen<br />

produziert, relativiert wurde, soll im Folgenden ein alternatives<br />

Modell vorgestellt werden, das einerseits die Komplexität<br />

des Kulturträgers nicht unzulänglich reduziert und andererseits<br />

schlüssige Erklärungen für die Entstehung von Lösungen<br />

innerhalb des Kollektivs (Kulturproduktion) liefert.<br />

Grundlage des Modells bildet ein Kulturbegriff, der zwischen<br />

dem Begriff der Kultur (in diesem Fall z.B. den nationalkulturellen<br />

Sichtweisen auf Geschichte, aber auch die in der Kommission<br />

entwickelten Lösungen) und dem Begriff des Kulturträgers<br />

(in diesem Fall z.B. die beteiligten Nationen, aber auch<br />

die Kommission selbst) unterscheidet.<br />

Als Kulturträger definiert Hansen das Kollektiv, welches durch<br />

die „Ansammlung von Individuen mit gleichen Gewohnheiten<br />

oder gleichen Merkmalen“ gekennzeichnet ist. Während der<br />

Kollektivbegriff sich nach Hansen dabei auf das „Formale und<br />

Strukturelle konzentriert, fokussiert der Kulturbegriff wiederum<br />

auf das Inhaltliche. Kultur und Kollektiv sind nach diesem<br />

Verständnis zwei Seiten einer Medaille“ (Hansen 2009a:16).<br />

Durch diese Trennung wird der Begriff Kultur auf seine eigentliche<br />

Bestimmung reduziert, indem mit Kultur die Gewohnheiten<br />

(„habits“, nach Tylor 1871:1) von Menschen beschrieben<br />

werden, „die miteinander zu tun haben“ (Rathje<br />

2009a:170, vgl. auch 2009b) 7 .<br />

Übertragen auf den Kontext der Historikerkommission bedeutet<br />

dies, dass seinen Mitgliedern als Mitglieder von Nationalkollektiven<br />

natürlich deren politische Interessen und offiziell<br />

vertretene Standpunkte bekannt sind. Als Individuen sind sie<br />

jedoch gleichzeitig in der Lage, diese zu befürworten aber<br />

auch abzulehnen, bzw. andere Standpunkte aufzunehmen<br />

und ihre eigenen ggf. zu modifizieren.<br />

Wie am Beispiel der Historikerkommission deutlich wird, erschöpft<br />

sich die Kollektivität eines Menschen dabei nicht in<br />

der Zugehörigkeit zu einer einzelnen Gruppierung. Menschen<br />

sind in vielen Kollektiven gleichzeitig verortet. Viele Kollektivzugehörigkeiten,<br />

wie Geschlecht oder Hautfarbe, sind weitestgehend<br />

– wenn auch nicht unumkehrbar - vorgegeben,<br />

andere Kollektive lassen sich dazu gewinnen (Interessenkollektiv)<br />

oder werden durch schicksalhafte Ereignisse geprägt<br />

(Schicksalskollektiv). Die individuelle Identität setzt sich somit<br />

71<br />

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Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

aus vielen Eigenschaften, Überzeugungen, Standpunkten und<br />

Vorlieben zusammen, die kollektiv unterstützt werden. Nach<br />

diesem Verständnis ist die persönliche Identität eine Addition<br />

von einerseits vorgegebenen und andererseits frei gewählten<br />

Kollektiven. Hansen beschreibt diese an sich einfache Tatsache<br />

als „Multikollektivität“ (siehe ausführlich bei Hansen<br />

2009a:20-26.).<br />

Individuen sind somit nicht als Baumaterial von Kollektiven zu<br />

verstehen und Kollektive selbst bestehen nicht aus Individuen.<br />

Sie können nur auf den Teil eines ihnen zugerechneten Individuums<br />

zurückgreifen, der für das Kollektiv relevant ist. Diese<br />

„partielle Gemeinsamkeit“ ist somit der einzige grundlegende<br />

Konstitutionsfaktor der Kollektivität 8<br />

(Hansen<br />

2009a:27).<br />

Für die Beschreibung des komplexen transnationalen Kollektivs<br />

der Historikerkommission eröffnen sich durch diesen Zugang<br />

Erklärungsmöglichkeiten für das Zustandekommen von<br />

tragfähigen Lösungen, die auf politischer Ebene über Jahrzehnte<br />

unmöglich schienen.<br />

So konnten auf Basis der beschriebenen Untersuchung drei<br />

Hypothesen entwickelt werden, die zu einem verbesserten<br />

Verständnis der Arbeits- und Wirkungsweise der Historikerkommission<br />

beitragen und als Modell zur Beschreibung anderer<br />

komplexer Kollektive herangezogen werden können.<br />

Hypothesen:<br />

1. Multikollektivität: Die Multikollektivität der Mitglieder ist<br />

kein Störfaktor, sondern eine notwendige Voraussetzung<br />

für das Erreichen von Lösungen.<br />

2. Optionalität: Kollektivzugehörigkeiten der Mitglieder werden<br />

situativ virulent.<br />

3. Iterative Stabilität: Das Erreichen gemeinsamer Lösungen<br />

führt nicht zur Homogenisierung des Kollektivs, sondern<br />

trägt rückwirkend zur Erhaltung der Multikollektivität der<br />

Mitglieder und damit zum Fortbestand des Kollektivs bei.<br />

4.1. Multikollektivität<br />

Die Multikollektivität der Mitglieder ist kein Störfaktor, sondern<br />

eine notwendige Voraussetzung für das Erreichen von<br />

Lösungen.<br />

Ausgehend von dem Befund individueller Multikollektivität<br />

erhöht sich die Beschreibung der Historikerkommission in ihrer<br />

Komplexität zunächst deutlich, da ihre Mitglieder in einer<br />

Vielzahl für die Kommission relevanten Kollektiven gleichzeitig<br />

verortet sind. Sie gehören jeweils dem Kollektiv der Deutschen,<br />

Tschechen oder Slowaken an. Gleichzeitig sind sie<br />

Wissenschaftler, innerhalb dieses Kollektiv fühlen sie sich un-<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 72


Alte<br />

Generation<br />

Multikollektivität<br />

Wissenschaftler<br />

Slowaken<br />

Freunde<br />

Deutsche<br />

Bohemisten<br />

Tschechen<br />

Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

terschiedlichen Subkollektiven zugehörig, z.B. den Bohemisten,<br />

Kunsthistorikern oder Nationalismusforschern. Einige<br />

bezeichnen sich als historische Spezialisten, andere als Generalisten.<br />

Einige Mitglieder lassen sich dem Kollektiv der alten<br />

Generation europäischer Bildungsbürger zuordnen. Einige<br />

Mitglieder haben den gleichen Geburtsort, aber unterschiedliche<br />

Pässe.<br />

Abb. 1: Multikollektivität<br />

73<br />

Lösungen<br />

Kleinster gemeinsame Nenner<br />

Beispiel: Skizze<br />

Konsens<br />

Beispiel: Opferzahlen<br />

Nichtentscheidbarkeit<br />

Begriffspaar Vertreibung/Aussiedlung<br />

Am Beispiel der Lösung der gemeinsamen Sprachregelung<br />

„Vertreibung/Aussiedlung“ wird deutlich, welche bedeutende<br />

Rolle die individuelle Multikollektivität der Mitglieder für die<br />

Arbeits- und Wirkungsweise der Historikerkommission spielt.<br />

Während sich in Deutschland der Begriff „Vertreibung“ mehr<br />

oder weniger im öffentlichen Sprachgebrauch durchgesetzt<br />

hatte, wurde in Tschechien und in der Slowakei in diesem<br />

Zusammenhang jedoch der Begriff odsun (Aussiedlung) verwendet<br />

(Witte 2002).<br />

Die Kommission stand vor der schwierigen Aufgabe, hier einen<br />

allgemein anerkannten Begriff vorzuschlagen, der die<br />

historischen Geschehnisse angemessen beschreibt. Da sich<br />

die von den Nationalkollektiven präferierten Begriffe unterschieden,<br />

konnte keiner der Begriffe allein verwendet werden.<br />

Eine Möglichkeit wäre gewesen, stattdessen auf den<br />

neutralen Begriff „Transfer“ zurückzugreifen, der auf der<br />

Potsdamer Konferenz von den Alliierten verwendet wurde.<br />

Diese Lösung wurde von den Mitgliedern jedoch abgelehnt,<br />

da diese „neutrale“ Perspektive ohne Bezug zu den beteiligten<br />

Kollektiven (in diesem Fall den drei Staaten) gewesen wäre.<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

Eine Lösung, die allen drei Nationalkollektiven gerecht wird,<br />

konnte nur gefunden werden, in dem sich die beteiligten Mitglieder<br />

ihrer gemeinsamen Kollektivzugehörigkeit als Historiker<br />

bewusst wurden.<br />

Ein Mitglied der Kommission beschreibt dies folgendermaßen:<br />

“Wenn die deutsche Seite den Begriff Vertreibung verwendet, so sprechen<br />

wir [die Tschechen] von ‚odsun’, gemeinsam verwenden wir gegebenenfalls<br />

das Wort ‚Transfer’. Der Begriff ‚Vertreibung’ bezieht sich auch auf die<br />

wilden Vertreibungen, ‚Aussiedlung’ oder ‚Zwangsaussiedlung’ auf die<br />

organisierte Vertreibung (odsun). Wir bemühen uns, diese Begriffe nicht zu<br />

emotionalisieren, sondern daraus historische Fachtermini zu machen, die<br />

möglichst genau das erfassen, was geschehen ist.“ (Štepánková 1996: 5)<br />

Die Kommission einigte sich schließlich auf die Doppelbezeichnung<br />

„Vertreibung/Aussiedlung“, die zum einen auf das<br />

Schicksalskollektiv gemeinsamer Geschichte zurückgreift, in<br />

dem ein neutraler Begriff vermieden wurde, zum anderen<br />

den unterschiedlichen Perspektiven der Nationalkollektive<br />

Rechnung trägt und schließlich das Bemühen um geschichtliche<br />

Präzision der Mitglieder als Historiker in sich trägt.<br />

Als erstes Fazit lässt sich also festhalten: Da sich die Mitglieder<br />

in der Kommission durch Multikollektivität auszeichnen<br />

und kein Mitglied gesamthaft z.B. in seinem Nationalkollektiv<br />

aufgeht, sind konsensuale Lösungen möglich, die von allen<br />

Beteiligten getragen werden können. Keine der gefundenen<br />

Lösungen ist monokollektiv zu erklären. Die Lösung zeigt<br />

darüber hinaus, dass die Multikollektivität der Individuen besonders<br />

durch die schützende Hülle, welche sich durch die<br />

Konstitution als transnationale Kommission ergibt, wirksam<br />

werden kann.<br />

4.2. Optionalität<br />

Kollektivzugehörigkeiten der Mitglieder werden situativ virulent.<br />

Die oben dargestellte individuelle Zugehörigkeit zu mehreren<br />

Kollektiven erweist sich nicht zu jedem Zeitpunkt als gleichzeitig<br />

relevant. In bestimmten Situationen überwiegt die Zugehörigkeit<br />

zu Nationalkollektiven, in anderen die Zugehörigkeit<br />

zur Kommission oder als Wissenschaftler.<br />

Die gemeinsame Lösung hinsichtlich der Opferzahlen der Vertreibung/Aussiedlung<br />

von max. 30.000 wird von den Mitgliedern<br />

der Kommission als Konsens bezeichnet. Bei der Beurteilung<br />

dieser Lösung stehen vor allem die Kollektivzugehörigkeiten<br />

Wissenschaftler / Historiker im Vordergrund.<br />

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Alte<br />

Generation<br />

Multikollektivität<br />

Slowaken<br />

Freunde<br />

Deutsche<br />

Wissenschaftler<br />

Tschechen<br />

Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

75<br />

Situation: Kommissionsmitglieder wollen Thema der Opferzahlen<br />

endgültig klären, damit die Diskussion in der Kommission aber<br />

auch in den Ländern versachlicht wird.<br />

Kommunikative<br />

Funktion<br />

Möglichkeit zur<br />

Kommunikationsfortschreibung<br />

Erzeugung von<br />

Einigkeit<br />

Akzeptanz von<br />

Differenzen<br />

Abb. 2: Optionalität<br />

Lösungen<br />

Kleinster gemeinsame<br />

Nenner<br />

Beispiel: Skizze<br />

Konsens<br />

Beispiel: Opferzahlen<br />

Nichtentscheidbarkeit<br />

Begriffspaar<br />

Vertreibung/Aussiedlung<br />

„Wir sind unabhängige Wissenschaftler, Historiker [...]. In so<br />

einer Frage gibt es keinen Kompromiss“ (Interview Mitglied<br />

1). „Wir haben erkannt, dass Konsens nicht (nationale) Identität<br />

bedeutet“ (Interview Mitglied 22).<br />

Das nationale Kollektivempfinden ist somit bei dieser Frage in<br />

den Hintergrund getreten. Die nationale präkollektive Prägung<br />

hat weniger eine Rolle gespielt, als die Differenzen, die<br />

durch die intrakollektive Heterogenität in der Gruppe der<br />

Wissenschaftler entstanden sind. Diese intrakollektiven Heterogenitäten,<br />

wie unterschiedliche Auffassungen über Methoden<br />

der Datenanalyse, sind als Wissenschaftler im Gegensatz<br />

zu nationalen Perspektiven jedoch lösbar. Es erscheint daher<br />

folgerichtig, dass in diesem Fall das Kollektiv Wissenschaftler<br />

in den Vordergrund getreten ist. Ein weiterer interessanter<br />

Aspekt des Kollektivs Wissenschaftler wird deutlich, wenn<br />

man sich seine Adjektivierung durch die Mitglieder ansieht:<br />

„Wir entstammen doch eigentlich alle einer mitteleuropäischen<br />

Wissenschaftstradition“ (Interview Mitglied 7).<br />

Diese Bewusstwerdung gemeinsamer Traditionen bzw. die<br />

Entdeckung pankollektiver Zugehörigkeit führt wiederum dazu,<br />

dass der Begriff „Konsens“ mit Leben gefüllt werden<br />

kann: Was bedeutet Konsens in der mitteleuropäischen Wissenschaftstradition?<br />

Man stimmt nicht etwa ab über einen<br />

Kompromiss, sondern man tauscht Argumente aus und führt<br />

den Diskurs so lange, bis eine Einigung im Sinne allgemeiner<br />

Anerkennung der Ergebnisse erzielt wird.<br />

Unterschiedliche Kollektivzugehörigkeiten, so ist zu vermuten,<br />

werden in einem heterogenen Kollektiv situativ virulent. Dabei<br />

erfüllen sie kommunikative Wirkungen: Wenn in diesem<br />

Fall das Kollektiv Wissenschaft hervorgehoben wird, dient es<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

dazu, Einigkeit zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken<br />

zu erzielen, indem an das Selbstverständnis der Mitglieder<br />

als Wissenschaftler appelliert wird. Diese führt zu vergrößertem<br />

Handlungsspielraum, da das Interesse, eine gemeinsame<br />

Geschichte zu schreiben, für die Mitglieder in der Historikerkommission<br />

wichtiger war, als das vorhandene Trennende.<br />

Kollektive oder Kollektivkonstruktionen werden situationsabhängig<br />

mal mehr, mal weniger wichtiger. Die Mitglieder<br />

sind in der Lage, ihre Kollektivzugehörigkeiten unterschiedlich<br />

virulent werden zu lassen. In diesem Sinne erhöht<br />

die Konstellation als Transnationaler Akteur den Handlungsspielraum<br />

der Mitglieder, da Kollektivzugehörigkeiten situativ<br />

je nach gesuchter Lösung angesprochen werden können.<br />

4.3. Iterative Stabilität<br />

Das Erreichen gemeinsamer Lösungen führt nicht zur Homogenisierung<br />

des Kollektivs, sondern trägt rückwirkend zur Erhaltung<br />

der Multikollektivität der Mitglieder und damit zum<br />

Fortbestand des Kollektivs bei.<br />

Warum war die Erzeugung von Konsens in Fall der Opferzahlen<br />

wichtig? Was wäre passiert, wenn z.B. ein rechnerischer<br />

Kompromiss gefunden worden wäre, also z.B. 125.000 Opfer,<br />

um zu verhindern, dass die gute, freundschaftliche Atmosphäre<br />

innerhalb der Kommission gestört wird?<br />

Alte<br />

Generation<br />

Multikollektivität<br />

Wissenschaftler<br />

Slowaken<br />

Freunde<br />

Abb. 3: Iterative Stabilität<br />

Deutsche<br />

Wissenschaftler<br />

Bohemisten<br />

Tschechen<br />

Kommunikative<br />

Wirkung<br />

Möglichkeit zur<br />

Kommunikationsfortschreibung<br />

Erzeugung von<br />

Einigkeit<br />

Akzeptanz von<br />

Differenzen<br />

Eine mögliche Antwort lautet: Die gefundenen Lösungen wirken<br />

auf die Kollektive selbst zurück.<br />

So wäre es für viele Mitglieder aufgrund ihrer Kollektivzugehörigkeit<br />

als Historiker in der Frage der Opferzahlen nicht hinnehmbar<br />

gewesen, einen „faulen“, da historisch nicht gesi-<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 76<br />

Lösungen<br />

Kleinster gemeinsame<br />

Nenner<br />

Beispiel: Skizze<br />

Konsens<br />

Beispiel: Opferzahlen<br />

Nichtentscheidbarkeit<br />

Begriffspaar<br />

Vertreibung/Aussiedlung


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

cherten Kompromiss einzugehen, der ihr Selbstverständnis als<br />

Wissenschaftler in Frage gestellt hätte.<br />

“Kompromisse kann es in der Geschichtswissenschaft eigentlich gar nicht<br />

geben. Oder nur in ganz simplen Fällen. Wenn es aber unterschiedliche<br />

Vorstellungen über Opferzahlen gibt, ist es praktisch unmöglich: ‚Wir nehmen<br />

jetzt an, dass die Opferzahlen in der Mitte liegen’. Das macht niemand,<br />

da das unseriös ist. Dann bleibt man lieber dabei, dass es unterschiedliche<br />

Vorstellungen darüber gibt.” (Interview Mitglied 1)<br />

Ein Kompromiss in dieser oder ähnlichen Fragen hätte entsprechend<br />

zur Folge, dass Mitglieder, die gegen ihre Überzeugung<br />

gehandelt haben, sich von den Mitgliedern der jeweils<br />

anderen Gruppe (in diesem Fall den nationalen Kollektiven)<br />

übervorteilt fühlen, sich entsprechend zurückziehen und<br />

ihre nationalkollektiven Zugehörigkeiten virulent werden lassen.<br />

Es kommt in der Folge zu Verhärtungen an den virulenten<br />

Kollektivgrenzen, der zukünftige Handlungsspielraum und<br />

damit auch die Möglichkeit, weitere Lösungen zu erzielen,<br />

schränken sich ein.<br />

Eine gemeinsame Lösung führt also nicht dazu, dass in Zukunft<br />

Heterogenitäten weniger relevant werden bzw. die<br />

Gruppe vereinheitlicht, sondern im Gegenteil die Flexibilität<br />

der individuellen Multikollektivität weiter bestehen bleibt.<br />

Stabilität eines komplexen Kollektivs wie der Historikerkommission<br />

entsteht also gerade nicht aus ihrer Einheitlichkeit,<br />

sondern ihrer Fähigkeit die Multikollektivität ihrer Mitglieder<br />

langfristig zu erhalten. Nur dann ist es dem Einzelnen immer<br />

wieder möglich, andere Kollektive als das Nationale virulent<br />

werden zu lassen und „ein Eigentor zu schießen.“<br />

Zur Erklärung von Konfliktlösungen innerhalb heterogener<br />

Kollektivs müssen daher immer zwei Perspektiven betrachtet<br />

werden: Welche Wirkung haben die beteiligten Kollektive auf<br />

das Finden von Lösungen und welche Wirkung haben die Lösungen<br />

auf die Kollektive.<br />

5. Schlussfolgerungen und Ausblick<br />

Aus den dargestellten Ergebnissen einer Untersuchung der<br />

His-torikerkommission lassen sich folgende Schlussfolgerungen<br />

für die Beschreibung komplexer heterogener Kollektive<br />

ziehen.<br />

77<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

Komplexitätserhöhung<br />

Multikollektivität<br />

Wissenschaftler<br />

Alte<br />

Generation<br />

Slowaken<br />

Freunde<br />

Deutsche<br />

Wissenschaftler<br />

Bohemisten<br />

Tschechen<br />

Kommunikative<br />

Wirkung<br />

Möglichkeit zur<br />

Kommunikationsfortschreibung<br />

Erzeugung von<br />

Einigkeit<br />

Akzeptanz von<br />

Differenzen<br />

Lösungen<br />

Kleinster gemeinsame<br />

Nenner<br />

Beispiel: Skizze<br />

Konsens Konsens<br />

Beispiel: Opferzahlen<br />

Nichtentscheidbarkeit<br />

Begriffspaar<br />

Vertreibung/Aussiedlung<br />

Multikollektivität<br />

Die Multikollektivität der Mitglieder ist kein<br />

Störfaktor, sondern eine notwendige Voraussetzung<br />

für das Erreichen von Lösungen.<br />

Optionalität<br />

Kollektivzugehörigkeiten der Mitglieder werden<br />

situativ virulent.<br />

Iterative Stabilität<br />

Das Erreichen gemeinsamer Lösungen führt nicht zur<br />

Homogenisierung des Kollektivs, sondern trägt rückwirkend<br />

zur Erhaltung der Multikollektivität der Mitglieder<br />

und damit zum Fortbestand des Kollektivs bei.<br />

Abb. 4: Komplexitätsreduktion durch Komplexitätserhöhung<br />

Methodisch scheint bei der Beschreibung solcher Kollektive<br />

zunächst eine gewisse Komplexitätserhöhung notwendig zu<br />

sein, um alle relevanten beteiligten Kollektivzugehörigkeiten<br />

der Mitglieder zu erfassen. Es wird deutlich, dass Konflikte<br />

und Lösungen nicht vollständig erklärbar sind, wenn man zu<br />

einfache statische Kulturträgerkonzepte verwendet: Man benötigt<br />

eine differenziertere Betrachtungsweise, die die<br />

Gleichzeitigkeit von Kollektivzugehörigkeit (Multikollektivität),<br />

ihre situative Ausprägung und auch die Rückwirkungen bestimmter<br />

gemeinsamer Erfahrungen (Lösungen) auf das Kollektiv<br />

berücksichtigen. Dies bedeutet jedoch auf der anderen<br />

Seite nicht, dass dadurch eine unüberschaubare Komplexität<br />

geschaffen würde, wie sie trägerlose Konzepte nahelegen.<br />

Im Gegenteil führt die vorgenommene Perspektiverweiterung<br />

letztlich zu übersichtlichen und nachvollziehbaren Erklärungsansätzen,<br />

wie es zu bestimmten Prozessen innerhalb des Kollektivs<br />

kommt.<br />

Als Fazit lässt sich daher im Hinblick auf die Möglichkeiten<br />

allgemeiner Kulturbeschreibung festhalten: Gezielte und<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 78<br />

Komplexitätsreduktion<br />

Darstellbarkeit von<br />

Kollektivzugehörigkeiten<br />

Darstellbarkeit von kollektiven<br />

Funktionen auf die Findung<br />

von Lösungen<br />

Darstellbarkeit von Wirkungen<br />

der Lösungen auf die Kollektive


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

sinnvolle Komplexitätserhöhung kann im Ergebnis wieder zu<br />

einer Komplexitätsreduktion führen.<br />

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79<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

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Slowakische (1995): Erklärung der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-<br />

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© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 80


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

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81<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


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Norderstedt: BoD–Books on Demand.<br />

1<br />

Ein Politikfeld ist eine analytische Kategorisierungseinheit zur<br />

Abgrenzung unterschiedlicher Politikbereiche. Politikfelder im<br />

Allgemeinen sind dabei nicht nur auf nationale Politikfragen<br />

beschränkt. Internationale Verflechtungen, globale Kapital-,<br />

Finanz- oder aber auch Migrationsströme führen zu einer Inter-,<br />

Supra-, und Transnationalisierung bzw. Europäisierung<br />

von Politikfeldern (Schneider / Janning 2006:223). Die Politikfeldanalyse<br />

als ein politikwissenschaftlicher Zugang fragt allgemein<br />

nach der klassischen Definition von Dye danach,<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 82


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

„was politische Akteure tun, warum sie es tun uns was sie<br />

letztlich bewirken“ (Dye 1972:1, Schneider / Janning<br />

2006:11). Als anwendungsorientierte Wissenschaft reagiert<br />

die Politikwissenschaft mit dem Ansatz auch auf das Bedürfnis<br />

der politischen Akteure, wissenschaftliche Beratung in<br />

komplexen Politikfeldern zu bekommen. Die Gründe hierfür<br />

sind die zunehmende Komplexität sozialer und ökonomischer<br />

Sachzusammenhänge, der Steuerungsverslust des Staates<br />

durch externaliserte Entscheidungszusammenhänge, ein geringes<br />

Fachwissen (Expertisen) von gewählten Entscheidungsträgern,<br />

der Wunsch nach Komplexitätsreduktion, eine Irritationsvermeidung<br />

von Lobbying, die Legitimation von politischen<br />

Zielen bzw. Entscheidungen und letztlich auch eine Effektivitätssteigerung<br />

des politischen Outputs. Das Hauptaugenmerk<br />

der Politikfeldanalyse richtet sich dabei auf die inhaltliche<br />

Dimension von Politik, die mit dem englischen Begriff<br />

„Policy“ erfasst wird (Schneider / Janning 2006:15).<br />

2<br />

Als ein weiteres Beispiel kann die türkisch-armenische Historikerkommission<br />

angeführt werden. Die Einrichtung wird von<br />

Seiten der Bundesrepublik des Öfteren gefordert, wie an dem<br />

interfraktionellen Antrag: „Erinnerung und Gedenken an die<br />

Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 –<br />

Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern<br />

beitragen“ (Bundestag 2005) deutlich wird. In dem<br />

Antrag wird die Bundesregierung explizit aufgefordert, eine<br />

Historikerkommission zu unterstützen. Das Dokument verweist<br />

darauf, dass der türkische Ministerpräsident Recep<br />

Tayyip Erdogan bereits selbst die Einrichtung einer bilateralen<br />

türkisch-armenischen Historikerkommission vorgeschlagen<br />

hat. Neben den Historikerkommissionen existieren als zweite<br />

Form Schulbuchkommissionen. Exemplarisch hierfür kann die<br />

deutsch-französische und die deutsch-polnische Schulbuchkommission<br />

(Strobl 2005, Schulz 2006) angeführt werden.<br />

3 „Robuste Ergebnisse“ sind nach der Definition von Star<br />

(2004:60):„komplexe von Handlungen, die jede für sich allein<br />

genommen nicht als gültig oder zuverlässig standhalten würden,<br />

gemeinsam jedoch die Welt für eine Reihe von Zwecken<br />

hinreichend gut beschreiben und handhaben. Die Robustheit<br />

eines Ergebnisses oder Ansatzes wird durch die Veränderung<br />

einzelner Elemente nicht beeinträchtigt. Sie besteht aus voneinander<br />

abhängigen Teilen. In diesem Sinne robuste [...] [Ergebnisse]<br />

sind charakterisiert durch historische Kontinuität<br />

und durch eine ausreichende Zahl politischer Verbündeter,<br />

um ihr Überleben zu garantieren.“<br />

4 „Historisierte Konflikte“ sind Konflikte, die sich an aktuellen<br />

Meinungsverschiedenheiten (zwischen Nationen) entzünden,<br />

deren Ursprünge jedoch in Konflikten der Vergangenheit lie-<br />

83<br />

© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8


Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

gen, die zumindest auf einer Seite zu gravierenden Verlusten<br />

von Menschenleben oder Besitzstand geführt haben und nie<br />

ausgeglichen werden konnten. Diese ausgesprochenen oder<br />

unausgesprochenen Verluste wirken in der Beziehung zwischen<br />

den Nationalstaaten wie Altlasten und verleihen ihr eine<br />

schwer kontrollierbare Eigendynamik: Jede Kommunikation<br />

zwischen den Beteiligten muss sich implizit immer wieder<br />

auf den zurückliegenden Konflikt beziehen, der auf diese<br />

Weise in seiner historischen Unlösbarkeit perpetuiert wird<br />

und aktuelle Beziehungen latent belastet (Schulz 2009).<br />

5<br />

Das Modell der „Expertenkommission“ und das Konzept des<br />

„Transnationalen“ scheinen sich idealtypisch zu bedingen.<br />

Die Vorwürfe, die gegen Expertenkommissionen und transnational<br />

agierende Akteure vorgebracht werden, scheinen die<br />

gleichen zu sein, wie z.B. Intransparenz und Abgeschlossenheit.<br />

Auch der Vorwurf, dass trilaterale Kommissionen eine<br />

Art Global Governance anstreben, welches dem Konzept der<br />

„Governance without Government“ entspricht, steht als<br />

Vorwurf gegenüber Expertenkommissionen ebenfalls im<br />

Raum. Trotz der zum Teil sicherlich nicht ganz unberechtigten<br />

Vorwürfe scheint es, als ergebe gerade die Konstellation einer<br />

transnational organisierten Expertenkommission nach der einfachen<br />

Formel: Vorwurf + Vorwurf = Vorteil vielseitige Vorteile<br />

zur Lösung internationaler Konflikte.<br />

6 Gründungsmitglieder waren von deutscher Seite der Vorsitzende<br />

der deutschen Sektion Rudolf Vierhaus (Max-Planck-<br />

Institut für Geschichte in Göttingen), Detlef Brandes (Universität-Oldenburg),<br />

Ludolf Herbst (Institut für Zeitgeschichte<br />

München), Hans Lemberg (Universität Marburg), Hans<br />

Mommsen (Universität Bochum) und Ferdinand Seibt (Collegium<br />

Carolinum). Von tschechoslowakischer Seite waren unter<br />

dem Vorsitz von Jan Křen die Historiker Toman Brod, Jozef<br />

Jablonický, Jíří Kořalka, Dušan Kováč, Rudolf Kučera und Václav<br />

Kural vertreten.<br />

7 „Der Begriff der Gewohnheiten enthält kognitive Ressourcen<br />

bzw. auch (historische) Wissensvorräte genauso wie Verhaltensweisen.<br />

Sie sind permanenter dynamischer Veränderung<br />

unterworfen und können uneinheitlich und widersprüchlich<br />

sein. Mitglieder müssen sie weder besonders verinnerlichen<br />

oder gar explizit für gut befinden, noch selbst übernehmen<br />

oder praktizieren. Um den Tatbestand „Kultur“<br />

zu erfüllen, genügt es, dass diese Gewohnheiten Menschen,<br />

die mit einander zu tun haben, bekannt oder vertraut sind. Im<br />

Gegensatz zu individueller Idiosynkrasie beziehen sich kulturelle<br />

Gewohnheiten also immer auf mehrere: Kultur beginnt<br />

dort, wo mehrere Menschen miteinander interagieren, sie<br />

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Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />

zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />

endet bei den Eigenheiten des Einzelnen.“ (Rathje<br />

2009a:170)<br />

8<br />

Die Einschränkung der partiellen Gemeinsamkeit klammert<br />

den individuellen Überschuss, wie er bei Simmel beschrieben<br />

ist, aus. Damit dem Individuum weitere Kollektive offen stehen,<br />

darf es in jedem nur partiell verankert sein: „Jedes Element<br />

einer Gruppe [ist] nicht nur Gesellschaftssteil, sondern<br />

außerdem noch etwas“ (Simmel 1983:283). Hieraus folgt,<br />

dass der Einzelne zugleich innerhalb wie außerhalb steht, oder<br />

anders formuliert, „die soziale Umfassung als solche betrifft<br />

eben Wesen, die nicht völlig von ihr umfasst sind“<br />

(Ritsert 2000:71, siehe auch Rathje 2009a).<br />

85<br />

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