Grundlagen Kulturwissenschaft - Interculture Journal
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Inhalt<br />
Klaus P. Hansen<br />
Zulässige und unzulässige<br />
Komplexitätsreduktion beim<br />
Kulturträger Nation<br />
Jörg Scheffer<br />
Entgrenzung durch neue Grenzen:<br />
Zur Pluralisierung von Kultur<br />
Stefanie Rathje<br />
The Definition of Culture -<br />
An Application-Oriented Overhaul<br />
Mario Schulz<br />
Kann man komplexe<br />
transnationale Kollektive<br />
beschreiben, ohne unzulässig<br />
die Komplexität zu reduzieren?<br />
online-Zeitschrift für Interkulturelle Studien<br />
I Jahrgang 8 I Ausgabe 8 I www.interculture-journal.com<br />
Tagungsband der Forschungsstelle <strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong><br />
Wir, die oder alle?<br />
Kollektive als Mittler einer<br />
komplexen Kulturwirklichkeit<br />
Gastherausgeber: Jörg Scheffer<br />
Herausgeber:<br />
Jürgen Bolten<br />
Stefanie Rathje<br />
Forschungsstelle<br />
<strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong><br />
2009
Tagungsband der Forschungsstelle <strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong><br />
Forschungsstelle<br />
<strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong><br />
Gastherausgeber: Dr. Jörg Scheffer (Passau)<br />
Herausgeber:<br />
Prof. Dr. Jürgen Bolten (Jena)<br />
Prof. Dr. Stefanie Rathje (Berlin)<br />
Wissenschaftlicher Beirat:<br />
Prof. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Ahrens (Würzburg)<br />
Prof. Dr. Manfred Bayer (Danzig)<br />
Prof. Dr. Klaus P. Hansen (Passau)<br />
Prof. Dr. Jürgen Henze (Berlin)<br />
Prof. Dr. Bernd Müller-Jacquier (Bayreuth)<br />
Prof. Dr. Alois Moosmüller (München)<br />
Prof. Dr. Alexander Thomas (Regensburg)<br />
Chefredaktion und Web-Realisierung:<br />
Mario Schulz<br />
Editing:<br />
Susanne Wiegner<br />
Fachgebiet:<br />
Interkulturelle Wirtschaftskommunikation<br />
Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />
ISSN: 1610-7217<br />
www.interculture-journal.com
1<br />
7<br />
19<br />
35<br />
59<br />
Inhalt<br />
Einleitung: Auf der Suche nach neuen Kulturträgern<br />
Jörg Scheffer<br />
Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion<br />
beim Kulturträger Nation<br />
Klaus P. Hansen<br />
Entgrenzung durch Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
Jörg Scheffer<br />
The Definition fo Culture: An Application-Oriented Overhaul<br />
Stefanie Rathje<br />
Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben,<br />
ohne unzulässig die Komplexität zu reduzieren?<br />
Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur<br />
Kollektivbeschreibung<br />
Mario Schulz
Einführung des Gesamtherausgebers<br />
Dr. Jörg Scheffer<br />
Scheffer: Einführung<br />
Auf der Suche nach neuen Kulturträgern<br />
Die <strong>Kulturwissenschaft</strong>en schreiben traditionell kulturelle Erscheinungen<br />
bestimmten Kulturträgern zu. Zu den häufigsten<br />
zählen Ethnie, Volk, Nation, Raum, Region oder Staat. Aufgrund<br />
ihrer klaren Konturen, ihrer Geschlossenheit und Identität<br />
verleihen sie Kultur Prägnanz. Sie fixieren das Fluide,<br />
konkretisieren das Abstrakte und kategorisieren das Mehrdeutige.<br />
Ihren Stellenwert erhalten sie nicht zuletzt in der<br />
Funktion, jeden kulturbezogenen Diskurs mit Verständnis fördernden<br />
Begriffen zu versorgen. Ob Maori, Mailänder oder<br />
Mexikaner, die unterlegten Träger suggerieren und transportieren<br />
Evidenz: Das Bezeichnete erscheint als gegebener,<br />
ganzheitlicher und konkreter Gegenstand unserer Wirklichkeit.<br />
Spätestens seit den neunziger Jahren wird diese übersichtliche<br />
Kulturwelt jedoch angezweifelt. Die zunehmende Globalisierung<br />
zeigt sich als Entankerungsprozess, der kulturelle<br />
Differenzen teilweise abstandslos werden lässt. Die überkommenen<br />
Klassifizierungsgewohnheiten geraten infolge einer<br />
neu entdeckten Kulturwirklichkeit unter Beschuss. Homogenes<br />
entpuppt sich als Konstrukt, Ganzheit als Fiktion. Damit<br />
einher geht die wachsende Kritik an den theoretischen<br />
und methodischen Prämissen einstiger Zuweisungen. Die bisherigen<br />
Kulturträger, so die gewonnene Erkenntnis, sind<br />
Konstruktionen allzu weit gehender Komplexitätsreduktion.<br />
Die Suggestion ihrer Gegenständlichkeit ist durch methodisch<br />
manipulierte Verdinglichung zustande gekommen.<br />
Ihr suchen die Kritiker mit neuen und fast trägerlosen Konzepten<br />
zu begegnen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten<br />
hat sich dabei ein weites Spektrum alternativer Deutungsmuster<br />
entfaltet, das zwischen dem traditionellen Verharren und<br />
dem radikalen Verzicht auf Kultur (u.a. Abu Lughod 1991)<br />
große Varianz zeigt (stellvertretend genannt seinen Appadurai<br />
1996, Bhabha 1994, Hannerz 1996). Hatte Wimmer<br />
(1996) in Anlehnung an Gellner die kulturelle Welt metaphorisch<br />
als Bild beschrieben, dessen Konturen sich bei näherer<br />
Betrachtung auflösen, geht es Globalisierungstheoretikern<br />
unlängst auch darum, den Prozess des Verlaufens frischer<br />
Farbe einzufangen: Der von Wimmer beschriebene Wechsel<br />
„von Modigliani zu Kokoschka“ (Wimmer 1996:404), so ließe<br />
sich ergänzen, kann neben kaum fixierbaren Momentaufnahmen<br />
auch völlige Konturlosigkeit aufweisen. Entsprechend<br />
werden die klassischen Kulturträger im Zeichen einer<br />
Kontextualität, Transkulturalität, Hybridität, Multilokalität oder<br />
Relationalität dekonstruiert. Das einst „komplexe Ganze“<br />
(Tylor 1871) gerät gänzlich komplex.<br />
1<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Scheffer: Einführung<br />
So fortschrittlich diese unterschiedlichen Konzeptionen in ihrem<br />
theoretischen Anspruch erscheinen, so wenig hilfreich<br />
erweisen sie sich allerdings häufig für die praktische Forschung.<br />
Zum einen deuten sie im Selbstlegitimierungsprozess<br />
die kulturelle Wirklichkeit nun unter ihrem Blickwinkel mit der<br />
gleichen Konsequenz und Dogmatik aus, die sie bei den klassischen<br />
Trägerkonzepten noch kritisierten. Dabei geraten persistente<br />
Erscheinungen oder gemeinschaftliche Prägungen oft<br />
ebenso aus dem Blick, wie das verbreitete (interkulturelle)<br />
Interesse, lediglich vorherrschende Muster zu erfassen.<br />
Zum anderen lassen sich die neuen Konzepte nur in geringer<br />
Dosierung empirisch konkretisieren. Zwei- oder dreifache Differenz<br />
oder die Dynamik zwischen zwei oder drei Faktoren<br />
lässt sich noch bewältigen, nicht aber Differenz oder Dynamik<br />
schlechthin. Wissenschaftliche Beschreibung kommt nicht<br />
ohne Komplexitätsreduktion, aus und kulturwissenschaftliche<br />
Beobachtungen müssen ihre Ergebnisse an einem Träger<br />
festmachen. Diese Grundvoraussetzungen praktischer Forschung<br />
sind bei den neuen Ansätzen aber nicht mehr gegeben.<br />
Sie müssen mit dem (impliziten) Rekurs auf die Trägerkonzepte<br />
- und sei es nur in semantischer Hinsicht - erkauft<br />
werden. Als „Zombie-Kategorien“ (Beck 2002:24), die in ihrem<br />
traditionellen (scheinbar beerdigten) Beschreibungsmodus<br />
den aktuellen sozialen und kulturellen Gegebenheiten<br />
nicht mehr Rechnung tragen, finden sie stets (lebendig) Eingang<br />
in unsere kulturbezogene Kommunikationspraxis.<br />
In jüngerer Zeit wurde mit dem Konzept der Transdifferenz<br />
ein weiterer Neologismus ins Spiel gebracht, das die Klassifizierungslogik<br />
auch für Phänomene jenseits des Differenten<br />
öffnet (Breining et al. 2002, Allolio-Näcke et al. 2005). Dabei<br />
werden die gängigen binären Unterscheidungen anerkannt,<br />
die für kulturelle Benennungen, Zuteilungen und Orientierungen<br />
unerlässlich sind. Gleichzeitig aber soll Transdifferenz<br />
all das Widerspenstige und Abweichende mit einschließen,<br />
das sich in dieses Raster nicht fügen lässt. Lösch (2005:28f.)<br />
bemüht hier die Metapher eines gepflegten Gartens, der neben<br />
allen geordneten Phänomenen auch Unkraut aufweist.<br />
Als transdifferente Erscheinung läuft es - gleich ungetrockneter<br />
Farbe in einem Bild - durch bestehende Ordnungen hindurch.<br />
Der heuristische Wert des „Sowohl-als-auch-Denkens“ manifestiert<br />
sich bereits in diversen Veröffentlichungen. Was jedoch<br />
in theoretischer Hinsicht kreative Freiräume zur Beschreibung<br />
des „Querliegenden“ geschaffen hat, beschneidet<br />
den Nutzen in der analytischen Praxis. Letztlich birgt jede<br />
Operationalisierung erneut die Gefahr eines Reduktionismus<br />
(vgl. dazu auch Breining / Lösch 2005:454). In dem Zusammenhang<br />
bleibt auch zu fragen, wie die konzeptionelle Tren-<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 2
Scheffer: Einführung<br />
nung von Differentem und Transdifferentem in der Praxis<br />
vorgenommen wird. Auch Unkraut lässt sich - je nach Blickwinkel<br />
- als gewolltes Element in die Ordnung eines Gartens<br />
bringen.<br />
Die Beiträge der vorliegenden Ausgabe widmen sich einem<br />
weiteren Trägerkonzept, das in den vergangenen Jahren vor<br />
allem durch Hansen (2003:158ff., 2009) in seinem analytischen<br />
Potenzial weiter erschlossen und ausdifferenziert wurde:<br />
Kollektivität. Jenseits der Ganzheit von Kultur bieten Kollektive<br />
Differenzierungsangebote, die der komplexen Kulturwirklichkeit<br />
variabel begegnen, sie in Abhängigkeit vom Erkenntnisinteresse<br />
unterschiedlich strukturieren und dabei ein<br />
breites Angebot an Beschreibungstermini einbringen können.<br />
Im Rahmen einer Tagung, die von der Forschungsstelle<br />
<strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong> am 16.11.2007 unter dem<br />
Titel „Komplexe Ganzheit oder gänzliche Komplexität - die<br />
neuen Paradigmen der <strong>Kulturwissenschaft</strong>“ in Passau durchgeführt<br />
wurde, griffen die Referenten und Autoren des Heftes<br />
diese Optionen in unterschiedlicher Weise auf:<br />
Klaus P. Hansen widmet sich dem Kollektiv Nation. Er zeigt,<br />
dass nicht die oft unterstellte Homogenität diese zusammenhält,<br />
sondern vielmehr kollektive Mehrfachzugehörigkeiten<br />
oder „Polykollektivität“. Hansen veranschaulicht wie Interaktionsregeln<br />
und Institutionen den Kollektiven Kohäsion verleihen<br />
und wie sie in präkollektiven und pankollektiven Zusammenhängen<br />
funktionieren. Auf Grundlage dieser Prozesse<br />
können Nationen letztlich als Unikatskonglomerate analysiert<br />
werden.<br />
Jörg Scheffer beschreibt kulturelle Kategorisierungen als Praxis<br />
der Grenzziehung. Da sich diese auf ein vorgegebenes Arsenal<br />
räumlich-semantischer Vorkategorisierungen bezieht, ist<br />
sie für eine Kulturwirklichkeit außerhalb dieser Einteilungen<br />
strukturell blind. Sein „selektives Kulturkonzept“ sieht stattdessen<br />
eine Verortung von Kollektiven vor, die interessenabhängig<br />
den aktuellen kulturellen Gegebenheiten Konturen<br />
verleihen. Kultur folgt dabei nicht mehr räumlichen Einteilungen<br />
sondern umgekehrt.<br />
Stefanie Rathje setzt in ihrer Kritik am traditionellen Kulturkonzept<br />
und dessen Kohärenzpostulat den Kollektivbegriff<br />
ebenfalls als Differenzierungsmittel ein: In der Unterscheidung<br />
von Kollektiv und Kultur einerseits und Individualität<br />
und Pluralität andererseits, entwickelt sie eine Vier-Felder-<br />
Matrix, mit der sich sowohl das Kohärenz-Paradigma überwinden,<br />
als auch eine präzise Beschreibung der kulturellen<br />
Gegebenheiten vornehmen lässt. Letzteres macht sie anhand<br />
konkreter Praxisbeispiele und aktueller Anwendungsbezüge<br />
deutlich.<br />
3<br />
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Scheffer: Einführung<br />
Mario Schulz analysiert schließlich die Komplexität des Kollektivs<br />
der deutsch-tschechischen bzw. der deutschslowakischen<br />
Historikerkommission. Um die Arbeits- und<br />
Wirkungsweise dieses transnationalen Akteurs mit Hilfe qualitativer<br />
Experteninterviews herauszuarbeiten, greift er auf<br />
Hansens Konzept der Multikollektivität zurück. Überzeugend<br />
wird belegt, dass eine zunächst methodisch notwenige Komplexitätserhöhung<br />
dazu dienen kann, kulturelle Komplexität<br />
in einem zweiten Schritt Verständnis fördernd zu senken. Die<br />
Perspektive Kollektivität erweist sich dabei erneut als viel versprechender<br />
Mittler einer komplexen Kulturwirklichkeit.<br />
Jörg Scheffer<br />
Passau im Juli 2009<br />
Literatur<br />
Abu Lughod, L. (1991): Writing against Culture. In: Fox, R. G. (Hrsg.): Recapturing<br />
Anthropology. Working in the present. Santa Fe: School of<br />
American Research Press, S. 137-162.<br />
Allolio-Näcke, L, Kalscheuer, B. / Manzeschke, A. (2005): Differenzen anders<br />
denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/M.:<br />
Campus.<br />
Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large. Cultural dimensions of globalization.<br />
Minnesota: University of Minnesota Press.<br />
Beck, U. (2002): The Cosmopolitan Society and its Enemies. Theory, Culture<br />
& Society 19 (1-2), S. 17-44.<br />
Bhabha, Homi K. (1994): The Location of Culture. London: Routledge.<br />
Breining, H. / Gebhardt, J. / Lösch, K. (Hrsg.) (2002): Multiculturalism in<br />
Contemporry Societies. Perspectives on Difference and Transdifference.<br />
Erlangen: Universitätsbund.<br />
Breining, H. / Lösch, K. (2005): Lost in Transdifference. Thesen und Anti-<br />
Thesen. In: Allolio-Näcke, L. / Kalscheuer, B. / Manzeschke, A. (Hrsg.): Differenzen<br />
anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz.<br />
Frankfurt/M.: Campus, S. 454-455.<br />
Hannerz, Ulf (1996): Transnational Connections: Cultures, people, places.<br />
London: Routledge.<br />
Hansen, K. P. (2003): Kultur und <strong>Kulturwissenschaft</strong>. Tübingen, Basel: UTB.<br />
Hansen, K. P. (2009): Kultur, Kollektiv, Nation. Passau: Stutz.<br />
Lösch, K. (2005): Begriff und Phänomen der Transdifferenz. Zur Infragestellung<br />
binärer Differenzkonstrukte. In: Allolio-Näcke, L. / Kalscheuer, B. /<br />
Manzeschke, A. (Hrsg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer<br />
Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/M.: Campus, S. 26-49.<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 4
Scheffer: Einführung<br />
Tylor, Edward B. (1871): Primitive culture. Researches into the development<br />
of mythology, philosophy, religion, language, art and custom. London: J.<br />
Murray.<br />
Wimmer, A. (1996): Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen<br />
Grundbegriffs. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie<br />
48 (3), S. 401-425.<br />
5<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Scheffer: Einführung<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 6
Zulässige und unzulässigeKomplexitätsreduktion<br />
beim<br />
Kulturträger Nation<br />
Prof. Dr. Klaus P. Hansen<br />
Universität-Passau/ Forschungsstelle<br />
<strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong><br />
Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />
Abstract<br />
Once again the question is raised, what is a nation? It is not<br />
as usually is taken for granted a homogenous object. This incorrect<br />
premise is of venerable age, but strongly cherished<br />
today by the bulk of interculturalists. It is high time to discard<br />
this premise. This does not mean, however, that we have to<br />
do without the concept of nation. Without doubt a nation is<br />
an object of distinctiveness and singularity. But how might it<br />
be described? The article offers suggestions how it could be<br />
done.<br />
1. Quantitative und qualitative Reduktion<br />
Kultur schwebt nicht über den Wassern, sondern wird konkret<br />
an Gegenständen angetroffen, die man Kulturträger<br />
nennen könnte. Der wichtigste, weil am häufigsten bemühte<br />
von ihnen ist das ethnische Kollektiv mit seinen Erscheinungsformen<br />
Stamm, Volk und Nation. Die Ethnologie, die Erfinderin<br />
des wissenschaftlichen Kulturbegriffs, wandte ihn in ihren<br />
Anfängen ausschließlich auf solche Stämme und Völker an,<br />
die damals primitiv genannt wurden. Sie erforschte archaische,<br />
noch nicht modernisierte Gesellschaften. Diese Einengung<br />
wurde ab 1930 überwunden. Die amerikanische Ethnologie,<br />
die dort cultural anthropology heißt, entwickelte ab<br />
diesem Zeitpunkt das Paradigma national character, welches<br />
davon ausging, dass nicht nur überschaubare Stämme und<br />
Völkerschaften, sondern auch moderne Nationen eine einheitliche<br />
Kultur besitzen (Mead 1951). Man begründete diese<br />
Annahme über die identische Sozialisation, die alle Landsleute<br />
im Stadium der Kindheit durchlaufen haben sollen (Mead<br />
1928). Neben der Theorie lieferte dieser Ansatz, der sich auch<br />
culture and personality school nannte, praktische Ergebnisse,<br />
die, da der 2. Weltkrieg kurz bevor stand, auch von Militärstrategen<br />
zur Kenntnis genommen wurden (Gorer 1948, Potter<br />
1954).<br />
Die Renaissance des Kulturbegriffs, die ab 1980 einsetzte und<br />
die moderne <strong>Kulturwissenschaft</strong> ins Leben rief, führte zu einer<br />
Ethnologisierung vieler Disziplinen. Gegenüber der Mutterwissenschaft<br />
kamen jetzt neue Kulturträger hinzu. Nicht<br />
mehr nur ethnischen Kollektiven wurde Kultur zugesprochen,<br />
sondern man erweiterte den Kulturbegriff und wandte ihn<br />
auf alle denkbaren Kollektive an (Subkultur, Unternehmenskultur<br />
etc. galten als Kulturträger) (Nünning / Nünning 2003).<br />
Dennoch blieb die Nation, obwohl ihre ethnischen Ursprünge<br />
fragwürdig geworden waren, weiterhin der wichtige Kulturträger,<br />
der bei den Disziplinen Landeskunde, cultural studies<br />
und Interkulturelle Kommunikation unangefochten im Vor-<br />
7<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />
dergrund stand. Seit der Renaissance des Kulturbegriffs ist die<br />
Ethnologie zweigeteilt. Die Traditionalisten erforschen weiterhin<br />
nicht-westliche und nicht-modernisierte Völkerschaften<br />
- beispielsweise in Süd-Ost-Asien - die Fortschrittlichen aber,<br />
die sich Europäische Ethnologie nennen und worin sich teilweise<br />
die alte Volkskunde (Hartinger 1993) verbirgt, analysieren<br />
mit Hilfe des Kulturbegriffs den Alltag moderner Nationen<br />
(Warneken 2000).<br />
Um Kollektive als Kulturträger zu erforschen, muss – wie eigentlich<br />
immer in der Wissenschaft – eine gewisse Komplexitätsreduktion<br />
vorgenommen werden. Aufgrund der schieren<br />
Quantität gilt das für den Kulturträger Nation umso mehr.<br />
Doch Reduktion ist nicht Reduktion: Es gibt zulässige, die nur<br />
die Quantität verringern, und unzulässige, welche darüber<br />
hinaus die Qualität des Gegenstandes antasten. Quantitative<br />
Reduktionen sind unvermeidlich, und sie sind solange nicht<br />
schlimm, wie sie Strukturen und wesentliche Merkmale nicht<br />
antasten. Genau diesen Vorwurf muss man aber den qualitativen<br />
Verfahren machen, die Wesentliches weglassen und deren<br />
Ergebnisse insofern nicht durch die Wirklichkeit gedeckt<br />
sind.<br />
Der Kulturträger Nation ist ein beliebtes Opfer qualitativer<br />
Komplexitätsreduktion, die in Form der Homogenitätsprämisse<br />
auftritt. Konkret besteht sie darin, dass man 8 Millionen<br />
Österreichern oder den fast 300 Millionen Amerikanern ein<br />
partielles Gleichverhalten unterstellt. Zum Beispiel gleiche<br />
Werte, gleiche Wahrnehmungsformen, gleiche Symbole und<br />
eine gleiche Denkweise, die man Mentalität nennt. Die Homogenitätsprämisse<br />
reduziert die Qualität der Heterogenität,<br />
die ein wesentliches Merkmal pluralistischer Nationen darstellt,<br />
und diese Reduktion ist nötig, damit der Moloch Nation<br />
dem Kulturbegriff zugänglich wird.<br />
2. Die Homogenitätsprämisse<br />
Die Homogenitätsprämisse besitzt eine lange Geschichte und<br />
tritt in verschiedenen Formen auf. Entweder kommt sie metaphysisch<br />
spekulativ daher oder als pseudo-empirische Theorie.<br />
Die antiken Geschichtsschreiber neigten der zweiten Form<br />
zu und führten das Gleichverhalten innerhalb der Völker entweder<br />
auf das Klima oder die politischen Institutionen zurück.<br />
Beide Annahmen gehen davon aus, dass eine vorgeordnete<br />
Gegebenheit, die auf alle Volksgenossen einwirkt, eine so<br />
weit gehende, prägende Kraft besitzt, dass sich die Geprägten<br />
gleichen. Aufgrund der Polis und der von ihr ausgehenden<br />
Freiheitsliebe hielten Isokrates und Herodot die Griechen<br />
für kampfesstärker als die Perser, denen durch die Staatsform<br />
der Tyrannei jeder Mannesmut genommen sei. Im Unter-<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 8
Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />
schied dazu begründete Aristoteles die griechische Überlegenheit<br />
aus dem milden Klima seiner Heimat. 1<br />
Die Mehrheit der Autoren, die sich über Unterschiede zwischen<br />
den Völkern äußern und dabei Homogenität voraussetzen,<br />
macht sich gar nicht die Mühe, eine zu Ende gedachte<br />
Begründung zu liefern. Man geht davon aus, dass sich Völker<br />
und Nationen aus einer ethnischen Urzelle entwickelten 2<br />
, tut<br />
dann aber nicht den nächsten nahe liegenden Schritt, die<br />
Homogenität auf genetische Verwandtschaft zurückzuführen.<br />
Vielleicht schwingt es unterschwellig mit, aber laut und deutlich<br />
sagt das niemand, denn bewiesen wäre es erst, wenn<br />
man aus deutschen Testpersonen das Pünktlichkeits-Gen isoliert<br />
hätte.<br />
Im 18. Jahrhundert konnte Herder da noch mutiger sein. Er<br />
hob die Homogenitätsprämisse ins Religiöse und metaphysisch<br />
Spekulative. Gott schuf nicht den Menschen, so ließe<br />
sich verschärft sagen, sondern die Völker. Mit diesem Schachzug<br />
konnte er das Miteinander von Gleichheit und Ungleichheit<br />
erklären. Als Volksgenossen unterscheiden sich die Menschen,<br />
was schon bei Hautfarbe und Körperbau beginnt, um<br />
dann darüber wieder zusammen zu finden, dass Völker Varianten<br />
des Menschlichen sind. Herder, das wäre genauer zu<br />
untersuchen, spricht weniger von Kultur als vom Völkischem:<br />
von "völkischer Seele" oder "völkischer Ganzheit" (vgl. Willoweit<br />
/ Fehn 2007). Der Kulturbegriff kommt indes selten<br />
vor. Ihn bringen erst später die Ethnologen ins Spiel, indem<br />
sie das Völkische Kultur nennen. Seitdem erscheint die Homogenitätsprämisse<br />
unter diesem Namen, dem aber lange,<br />
da Herders spekulative Philosophie moderneren Maßstäben<br />
nicht mehr genügte, eine Theorie fehlte. Sie wurde erst im<br />
20. Jahrhundert durch die bereits erwähnte culture and personality<br />
school geliefert. Im Rahmen des Paradigmas national<br />
character wurde auf wissenschaftlich ernst zu nehmendem<br />
Wege die Homogenitätsprämisse zu begründen versucht. Die<br />
Antwort lautete, Nationalkultur und Nationalcharakter entstehen<br />
durch Sozialisation. Weil die Eltern ihre Kinder auf<br />
gleiche Weise erziehen, soll es zur charakterlichen Angleichung<br />
kommen. Seitdem haben wir dicke Bücher über den<br />
amerikanischen Nationalcharakter, deren Thesen heute noch<br />
zu finden sind. Das Ganze besitzt aber einen Schönheitsfehler:<br />
Die Homogenität wird nicht durch die Erziehung geschaffen,<br />
sondern liegt ihr voraus.<br />
Eine Minderheit der modernen <strong>Kulturwissenschaft</strong>ler bezweifelte<br />
jedoch die Homogenitätsprämisse, wobei zwei Argumente<br />
ins Feld geführt wurden. Clifford Geertz, der herausragende<br />
Kulturanthropologe Amerikas, schrieb seiner Zunft<br />
ganz grundsätzlich ins Stammbuch, dass sie mit einem deterministischen<br />
Kulturbegriff arbeite. Ethnologie und sonstige<br />
9<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />
<strong>Kulturwissenschaft</strong>en betrieben ihr Geschäft so, als würde<br />
Kultur normativ Verhaltensweisen vorschreiben, die, wenn<br />
man dazu gehören wollte, befolgt werden müssten. Dieser<br />
Determinismus-Vorwurf trifft natürlich auch die Homogenitätsprämisse,<br />
denn nur Determinanten erzeugen Gleichheit.<br />
Gegen diesen falschen Ansatz hebt Geertz den Angebotscharakter<br />
von Kultur hervor. Sie stelle Zeichen und Verhaltensmöglichkeiten<br />
bereit, die von den Individuen verschieden<br />
– also nicht homogen - realisiert würden (Geertz 1973). Die<br />
Kritik des Soziologen Ulrich Beck nimmt ihren Ausgang von<br />
folgender Überlegung. Kultur, so seine Metapher, sei kein<br />
fest verschlossener Container, aus dem nichts heraus oder in<br />
den nichts hinein gelange. Beim Kulturträger Nation sei das<br />
besonders offensichtlich. In unserer globalisierten Welt stünden<br />
alle Länder weit offen und es finde ein permanenter<br />
Transfer zwischen ihnen statt. Da alles im Fluss sei, so Becks<br />
Resultat, wäre Homogenität nicht möglich (Beck 1998). 3<br />
Wolfgang Welsch (1995) sekundiert mit dem Zusatz, dass sie<br />
noch nie möglich war und verweist auf ältere Globalisierungen<br />
wie das römische Reich und die Völkerwanderung.<br />
So richtig diese Kritik ist, schießt sie doch über das Ziel hinaus.<br />
Im Grunde stellen Geertz und Beck, wenn man ihre<br />
Schriften genau liest, die Gegenständlichkeit des Kulturträgers<br />
Nation in Abrede. Für sie ist Nationalität Konstruktion<br />
und Einbildung. Das aber läuft unserem Empfinden zuwider.<br />
Wenn wir in Spanien sind, kommt uns alles spanisch vor, und<br />
wenn wir einen Film sehen, der in Deutschland spielt, erkennen<br />
wir die Heimat. Nationen, das ist nicht nur eine Erfahrung,<br />
sind erkennbar. Sie zeigen nationalspezifische Besonderheiten,<br />
die sie von anderen Nationen unterscheiden.<br />
Wenn sie aber erkennbar sind, müssen sie Gegenständlichkeit<br />
besitzen, die aber eben nicht in Homogenität besteht. Daher<br />
sollte man den Nationenbegriff nicht auf die Halde menschlicher<br />
Irrtümer werfen, sondern nur die verfälschende Homogenitätsprämisse<br />
aufgeben. Die qualitative Komplexitätsreduktion<br />
müsste rückgängig gemacht und durch eine quantitative<br />
ersetzt werden.<br />
3. Neukonzeption des Begriffs Nation<br />
Dazu stellt sich als erstes die Frage, was für eine Art Kollektiv<br />
ist die Nation? Ich unterscheide Kollektive ersten Grades von<br />
solchen zweiten Grades. Die ersteren bestehen aus Individuen;<br />
die letzteren über diese hinaus vor allem aus Kollektiven.<br />
Ein Tennisclub besteht aus Mitgliedern; der Deutsche Gewerkschaftsbund<br />
hingegen, ein Kollektiv zweiten Grades, besteht<br />
aus Einzelgewerkschaften, also aus Kollektiven ersten<br />
Grades.<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 10
Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />
Nationen sind Kollektive zweiten Grades in einem noch weiteren<br />
Sinne als mein Gewerkschaftsbeispiel. Der Deutsche<br />
Gewerkschaftsbund setzt sich aus stark ähnlichen Kollektiven<br />
ersten Grades zusammen, die man Zwillingskollektive nennen<br />
könnte. Unter dem Dach der Nation hingegen finden wir<br />
nicht nur unendlich viele, sondern vor allem auch unendlich<br />
verschiedene Kollektive. Unter dem deutschen Dach drängeln<br />
sich Briefmarkensammler, Esoteriker, Neonazis, Schützen-<br />
und Karnevalsvereine, Hobbyclubs, Wirtschaftsunternehmen,<br />
terroristische Vereinigungen und, besonders deutsch, die Gesellschaft<br />
zur Rettung des Genetivs. Selbst Kollektive zweiten<br />
Grades wie Innungen und Interessenverbände sind darunter.<br />
Das hervorstechende Merkmal einer modernen Nation nenne<br />
ich deshalb Polykollektivität. Sie setzt Pluralismus voraus,<br />
denn die einzelnen Kollektive verfolgen andere Interessen<br />
und leben nach anderen Werten.<br />
Das entscheidende Merkmal der Polykollektivität, aus dem die<br />
Staatsform Demokratie ihre Legitimation bezieht, wird von<br />
der Homogenitätsprämisse unterschlagen. Diese entscheidende<br />
Qualität wird durch die Komplexitätsreduktion eliminiert,<br />
wodurch der Kulturträger Nation in einem seiner wesentlichsten<br />
Punkte entstellt wird. Nationen werden nicht<br />
durch Homogenität bestimmt, sondern durch Heterogenität.<br />
Von der Basis Heterogenität und Polykollektivität lassen sich<br />
weitere Merkmale ableiten. So die Funktion von Kollektiven<br />
zweiten Grades, die darin besteht, das Miteinander der Kollektive<br />
zu regeln. Das gilt um so mehr für das Dachkollektiv<br />
Nation, das für die Erhaltung, Steuerung und Zähmung von<br />
Polykollektivität verantwortlich ist.<br />
Diese Funktionen wird auf vielfache Weise erfüllt. Dabei<br />
kommt ihm folgendes Phänomen zur Hilfe. Die meisten der<br />
das Dachkollektiv ausmachenden Kollektive sind nicht so<br />
scharf und hermetisch von einander abgegrenzt, wie wir<br />
meinen. Da Individuen vielen Kollektiven angehören, sind diese<br />
irgendwie miteinander verschränkt oder ragen gegenseitig<br />
in sich hinein. In einem Tennisclub, genauso wie in einer Einzelgewerkschaft,<br />
treffen Katholiken auf Protestanten, Vegetarier<br />
auf Schnitzelfreunde, Schwaben auf Bayern. Das liegt an<br />
der Multikollektivität der Individuen, wie ich es nenne, d.h. an<br />
der Tatsache, dass der Einzelne vielen Kollektiven angehört.<br />
Ich bin bekennender Rheinländer, Volvo-Fahrer, Atheist,<br />
Hochschullehrer, Tennisspieler und Hausbesitzer.<br />
Die Multikollektivität sorgt dafür, dass die Mehrzahl der Kollektive<br />
präkollektiv mit einander verbunden ist. Der Begriff<br />
präkollektiv betont dabei, dass diese Vernetzung nichts mit<br />
dem Konstitutionsgrund und Kollektiv-Zweck zu tun hat,<br />
sondern davon unabhängig existiert. Die Religionszugehörig-<br />
11<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />
keit der Mitglieder eines Tennisclubs hat nichts mit der eigentlichen<br />
Kollektivität dieses Clubs zu tun; aber dennoch ist<br />
sie vorhanden und die Religionen ragen in den Club hinein,<br />
was Virulenz bekommen würde, wenn ein Muslim um Aufnahme<br />
nachsuchte. Wie wichtig die präkollektiv greifende<br />
Multikollektivität für ein Gemeinwesen ist, sehen wir am Beispiel<br />
derjenigen, die ihm den Rücken kehren wollen. Mit allen<br />
Mitteln versuchen Sekten Außeneinflüsse fern zu halten und<br />
alle präkollektiven Elemente zu reduzieren. Man wohnt zusammen,<br />
verbringt zusammen die Freizeit und heiratet nur<br />
untereinander. Sekten verweigern sich den Prinzipien der Kollektivität,<br />
indem sie die unterschwelligen Verbindungen zu<br />
anderen Kollektiven kappen.<br />
Die Multikollektivität der Individuen fungiert als Gegenmittel<br />
zur Polykollektivität der Nation, die immer der Gefährdung<br />
ausgesetzt ist, in ihre Bestandteile auseinander zu fallen. Multikollektivität<br />
setzt einerseits Polykollektivität voraus, sonst<br />
hätte das Individuum keine Auswahl, dämpft andererseits<br />
aber ihre atomisierende Tendenz. Auch bewusst und geplant<br />
reguliert das Dachkollektiv Nation seine uneinheitliche Vielfalt.<br />
Zum einen durch Bereitstellung von Interaktionsregeln<br />
und zum anderen durch Überwachung der Kommunikationsmittel.<br />
Im Vereins- und Körperschaftsrecht bietet der Nationalstaat<br />
Formen der Kollektivbildung an und regelt durch<br />
die verschiedensten Gesetze den Umgang sowohl der Individuen<br />
miteinander als auch der Kollektive. Bei Verstößen dagegen<br />
droht das Strafrecht mit Sanktionen. Man erkennt: Die<br />
Funktionen der Nation ergeben sich aus ihrem Hauptmerkmal<br />
der Polykollektivität.<br />
Nationen sorgen aber auch für Kommunikation zwischen all<br />
den Individuen und Kollektiven. Jede Nation besitzt ihre staatlich<br />
überwachte Nationalsprache. In besonderen Fällen können<br />
das, wie in der Schweiz, mehrere Sprachen sein. Über<br />
Dia- und Soziolekte hinweg sichert das Dachkollektiv auf verschiedene<br />
Weise die Verständigungsfähigkeit, damit die verschiedenen<br />
Kollektive kommunizieren können. Was sich pauschal<br />
so einfach sagt, ist in der Wirklichkeit höchst kompliziert<br />
und beschäftigt den linguistisch orientierten Teil der Interkulturellen<br />
Kommunikation (vgl. Kiesling / Paulston 2005). Das<br />
Gleiche gilt für Umgangsformen und die non-verbale Kommunikation.<br />
Auch sie besitzen über die verschiedenen Verhaltensgewohnheiten<br />
der Kollektive und Kollektiv-Gruppen hinweg<br />
einen Kern des Gemeinsamen, sozusagen eine Etikette<br />
des Normalen. Kurzum: Im Bereich der Kommunikation im<br />
weitesten Sinne übt die Nation eine, wie ich es nenne, pankollektive<br />
Funktion aus, sodass sich Professor und Penner verständigen<br />
können. Die pankollektive Funktion ermöglicht Polykollektivität<br />
als kommunikatives Handeln.<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 12
Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />
An dieser Stelle taucht folgender Einwand auf. Nachdem die<br />
Homogenitätsprämisse verworfen wurde, erkennt man nun,<br />
dass sowohl im Bereich der Gesetze und Institutionen als<br />
auch in jenem der Kommunikation Homogenität herrscht.<br />
Deutschland ist dahingehend einheitlich, dass sich eine<br />
Mehrheit an bestimmte Gesetze hält, sich in bestimmte Institutionen<br />
einfügt und sich derselben Kommunikationsmittel<br />
im weitesten Sinne bedient. Ist das aber jene Homogenitätsprämisse,<br />
die der traditionelle Kulturbegriff meint? Ja und<br />
Nein! An die Sprache, die Teil der Kultur ist, denkt man wohl,<br />
nicht aber an Gesetze und Institutionen, die Gleichverhalten<br />
nicht kulturell vorgeben, sondern sozusagen geplant erzwingen.<br />
D.h. die Kritik am Homogenitätspostulat muss differenziert<br />
werden. Bei aller Polykollektivität muss das Dachkollektiv<br />
Nation als Mischung aus Homogenität und Heterogenität gesehen<br />
werden. Da der homogene und heterogene Bereich<br />
funktional verschieden sind, führt diese Aussage in keinen<br />
Widerspruch. Die Heterogenität rührt von der Polykollektivität<br />
her, während die Homogenität auf einer pankollektiven Ebene<br />
diese Polykollektivität regelt. Heterogen sind die Kommunikationspartner,<br />
homogen aber Kommunikationsmittel und<br />
die Modalitäten ihres Umgangs mit einander. Wenn ein deutscher<br />
Katholik mit einem deutschen Kommunisten streitet,<br />
sind sie bezüglich ihrer Interessen und Denkinhalte heterogen;<br />
homogen jedoch ist, dass sie deutsch sprechen und gewisse<br />
Benehmensvorschriften wahren. Das muss so sein,<br />
denn sonst wäre eine funktionierende Kollektivität unter dem<br />
Dach Nation nicht möglich.<br />
Aber müsste nicht auch die Geschichte, die eine Nation erlebt,<br />
Homogenität verbürgen. Wiederum lautet die Antwort<br />
Ja und Nein. Sicherlich sind die historischen Fakten für alle<br />
Volksgenossen dieselben. Daneben aber gehört zur Geschichte<br />
auch die Deutung dieser Fakten, nachdem sie geschehen<br />
ist. Bei ihr jedoch hört die Homogenität sofort auf, denn hier<br />
wirkt sich wieder die Polykollektivität aus. Es gibt nicht nur<br />
eine Deutung, sondern je nach Interessenlage der Betroffenen<br />
verschiedene und widersprüchliche. Die rivalisierenden<br />
Interessen der Kollektive führen zunächst zu rivalisierenden<br />
Deutungen der Geschichte. Sobald diejenigen, die das historische<br />
Ereignis erlebten, gestorben sind, hört der Deutungsstreit<br />
meistens jedoch auf und mündet in eine Mehrheitsdeutung,<br />
die oft offiziellen Charakter annimmt. Wir sehen das<br />
am Beispiel des Nationalsozialismus. Der Deutungsstreit ist<br />
vorüber und im Großen und Ganzen setzte sich eine kritische<br />
und nichts beschönigende Sicht durch wie an der landesweiten<br />
Ablehnung der Neonazis und anderer Unbelehrbarer<br />
sichtbar wird. Im Bereich Geschichte zeigt sich insofern das<br />
gleiche Miteinander von Homogenität und Heterogenität, das<br />
ebenfalls in keinen Widerspruch mündet, da sie hinter einan-<br />
13<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />
der angeordnet sind. In der zeitlichen Nachbarschaft der historischen<br />
Ereignisse herrscht Heterogenität und Streit, der<br />
dann mit zeitlichem Abstand in Homogenität mündet.<br />
4. Die Nation als Unikatskonglomerat<br />
Ich kehre zum Ausgangsproblem zurück: Wenn man den Nationenbegriff<br />
nicht verwerfen will, muss eine neue Gegenständlichkeit<br />
präsentiert werden. Die traditionelle bestand aus<br />
zwei Komponenten: Eine Nation galt erstens als besonderes<br />
und also einmaliges Gebilde, das zweitens in sich homogen<br />
war. Die Homogenität haben wir relativiert, an der Besonderheit<br />
und Singularität der Nationen aber können wir festhalten.<br />
Wir müssen sie nur eben als Miteinander von Homogenität<br />
und Heterogenität begreifen.<br />
Worin aber konstituiert sich Besonderheit? Eine, und zwar<br />
eine homogene, stellten wir bereits fest: die Kommunikationsmittel,<br />
die Sprache und die Umgangsformen. Die haben<br />
die Nationen für sich und sind dem Angehörigen einer anderen<br />
Nation verschlossen. Wenn interkulturelles Training eine<br />
Berechtigung hat, dann hier, in diesem homogenen Bereich.<br />
Den homogenen Besonderheiten stehen die heterogenen gegenüber,<br />
die sich aus der Polykollektivität ergeben. Jede Nation<br />
besitzt Kollektive, die es in dieser Ausprägung nur unter<br />
ihrem Dach gibt. Ich nenne sie Unikatskollektive. Die Gesellschaft<br />
zur Rettung des Genetivs gibt es nur in Deutschland;<br />
genauso wie Schützen- und Karnevalsvereine. Solange es<br />
noch den Meisterbrief gab, war der deutsche Handwerker<br />
einmalig auf der Welt, ebenso wie – ebenfalls aussterbend -<br />
der habilitierte Professor. Unikatskollektive müssen keine<br />
Randerscheinungen sein. Die amerikanische National Rifle<br />
Association etwa ist ein ebenso einmaliges wie höchst einflussreiches<br />
Kollektiv. Dennoch sind Unikatskollektive selten,<br />
und das liegt daran, dass die westlichen Nationen nah bei<br />
einander liegen.<br />
Zwischen diesen Nationen besteht eine weitgehende Kollektiv-Analogie,<br />
die aber trotz grundsätzlicher Gleichheit Variationsmöglichkeiten<br />
erlaubt. Jede demokratische Nation braucht<br />
Parteien, welche die in allen modernen Gesellschaften vorhandenen<br />
Interessen vertreten. Dass es Parteien geben muss,<br />
ist durch transnationale Faktoren wie Demokratie und<br />
Marktwirtschaft vorgegeben, bei der Ausgestaltung dieser<br />
Kollektive stehen jedoch Spielräume offen. Die deutsche SPD<br />
hat Einiges mit der Labour Party gemeinsam, ohne ihr aber<br />
gänzlich zu entsprechen. Wenn man die Partei als Ganzes<br />
sieht, präsentiert sie sich als singuläres deutsches Kollektiv.<br />
Betrachtet man indes ihre Bestandteile, treten transnationale<br />
oder pankollektive Elemente zutage.<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 14
Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />
Trotz der Kollektiv-Analogien, wie sie in bestimmten Gruppierungen<br />
von Nationen zu finden sind, reicht der übrigbleibende<br />
Rest an Unterschiedlichkeit, um dem Dachkollektiv Nation<br />
Besonderheit im Sinne von – das Englische besitzt ein treffenderes<br />
Wort – distinctiveness zu verleihen. Wenn man sich die<br />
gesamte Polykollektivität vor Augen hält, leuchtet das umso<br />
mehr ein. Zum einen addieren sich die Unterschiedlichkeiten<br />
der einzelnen Kollektive und zum anderen resultieren Beziehungen<br />
zwischen ihnen, die ebenfalls durch die Unterschiedlichkeiten<br />
geprägt sind. Nationalspezifisch sind ja nicht nur<br />
die Kollektive selbst, sondern ebenso, das folgt stringent, die<br />
Beziehungen, Feindschaften, Differenzen und Rivalitäten zwischen<br />
ihnen. Dabei schaukeln sich die Unterschiedlichkeiten<br />
weiter auf. Labour und Conservative Party unterscheiden sich<br />
in vielen Punkten von SPD und CDU. Diese Punkte schlagen<br />
sich ebenfalls in ihrem Verhältnis zu einander nieder, sodass<br />
sich die englischen Parteien gegenseitig anders empfinden als<br />
die deutschen. Wie sehr sich die Unterschiedlichkeiten aufschaukeln,<br />
sehen wir gerade am Beispiel des Lokführerstreiks,<br />
der für einen Amerikaner schwer zu verstehen ist. Jede westliche<br />
Nation hat Lokführer und Gewerkschaften, doch was<br />
wir gerade ohnmächtig beobachten, ist urdeutsch. Die Lokführer<br />
sind Teil unseres effektiven Transportsystems, das von<br />
vielen Menschen täglich benutzt wird, und wenn hier die Räder<br />
still stehen, tut es der Gesellschaft weh. In den USA würde<br />
dem Streik diese schmerzhafte Komponente fehlen. Eine<br />
weitere Facette des Streiks fehlte in den USA ebenfalls: Die<br />
deutschen Gewerkschaften sind in Dachorganisationen zusammengefasst,<br />
woraus die GDL ausgescherte. Dadurch<br />
kämpft sie an zwei Fronten, gegen die Bahn einerseits und<br />
andererseits gegen die anderen Bahn-Gewerkschaften.<br />
Damit zum letzten Punkt meiner Aufzählung nationalspezifischer<br />
Bereiche. Ich nenne ihn die nationale Agenda. Wenn<br />
wir die Nachrichten einschalten, werden wir mit einem Mix<br />
an Themen konfrontiert, der einerseits eine gewisse Zeit konstant<br />
bleibt, sich andererseits permanent ändert. Dieser Mix<br />
muss nicht hauptsächlich aus deutschen Themen bestehen.<br />
Selbst wenn internationale dominieren, besitzt jede Nation<br />
ihre eigene Zusammenstellung. Daneben gibt es aber auch<br />
rein deutsche Themen wie derzeit die Eisbären Knut und Flocke.<br />
Nationaltypisch ist die Agenda vor allem bei den langfristigen<br />
Dauerthemen, welche die besonderen Differenzen innerhalb<br />
einer Nation klar hervortreten lassen. Für Amerika heißen diese<br />
Themen gun control, Abtreibung, Todesstrafe. An ihnen<br />
zeigen sich immer wieder die tiefen kollektiven Risse, die<br />
durch die USA gehen. Wenn ich ein landeskundliches Buch<br />
über die USA zu schreiben hätte, würde ich mich auf solche<br />
spezifischen und singulären Differenzen konzentrieren, weil<br />
15<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />
an ihnen die besondere Polykollektivität wohl am besten erkennbar<br />
ist.<br />
Aber nicht nur das Was der nationalen Agenda ist entscheidend,<br />
sondern auch das Wie. Jeder deutsche Zeitungskiosk ist<br />
insofern ein Abbild deutscher Polykollektivität, als an ihm die<br />
verschiedenen deutschen Kollektivinteressen medial bedient<br />
werden. Wenn der Lokführerstreik deutsch ist, dann wird er<br />
durch die Berichterstattung noch ein Stück deutscher, denn<br />
den Fakten gesellen sich jetzt die typischen Wahrnehmungen<br />
deutscher Kollektive hinzu. Die FAZ wird den Streik in erster<br />
Linie als Vernichtung von Arbeitsplätzen sehen, wohingegen<br />
die Frankfurter Rundschau eine Gefährdung des traditionellen<br />
Gewerkschaftssystems erkennen wird.<br />
Fazit: Wenn Dachkollektive eine empirisch beschreibbare Singularität<br />
besitzen, muss ihnen irgendeine Art an realer Gegenständlichkeit<br />
zugrunde liegen. Ihr Hauptmerkmal besteht<br />
in der Polykollektivität, die nicht als Zufallsaddition oder Chaos<br />
zu sehen ist, sondern als zusammenhängendes Konglomerat,<br />
dem bestimmte Faktoren Kohäsion verleihen. Solche Faktoren<br />
sind einmal die Interaktionsregeln und Institutionen;<br />
des Weiteren bestehen sie in präkollektiven und pankollektiven<br />
Zusammenhängen. Nicht nur äußere politische Grenzen<br />
halten folglich das Konglomerat zusammen, sondern diese<br />
inneren Kohäsionskräfte. Nationen sind wie ein Mikadospiel,<br />
das man auf den Tisch kippt. Die Stäbchen liegen scheinbar<br />
zusammenhanglos über einander. Wenn man aber versucht,<br />
eins zu entfernen, wackelt der ganze Haufen. Jeder Politiker<br />
wird das bestätigen: Wenn er das Gesetz, das Kollektiv A<br />
wollte, erlässt, schreit Kollektiv B.<br />
Nationen sind Unikatskonglomerate. Der erste Teil dieser Begriffsbildung<br />
soll auf die Besonderheit und Singularität von<br />
Dachkollektiven verweisen; der zweite sowohl auf die Polykollektivität<br />
als auch auf die eigentümliche Art der Kohäsion, die<br />
trotz aller Verschiedenheit herrscht. Diese Kohäsion ist ein<br />
paradoxes Phänomen und beruht auf mindestens drei Faktoren.<br />
Den ersten und einfachsten erkennen wir in den Homogenitätsinseln<br />
der für alle geltenden Gesetze und Institutionen,<br />
der gemeinsamen Kommunikationsmittel und dem<br />
ebenso gemeinsamen Schicksal der Geschichte. An zweiter<br />
Stelle ist die über die einzelnen Kollektive hinausgreifende<br />
Multikollektivität zu berücksichtigen, die auf präkollektive<br />
Weise Kollektive verklammert. Wenn ich im Turnverein und<br />
im Literaturzirkel Mitglied bin, hängen diese beiden Kollektive,<br />
zumindest latent, durch das Bindeglied meiner Person zusammen.<br />
Ähnlich wirkt das pankollektive Element. Dass wir<br />
Deutschen in einer Demokratie leben, verbindet uns sowohl<br />
unter einander als auch über die politischen Grenzen hinaus<br />
mit unseren westlichen Nachbarn. Ansonsten herrscht in Uni-<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 16
Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />
katskonglomeraten aber die Differenz der Polykollektivität,<br />
die ja eher der Tendenz zur Entzweiung huldigt. Sie kommt<br />
aber insofern nicht zum Tragen, als die Differenzen genau auf<br />
einander abgestimmt, sozusagen in einander verhakt und dadurch<br />
miteinander verwoben sind.<br />
Noch eine letzte Anmerkung. Die Theorie, dass die Gegenständlichkeit<br />
von Nationen als Unikatskonglomerat bestimmt<br />
werden kann, relativiert die Ergebnisse der modernen Nationenforschung<br />
(Gellner 1983, Anderson 1983, Hobsbawn<br />
1991, Wehler 2001). Sie setzte 1983 durch die Bücher von<br />
Gellner und Anderson sowie 1991 von Hobsbawm ein, die bis<br />
auf wenige Abweichungen alle drei in die gleiche Richtung<br />
gehen. Nationen, so ließe sich zusammenfassen, sind keine<br />
natürlich gewachsenen Gruppierungen, wie noch Smith<br />
(1986) in seinem Beharren auf "ethnic origins" meinte, sondern<br />
dem Zufall zu dankende, machtpolitische Gebilde. Auf<br />
diese künstlich erzeugte Realität wird ein ebenso künstliches<br />
wie falsches Bild der Nation aufgepfropft. Die Realität ist ethnisch<br />
uneinheitlich und auch ansonsten heterogen; das Bild<br />
aber gibt sie als völkische Einheit und homogene Kultur aus.<br />
Anderson (1983) fügt mit seinem Begriff "imagined communities"<br />
dem eine weitere Facette hinzu 4 . Wir sehen die Nation,<br />
die ja eigentlich eine amorphe Masse bildet, wie eine<br />
überschaubare Gemeinschaft. Bei diesen Neuansätzen, welche<br />
die traditionelle Nationenvorstellung als Konstruktion<br />
bloßstellen, wird leicht der Eindruck erweckt, dass die Nation<br />
nur eine eingebildete Gegenständlichkeit besitzt und keine<br />
reale. Dem wurde hier mit Hilfe des Begriffs Unikatskonglomerat<br />
entgegen getreten.<br />
Literatur<br />
Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities. London: Verso.<br />
Beck, Ulrich (1998): Was ist Globalisierung? Frankfurt: Suhrkamp.<br />
Gellner, Ernest (1983): Nations and Nationalism. Oxford: Blackwell.<br />
Geertz, Clifford (1973): The Interpretation of Cultures. New York: Basic<br />
Books.<br />
Geertz, Clifford (1996): Die Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des<br />
20. Jahrhunderts. Wien: Passagen-Verlag.<br />
Gorer, Geoffrey (1948): The American People. A Study in National Character.<br />
New York: W. W. Norton.<br />
Hartinger, Walter (1993): Volkskunde zwischen Heimatpflege und kritischer<br />
Sozialarbeit. In: Hansen, Klaus P. (Hrsg.): Kulturbegriff und Methode. Der<br />
stille Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften. Tübingen: Narr, S.<br />
41-58.<br />
17<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Hansen: Zulässige und unzulässige Komplexitätsreduktion beim Kulturträger Nation<br />
Hobsbawm, Eric J. (1991): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität<br />
seit 1780. Frankfurt: Campus-Verlag.<br />
Isaac, Benjamin (2005): The Invention of Racism in Classical Antiquity.<br />
Princeton: University Press.<br />
Kiesling, Scott F. / Paulston, Christina B. (Hrsg.) (2005): Intercultural Discourse<br />
and Communication. The Essential Readings. Malden: Blackwell.<br />
Mead, Magaret (1928): Coming of Age in Samoa. New York: Morrow.<br />
Mead, Magaret (1951): The Study of National Character. In: Lerner, Daniel<br />
(Hrsg.): The Policy Sciences. Recent Developments in Scope and Method.<br />
Standford: Standford University Press, S. 70-85.<br />
Nünning, Ansgar / Nünning, Vera (2003): Konzepte der <strong>Kulturwissenschaft</strong>en.<br />
Stuttgart: J.B. Metzler Verlag.<br />
Potter, David M. (1954): People of Plenty. Economic Abubdance and the<br />
American Character. Chicago: University of Chicago Press.<br />
Renan, Ernest (1990): What is a Nation? (englische Übersetzung) In: Bhabha,<br />
Homi K. (Hrsg.): Nation and Narration. London / New York: Routledge,<br />
S. 8-22.<br />
Smith, Anthony D. (1986): The Ethnic Origins of Nations. Oxford / New<br />
York: Oxford University Press.<br />
Warneken, Bernd Jürgen (2000): Zum Kulturbegriff der Empirischen <strong>Kulturwissenschaft</strong>.<br />
In: Fröhlich, Siegfried (Hrsg.): Kultur. Ein interdisziplinäres<br />
Kolloquium zur Begrifflichkeit. Halle: Landesamt für Archäologie, S. 207-<br />
214.<br />
Wehler, Hans-Ulrich (2001): Nationalismus. Geschichte, Folgen, Formen.<br />
München: C.H. Beck Verlag.<br />
Welsch, Wolfgang (1995): Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und<br />
das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt: Suhrkamp.<br />
Willoweit, Dietmar / Fehn, Janine (Hrsg.) (2007): Johann Gottfried Herder,<br />
Staat, Nation, Humanität. Ausgewählte Texte. Würzburg: Königshausen<br />
und Neumann.<br />
1<br />
Eine genauere Darstellung der antiken Homogenitätsthesen<br />
gibt Benjamin Isaac (2004) in „The Invention of Racism in<br />
Classical Antiquity“. Der Titel ist etwas irreführend, da Isaac<br />
vor allem zeigt, dass in der Antike Xenophobie zu erkennen<br />
ist, nicht aber Rassismus.<br />
2 Das hält sich bis zu Anthony D. Smith (1986).<br />
3 Die gleiche Argumentation trägt Clifford Geertz (1996) vor.<br />
4<br />
Diese von Benedict Anderson 1983 aufgestellte Behauptung<br />
geht übrigens auf Ernest Renan und dessen Vorlesung<br />
"Qu'est-ce qu'une nation?" von 1882 zurück (Renan 1990).<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 18
Entgrenzung durch neue<br />
Grenzen: Zur Pluralisierung<br />
von Kultur<br />
Dr. Jörg Scheffer<br />
Lehrstuhl für Anthropogeographie,<br />
Universität Passau<br />
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
Abstract<br />
In an age characterised by globalisation, there is an inherent<br />
contradiction between, on the one hand, the theory-driven<br />
deconstruction of cultural boundaries and, on the other, the<br />
perpetuation of cultural classifications that are founded in<br />
patterns shaped by real-life practice – and this is a contradiction<br />
that creates conflicts between some of the fundamental<br />
concepts used in cultural studies disciplines. Culture is in this<br />
sense often described in the distinctive borders of nations or<br />
as a dynamical entity, where differences and intercultural<br />
comparisons are unworkable.<br />
In an attempt to overcome this discrepancy, we will present a<br />
new approach to defining what constitutes culture, an approach<br />
that comprehends culture as something intimately<br />
related to a specific spatial context and area of research interest.<br />
This enables us to undertake a variable regionalisation<br />
of cultural characteristics, with the aid of which archetypal<br />
paradigms and modes of action rooted in prevailing spatial<br />
concepts can be investigated. The pluralisation of such cultural<br />
regions helps us to break out of a way of thinking that is<br />
shaped by pre-defined cultural areas and provides us with a<br />
conceptional alternative with which the nation-state approach<br />
to Intercultural Communication can be supplemented.<br />
1. Einführung: Grenzen, Raumbilder und Kultur<br />
Alltäglich ist von räumlichen Grenzen die Rede. Als Strukturierungsmerkmal<br />
einer komplexen Welt haben sie nicht nur<br />
Eingang in die Sprache gefunden, sondern sind tief im kollektiven<br />
Bewusstsein verankert. Ist in den Medien von chinesischem<br />
Wirtschaftswachstum, europäischer Außenpolitik oder<br />
bayerischer Bierzeltverordnung zu hören, so ist implizit eine<br />
Abgrenzung im Spiel, die unserem Diskurs einen konkreten<br />
Gegenstand beschert und die Kommunikationsfähigkeit darüber<br />
gewährleistet. Auf Grundlage einer gesellschaftlich geteilten<br />
Vorstellung des räumlichen Gegenstandes ist entsprechend<br />
klar, was dazu gehört und was nicht, wo sich das „Innen“<br />
und das „Außen“ befindet und welche grundlegenden<br />
Merkmale den Gegenstand kennzeichnen. Ohne all dies stets<br />
neu definieren zu müssen, schaffen Grenzen in semantischen<br />
Regionalisierungen Verständnis und Orientierung, sie fungieren<br />
allgemein als probates Mittel der Komplexitätsreduzierung.<br />
Die Etablierung räumlicher Kategorisierungen in der Kommunikation<br />
hat jedoch auch dazu geführt, dass der Zusammenhang<br />
zwischen dem räumlich Bezeichneten und dessen<br />
Merkmalen oft nicht mehr kritisch hinterfragt wird. Dies wird<br />
19<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
besonders dann problematisch, wenn die Ursprungskriterien<br />
einer Abgrenzung in den Hintergrund geraten und die Einteilung<br />
für andere Attribute pauschal herhalten muss.<br />
Im Umgang mit kultureller Differenz ist der Bezug zu Unterteilungskriterien,<br />
die nicht unmittelbar mit Kultur im Zusammenhang<br />
stehen, besonders virulent: Wer von französischer<br />
Lebensart oder Wiener Mentalität spricht, bezieht sich implizit<br />
auf eine politisch oder administrativ – nicht unbedingt aber<br />
kulturell – begründete Einteilung eines Landes oder einer<br />
Stadt. Erst in dem vorab festgelegten Rahmen kommen<br />
schließlich kulturelle Attributierungen zur Geltung. Sie signalisieren<br />
spezifisch vorherrschende Eigenschaften, die dann<br />
leicht als eigentliches Regionalisierungsmerkmal missdeutet<br />
werden.<br />
Auch die in der interkulturellen Kommunikation üblichen nationalen<br />
Kulturzuweisungen bedienen sich einer politischen<br />
Vorregionalisierung, die dann vereinheitlichend mit kulturellen<br />
Merkmalen aufgefüllt wird. Entsprechend sind auch die<br />
Kulturgrenzen, entlang derer verschiedene Ausprägungen<br />
benannt und verglichen werden sollen, a priori<br />
(fremd)definiert.<br />
In Folge dieser Praxis kommt es zur permanenten Reproduktion<br />
bestehender Einteilungen, bei der auf Dauer politische Kategorisierungen<br />
in kulturelle Kategorisierungen transformiert<br />
werden. Begleitet wird die Verwechselungsgefahr von einer<br />
Homogenisierung der bezeichneten Einheit nach innen und<br />
einer Distanzierung nach außen. Der „Italiener“ oder der<br />
„Koreaner“ – so das Implikat – teilt kulturelle Eigenschaften<br />
exklusiv mit seinen Landsleuten; spezifisch italienische (oder<br />
koreanische) Denk- und Handlungsweisen konzentrieren sich<br />
exakt auf das Staatsgebiet (oder auf jene, die dem Staatsgebiet<br />
angehören). Damit pressen die etablierten Beschreibungstermini<br />
kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten<br />
in festgelegte Grenzen, während kulturelle Formationen jenseits<br />
dieser Grenzen unberücksichtigt bleiben. Hingegen<br />
schwindet mit dem Verzicht auf entsprechende Kultur-<br />
Begrenzungen auch die Möglichkeit ihrer Unterscheidung.<br />
Der folgende Beitrag setzt sich mit dieser Kategorisierungspraxis<br />
von Kultur kritisch auseinander, indem die eher theoriegeleiteten<br />
Argumente einer Entgrenzung von Kultur (Kap.<br />
2) der pragmatischen Begrenzungspraxis in der Interkulturellen<br />
Kommunikation gegenüber gestellt werden (Kap. 3). Zwischen<br />
den scheinbar unvereinbaren Positionen einer Begrenzung<br />
und Entgrenzung von Kultur soll schließlich ein selektives<br />
Kulturverständnis als konzeptionelle Alternative vorgestellt<br />
werden (Kap. 4 und 5). Dabei ist zu zeigen, dass der erwähnte<br />
Raumbezug kultureller Kategorisierungen nicht nur<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 20
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
die Ursache sondern auch die Lösung des Problems einer kulturellen<br />
Verabsolutierung darstellen kann (Kap. 6).<br />
2. Grenzen und die Verabsolutierung von Kollektivität<br />
Die Gefahr, kulturelle Unterschiede in absolute Grenzen zu<br />
setzen, ist bereits im Verständnis des (allgemein gefassten)<br />
Kulturbegriffs angelegt. Begreift man Kultur üblicherweise als<br />
etwas gemeinschaftlich Geteiltes, als überindividuelle Denk-<br />
und Handlungsmuster, so beinhaltet dies eine partielle<br />
Gleichheit (oder zumindest Vergleichbarkeit) aller Kollektivmitglieder.<br />
Es sind kollektiv geteilte Eigenschaften oder<br />
„Standardisierungen“ (Hansen 2003), die eine spezifische<br />
Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit bestimmen. Diese Zuordnung<br />
enthält Gewicht, wenn man als weiteres Kennzeichen<br />
von Kultur akzeptiert, dass diese im Verlauf eines längeren<br />
Enkulturationsprozesses lernend angeeignet wird und dadurch<br />
nicht spontan oder beliebig wechselbar ist. Obwohl<br />
sich beispielsweise die Sprache, ein bestimmtes Geschmacksempfinden,<br />
der Kommunikationsstil oder eine andere Standardisierung<br />
bei Personen grundsätzlich ändern kann, nimmt<br />
dies, abhängig von der Internalisierung, doch gewisse Zeitspannen<br />
in Anspruch. Eine solche Stabilität verschafft Kultur<br />
Distinktionskraft und festigt die Kollektivzugehörigkeit.<br />
Das Merkmal der (lernend angeeigneten) Kollektivität verdichtet<br />
Kultur zu einer umgrenzbaren Einheit, indem es in räumlicher<br />
Kontingenz gedacht wird. Gleich Punkten auf der Erdoberfläche,<br />
bilden dabei die Kollektivmitglieder ein geschlossenes<br />
Gebiet. Auf diese Weise kommt es zu einer Homogenisierung<br />
der entsprechenden Region, in welcher scheinbar die<br />
gesamte Bevölkerung die gleichen Standardisierungen teilt.<br />
Mit dieser Vorstellung sind auch die Voraussetzungen einer<br />
übergreifenden Benennung dieser vermeintlichen Einheit gegeben.<br />
Eine weitere Grenzziehung wird schließlich erreicht, wenn die<br />
über einzelne Standardisierungen unterschiedenen Kollektive<br />
zu „Kulturen“ verabsolutiert werden. Ein nach spezifischen<br />
kulturellen Kriterien („Lebensfreude brasilianischer Einwohner“)<br />
oder auch anderen politischen oder administrativen<br />
Vorgaben (der „Staat Brasilien“) benannter Rahmen wird in<br />
eine kulturelle Ganzheit („die brasilianische Kultur“) umgedeutet.<br />
Alle Kollektive, die darüber hinaus existieren und vielfach<br />
staatliche Grenzen überschreiten (z.B. portugiesische<br />
Sprache, katholischer Glaube), müssen sich infolge der rahmengebenden<br />
Benennung („brasilianisch“) in diese Passform<br />
fügen. Im Ergebnis wird eine kulturelle Entität („Brasilien“)<br />
konstruiert, deren Grenzen sich aber auf Grundlage kultureller<br />
Einzelmerkmale mehrheitlich nicht belegen lassen (vgl. da-<br />
21<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
zu Scheffer 2003). Die vieldiskutierte Weltgliederung Huntingtons<br />
(1996), der ebenfalls mehrere Einzelkriterien in holistische<br />
„Civilizations“ umdeutet, steht hierfür ebenso Pate,<br />
wie eine Vielzahl älterer Weltgliederungen aus der Disziplingeschichte<br />
der Geographie (im Überblick Böge 1997).<br />
Obwohl die Interkulturelle Kommunikation gerade das Ziel<br />
verfolgt, kulturelle Unterschiede zu vermitteln, haftet ausgerechnet<br />
ihr die Problematik verabsolutierender Grenzziehungen<br />
an. Bekannt ist in diesem Zusammenhang die Kritik von<br />
Wolfgang Welsch an dem Konzept der Interkulturalität<br />
(Welsch u.a. 1992, 1999). Danach kennzeichnet das interkulturelle<br />
Kulturverständnis ein separatistischer Charakter, der –<br />
in Anlehnung an Herders Kugel- oder Inselanalogie – noch<br />
immer von der veralteten Vorstellung innerer Homogenität<br />
und äußerer Abgrenzbarkeit herrührt. In dem Bestreben, diese<br />
Unterschiedlichkeit durch wechselseitige Bezüge und Vergleiche<br />
zu vermitteln, perpetuiert das interkulturelle Denken<br />
ausgerechnet die unterstellten Kulturgrenzen. Aus der binären<br />
Logik des Innen und Außen resultiert laut Welsch eine<br />
strukturelle Kommunikationsunfähigkeit, die eine tatsächliche<br />
Annäherung der Kulturen verhindert. Dasselbe Problem erkennt<br />
Welsch in dem Konzept der Multikulturalität, da auch<br />
hier vom Zusammenleben bereits verschiedener Kulturen<br />
ausgegangen wird. Um den grenzüberschreitenden Konturen<br />
und der aktuellen Vielfalt der Lebensformen Rechnung zu<br />
tragen, tritt Welsch für das Konzept der Transkulturalität ein,<br />
das die alten – meist nationenbezogenen – Klassifikationsschemen<br />
überwindet: Transkulturalität soll anzeigen, „dass<br />
wir uns jenseits der klassischen Kulturverfassung befinden;<br />
und dass die neuen Kultur- und Lebensformen durch diese<br />
alten Formationen wie selbstverständlich hindurchgehen“<br />
(Welsch 1992:5). Gelöst von den oben beschriebenen kontingenten<br />
Kollektivmustern, ist damit die kulturelle Vielfalt in<br />
den neuen Denkformen und Metaphoriken des Gewebes, der<br />
Verflechtung oder der Vernetzung zu begreifen (vgl. Welsch<br />
1992:18).<br />
In ähnlicher Weise bestrebt, einerseits den dynamischen Globalisierungsprozessen<br />
in ihren komplexen Auswirkungen auf<br />
Kultur zu entsprechen sowie andererseits die problematischen<br />
Homogenisierungs- und Distinktionsmechanismen überkommener<br />
Kulturmodelle aufzubrechen, sind in den vergangenen<br />
Jahren diverse Konzeptalternativen entstanden (im Überblick<br />
Jackson / Crang / Dwyer 2003, Mitchell 2003). Sie kommen in<br />
den unterschiedlichen Terminologien der Hybridität, Mélange,<br />
Créole, Flüsse oder Netzwerke zum Ausdruck. Unabhängig<br />
von ihrer jeweiligen Akzentuierung ist ihnen eine klare Distanz<br />
zum starren, raum- und nationenbezogenen Kultures-<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 22
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
senzialismus und der Idee der kulturellen Territorialisierung<br />
gemeinsam.<br />
Während dabei stets der Gefahr einer Verabsolutierung von<br />
Kultur begegnet wird, ist jedoch als Kehrseite der Verlust der<br />
eingangs genannten kollektiven Unterscheidungsmöglichkeiten<br />
zu beklagen. Denn wahrgenommene Kulturunterschiede<br />
können ohne Grenzen weder verortet noch räumlich kategorisiert<br />
werden. Streng genommen verliert dann auch eine<br />
raumbezogene Terminologie („Brasilien“, „China“, „Bayern“)<br />
für Kultur an Plausibilität. Dass selbst die schärfsten Kritiker<br />
kulturräumlicher Kategorisierungen in ihren Beiträgen auf<br />
eben jene zurückgreifen, zeigt überdeutlich, wie stark diese<br />
Kategorisierungen in unseren Sprach- und Denkmustern verwurzelt<br />
sind. Ihre Dekonstruktion untergräbt nicht nur kulturbezogene<br />
Differenzierungen im Alltag, sondern gefährdet<br />
letztlich auch die Fähigkeit zur sprachlichen Verständigung.<br />
3. Grenzen und ihre Mängel im interkulturellen Vergleich<br />
Im Gegensatz zu den Dekonstruktions- und Entgrenzungsbestrebungen<br />
vieler Kulturtheoretiker, orientieren sich die Ansätze<br />
aus der interkulturellen Praxis weiterhin an territorialisierbaren<br />
Kulturunterschieden. Die globalisierungsbedingte<br />
Annäherung der Kulturen wird hier weniger als grenzüberschreitender<br />
Vermischungsprozess antizipiert, sondern vielmehr<br />
als Vermittlungsaufgabe: Globalisierung macht kulturelle<br />
Fremdheit erst spürbar und löst sie nicht auf. In den vielen<br />
Feldern der interkulturellen Kommunikation gilt es diese<br />
Fremdheit in ihrer relativen Unterschiedlichkeit zu erfassen.<br />
So interessieren sich Marketingexperten bei der Erschließung<br />
neuer Absatzmärkte für die dort geltenden Farbsymboliken,<br />
sprachliche Konnotationen oder das spezifische Humorverständnis,<br />
während sich im Ausland tätige Manager mit den<br />
kulturspezifischen Do’s und Don’ts bei Geschäftskontakten<br />
vertraut machen oder Designer die besonderen Geschmacksvorlieben<br />
der ausländischen Zielgruppen ins Visier nehmen.<br />
Die jeweils zu analysierenden „Kulturen“ sind dafür vorab<br />
klar umrissen. Sie folgen in der Regel nationalen Grenzen, die<br />
eine einfache Orientierung bieten. Der Adressat kann nach<br />
Maßgabe seiner Interessen jedem Ort bestimmte Standardisierungen<br />
zuordnen. In seinem kulturellen Homogenitätsanspruch<br />
ist er dabei ungleich toleranter als die genannten Kritiker<br />
kulturräumlicher Kategorisierungen, da ihm bereits Hinweise<br />
auf vorherrschende Kulturmerkmale weiter helfen. Dass<br />
einzelne Personen oder Gruppen von der vorgenommenen<br />
Generalisierung abweichen, ist für eine auf die Mehrheit der<br />
potentiellen Konsumenten ausgerichtete Markterschließung<br />
23<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
oder für die Berücksichtigung gesellschaftlich akzeptierter<br />
Handlungsweisen unerheblich. Jede Kategorisierung erfolgt<br />
zweckspezifisch und i.d.R. nicht nach Maßgabe einer adäquaten<br />
Repräsentation der Minderheiten.<br />
Die ständig wachsende Nachfrage an „Kulturinformationen“<br />
in der Praxis korrespondiert mit einer kulturvergleichenden<br />
Methodologie, die ebenso kulturräumliche Kategorisierungen<br />
mit klaren Grenzen voraussetzt. Dies lässt sich für die zwei<br />
grundlegenden Vergleichsperspektiven, die etische, kulturübergreifende<br />
ebenso wie die emische, kulturangepasste Perspektive,<br />
zeigen (vgl. dazu Berry 1980, Helfrich 1999).<br />
Der etische Ansatz sucht für Kulturen einheitliche Vergleichsmaßstäbe<br />
anzuwenden, die universell gültig sind. Dafür<br />
müssen die Kulturmerkmale kulturübergreifend ausgeprägt<br />
und dem Forscher ex-ante bekannt sein. Vorab bestimmt<br />
der Forscher dabei Kollektivität nicht nur sachlich,<br />
sondern auch räumlich. Standardisierungen werden in ein<br />
vorgegebenes (staatliches) Raster gezwängt und erst in dieser<br />
Einteilung mit Hilfe quantitativer Erhebungstechniken ermittelt<br />
und verglichen. Die in Indexwerten erfassten Standardisierungen<br />
stehen im Ergebnis meist für nationale Kulturunterschiede,<br />
deren Grenzen selbst dann nicht hinterfragt werden,<br />
wenn die Indexwerte pro Land gleich ausfallen. So bescheinigt<br />
beispielsweise Geert Hofstede in seinen Studien den<br />
Staaten Indonesien und Indien eine ähnliche Ausprägung in<br />
der Kulturdimension „Machtdistanz“ und Deutschland und<br />
Großbritannien die Übereinstimmung in der Dimension<br />
„Maskuliniät/Feminität“ (Hofstede 2001:500). Wenn es darum<br />
geht, die kulturelle Vielfalt der Erde in adäquaten räumlichen<br />
Termini zu strukturieren, greift Hofstedes Praxis der nationalen<br />
Vorregionalisierung offensichtlich zu kurz, da sich die<br />
gewählten Einheiten über die gewählten Kulturdimensionen<br />
kulturell nicht begründen lassen. Hofstede und andere Vertreter<br />
einer etisch-quantitativen Kulturvergleichsforschung nehmen<br />
lediglich eine (partielle) Kulturerfassung für jede einzelne<br />
Nation vor (etwa die Standardisierung Machtdistanz in Großbritannien),<br />
nicht jedoch eine Erfassung von Kollektivität (etwa<br />
das Kollektiv mit einer bestimmten Machtdistanz).<br />
Demgegenüber begründen der leichte Zugriff auf etablierte<br />
Vergleichseinheiten und statistisch-pragmatische Aspekte die<br />
nationenspezifische Vereinheitlichung der Stichproben. Entsprechend<br />
räumt beispielsweise Triandis für die empirische<br />
Arbeit der kulturvergleichenden Psychologie ein,<br />
“[that] cultures and societies are enormously heterogeneous. This is especially<br />
the case when large national entities are mentioned as substitutes for<br />
culture. Strictly speaking, nations and cultures are very different concepts,<br />
but it is convenient to use the nation label to describe a sample if the data<br />
have been collected in one place and there is no adequate other information<br />
about the sample.” (Triandis 1984:8)<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 24
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
Dass faktisch die meisten Kulturvergleiche in nationalen Bezügen<br />
vorgenommen werden, verdeutlicht den Nutzen dieser<br />
Generalisierungspraxis auch unabhängig von der Datenverfügbarkeit.<br />
Sie wird freilich mit einem erheblichen Informationsverlust<br />
erkauft, der sich bei der Erforschung von Gemeinsamkeiten<br />
und Unterschieden jenseits der Staatsgrenzen<br />
deutlich abzeichnet (vgl. dazu Hermans / Kempen 1998,<br />
Straub 2003, Smith 2004).<br />
Obwohl die emische gegenüber der etischen Perspektive<br />
nicht auf eine universale Vergleichbarkeit kultureller Einteilungen<br />
ausgerichtet ist, kommt auch sie nicht ohne eine exante<br />
vorgenommene Grenzziehung aus: Der emische Ansatz<br />
forscht innerhalb eines kulturellen Kontextes nach Aspekten,<br />
die für dessen Struktur oder Funktion Bedeutung haben. Weil<br />
diese Aspekte nur von innen heraus verstanden und spezifisch<br />
erfasst werden können, ist ein vergleichender Bezug zu<br />
allen anderen Kulturen auf der Welt per se nicht gegeben.<br />
Kultur erschließt sich vielmehr über eine relative Differenz, die<br />
sich über die Sammlung kritischer Interaktionssituationen<br />
zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen zu einzelnen<br />
Kulturstandards schrittweise verdichten lässt (vgl. Thomas<br />
2003). Weil jedoch auch hierbei vorab feststeht, welche Kulturen<br />
in ihrer Unterschiedlichkeit kontrastiert werden, ist erneut<br />
eine räumliche Prädestination mit nationalen Konturen<br />
im Spiel. Bedingte die universale Vergleichbarkeit der Kulturdimensionen<br />
bei Hofstede eine inhaltliche Einengung von<br />
Kultur, ist es bei der emischen Vergleichspraxis gerade die<br />
Voraussetzung einer nationalen Unterschiedlichkeit, die potenzielle<br />
Kulturstandards reglementiert. Der in der Praxis als<br />
Nationenvergleich konzipierte Kulturvergleich kann ausschließlich<br />
die Kulturstandards aufdecken, die zwei Länder in<br />
ihrer Gegensätzlichkeit prägen. Folglich entgehen auch der<br />
emischen Perspektive kleinräumige, grenzüberschreitende<br />
und überregionale Ausprägungen, so wie es zuvor bereits für<br />
die etische Perspektive moniert wurde. Es wird nicht der Existenz<br />
oder der räumlichen Formation von Kollektiven empirisch<br />
nachgegangen, sondern lediglich der kulturellen Eigenheit<br />
einer vorab bestimmten Bevölkerung.<br />
Zusammenfassend lässt sich für die kulturvergleichende Forschung<br />
ein Rückgriff auf räumliche Grenzen und Einheiten<br />
konstatieren, der sich forschungslogisch aus der notwendigen<br />
Festlegung des kulturellen Vergleichsgegenstandes begründet.<br />
Damit trägt sie jedoch ungewollt zu der erwähnten Verwechselung<br />
von kulturellen und nationalen Grenzen bei. Mit<br />
der räumlich identischen Platzierung von einzelnen Standardisierungen<br />
in immer denselben (ursprünglich nationalen)<br />
Grenzen wird auf Dauer eine problematische Festigung national-kulturräumlicher<br />
Einheiten im oben kritisierten Sinne er-<br />
25<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
reicht. Mag man dies und die damit einher gehenden Gefahren<br />
(u.a. Überhöhung nationaler Unterschiede, Stereotypisierung)<br />
noch in Kauf nehmen, sind es vor allem die einer<br />
starren Generalisierung geschuldeten Erkenntnisdefizite, die<br />
gegen den schematisierten Einsatz nationenbezogener Vergleichskonzepte<br />
in der interkulturellen Praxis sprechen.<br />
4. Zum Verständnis selektiver Kulturräume<br />
Mit den diversen interkulturellen Tätigkeitsfeldern sind spezifische<br />
Anliegen verbunden, die sich auf unterschiedliche Aspekte<br />
einer Fremdkultur beziehen. Wurde oben bereits für<br />
das interkulturelle Marketing und Management beispielhaft<br />
auf die jeweilige Relevanz einzelner Standardisierungen verwiesen<br />
(Humor, Sprache, Geschmack), so zeigt sich darin ein<br />
gerichtetes, selektives Interesse, das von einer ganzheitlichen<br />
Kulturbetrachtung wegführt. Interkulturelle Fragestellungen<br />
gehen von Akteuren oder Akteursgruppen aus, die in Abhängigkeit<br />
von den Tätigkeitsfeldern und Aufgabenbereichen<br />
jeweils vollkommen unterschiedliche Ansprüche an die Auswahl<br />
der Standardisierungen stellen.<br />
Angesichts der Vielfalt potenziell relevanter Standardisierungen<br />
ist keineswegs davon auszugehen, dass all diese Standardisierungen<br />
die gleichen Bevölkerungsteile kennzeichnen.<br />
Die über eine gemeinsame Sprache definierten Kollektive<br />
müssen nicht kongruent mit jenen sein, die sich über einen<br />
spezifischen Geschmacks- oder ein Humorverständnis einteilen<br />
lassen. Folglich erscheint es wenig sinnvoll, vorab benannte<br />
Gemeinschaften („die Franzosen“), vorgegebene Räume<br />
oder räumliche Semantiken („Frankreich“) für Kulturvergleiche<br />
heranzuziehen. Die eingangs kritisierte Verabsolutierung<br />
von kulturellen Einzelmerkmalen zu kulturellen Einheiten umkehrend,<br />
gilt es vielmehr die jeweils variierende Verbreitung<br />
kultureller Spezifika in den Blick zu nehmen. Diese Spezifika<br />
sind ausschließlich an den interkulturellen Interessen einzelner<br />
Akteure zu orientieren. Entsprechend kann es nicht die objektive<br />
und allgemein gültige Repräsentation von Kultur geben,<br />
sondern lediglich verschiedene, interessensabhängige Repräsentationen.<br />
Zielsetzung eines selektiven Kulturraumkonzeptes<br />
ist es, solche Repräsentationen in räumlicher Perspektive<br />
zu erfassen (vgl. Scheffer 2007).<br />
Bislang wurde die traditionelle Verknüpfung von Kultur und<br />
Raum insbesondere darin kritisiert, dass stets vorgegebene<br />
Grenzen (und seien sie nur semantischer Art) zum Einsatz<br />
kamen, die die kulturellen Gegebenheiten in immer dieselben<br />
räumlichen Einteilungsmuster fügten. Da aber Räume und<br />
Grenzen die kulturellen Gegebenheiten keineswegs festlegen,<br />
gilt es die Raumzentrierung kultureller Kategorisierungen auf-<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 26
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
zugeben. An ihre Stelle tritt die interessenabhängige Erfassung<br />
einzelner Standardisierungen. Im Rückgriff auf die terminologische<br />
Vielfalt erdräumlicher Kennzeichnungen werden<br />
so variable Repräsentationen möglich, die den kulturellen<br />
Gegebenheiten und Forschungsfragen spezifisch Rechnung<br />
tragen können. Indem Kultur von politischen, administrativen<br />
oder naturräumlichen Fixierungen befreit wird, kann sie als<br />
eigentliches Regionalisierungskriterium in den Mittelpunkt<br />
rücken.<br />
Die Logik eines räumlichen Kulturdenkens dreht sich damit<br />
um: Statt vorregionalisierte Kulturen in ihren Merkmalen zu<br />
betrachten, ist nach der räumlichen Verbreitung dieser<br />
Merkmale selbst zu fragen. Statt die nationale Ausprägung<br />
einer bestimmten Standardisierung (wie etwa Machtdistanz)<br />
zu fokussieren, zählt das Interesse der geographischen Verteilung<br />
dieser Ausprägung. Grenzen orientieren sich somit an<br />
Kollektivität und nicht umgekehrt. Die Kriterien für Kollektivität<br />
gehen allein von den spezifisch thematischen und den<br />
spezifisch regionalen Interessen der Akteure aus.<br />
In dieser skizzierten Grundperspektive eines selektiven Kulturkonzeptes<br />
lassen sich nun die aufgeworfenen Kritikpunkte in<br />
Theorie und Praxis neu diskutieren:<br />
• Homogenisierung und Verabsolutierung von Kultur<br />
In der Gegenwart ist die Evidenz von kulturellen Mischungen<br />
unbestreitbar, wenngleich sich die globalisierungsbedingten<br />
Auswirkungen auf Kultur in regionaler und substantieller Hinsicht<br />
stark unterscheiden. Noch immer verweist die regionale<br />
Erfahrung spezifischer Standardisierungen auf die Existenz<br />
räumlich benachbarter Bevölkerungen mit einer bestimmten<br />
kulturellen Prägung (vgl. dazu auch Moosmüller 1997). Eine<br />
pauschale Verkennung dieser Unterschiede, wie sie wiederholt<br />
unter Betonung der globalen Kontaktmöglichkeiten vorgetragen<br />
wird, müsste das große wissenschaftliche wie auch<br />
praxisbezogene Interesse an kulturellen Unterschieden negieren<br />
und der Disziplin der Interkulturellen Kommunikation in<br />
weiten Bereichen den Forschungsgegenstand absprechen.<br />
Vielmehr stellt sich angesichts der Komplexität kultureller Unterschiede<br />
die Frage, in welchem Kontext Unterscheidungen,<br />
die stets mit einer Vereinheitlichung des Bezeichneten einhergehen,<br />
angemessen sind. Dies kann freilich nicht generalisierend<br />
festgestellt, sondern nur in Abhängigkeit eines jeweils<br />
bestehenden Interesses beurteilt werden. Mit der Aufgliederung<br />
und Perspektivengebundenheit der Standardisierungen<br />
begegnet ein selektives Kulturverständnisses der Gefahr früherer<br />
Verabsolutierungen. Es relativiert die Bedeutung der<br />
jeweiligen Repräsentation im Anbetracht ihrer vielfältigen Alternativen.<br />
Kontextgebunden wird es jeweils möglich, eine<br />
27<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
Bestimmung, Abgrenzung und Generalisierung von Kultur<br />
nachvollziehbar zu gestalten und ihre zeitliche und räumliche<br />
Dynamik abzuschätzen.<br />
• Binäre Logik von Ein- und Ausschluss<br />
Da Kulturträger verschiedene Standardisierungen teilen, sind<br />
sie verschiedenen Kollektiven von unterschiedlicher Größe<br />
und in unterschiedlicher räumlicher Kontingenz zurechenbar.<br />
So impliziert das Konzept einer selektiven Kulturregionalisierung<br />
eine globale kulturelle Zusammengehörigkeit in mannigfachen,<br />
jeweils unterschiedlichen Standardisierungen bei<br />
gleichzeitiger Differenz in anderen Merkmalen. Die Zugehörigkeit<br />
oder Nichtzugehörigkeit ist selektiv und führt in Abhängigkeit<br />
vom jeweiligen Kriterium zu jeweils unterschiedlichen<br />
Formationen. Damit erhält die von Kritikern wie Welsch<br />
geforderte Überwindung eines Denkens von Ein- und Einschluss<br />
eine Option, die mit der begrenzenden, interkulturellen<br />
Vergleichspraxis kompatibel ist.<br />
• Fehlende räumliche und sachliche Spezifikation in der<br />
Vergleichspraxis<br />
Als methodologisches Manko der etischen und emischen<br />
Vergleichskonzepte ist neben der räumlichen Prädestination<br />
der Vergleichseinheit wiederholt die inhaltlich-sachlichen Verallgemeinerungen<br />
kritisiert worden. Am Beispiel der Arbeit<br />
Hofstedes lässt sich stellvertretend die Frage aufwerfen, ob<br />
Untersuchungsergebnisse etwa aus einem multinationalen<br />
Computerkonzern auch außerhalb des untersuchten Unternehmens<br />
hinreichende Gültigkeit besitzen und „Kultur“ adäquat<br />
repräsentieren kann (vgl. z.B. Layes 2003, Hansen<br />
2003). Die übliche Forschungsorientierung an nationalen<br />
Grenzen verleiht der Frage nach einer angemessenen Repräsentation<br />
weiteres Gewicht, da die kontextabhängigen Forschungsergebnisse<br />
nun auf die Lebensbereiche eines Landes<br />
ausgedehnt werden. Solange der umfassende Anspruch besteht,<br />
Kulturen über Kulturdimensionen oder Kulturstandards<br />
allgemein und dauerhaft zu repräsentieren, werden diese<br />
Einwände Berechtigung haben. Beschränkt sich der Anspruch<br />
hingegen auf einen spezifischen Bereich (z.B. einen Computerkonzern),<br />
für den die erhobenen Kulturmerkmale ausschließlich<br />
ihre Gültigkeit beanspruchen, dann kann diese Kritik<br />
nicht verfangen. Das Konzept einer selektiven Kulturregionalisierung<br />
reduziert in diesem Sinne seinen Geltungsanspruch<br />
von vorneherein. Im Kontext sachlicher und beliebig<br />
formulierbarer räumlicher Interessen wird deutlich, nach wessen<br />
und welcher Maßgabe Standardisierungen betrachtet<br />
werden. Selektive Kulturräume sind somit Produkte von kontextgebundenen<br />
Differenzierungen, die sich jedoch in dieser<br />
Relationierung empirisch nachvollziehbar gestalten lassen.<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 28
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
5. Anwendungsbereiche und Potenziale selektiver Kulturräume<br />
Die einzelnen sachlichen und räumlichen Interessen, die den<br />
Blick auf Kultur vorgeben, können als spezifischer kulturräumlicher<br />
Kontext bezeichnet werden. Er beschreibt den jeweils<br />
gültigen individuellen Anforderungskatalog einer Regionalisierung.<br />
Er trifft naturgemäß auf vollkommen unterschiedliche<br />
kulturelle Gegebenheiten, die Differenzierungen<br />
erleichtern oder erschweren können.<br />
In dem Versuch, die Regionalisierungsbedingungen für verschiedene<br />
Anforderungen zu schematisieren, werden zwei<br />
Hauptkriterien angesetzt (vgl. Abb. 1): Zum einen gilt es zu<br />
berücksichtigen, wie komplex und heterogen sich der spezifische<br />
kulturräumliche Kontext ausnimmt. Fremdkulturell stark<br />
beeinflusste Kontexte werden eine Differenzierung von Standardisierungen<br />
erschweren und häufig unmöglich machen,<br />
relativ einheitliche Kontexte hingegen erleichtern. Zum anderen<br />
ist für eine Differenzierung bedeutsam, auf welche Raumdimension<br />
mit welcher Anzahl von Kulturträgern das Akteursinteresse<br />
abstellt. Nicht alle kleinräumigen Kontexte mit wenigen<br />
Kulturträgern sind ungeachtet ihrer Differenzierbarkeit<br />
für eine Regionalisierung auch sinnvoll. Beide Kriterien lassen<br />
sich in ihren extremen Ausprägungen kombinieren und in<br />
Hinblick auf eine räumliche Differenzierbarkeit abschätzen.<br />
29<br />
großräumige<br />
Erfassung,<br />
größere<br />
Personenzahl<br />
von der Regionalisierung<br />
betroffen<br />
Regionalisierung von<br />
Unterschieden und<br />
Gemeinsamkeiten nach<br />
„innen“ und „außen“<br />
möglich (Standardisierungen<br />
A-C).<br />
hohe Komplexität,<br />
starke Vermischung<br />
der<br />
relevanten<br />
Eigenschaften<br />
A<br />
B<br />
C<br />
geringe Komplexität,<br />
geringe Vermischung<br />
der<br />
relevanten<br />
Eigenschaften<br />
Regionalisierung von<br />
Unterschieden nur<br />
nach „außen“ möglich;<br />
nach „innen“ Suche<br />
von Gemeinsamkeiten<br />
(Standardisierungen C).<br />
kleinräumige<br />
Erfassung,<br />
nur wenige<br />
Personen von<br />
der Regionalisierung<br />
betroffen<br />
Abb. 1. Kriterien und Möglichkeiten einer selektiven Kulturregionalisierung<br />
Auf der linken Seite des Schemas ist die Kombination von einer<br />
großräumigen, stark generalisierenden Erfassung und einer<br />
geringen Komplexität der kulturellen Gegebenheiten<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
wiedergegeben. Sie begünstigt eine selektive Kulturregionalisierung.<br />
Konzentrierte Standardisierungen können dabei häufig<br />
sowohl nach „innen“ als Unterschiede in einem Untersuchungsgebiet<br />
wie auch nach „außen“ als Gemeinsamkeiten<br />
gegenüber einem abweichend geprägten Umfeld unterschieden<br />
werden. Als interkulturelles Forschungsziel bietet sich die<br />
Erfassung von spezifisch relevanten Gemeinsamkeiten und<br />
Unterschieden in sog. ausländischen, vermeintlich fremdkulturellen<br />
Regionen an, die etwa für das Nachfrageverhalten,<br />
den Umgang mit Behörden, die Bedienung von lokalen Märkten,<br />
die Kundenkontakte oder generell die konfliktfreie<br />
Kommunikation Bedeutung tragen. Während erkannte Gemeinsamkeiten<br />
das Verständnis mit den Interaktionspartnern<br />
grundlegend erleichtern, halten die erkannten Differenzen zu<br />
einem kultursensiblen Handeln und einer Verständnis fördernden<br />
Vermittlung an. Einen zusätzlichen Aufschluss geben<br />
räumliche Kulturunterschiede, wenn es gelingt, ihren Erklärungsgehalt<br />
für bestimmte Fragestellungen einzubringen.<br />
Disziplinübergreifend wird die Forschung in jüngster Zeit verstärkt<br />
auf kulturelle Parameter als Explanans für regionale<br />
(Wirtschafts-)Entwicklung aufmerksam (vgl. z.B. Landes 1999,<br />
Harrison / Huntington 2002, Faschingeder 2004). Eine Erforschung<br />
räumlicher Korrelationen bestimmter Denk- und<br />
Handlungsmuster mit ökonomischen oder auch sozialen Variablen<br />
kann u.a. regionalwirtschaftlichen und entwicklungspolitischen<br />
Fragestellungen zu neuen kulturbezogenen Erklärungszusammenhängen<br />
verhelfen. Gelingt es, die spezifische<br />
Wirksamkeit regional vorherrschender Standardisierungen<br />
aufzudecken, so lassen sich endogene Stärken strategisch<br />
nutzen und relative Schwächen besser bewältigen.<br />
Auf der rechten Seite des Schemas sind thematische Akteursinteressen<br />
wiedergegeben, die sich auf einen heterogenen<br />
und kleinräumigen Forschungskontext mit einer geringen Anzahl<br />
von Personen beziehen. Die Seite beschreibt interkulturelle<br />
Interaktionssituationen, wie sie etwa im innerbetrieblichen<br />
Miteinander von größeren Unternehmen, in multikulturellen<br />
Teams global tätiger Organisationen oder in international<br />
zusammengesetzten Forschergruppen auftreten. Eine<br />
räumliche Erfassung bestehender Unterschiede nach „innen“<br />
ist in diesem Kontext wenig hilfreich. Es besteht aber weiterhin<br />
die Möglichkeit, im Sinne des selektiven Kulturverständnisses<br />
Gemeinsamkeiten zu eruieren, um eine Unterscheidung<br />
nach „außen“, gegenüber einem selektiv unterscheidbaren<br />
„Anderem“ vorzunehmen. Erkannte Gemeinsamkeiten<br />
können hier trotz aller vordergründigen Unterschiedlichkeit<br />
der Betroffenen eine einigende Klammer schaffen. Sie erleichtern<br />
mitunter die Verständigung und bieten Anknüpfungspunkte<br />
für ein kollektives Bewusstsein und eine gemeinsame<br />
Identität.<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 30
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
In das weite Feld zwischen den beschriebenen Polen „Groß-<br />
und Kleinräumigkeit“ sowie „hohe und geringe Komplexität“<br />
lassen sich diverse interkulturelle Forschungsfragen einhängen,<br />
die sich über räumliche Differenzierungen von Kultur viel<br />
versprechend angehen lassen. Im Verständnis des Konzeptes<br />
kann Kultur als charakteristisches Merkmal von Regionen eingesetzt<br />
oder als Merkmal bestehender Regionen hinterfragt<br />
werden. Aufschlüsse über die Wirkung bestimmter Standardisierungen<br />
machen es aussichtsreich, nach der regionalen Verteilung<br />
und Häufung solcher Merkmale gezielt zu forschen<br />
und ihre Grenzen auszuloten, während auf umgekehrtem<br />
Wege die Bevölkerungen ausgewählter Räume nach beliebigen<br />
Kriterien analysiert werden können. Auch die unterschiedliche<br />
Wirksamkeit der Globalisierung lässt sich über<br />
einzelne Standardisierungen und nach individuellen Homogenitätskriterien<br />
differenziert betrachten. Zugleich lassen sich<br />
jene Einflussfaktoren, ob physischer oder anthropogener Art,<br />
regionsspezifisch reflektieren, die einer Uniformierung trotzen.<br />
In allen Fällen ist entscheidend, dass erst über die variierbaren<br />
Raumbezüge die Voraussetzungen erbracht werden, Denk-<br />
und Handlungsweisen aus der traditionellen Verzahnung mit<br />
fixen Kultur-Raum-Einheiten herauszulösen. Erst jetzt können<br />
sie vollkommen variabel auf unterschiedlichste regionale und<br />
sachliche Forschungsanliegen übertragen werden.<br />
6. Fazit: Entgrenzung durch neue Grenzen<br />
Eine Entgrenzung von Kultur ist nur unter Verzicht auf kollektiven<br />
Unterscheidungen zu erreichen. Diese - nicht zuletzt für<br />
die interkulturelle Praxis problematische - Konsequenz ergibt<br />
sich allerdings nur dann, wenn kulturelle Unterschiede auf<br />
holistische Ganzheiten bezogen werden und die Berücksichtigung<br />
von Einzelmerkmalen ausbleibt. Transkulturelle, hybride<br />
oder homogenisierte Kulturphänomene allein geben wenig<br />
Anlass, die Idee räumlich differenzierbarer Kulturunterschiede<br />
konzeptionell zu verwerfen, solange regionale Unterschiede<br />
in einzelnen Standardisierungen fortbestehen und die Kriterien<br />
für diese Unterschiede an den Adressaten ihrer Erfassung<br />
Maß nehmen. Diese Adressaten können aus den Feldern der<br />
interkulturellen Wirtsschaftskommunikation ebenso stammen,<br />
wie aus der interkulturellen Bildungsarbeit, der Mediation,<br />
angewandten Entwicklungsarbeit oder der kulturwissenschaftlichen<br />
<strong>Grundlagen</strong>forschung. Mit den diversen Anwendungsmöglichkeiten<br />
gehen stets unterschiedliche Kulturregionalisierungen<br />
einher, welche die Grenzen traditioneller Kulturzuweisungen<br />
jeweils aufbrechen, präzisieren oder auch in<br />
groben Zügen bestätigen können. Als transnationale oder<br />
31<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
transregionale Formationen stellen sie den üblichen Raum-<br />
und Begriffsbildern alternative Kulturrepräsentationen entgegen,<br />
statt sie immer wieder zu bestätigen. Damit Kollektive<br />
über Standardisierungen nach den verschiedenen Ansprüchen<br />
differenziert werden können, sind neue und ungewohnte<br />
Raum- und Sachbegriffe zur Kulturerfassung einzubringen.<br />
Während in räumlicher Hinsicht das Gesamtinventar geographischer<br />
Positionsbestimmungen offen steht, geht es in sachlicher<br />
Hinsicht um die Aufnahme teils neuer originärer Charakterisierungen.<br />
Auf diese Weise vervielfältigen sich auch jene kulturbezogenen<br />
Grenzziehungen, die allen (emischen oder etischen) Unterscheidungsmethodiken<br />
zugrunde liegen. So bleibt die binäre<br />
Ordnungslogik bestehen, um sich zugleich aber stets im<br />
Zeichen ihrer Pluralisierung zu relativieren.<br />
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© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Scheffer: Entgrenzung durch neue Grenzen: Zur Pluralisierung von Kultur<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 34
The Definition of<br />
Culture:<br />
An application-oriented<br />
overhaul<br />
Prof. Dr. Stefanie Rathje<br />
Professur für Unternehmensführung<br />
und Kommunikation,<br />
Hochschule für Technik und Wirtschaft<br />
Berlin<br />
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
Abstract<br />
This article revisits traditional definitions of culture to establish<br />
a sound criticism of existing coherence-based approaches.<br />
By expanding the one-dimensional concept of culture to a<br />
four-field-matrix, a likewise contemporary and practical concept<br />
of culture is formulated which is also likely to supply reasonable<br />
answers to disputed questions regarding the formation<br />
of cohesion in society. It is finally argued that the prevalent<br />
diagnosis of multicollectivity should be expanded to a<br />
desideratum of radical multicollectivity, the goal of providing<br />
increasing individual access to ever more collectives, leading<br />
to an increase in both social stability and developmental dynamics.<br />
1. The paradigm of coherence in the traditional concept<br />
of culture: that which unifies<br />
Our everyday understanding of culture is characterized by an<br />
expectation of uniformity.<br />
The most common understanding of culture is one that imagines<br />
a high level of internal uniformity within a social system.<br />
Previously, this concept was limited to contexts of ethnicity or<br />
nationality (e.g. "Italians dress smartly"), while today common<br />
characteristics are often ascribed to quite different social<br />
systems of various sizes (e.g."the liberal values of the Christian-European<br />
West," "Our customer-oriented corporate culture,"<br />
"The cooperative leadership culture among women").<br />
These formulations share a similar understanding of culture<br />
as an expression of coherence. The contradictory nature of<br />
these assertions becomes clear when we, for example, meet a<br />
sloppy Italian, when it occurs to us that the local janitor with<br />
dictatorial tendencies is indeed a European, when we reflect<br />
on the immense complexity of international companies, or<br />
even on our authoritarian class teacher who was far from cooperative<br />
and yet a woman, but this does not prevent us<br />
from continuing to seek that which unifies these groups.<br />
The idea of cultural coherence has a long tradition. Herder<br />
imagined cultures based upon a unifying principle he called<br />
the Volksseele ("spirit of the people"), leading to comprehensive<br />
social homogeneity. The works of respected ethnologists<br />
from the first half of the 20th century continued this notion<br />
of uniformity, which led them to define culture in terms of<br />
"internal coherence" (Kluckhohn 1949:35) or as a "consistent<br />
pattern of thought and action" (Benedict 1934:42)<br />
within human groups. Even under later thinkers, culture is<br />
described as the "collective programming of the mind"<br />
(Hofstede 1984:13) or as a "universal organization and typi-<br />
35<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
cal orientation system for a given society" (Thomas 2003:<br />
138). These so-called cultural standards appeared to provide<br />
a consistent description of structured general principles. Coherence<br />
as a sign of culture even drives certain managers<br />
within large corporate organizations as they attempt to standardize<br />
their corporate culture in the name of competitive<br />
advantage (cf. Peter / Waterman 1982) through the establishment<br />
of certain shared assumptions, values and artefacts<br />
(Schein 1995:30).<br />
The concept of cultural uniformity has already been persuasively<br />
criticized within various scientific disciplines<br />
In the field of sociology, Max Weber describes the fragmentation<br />
of social units due to internal functional specialization<br />
into a variety of "of ultimate positions toward the world"<br />
(Weber 1922/1980:499, translation by author). Cultural<br />
transfer research in the fields of linguistics and history has<br />
illuminated "various penetration and adoption processes"<br />
between national cultures (Espagne / Greiling 1996:13) and<br />
reveals national territories to be "artificial things whose own<br />
identity is legitimized not only through the foreignness evident<br />
between the categories of 'at home' and 'abroad,' but<br />
also through the appropriation of particular aspects of that<br />
very foreign thing" (Espagne / Greiling 1996:10). The postmodern<br />
philosophers also recognize a radical plurality of general<br />
cultural principles and lifestyles within contemporary societies<br />
(Lyotard 1986, Welsch 1991).<br />
Subsequently, the bearers of culture to which the concept of<br />
cultural uniformity was usually attached have been dismantled<br />
or "deconstructed." This is especially clear in the narrower<br />
field of postcolonial studies in which cultural phenomena<br />
exist as the results of complex historical processes<br />
(Bhabha 1997:182) and the vehicle of civilization known as<br />
the "nation" is revealed to be a purely discursive construct<br />
(cf. Bhabha 1990). In the organizational sciences the concept<br />
of uniform business cultures is exposed as little more than the<br />
wishful thinking of managers seeking simplicity in a complicated<br />
and even contradictory corporate environment (Martin<br />
1992). Even the assumed bastions of cultural consistency<br />
such as the division of human beings into two discrete gender<br />
groups with certain "cultural" signs has been called into<br />
question as a social construct by feminist research (Butler<br />
2003).<br />
To be able to examine cultural phenomena in an environment<br />
lacking uniformity, therefore, dynamic and highly-flexible<br />
concepts must be employed. Bhabha, for example, describes<br />
such a process in the communicative negotiation that takes<br />
place within cultures in defiance of internal uniformity as<br />
"hybridization" (Bhabha 1997:182ff.). Welsch likewise comes<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 36
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
to the conclusion that cultures are "internally characterized<br />
by the pluralization of possible identities" and externally<br />
show "contours that transcend traditional borders." (Welsch<br />
1995:42, translation by author) As a result, Welsch offers a<br />
new perspective beyond existing limitations of cultural composition<br />
in his formulation of "transculturality."<br />
2. The Stubbornness of the Coherence Paradigm - The<br />
lure of simplicity<br />
"Today [the] assumptions of the traditional concept of culture<br />
have become untenable." (Welsch 1995:39, translation by<br />
author)<br />
Although contemporary scientists - even in unrelated disciplines<br />
- would agree with the above statement, the coherence<br />
paradigm of the traditional definition of culture remains<br />
stubbornly in place. Besides the obvious fact that simple<br />
structures are easier to grasp than complex or even contradictory<br />
ones, two further reasons for the remarkable ‘stickiness’<br />
of the coherence concept must be considered:<br />
Cultural uniformity is politically expedient.<br />
This assertion is nicely illustrated by two opposing concepts<br />
found in contemporary political discourse today, both being<br />
rooted in cultural models based on coherence.<br />
The concept of Leitkultur, introduced by the political scientist<br />
Bassam Tibi (2002), describes the desideratum of a consensus<br />
in social values, that is, a homogeneity of shared values<br />
within a society. The term "German Leitkultur," for example,<br />
has been employed by conservative politicians in Germany in<br />
the context of the immigration debate to elicit feelings of a<br />
disappearing common national tradition and a longing for a<br />
presumably more pristine and homogeneous world.<br />
The multicultural approach, however, frequently associated<br />
with the Canadian philosopher Charles Taylor (1993), is<br />
aimed at the protection and the recognition of cultural differences<br />
by the state. This approach would, at first glance, appear<br />
to stand in clear opposition to demands of cultural uniformity<br />
and the notion of a Leitkultur. The connotations of<br />
exoticism and the implicit fascination with the foreign along<br />
with the strengthening of the rights of suppressed or marginalized<br />
groups have likewise become politically attractive especially<br />
on the political left. Few have made the observation,<br />
however, that multiculturalism is essentially a kind of "Leitkultur<br />
in sheep's clothing." Taylor's understanding of culture<br />
is anchored in the same traditional coherence paradigm, preferring<br />
"substantive agreement on value" and "sufficient in-<br />
37<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
tellectual homogeneity" (Taylor 1991:52) while reducing social<br />
differences to the level of ethnic groups. Individuals are<br />
therefore always the "bearers of one and only one perspective"<br />
(Reckwitz 2001:183). They are unable to deny their<br />
membership in a discrete group, and they are forced to perpetuate<br />
this group's identity for the purposes of cultural<br />
preservation. "As an official codification of identities and traditions,"<br />
multiculturalism demands, "not the preservation of<br />
negotiated forms of mutual recognition" but instead prevents<br />
the "debate between cultural groups regarding accepted or<br />
appropriate interpretations" (Bienfait 2006:38, translation by<br />
author).<br />
In the political context, the implementation of either a Leitkultur<br />
or multiculturalism approach – both of which are obviously<br />
built upon a foundation of culture as coherence – is an<br />
easy one indeed. On the one hand, both can be implemented<br />
in policy without difficulty while both eliminate the need for<br />
potentially difficult discussions with external (i.e. "foreign" or<br />
"incompatible") elements.<br />
Existing criticism of the coherence approach to culture is inadequate.<br />
Another reason for the continued existence of the cultural<br />
coherence paradigm can be found in the very criticism of coherence<br />
itself. As mentioned above, much of the resistance to<br />
coherence as a viable approach to understanding culture rests<br />
upon the work of deconstructionists:<br />
“Unlike those forms of critique which aim to supplant inadequate concepts<br />
with, 'truer' ones, [...] the deconstructive approach puts key concepts‚ under<br />
of 'erasure' [...] But since they have been superseded dialectically, and<br />
there are no other, entirely different concepts with which to replace them,<br />
there is nothing to do but to continue to think with them.” (Hall 1996:1)<br />
The existing criticism of the coherence approach has convincingly<br />
revealed the obsolescence of older definitions of culture<br />
and, at the same time, that of the associated political<br />
structures they support. However, the deconstructionists<br />
rarely offer positive alternative models from which social desiderata<br />
might then be derived.<br />
To the critics themselves, this lack is also frequently evident.<br />
Reactions such as that of Spivak’s Strategic Essentialism approach<br />
(Spivak 1993:3) betray an awareness of the inadequacy<br />
of their intellectual tools, while allowing them to be<br />
employed to offer discriminated groups a purely pragmatic<br />
means to empowerment. Spivak permits, therefore, the use<br />
of deconstructed approaches under certain political circumstances.<br />
In the long term, of course, such a model will remain<br />
ineffective because it describes no mechanisms for social development.<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 38
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
Another attempted solution to the coherence dilemma can<br />
be found in the supporters of hybrid or transcultural approaches.<br />
These perspectives recognize the quite plausible<br />
characterization of culture as a heterogeneous and dynamic<br />
product of communication. Rather than attributing this dynamic<br />
to the myriad influences that cultures exercise upon<br />
one another or through their mutual contact generally, proponents<br />
of the hybrid or transcultural approaches imagine<br />
idealized social and political phenomena: individuals should<br />
recognize that since cultures do indeed flow into and permeate<br />
one another, people should likewise be more tolerant and<br />
open (cf. Mae 2001 on Japanese society). In principle this position<br />
cannot be disputed. However, the illogical linking of a<br />
plausible diagnosis to (perhaps well-intentioned) social desiderata,<br />
it will be shown, ignores the familiar processes of human<br />
group formation while offering in its place little more<br />
than political pandering.<br />
The goal of this article, therefore, will be the establishment of<br />
a sounder criticism of coherence-based approaches and,<br />
linked to this criticism, the formulation of a likewise contemporary<br />
and practical concept of culture which is also likely to<br />
supply reasonable answers to the questions regarding the<br />
formation of cohesion in society.<br />
3. Differentiation of the Cultural - A Practical Analysis<br />
Matrix<br />
A single definition for the concept of culture is insufficient.<br />
The heated debates around "Leitkultur" and "multiculturalism"<br />
reveal the following: the concept of culture is charged<br />
with connotations both of belonging and of disenfranchisement,<br />
of inclusion and of overreaching (cf. Huntington 2006).<br />
When excessively politicized, the term exaggerates each simple<br />
folkloric characteristic into either elite criticism or a threat<br />
of impending loss. The tiny word "culture" bears extreme<br />
burdens of social order as well as delusions of every kind, so<br />
that it is hardly adequate any more for use in reasonable discussions.<br />
As a countermeasure, one could try to reduce the<br />
concept of "culture" again simply to the barest traditions of<br />
discrete groups, but the masking of the social power structure<br />
components that are always present in cultural practices<br />
would then lead to a purely descriptive understanding of culture<br />
that likewise would offer no clues for political action.<br />
If culture as a single concept is pitched either too far or too<br />
narrowly, it becomes unsuitable for social debate. Therefore,<br />
in the following description, broader conceptual categories<br />
will necessarily be juxtaposed with the word "culture" in an<br />
39<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
effort to formulate a more practical approach to the term.<br />
The inclusion of additional aspects provides an opportunity to<br />
reduce the overinflated idea of "culture" to a manageable<br />
scale and forms a more differentiated basis for further investigation.<br />
In addition to standard cultural customs, an applicationoriented<br />
cultural concept must also consider the collective<br />
aspects of belonging and participation.<br />
The first conceptual addition which seems necessary in the<br />
reworking of the general understanding of culture is the<br />
broadening of the cultural perspective of human coexistence<br />
to include a collective perspective. Collectivity will here refer<br />
to the "formal and structural" aspects of human groups<br />
(Hansen 2009, translation by author). Employing this approach,<br />
the "cultural" can then be (carefully and selfconsciously)<br />
reduced to its content, to the "customs" (or<br />
"habits" as in Tylor 1871:1) of individuals in interaction. This<br />
distilled understanding of culture is related to the pragmatic<br />
approach of Wittgenstein in which culture is most evident<br />
where one finds "shared practices" (Welsch 1995:43). The<br />
emphasis on customs and habits is a broad formulation and<br />
includes cognitive resources such as common knowledge references<br />
(Wissensvorrat) as well as patterns of behavior. Such<br />
customs may be inconsistent or even contradictory while being<br />
constantly subject to change. It is not necessary for the<br />
members of certain collectives to internalize these habits, nor<br />
do they have to be put into practice or even be generally accepted.<br />
In order for them to be called "culture," habits simply<br />
need to be familiar to the individuals in interaction. In contrast<br />
to personal idiosyncrasies, cultural peculiarities are a plural<br />
phenomenon. Culture begins, therefore, where people<br />
interact in groups. It ends with the characteristics of the individual.<br />
In order to defend such a pared-down formulation of culture<br />
against accusations of simplicity or naiveté, it must be supplemented<br />
by a collective perspective which itself deals (in<br />
contrast to the simple group customs) with issues of group<br />
affiliation. Which criteria are employed to determine whether<br />
an individual is accepted as a legitimate and respected member<br />
of a group, a collective, or a society? Who possesses the<br />
authority and the influence to make such a decision, and<br />
conversely who lacks the same authority? Who controls access<br />
to the resources that empower people to make such decisions?<br />
Questions of affiliation and participation have frequently<br />
been at the center of cultural criticism. Bourdieu's capital<br />
theory with its description of the malleability of economic,<br />
social, and symbolic capital delivers a set of tools useful in the<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 40
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
explanation of social power differences arising from the unjust<br />
distribution of cultural authority (Bourdieu 1982). Fraser's<br />
model of status recognition likewise distinguishes the authority<br />
of economic exclusion from its cultural value hierarchy in<br />
the disenfranchisement of certain groups despite their possession<br />
of economic capital (Fraser 1995).<br />
These and similar attempts will not be treated here in detail.<br />
What is, however, crucial for the development of an application-oriented<br />
concept of culture is, above all, the division between<br />
an understanding of culture at the level of cultural customs<br />
and the related collective perspective at the level of belonging.<br />
Such a division is, of course, problematic since cultural<br />
practices as communicative codes always contain relationship<br />
cues that reach back to the collective level. Nevertheless,<br />
this division seems to be necessary from a theoretical<br />
perspective, since both levels do not necessarily develop in<br />
concert. Cultural customs can influence collective affiliations,<br />
however - as in the example of purely economic access conditions<br />
to groups –they do not necessarily have to. Furthermore,<br />
group theory demonstrates that shared cultural characteristics<br />
are not a prerequisite for the development of a group<br />
identity and the resulting phenomena of exclusion and devaluation<br />
of outsiders (Tajfel 1982).<br />
Also from a practical standpoint, the separation of cultural<br />
and collective perspective makes sense because their mixture<br />
frequently leads to impasses in discussions of social matters.<br />
This is well illustrated by the recent headscarf (hijab) debates<br />
in France and Germany, for example. A headscarf can act, of<br />
course, on the level of the cultural, simply as a practical article<br />
of clothing like a baseball cap, protecting the individual who<br />
wears it from sun, wind, or rain. It may be nothing more than<br />
a fashionable accessory that fits nicely with the other articles<br />
of clothing an individual chooses to wear or, like a turban or<br />
a hood in certain instances, may indicate an adherence to<br />
certain religious doctrines. On the collective level, the headscarf<br />
may be interpreted like the team scarves common<br />
among European football fans as a tangible political sign of<br />
affiliation with a specific group or the rejection of another.<br />
The social debate on this topic is seldom about the cultural<br />
custom of wearing a certain type of clothing, but rather<br />
about its assumed symbolic power, signifying either the demarcation<br />
of one group or the oppression of another. Mixing<br />
the cultural and collective levels leads to passionate discussions<br />
about headscarf bans (a serious encroachment into the<br />
cultural level), thus preventing - at the collective level - the<br />
necessary political examination of the suspected underlying<br />
problem: the social marginalization or oppression of groups.<br />
41<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
An application-oriented concept of culture must furthermore<br />
distinguish between plural and individual perspectives.<br />
Supplementing an understanding of the cultural with the collective<br />
alone does not supply a sufficient theoretical approach<br />
for a more sophisticated criticism of the coherence-based understanding<br />
of culture. Because culture, as explained above,<br />
refers to individuals in the plural, the traditional perception of<br />
culture often excludes the individual completely from examination.<br />
It thus avoids dealing with the dilemma that on a<br />
group level, the concreteness of cultural phenomena cannot<br />
be denied, while each individual member of a culture, however,<br />
is equipped with the freedom to process those cultural<br />
offers in a completely unique way.<br />
The reduction of culture to the plural perspective alone hence<br />
encourages the well-justified criticisms of essentialism and<br />
totalitarianism. The radical deconstruction of culture as a collective<br />
phenomenon to a form that allows only individual<br />
claims elicits, however, accusations of naiveté, as it neglects<br />
the hard factors of collective membership.<br />
Therefore, an application-oriented concept of culture must<br />
acknowledge the fact that belonging to specific cultures<br />
bears great influence on the individuals, but this influence is<br />
in no way deterministic. "Every element of a group (is) not<br />
only the member of a society, but is moreover, something<br />
beyond that " (Simmel 1983:283, translation by author), the<br />
individual is never completely subsumed in the group. It is,<br />
instead, "simultaneously inside and outside" (Ritsert<br />
2000:71). To adequately illustrate this dialectic of individual<br />
and group, hence, the traditional plural perspective of culture<br />
must be supplemented (and not replaced) by an individual<br />
perspective.<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 42
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
Exh. 1: Culture as a matrix – The expansion of the traditional usage of<br />
the term "culture" to include the collective and individual perspectives<br />
Considering these terminological requirements of the word<br />
culture, the result is not a single definition of the word that,<br />
as has been shown here, will be either too narrow or too<br />
broad. What becomes clear instead is in one sense an expansion<br />
of the scope of the cultural to include the collective. In<br />
another sense, the standard plural understanding of culture<br />
will include the individual as well. Culture as a complex holistic<br />
phenomenon can then be analyzed through the use of the<br />
four-field matrix shown above. Employing this tool, questions<br />
regarding the customs of certain collectives are addressed in<br />
the cultural/plural field while the collective/plural field can be<br />
used to investigate the rules of membership and participation<br />
in collectives. The cultural/individual field is dedicated to the<br />
interdependencies between individuals and culture, while the<br />
collective/individual field describes the individual's membership<br />
in discrete collectives. This article will demonstrate that<br />
such a differentiation of culture (rather than reliance on a<br />
one-dimensional definition) allows a much more precise description<br />
of cultural phenomenon while furthermore providing<br />
a more sound critical foundation against the traditional<br />
coherence-oriented understanding of culture.<br />
4. Revision of the Coherence Paradigm - Almost Completely<br />
Wrong<br />
In order to more clearly understand the mistakes of traditional<br />
interpretations of the term "culture," the assumptions<br />
of the existing coherence paradigm will be applied to each of<br />
43<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
the single fields in the four-dimensional matrix. The second<br />
step then will be to replace the inadequate answers with<br />
more viable models.<br />
The traditional understanding of culture is characterized by<br />
congruence between the cultural and collective levels.<br />
Initially, it must be said that the traditional understandings of<br />
culture do not address the differentiation between the level<br />
of customs and that of membership or affiliation. Instead, a<br />
great deal of congruence between culture and collective is<br />
assumed. This then leads to the assumption that, on the one<br />
hand, customs or traditions end where the collective ends,<br />
while on the other hand there is little overlap between collectives<br />
and therefore smaller collectives arise within larger ones.<br />
This approach then assumes that a certain collective, like the<br />
German nation for example, could be adequately understood<br />
through certain attributes that are common to all Germans<br />
and are shared by members of no other collectives. Furthermore,<br />
one could claim that membership in a certain collective<br />
– a Bavarian shooting club, for example – necessitates the<br />
membership in certain other collectives as well: in this example,<br />
the Catholic Church, adult men, the Bavarian conservative<br />
political party, and fans of folk music.<br />
The plural perspective of the traditional concept of culture is<br />
marked by internal coherence as well as border coherence.<br />
Because the congruence of the cultural and collective levels is<br />
frequently assumed, findings that originate in a traditional,<br />
coherence-based understanding of culture are often the same<br />
for both levels. It is then often assumed that collectives and,<br />
by extension, cultures, are characterized by very clear and<br />
non-porous borders to other collectives and cultures. This will<br />
hereafter be referred to as border coherence. In the context<br />
of cultural customs, there is an expectation of homogeneity<br />
and assumed acceptance that hereafter will be referred to as<br />
internal coherence. According to these premises, it is not only<br />
absolutely clear who is German and who is not, who is a Berliner<br />
and who is not, who is a police officer and who is not,<br />
but it is also clear what values or behavior each group will<br />
display. According to the traditional understanding of coherence,<br />
therefore, if it says "German," "Berliner," or "police<br />
officer," on the package, there must be a "German," "Berliner,"<br />
or "police officer," inside.<br />
Internal coherence is assumed to be the foundation of cultural<br />
continuity.<br />
The traditional coherence paradigm further extends the diagnosis<br />
of internal coherence to include the idea of coherence<br />
in attitudes or behavior as a necessary demand to preserve<br />
the group’s continuity. This notion has become especially ap-<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 44
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
parent in the recent Leitkultur debates in Germany. On the<br />
one hand, it is postulated that a certain system of values actually<br />
exists to which everybody who can be identified as<br />
German subscribes. On the other hand there is a demand<br />
that everyone recognize this canon of values since failure to<br />
do so would lead to German culture going downhill. Another<br />
illustration of this same perspective can be found in the context<br />
of corporate culture that on the one hand presents itself<br />
in terms of coherence ("Our company is marked by certain<br />
values which all our employees share") while at the same<br />
time demanding that internal coherence be practiced ("Our<br />
enterprise can only be successful if all our employees live our<br />
culture") (cf. Rathje 2009 for a detailed representation of the<br />
coherence paradigm in the corporate culture debate). The<br />
logical contradiction contained in the above statements that<br />
indeed something self-evident cannot be demanded at the<br />
same time is simply ignored.<br />
The individual perspective of the traditional concept of culture<br />
is marked by primary collectivity and attributive congruence.<br />
As has already been demonstrated, the traditional understanding<br />
of culture is rarely concerned with the role of the<br />
individual. Accordingly, its findings concerning the individual’s<br />
perspective turn out to be quite simple.<br />
At the level of the collective, the traditional perspective prefers<br />
a diagnosis of primary collectivity which can be imagined<br />
as the individual's main collective allegiance – normally understood<br />
as the membership in a national collective. This assumption<br />
is so deeply rooted in daily experience that it is<br />
rarely questioned. Management guidebooks offering intercultural<br />
advice, for example, typically describe the "Czechs" or<br />
the "Chinese" without considering other group memberships<br />
such as academics, blue-collar workers, philosophers, engineers,<br />
thirty-somethings, or retirees. The German son of Vietnamese<br />
immigrants, for example, despite his passing of the<br />
bar exam, years of work in national politics, and lacking any<br />
experience with the homeland of his parents will still be<br />
asked by interview partners how he can cope with being<br />
"Vietnamese" in Germany. Even theoretical approaches like<br />
multiculturalism are founded upon the same primary collective<br />
assumptions in which an individual is assigned to one<br />
single collective.<br />
At the cultural level, the traditional understanding presumes<br />
an observable attributive congruence in the individual. This is<br />
the assumption that since the characteristics within a collective<br />
are themselves coherent and furthermore, since an individual<br />
belongs primarily to one collective, it must follow that<br />
the characteristics of an individual are compatible with his or<br />
45<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
her primary collective. Therefore, knowing that someone has<br />
grown up in the tradition of the "Christian/European West",<br />
certain assumptions could be made regarding his or her opinions<br />
on parliamentary democracy or on the Ten Commandments.<br />
Although this assumption would be rejected by most<br />
people as a terrible generalization, it dominates our day to<br />
day understanding of culture. It forms the basis for political<br />
assumptions comparable to the "Leitkultur" model and<br />
sometimes fosters some odd offspring indeed. In an informal<br />
study carried out by a television station on the quality of pizzerias<br />
in Berlin, for example, only the nationality of the cooks<br />
was examined based on the assumption that only Italian<br />
cooks – and all Italian cooks without exception – would be<br />
capable to make a reasonable pizza dough.<br />
Exh. 2: The coherence paradigm in the traditional concept of culture<br />
The following segment will be dedicated to the revision of<br />
the traditional concept of culture and its representations of<br />
border coherence, internal coherence, primary collectivity and<br />
attributive congruence.<br />
The relationship between cultures and collectives is characterized<br />
by incongruence.<br />
The starting point for this critical discussion will be an examination<br />
of the assumption of congruence between cultures<br />
and collectives. As mentioned above, there is already substantial<br />
evidence found, for example in the fields of Cultural and<br />
Post-colonial Studies, for the mutual influence and interpenetration<br />
of human customs. Such customs are not bound by<br />
the borders that tend to be drawn around discrete collectives.<br />
Likewise, these customs are not exclusively attached to certain<br />
collectives, but instead permanently branch out, evolve,<br />
fray, and create hybrid forms. They are capable of practically<br />
everything except for stopping at the borders between collectives.<br />
The well established concepts of interculturality and<br />
transculturality, which themselves were created in order to<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 46
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
illustrate and describe the processual nature of culture, are<br />
actually tautological terms since cultural processes always occur<br />
"between" or "through" others. The effects of such interaction<br />
are amplified today in an environment rich with<br />
novel opportunities for collective membership and collective<br />
cross fertilization. While it may have been possible in the past<br />
to assume that a West German coal miner will vote for the<br />
social democratic labor party, increasing social variety, geographical<br />
mobility, and access to global communication networks<br />
cause the borders of collectives to shift and overlap:<br />
Not all Bavarian Catholics will vote for the Bavarian Christian<br />
conservative party. Brazilian teenagers go crazy for a German<br />
pop group whose style is rooted in a Japanese youth movement.<br />
A woman and an African American can become the<br />
German chancellor or the US president. The assumption of<br />
congruence between collective and culture has simply become<br />
untenable.<br />
Differentiation and multicollectivity must be accepted as<br />
characteristics of a viable concept of culture rather than internal<br />
coherence and primary collectivity.<br />
Further analysis of the traditional concept of culture within<br />
the four-field matrix will begin in the "cultural/plural" field<br />
which has typically been characterized by a coherence of collective<br />
customs. This assumption has already been dislodged<br />
by the existing critique of the coherence concept. Acknowledged<br />
approaches that describe the development and perpetuation<br />
of culture - the concept of "cultural memory"<br />
(Assmann 1992) for example - have demonstrated that members<br />
of a culture have access to a heterogeneous pool of cultural<br />
resources. Depending on current needs of their groups<br />
they recall pieces of the past respectively. The content of a<br />
culture at any given moment can therefore never be categorized<br />
as coherent.<br />
This principle can be illustrated with the variety of political<br />
orientations within a society. When, for example the various<br />
parties in Germany - including banned parties - recall elements<br />
of their common past, they reflect a wide spectrum of<br />
political orientations that influence German socio-political life.<br />
If, on the one hand, the German political landscape and the<br />
parties that inhabit it can be considered an integral component<br />
of German culture, it must also be accepted on the<br />
other hand that a fundamental feature of this culture is internal<br />
differentiation. This proof of heterogeneity, contradiction,<br />
and variety among the cultural customs also finds application<br />
in all other contexts of human interaction. Fundamental differentiation,<br />
therefore, must be recognized as a counterthesis<br />
to any postulation of internal coherence.<br />
47<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
The claim of differentiation as a characteristic of cultural customs<br />
is closely related to the developments in the field of individual<br />
collective membership. While the traditional concept<br />
of culture understood this relationship between individuals<br />
and their collectives to be one marked by primary collectivity,<br />
the accelerating increase in the number of available collectives<br />
and their mutual influence demands a fundamental revision<br />
of this perspective. In the past, if an individual were born<br />
into a specific collective, he or she - under normal circumstances<br />
- would remain there as one of its members. Today it<br />
is increasingly difficult to predict how many or precisely to<br />
which collectives an individual may belong. Membership in<br />
the collective "German professors," for example, does not<br />
allow for further assumptions about whether a member of<br />
that collective also belongs to the collective of "news magazine<br />
readers," and/or "tabloid readers;" whether he or she is<br />
part of the "classical music fan" collective and/or the "rock<br />
music fan" collective. An American hedge fund manager can<br />
be an active member of the Catholic Church, he can vote<br />
left-progressive, and in his free time take a course in gourmet<br />
cooking with a world-famous French chef. Hansen terms the<br />
rather simple assumption that an individual belongs to many<br />
collectives at the same time "multicollectivity" (2000: 196).<br />
This finding is opposed to traditional models that prefer primary<br />
collectivity. Taken to its logical conclusion, the model of<br />
multicollectivity leads away from monolithic and essentialist<br />
views of individual identity that appears to be constantly endangered<br />
by variety and contradiction. Instead, multicollectivity<br />
offers an additive understanding of collective membership<br />
and cultural practices. Individuals are able to add collective<br />
memberships and cultural customs without having to sacrifice<br />
existing ones.<br />
Collective cohesion is nourished by an individual's multicollective<br />
identification with a variety of groups and the resulting<br />
familiarity with differences.<br />
While the traditional concept of culture looks to internal coherence<br />
as a source of stability, a revised understanding of<br />
culture, which assumes differentiation among cultural customs<br />
and individual multicollectivity, must find new explanations<br />
for the apparent cohesion of groups. The intuitive plausibility<br />
of the traditional perspective ("The more alike we are,<br />
the less likely there will be conflicts."), a familiar assumption<br />
easily gained from personal experiences in small groups like<br />
bowling clubs or work teams, certainly makes the exploration<br />
of questions regarding the cohesion of complex collectives be<br />
they businesses or nations very difficult indeed.<br />
Nevertheless, closer consideration reveals that the sources of<br />
cohesion are to be found precisely in the concepts of multi-<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 48
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
collectivity and differentiation themselves. In this way the organizational<br />
sciences long ago were able to demonstrate that<br />
individuals who simultaneously belong to several organizational<br />
entities act as "Linking Pins" (cf. Likert 1967) between<br />
the groups they represented. Accordingly, individual multicollectivity,<br />
through its very variety, provides a network-like stability<br />
of greater group connections (Hansen 2000:196f.). Recent<br />
organizational science has furthermore been able to<br />
prove that familiarity with cultural differences forms a stable<br />
basis for organizational cohesion (cf. Rathje 2004). Transferred<br />
to a social context, these findings would indicate that<br />
it is not the internal coherence of customs that is vital for cohesion,<br />
but rather the familiarity with the differences creating<br />
a framework of normality that alone is sufficient for identification:<br />
"We recognize [...] [divergent] points of view, and<br />
when we hear them, we know that we are at home" (Hansen<br />
2000:232, translation by author).<br />
Radical individuality is the result of differentiation and multicollectivity.<br />
Adhering to the claims of cultural differentiation and multicollectivity,<br />
attachments to the traditional assumptions regarding<br />
individual attributive congruence must also be abandoned.<br />
The fact that individuals are simultaneously part of numeous<br />
collectives that produce divergent cultural practices will result<br />
in a radically individual processing of cultural offers due to<br />
reciprocal interaction with their unique biological and biographical<br />
foundations.<br />
In this way, the collective memberships of an individual only<br />
allow for the conclusion which cultural practices that individual<br />
is familiar with, which patterns of behavior or rational<br />
concepts he or she is conversant with. What that individual<br />
makes of this peculiar constellation of influences, however,<br />
remains an open question. It is possible, for example, that a<br />
middle-class youth who takes cello lessons and learns Latin<br />
may grow up to become a star lawyer or possibly an urban<br />
squatter. A civil servant might begin as an idealistic patriot<br />
who thrives in the bureaucratic process or else he might secretly<br />
despise the inefficiency of the system and dream to<br />
himself of revolution.<br />
Furthermore, studies on the effects of migration show that<br />
effectively processing cultural differences may not be the<br />
challenge it seems to be at first glance. Instead it belongs to<br />
an individual's "daily bread" of self-assurance and shaping<br />
one’s identity. Thus the navigation of contradictory cultural<br />
norms or values by no means leads to confusion or disorientation<br />
(Auernheimer 1988, Hill 1990). It only becomes stress-<br />
49<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
ful or otherwise burdensome if accompanied by discrimination<br />
or disenfranchisement on the collective level (Badawia<br />
2002).<br />
The diagnosis referred to as border coherence must be retained<br />
in its traditional form.<br />
After internal coherence, primary collectivity and attributive<br />
congruence are replaced by differentiation, multicollectivity<br />
and radical individuality, the collective/plural field still remains<br />
to be examined.<br />
The traditional concept of culture postulated the existence of<br />
border coherence, that is, the assumption that collective<br />
membership (but not cultural membership) is unambiguously<br />
regulated. Unfortunately, no modifications to this approach<br />
can be made within the broad revision of the traditional concept<br />
of culture. The diagnosis of cultural differentiation, multicollectivity,<br />
and radical individuality do not allow the borders<br />
between collectives to be seen as blurrier, more porous or<br />
even non-existent. Precisely this was the greatest flaw in recent<br />
coherence criticism: the posit of free-floating collective<br />
membership means throwing out the baby with the bath water.<br />
In order to be part of a culture, it is sufficient to be familiar<br />
with that culture's customs. In order to be the member of<br />
a collective, palpable criteria must be fulfilled.<br />
Groups attach quite varied (explicit or implicit; standard or<br />
erratic) requirements to the membership and acceptance of<br />
the individuals within them. The investment in appropriate<br />
clothing or a cool story, for example, might gain an individual<br />
access to an exclusive club. A person's gender might support<br />
preferred placement in high-level management. Having academic<br />
parents facilitates access to higher education later in<br />
life. The result, however, the granting of recognition, participation,<br />
and respect is always unambiguous: one is either part<br />
of the collective or one is not. The mechanisms that, on the<br />
level of culture, are complex and blurry, following a kind of<br />
"x as well as y" logic, are indeed quite well-defined on the<br />
level of the collective. An individual can simultaneously be the<br />
member of many collectives, he or she can lose or refuse<br />
membership, but the same individual cannot be simultaneously<br />
part of and not part of the same collective. Either he<br />
has access to the group or he does not. Either she is accepted<br />
or she is not. Although the coherence paradigm is an obsolete<br />
tool in the understanding of culture it retains its usefulness<br />
in a collective context. Cultures overlap, intertwine, and<br />
influence one another, but the borders drawn by collectives<br />
are firm.<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 50
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
Exh. 3: Diagnoses of a contemporary concept of culture<br />
5. Conclusions - the levers of radical multicollectivity<br />
The expansion of the traditional, one-dimensional concept of<br />
culture to include three other fields in a larger matrix has enabled<br />
a thorough revision of the coherence paradigm. In the<br />
segment to follow it will become clear in what ways this new<br />
understanding of culture can be put to use in practical discussions<br />
of social issues. Special emphasis will be placed on<br />
much-discussed issues related to migration. An applicationoriented<br />
concept of culture must be able to supply substantial<br />
starting points for the creation of more humane social conditions.<br />
The question then becomes, in which of the four fields<br />
of the matrix political efforts can be enacted to strengthen<br />
social cohesion.<br />
Encroachment on the cultural/plural field is illogical and counterproductive.<br />
The concept of Leitkultur is associated with the cultural/plural<br />
field and requires internal coherence or the adaptation of a<br />
certain group's customs to the customs of the supposed majority<br />
in the larger population. This demand for adaptation<br />
goes beyond the mere observance of laws that apply to every<br />
member of a society. Instead, it requires the acceptance of<br />
certain opinions, positions on specific issues, expressive fluency<br />
or even the acquisition and presentation of certain<br />
clothing styles.<br />
Irrespective of the fact that such an approach that embraces<br />
uniformity is to be rejected under the diagnosis of differentiation,<br />
there are additional arguments against attempts to exert<br />
influence over the cultural/plural field.<br />
Ethically such encroachment should be considered extremely<br />
problematic simply because it would represent an inadmissi-<br />
51<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
ble interference with the freedom of various groups to establish<br />
their own lifestyles.<br />
Here Habermas speaks of a "decoupling" of two "levels of<br />
integration:" a political level that protects legal behavior, and<br />
a cultural level. Only at the first level, a constitutional state<br />
may exercise influence, or demand conformity from its citizens<br />
(Habermas 1993:183ff.). Demands that themselves secure<br />
"the dominance of a particular Leitkultur," (Bienfait<br />
2006:157) however, must be recognized as fundamentally<br />
illegitimate.<br />
The recent example of the debates on headscarf bans in several<br />
European nations illustrates this fact especially clearly.<br />
The intention of a woman wearing a headscarf - how freely<br />
or how unwillingly she wears the garment and furthermore<br />
how this act is publicly interpreted is neither possible to determine<br />
nor is it justifiable. Even arguments of unjust oppression<br />
must end at the woman's own undeniable claim of individual<br />
autonomy. Otherwise, extending the faulty logic, unhealthy<br />
high-heeled shoes would also have to be forbidden<br />
arguing that they express women's status as victims of male<br />
sexual domination (despite the fact that they subject themselves<br />
to this obvious torture quite willingly) limiting their perception<br />
so strongly that they wear their chains with pride.<br />
The rejection of organized interference on the level of culture<br />
should not lead to the assumption that cultural practices of<br />
all kinds should be embraced and are themselves off limits to<br />
criticism. On the contrary, cultural customs on the collective<br />
level frequently represent, as should already be quite clear, an<br />
expression of the dominance of one group over another.<br />
Nevertheless, changes in one group cannot be accomplished<br />
through the interference of another. Ethical considerations<br />
aside, such attempts have a specific practical limitation: they<br />
don’t work. Social-psychological theories on the formation of<br />
social identity and group conflict (among others Tajfel /<br />
Turner 1995) prove convincingly that interventions at the cultural<br />
level lead to defensive actions within the subordinate<br />
group, accompanied by feelings of inferiority and separation<br />
from the dominant out-group. Typical consequences include<br />
an increased demand for internal conformity, disruption of<br />
communication and radicalization by depersonalizing the outgroup.<br />
Interference on the cultural level, therefore, typically elicits<br />
the opposite of what was intended.<br />
Approaches in the cultural/individual field possess a patronizing<br />
character.<br />
The same is true of potential approaches in the cultural/individual<br />
field. It has already been shown that the re-<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 52
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
sults of radical individuality originate in the unique processing<br />
of exposure to cultural differentiation. This can be considered<br />
as an individual's own initiative that "can neither be collectively<br />
shaped nor influenced politically" (Bienfait 2006:172,<br />
translation by author). This finding contradicts traditional<br />
multicultural perspectives that "cultivate political care of the<br />
individual identity and hold the government responsible for<br />
the successful self-discovery of the individual" (Bienfait<br />
2006:172). Instead, the individuals create their own identities.<br />
The well-known idea postulated by so many social scientists<br />
(cf. Wierlacher 2003) of something “third” evolving from the<br />
processing of two opposites is thus neither necessary nor<br />
helpful. To find their own identity, individuals need no "third<br />
spaces" (cf. Bhabha / Rutherford 1990) or "third chairs"<br />
(Badawia 2002) which implicitly recognize the outdated<br />
models of primary collectivity and internal coherence. Individuals<br />
add memberships and process cultural practices attached<br />
to them into something unique. Employing the above<br />
metaphors, they are constantly adding new space and stacking<br />
multiple chairs onto one another. Any efforts to interfere<br />
externally will be interpreted as a form of paternalism.<br />
Influence in the collective/plural field possesses a purely appellative<br />
character.<br />
Having demonstrated that interference with the cultural level<br />
is doomed to fail, the same must be said of any intervention<br />
in the collective/plural field. This has been the classical domain<br />
of critical theory that defends its position against the<br />
diagnosis of border coherence with its demands for equal<br />
discourse in the absence of dominance or oppression.<br />
As noble and desirable as the demands of critical theorists<br />
are, they do not promise to be ever successful, because they<br />
fight against social conditions that appear to be a universal<br />
product of human group processes and thus cannot simply<br />
be abolished. Political influence in the collective/plural field<br />
that seeks to limit group dominance and in turn demands<br />
tolerance and openness has thus often been accused of encouraging<br />
"discursive civil utopia" (Eder 1995:276) lacking<br />
practical solutions:<br />
"The public discussion forums are not openly accessible, nor are the institutionalized<br />
decision processes themselves free of bias or party influence. One<br />
reason for the problems of recognition and acceptance is that the public<br />
debates are characterized by political marginalization which itself excludes<br />
any objection and contradiction of the subordinate group in question."<br />
(Bienfait 2006:153, translation by author)<br />
Reasonable approaches promote multicollectivity.<br />
Finally, we are left with a single field in which external political<br />
influence may indeed be possible: the collective/individual<br />
53<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
field. While it seems impossible to change the amoral rules of<br />
collective membership, it may indeed be possible to offer an<br />
individual access to a broader range of collectives. The diagnosis<br />
of multicollectivity is thus expanded to the desideratum<br />
of radical multicollectivity, the goal of providing increasing<br />
individual access to ever more collectives.<br />
Multicollectivity as a goal then offers an effective diagnostic<br />
foundation for the evaluation of political efforts. Concepts<br />
worthy of political support therefore, are those that promote<br />
and expand an individual's inclusion into additional groups.<br />
Conversely, programs that prevent or limit individual access<br />
to certain collectives should be recognized as counterproductive.<br />
Accordingly, the existence of certain concentrations of ethnic<br />
or other groups - Turkish communities or graduate student<br />
housing - is to be considered as "neutral" in a multicollective<br />
sense, as long as members of these groups have the ability<br />
and means to come and go freely. A demand for political action<br />
arises when it comes to a concentration of poverty and<br />
high crime rates preventing e.g. children from getting access<br />
to higher education and thus isolating and locking them out<br />
from membership in a range of collectives from the start. Encouraging<br />
access to civic activities by, for example, promotion<br />
of plural citizenship represents an effort to increase multicollectivity<br />
and therefore should be worthy of support. Forbidding<br />
the headscarf, on the other hand - irrespective of the<br />
previous discussion of the ineffectiveness of manipulation on<br />
the cultural level - should be recognized as a mistake, since it<br />
would lead to the elimination of access for a certain group (in<br />
this case women) to certain social functions (schools and public<br />
places). Efforts to bring children of different social and national<br />
background together in common projects - be they violin<br />
lessons, soccer matches or even efforts to encourage girls<br />
to become more active in math and science - should be encouraged<br />
as they foster multicollectivity without disenfranchising<br />
other groups, and so forth.<br />
As a political concept, the encouraging of multicollectivity<br />
fosters and accelerates a variety of desirable social processes.<br />
Multicollectivity, on the one hand, provides stability and cohesion.<br />
As the collective memberships of a single individual<br />
increase, the stabilizing strength of the collective network<br />
likewise increases. The familiarity of the cultural differences<br />
within society is multiplied and the likelihood that another<br />
individual will be looked upon as a possible member of a<br />
shared collective is also intensified. Tolerance and willingness<br />
to compromise rise accordingly since individual radicalization<br />
is only possible through extreme limitation of collective membership.<br />
It is no accident, for example, that cults and terrorist<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 54
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
organizations isolate their members and prevent them from<br />
engaging with groups outside their own.<br />
On the other hand, encouraging multicollectivity increases<br />
the developmental dynamic of a society. The more access individuals<br />
have on the collective level to a wide variety of social<br />
groups, the more intensive the competition among cultural<br />
customs will become. The expansion of access to collectives<br />
allows individuals to develop familiarity with alternative<br />
ways of life leading to a constant examination of one's own.<br />
They are provided with the possibility to autonomously appropriate<br />
something that fits or reject it if it doesn’t. Thus,<br />
the selection of customs that themselves have been able to<br />
withstand repeated testing is accelerated. Collectives, then,<br />
that are committed to their own customs (and which collective<br />
isn’t?) cannot rely on missionary work to persuade others.<br />
They can instead offer access to others and trust that<br />
their practices will prevail when they are made known and<br />
acquire a level of familiarity. Likewise, they must accept if this<br />
does not happen. For radical multicollectivity cannot be ideologically<br />
manipulated: The result of expanded collective<br />
membership always remains open and its effect on the individual<br />
stays radically individualized.<br />
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57<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Rathje: The Definition of Culture: An application-oriented overhaul<br />
Acknowledgement<br />
The author wishes to thank Dr. James McDonald (University<br />
of Jena) for his translation support.<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 58
Kann man komplexe<br />
transnationale Kollektive<br />
beschreiben ohne unzulässig<br />
die Komplexität zu<br />
reduzieren?<br />
Einige Anregungen zu<br />
einem neuen Modell zur<br />
Kollektivbeschreibung<br />
Mario Schulz<br />
Forschungsstelle<br />
<strong>Grundlagen</strong> <strong>Kulturwissenschaft</strong><br />
Passau<br />
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
Abstract<br />
The question how to describe complex collectives without<br />
unduly reducing their complexity gains in importance when<br />
dealing with transnational expert committees that are<br />
developing outputs with high societal relevance.<br />
This article takes the example of the German-Czech and<br />
German-Slovak historics commission to examine the mode of<br />
operation in such organizations and explains how complex<br />
collectives can produce robust solutions, that have not been<br />
possible in usual political interaction.<br />
Based on Hansen’s concept of collectives the author suggests<br />
a new model to describe the functioning of complex<br />
collectives that stays manageable while not falling into the<br />
trap of oversimplifying interactional dynamics.<br />
1. Problemstellung<br />
Im Zuge weltweiter politischer, sozialer und ökonomischer<br />
Verflechtungstendenzen entstanden als eine Folge in den<br />
letzten Jahren komplexe transnationale Kollektive aus Wissenschaftlern,<br />
deren primäre Aufgabe es ist, tragfähige Lösungen<br />
für aktuelle Herausforderungen zu erarbeiten. Neben<br />
den klassischen (internationalen) Politikfeldern 1<br />
, wie z.B. Umwelt,<br />
Energie und Sicherheit (Windhoff-Héritier 1987:21ff.),<br />
in denen die Expertise sogenannter Expertenkommissionen<br />
(zur allgemeinen Systematik siehe weiter bei: Siefken 2003,<br />
Burckhardt 2005:27ff.) genutzt werden, gewann als eine Folge<br />
der Verflechtungen in den letzten Jahren das Politikfeld<br />
„Gemeinsame Geschichte“ an Bedeutung. In der Folge entstanden<br />
auch historisch orientierte transnationale Expertenkommissionen.<br />
So entschieden sich aktuelle die Tschechische<br />
Republik und das Fürstentum Liechtenstein im Juni 2009 (!)<br />
für die Einrichtung einer gemeinsamen Historikerkommission<br />
zur Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte. Dies ist umso<br />
mehr von Interesse, da beide Länder bis dato, aufgrund der<br />
ungelösten historischen Fragen, noch keine diplomatischen<br />
Beziehungen aufgenommen haben (o.A. 2009). 2<br />
Einen idealtypischer Vertreter – und für den tschechischliechtensteinischen<br />
Fall auch ein Vorbild - stellt die deutschtschechische<br />
und deutsch-slowakische Historikerkommission<br />
(im Weiteren auch Historikerkommission oder Kommission)<br />
dar. Als wissenschaftlich hochkarätig besetztes Gremium, bestehend<br />
aus tschechischen, slowakischen und deutschen Historikern,<br />
agiert sie auf dem konfliktbeladenen Politikfeld<br />
deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Gemeinsame<br />
Geschichte. Sie „produziert“ im „Verborgenen“ (Kohler<br />
59<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
1995) von der Öffentlichkeit „robuste Ergebnisse“ 3<br />
, die die<br />
„historisierten Konflikte“ 4 (Schulz 2009) zwischen den beteiligten<br />
Ländern „löst“ (zur allgemeinen Kritik gegenüber<br />
Expertenkommissionen siehe: Meister 2004:31ff.).<br />
Trotz seines vielfältigen Einsatzes und seiner konstruktiven<br />
Lösungen ist das Expertenkommissionsmodell 5<br />
im Politikfeld<br />
Gemeinsame Geschichte im Allgemeinen (Cattaruzza / Sacha<br />
2007) und die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische<br />
Kommission im Besonderen, ein weitgehend „unbekanntes<br />
Instrument“ (Schulz 2006). Dies liegt – neben der Tatsache,<br />
dass die Kommission bewusst nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit<br />
agiert – auch in der Tatsache begründet, dass sie<br />
ein wissenschaftlich schwer zu beschreibendes Kollektiv darstellt.<br />
Die Mitglieder der Kommission sind von nationalen Gremien<br />
berufene Wissenschaftler, was ihre Zugehörigkeit zu einem<br />
nationalen Kollektiv quasi festschreibt. Gleichzeitig gehören<br />
sie in ihrer Funktion als Experten kleinen geschlossenen Fachcommunities<br />
an, die spezielle „Standardisierungen“ im Sinne<br />
von Hansen (Hansen 2003:140-141, 2009a:66) ausgeprägt<br />
haben, die sich häufig nationalen Verortungen entziehen.<br />
Neben den fachlichen und organisatorischen Determinanten<br />
sind die Mitglieder auch Individuen mit jeweils einzigartigen<br />
Biographien (Siefken 2003:490, Burckhardt 2005). Als Transnationaler<br />
Akteur hat sich die Gesamtheit der Mitglieder als<br />
Historikerkommission im Laufe ihres Bestehens gegenüber<br />
anderen Akteuren im Politikfeld Gemeinsame Geschichte jedoch<br />
darüber hinaus auch eine eigene Handlungsmächtigkeit<br />
(Kaiser 1969, Olbers 2009) geschaffen.<br />
Eine angemessene Beschreibung der Arbeits- und Wirkungsweise<br />
des Kollektivs Historikerkommission, die ihre Erfolge<br />
erklärt, ohne die Komplexität ihres Zustandekommens unzulässig<br />
zu reduzieren, erweist sich als problematisch. Politikwissenschaftliche<br />
akteurzentrierte Ansätze liefern zur Beantwortung<br />
der Frage vorwiegend Erklärungsmuster zur Konstitution<br />
und der Bestimmung der Handlungsressourcen (siehe<br />
ausführlich Schneider / Janning 2006:92-94). Bei der Beantwortung<br />
der Frage, wie trotz der Heterogenität der Mitglieder<br />
tragfähige Ergebnisse produziert werden können, stoßen diese<br />
allerdings an ihre methodischen Grenzen. Vor allem die<br />
Interaktionen innerhalb des komplexen sozialen Gebildes und<br />
die hierdurch entstehenden Kultur- und Kollektivkonstruktionen<br />
bei der Lösungsfindung bleiben weitestgehend unbeleuchtet.<br />
Hier setzen in den letzten Jahren verstärkt Kultur-<br />
und Kommunikationswissenschaftler an. Ausgehend von einem<br />
erweiterten Kommunikationsbegriff (Luhmann<br />
1984:193) interpretieren sie die produzierten Ergebnisse von<br />
Kollektiven als kulturelle Kommunikationsprodukte (vgl.<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 60
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
Bolten 2000). So postuliert z.B. Bolten, dass kulturelle Eigenschaften<br />
„nicht anders als auf kommunikativem Weg geäußert<br />
werden können“ (Bolten 2001:135). Nach diesem Verständnis<br />
ist jedes menschliche Kollektiv als Kulturproduzent<br />
zu verstehen (siehe z.B. Hansen 2000:206-216), dessen Ergebnisse<br />
als prozesshafte Kommunikationsprodukte analysiert<br />
werden können. Aus dieser Perspektive können die Ergebnisse<br />
der Kommission als konkrete „Lösungen“ (Watzlawick,<br />
Weakland et al. 2001) verstanden werden, da sie ihre kollektive<br />
Entstehung und die individuelle Verarbeitung als wesentliches<br />
Merkmal in sich tragen.<br />
Sowohl Kommunikations- als auch <strong>Kulturwissenschaft</strong>ler stehen<br />
allerdings vor der Herausforderung, die Entstehung solcher<br />
Lösungen prozessual zu beschreiben, ohne dabei auf der<br />
einen Seite unzulässige Komplexitätsreduktionen vorzunehmen,<br />
die zu einer Verfälschung der Ergebnisse führen, und<br />
auf der anderen Seite die Komplexität der kollektiven Prozesse<br />
ins Unendliche zu steigern und so verständliche und übertragbare<br />
Erklärungsmodelle unmöglich zu machen.<br />
Eine These, die im Rahmen dieser Untersuchung vertreten<br />
wird, lautet daher: Um komplexe Kommunikationsprodukte<br />
eines Kollektivs, wie z.B. die Lösungen der Kommission erklären<br />
zu können, ist es notwendig, zunächst die Komplexität<br />
des Untersuchungsgegenstandes zu erhöhen. Erst dann ist im<br />
zweiten Schritt wieder eine Komplexitätsreduktion in Form<br />
von realitätsnahen Ergebnissen möglich.<br />
Um die Komplexität des Kollektivs Historikerkommission sichtbar<br />
zu machen, wird im Folgenden die Historikerkommission<br />
als Transnationaler Akteur vorgestellt. Neben der Geschichte<br />
der Kommission und deren wesentlichen Ergebnissen liegt<br />
der Fokus auf der Offenlegung der Heterogenität der Mitglieder.<br />
In einem zweiten Schritt werden ihre Lösungen mit Hilfe<br />
traditioneller kulturwissenschaftlicher Modelle analysiert und<br />
deren Schwächen hinsichtlich unzulässiger Komplexitätsreduktion<br />
herausgearbeitet. Darauf aufbauend werden dann<br />
Anregungen für ein angemesseneres Erklärungsmodell in<br />
Form von Hypothesen vorgestellt.<br />
Die folgenden Analysen basieren auf den Ergebnissen einer<br />
empirischen Studie aus dem Jahr 2007 (Schulz 2010). Dabei<br />
wurden aktive und ehemalige Mitglieder der Historikerkommission<br />
im Rahmen ausführlicher Experteninterviews zu ihrer<br />
Arbeit in der Kommission befragt. Die Interviews wurden mit<br />
Hilfe qualitativer Methoden kodiert und ausgewertet.<br />
61<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
2. Transnationaler Akteur Historikerkommission<br />
Die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Historikerkommission<br />
kann als Transnationaler Akteur im Politikfeld<br />
Gemeinsame Geschichte auf eine 20jährige Geschichte zurückblicken.<br />
Aufgrund ihrer Aufgabe, „historisierte Konflikte“<br />
zu lösen, stehen neben ihrer Entwicklung auch die während<br />
dieser Zeit „produzierten“ Ergebnisse als wichtige Referenzpunkte<br />
für das Verständnis der Arbeits- und Wirkungsweise<br />
dieser Kommission zur Verfügung.<br />
2.1. Entwicklung der Historikerkommission<br />
Die Historikerkommission wurde 1990 auf beiderseitigen<br />
Wunsch des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Václav<br />
Havel und des deutschen Staatspräsidenten Richard von<br />
Weizsäcker und auf Initiative vom damaligen Außenminister<br />
der Bundesrepublik Deutschland Hans-Dietrich Genscher und<br />
dem damaligen ersten nichtkommunistischen Außenminister<br />
der Tschechoslowakei Jiří Dienstbier als deutschtschechoslowakische<br />
Historikerkommission ins Leben gerufen.<br />
In der Erklärung der beiden Außenminister nach ihrem Gründungstreffen<br />
in Nürnberg am 2. Februar 1990 wurde ihr Auftrag<br />
der folgendermaßen formuliert:<br />
„Aufgabe der Kommission soll es sein, die gemeinsame Geschichte der<br />
Völker beider Länder, vor allem in diesem Jahrhundert, gemeinsam zu erforschen<br />
und zu bewerten. Die Kommission sollte alle diese Fragen in breiten<br />
historischem Kontext erforschen, einschließlich der positiven Seiten des<br />
gegenseitigen Zusammenlebens, aber auch der tragischen Erfahrungen der<br />
Völker beider Länder in Zusammenhang mit dem Beginn, dem Verlauf und<br />
den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges.“ (Genscher / Dienstbier 1990,<br />
Historikerkommission 1990-2007).<br />
Durch die Formulierung des Auftrages wurde zugleich die<br />
Grundlage für die Entstehung einer transnationalen, politikberatenden<br />
Kommission gelegt. Es wurden keine „neuen“<br />
nationalen Institute gegründet, sondern es wurde eine Neugründung<br />
initiiert, die sich aus deutschen und tschechoslowakischen<br />
„nahmhafte[n] Fachwissenschaftler[n]“ (Genscher<br />
/ Dienstbier 1990) rekrutiert, die angehalten wurden, kooperativ<br />
zusammenarbeiten. Bereits zuvor wurde die Historikerkommission<br />
schon durch den Regierungsbeschluss der ČSFR<br />
Nr. 51/ 90 vom 25. Januar 1990 bestätigt, in dem die Minister<br />
für Auswärtige Angelegenheiten verpflichtet werden, die<br />
Arbeit finanziell zu unterstützen (Biman 2001:450).<br />
Die Historikerkommission nahm nach anfänglichen Diskussionen<br />
bezüglich ihrer Besetzung im Rahmen einer Tagung vom<br />
14.-16. Juni 1990 in Prag die Arbeit auf. 6<br />
Auf dieser „Grün-<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 62
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
dungstagung“ wurde im Schlusskommunique festgehalten,<br />
dass<br />
„die Katastrophen der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts in<br />
größeren historischen Zusammenhängen und insbesondere vor dem Hintergrund<br />
des langfristigen Zusammenlebens von Tschechen, Slowaken,<br />
Deutschen und Juden gesehen werden müssen. Dabei gilt es, den Blick<br />
nicht nur auf das Trennende, sondern auf das Verbindende zu lenken“.<br />
(Historikerkommission 1990b)<br />
Die Historikerkommission (1990b) setzte sich zum Ziel, „die<br />
historische Forschung in beiden Ländern auf längere Zeit zu<br />
fördern“. Ebenfalls wurde festgehalten, dass die Kommission<br />
hierfür eine Reihe von Kolloquien für die nächsten Jahre anvisiert,<br />
die die weitere Arbeit der Historikerkommission strukturieren<br />
sollten (Historikerkommission 1990b). Diese Liste wurde<br />
auf dem zweiten Treffen konkretisiert. Als Arbeitsmodus<br />
einigte man sich zunächst auf die Etablierung von sektionalen<br />
Arbeitsgruppen. Diese sollten aber in „enger Kooperation“<br />
(Historikerkommission 1990a) zusammenarbeiten. Arbeitsthemen<br />
sollten weitestgehend im Konsens beschlossen werden.<br />
Die bilaterale Kommission wurde im Vertrag zwischen der<br />
Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik und<br />
der Bundesrepublik Deutschland über gute Nachbarschaft<br />
und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 27. Februar<br />
1992 im Artikel 27 nochmals verankert:<br />
„Die Vertragsparteien werden alle Aktivitäten unterstützen, die zu einem<br />
gemeinsamen Verständnis der deutsch-tschechoslowakischen Geschichte,<br />
vor allem dieses Jahrhunderts, beitragen. Dazu gehört auch die Arbeit der<br />
gemeinsamen Historikerkommission und der unabhängigen deutschtschechoslowakischen<br />
Schulbuchkonferenzen.“ (Freundschaftsvertrag<br />
1992)<br />
Die Trennung der Tschechischen und der Slowakischen Republik<br />
1993 dokumentiert sich auch in der veränderten Konstitution<br />
der Kommission. Die tschechoslowakische Seite teilte<br />
sich in eine Tschechische und eine Slowakische Sektion auf.<br />
Die Mitglieder der Deutschen Sektion sind in beiden Kommissionen<br />
vertreten (Historikerkommission 1993). Die Deutsch-<br />
Tschechische Erklärung aus dem Jahr 1997 unterstrich noch<br />
einmal den besonderen Stellenwert der Kommissionsarbeit:<br />
„Beide Seiten stimmen darin überein, dass die historische Entwicklung der<br />
Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen insbesondere in der ersten<br />
Hälfte des 20. Jahrhunderts der gemeinsamen Erforschung bedarf und<br />
treten daher für die Fortführung der bisherigen erfolgreichen Arbeit der<br />
deutsch-tschechischen Historikerkommission ein.” (Erklärung 1997)<br />
Auf Basis dieser beiden Verträge arbeitet die Kommission bis<br />
heute zusammen. Die Entwicklung der Kommission lässt sich<br />
insgesamt in zwei Phasen zusammenfassen: Während in der<br />
ersten Phase von 1990-1995 die chronologische Sichtung der<br />
63<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
deutsch-tschechisch-slowakischen Beziehungen im Vordergrund<br />
stand, liegt der Fokus der Arbeit seit 1996 auf der<br />
konkreten Analyse der in der ersten Phase identifizierten Themen<br />
(Biman 2001:452-453). Dies spiegelt sich auch in der<br />
Wahrnehmung der selbst definierten Aufgaben und den Ergebnissen<br />
wieder.<br />
Hans Lemberg, langjähriges Mitglied und ehemaliger Vorsitzender<br />
der Deutschen Sektion, formuliert die Aufgaben, die<br />
die Historikerkommission aus dem politischen Auftrag für<br />
sich abgeleitet hat, folgendermaßen:<br />
• „heiße Eisen im bilateralen Verhältnis anzupacken […]<br />
und dicke Bretter mit Geduld zu bohren;<br />
• über den wissenschaftlichen Diskurs hinaus auf ein breiteres<br />
Publikum zu wirken […] aber auch auf dem uns (gemeint<br />
sind die Mitglieder der Historikerkommission) wenig<br />
geläufigen Weg über die Medien;<br />
• durch Konferenzen [...] Tagungsbänden und weiteren<br />
Publikationen [...] den Fundus von Erkenntnissen zu erweitern<br />
und den Forschungsstand voranzubringen;<br />
• Forschungen anderer zu stimulieren oder zu ermuntern;<br />
• zu einer stärkeren Vernetzung der academic community<br />
auf dem Gebiet der vergleichenden Beziehungsgeschichte<br />
(auch wenn jeweils nur bilateral) beizutragen – bis hin zu<br />
den im Fachgespräch geförderten persönlichen Beziehungen“<br />
(Lemberg 1998:7)<br />
Hieraus ergeben sich auch die Ziele, die die Kommission seit<br />
der Gründung verfolgt:<br />
“Die Ziele haben sich grundsätzlich nicht geändert. Es geht darum, durch<br />
unabhängige wissenschaftliche Arbeit indirekt zur Verständigung zwischen<br />
Deutschland und Tschechien und den Deutschen und Slowaken beizutragen.<br />
Das heißt, dass es nicht das Ziel ist, eine Geschichtsschreibung zu produzieren,<br />
die keine neuralgischen Themen mehr anspricht. Im Gegenteil, es<br />
geht darum, durch unabhängige wissenschaftliche Arbeit eine Kultur des<br />
ständigen Kontaktes zwischen Deutschen und Tschechen und Slowaken<br />
Geschichtswissenschaft zu einer Ressource zu machen, die indirekt der<br />
Verständigung dient.” (Interview Mitglied 1)<br />
Die Umsetzung der Ziele gestaltete sich in der Vergangenheit<br />
durch die Komplexität des Akteurs und des Politikfeldes Gemeinsame<br />
Geschichte zwischen Deutschen, Tschechen und<br />
Slowaken“ nicht immer leicht.<br />
Da die Kommission als eine unabhängige Expertenkommission<br />
von den Politikern aus den beteiligten Ländern eingesetztes<br />
wurde, ist sie als Akteur in verschiedenen, sich teilweise<br />
überlagernden und bedingenden Regelsystemen eingebunden.<br />
So steht sie auf der einen Seite als Akteur, der sich mit<br />
dem Thema der Gemeinsamen Geschichte beschäftigt, im<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 64
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Als politikberatende<br />
Institution muss sie sich mit den besonderen Regeln der politischen<br />
Systeme auseinandersetzen. Diese Problematik potenziert<br />
sich, da es sich um eine originär wissenschaftliche Institution<br />
handelt, die wiederum eigene Regelsysteme aufweist.<br />
Letztendlich steht die Kommission als öffentlicher Akteur<br />
auch unter Beobachtung der Medien (ausführlich: Schulz<br />
2009).<br />
Die Komplexität der Historikerkommission als wissenschaftlicher,<br />
politik- und öffentlichkeitsberatender Transnationaler<br />
Akteur im Politikfeld Gemeinsame Geschichte, mit der Aufgabe,<br />
historisierte Konflikte zu lösen, erhöht sich zusätzlich<br />
durch die Heterogenität der Mitglieder innerhalb der Kommission.<br />
Diese kommen aus den drei beteiligten Nationen:<br />
Deutschland, Tschechien und der Slowakei. Vor allem die nationale<br />
Zugehörigkeit spielt für Historiker im Allgemeinen eine<br />
nicht zu unterschätzende Rolle, wie folgende Beobachtung<br />
von Christoph und Sebastian Conrad (2002:19) verdeutlicht:<br />
„Das ‚Nationale’ und der Nationalstaat prägten die Geschichtswissenschaft<br />
in sehr verschiedenen Formen und in<br />
den einzelnen Ländern auch nicht in gleichen Maße“. Wenn<br />
„Historiker auf internationalen Kongressen zusammen“ kamen,<br />
„taten sie es [in der Regel] als Vertreter von Nationen,<br />
was auch immer sie sonst noch verband. Niemand empfand<br />
stärker den Druck zur nationalen Identifikation, als diejenigen,<br />
die aus ‚Nationen ohne Staat’ kamen“ (zur<br />
grundlegenden Problematik siehe hierzu Conrad / Conrad<br />
2002:20-23 und zur speziellen Situation in Ostmitteleuropa:<br />
Hadler: 2002).<br />
Gleichzeitig sind die Mitglieder Historiker, mit unterschiedlichen<br />
Forschungsschwerpunkten und Zugängen. Daneben<br />
gehören sie aufgrund ihrer individuellen Biografien unterschiedlichen<br />
Milieus an. Das Bild nationaler „homogener Einheiten“<br />
im Bezug auf geschichtswissenschaftliche Interpretationen<br />
ist daher trotz der kohäsiven Kraft des Nationalen aufgrund<br />
der aufgezeigten Heterogenität zu einfach (vgl. Conrad<br />
/ Conrad 2002:20-21).<br />
2.2. Ergebnisse der Historikerkommission<br />
Trotz der beschriebenen Komplexität kann die Historikerkommission<br />
auf eine Vielzahl von Ergebnissen verweisen. Um<br />
den Unterschied zwischen rein quantifizierbaren Produkten<br />
und den Produkten als Kommunikationsprodukte deutlich zu<br />
machen, wird im Folgenden eine begriffliche Trennung von<br />
„Ergebnissen“ und „Lösungen“ vorgenommen. Von „Ergebnissen“<br />
wird immer dann gesprochen, wenn das konkrete<br />
Resultat der Forschungstätigkeit gemeint ist, „Lösungen“<br />
65<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
verweisen demgegenüber auf den kommunikativen Entstehungs-<br />
und Wirkungsprozess der Ergebnisse.<br />
Insgesamt sind bisher 16 Tagungsbände, wobei fünf in Vorbereitung<br />
bzw. in Bearbeitung sind, entstanden, die einen<br />
tiefen Einblick in die komplexe Beziehungsgeschichte von<br />
Deutschen, Tschechen und Slowaken liefern. Darüber hinaus<br />
veröffentlichte die Kommission sechs weitere Publikationen in<br />
Form von Erklärungen bzw. Stellungnahmen oder von Herausgeberschaften<br />
(Stand Ende 2007). Neben den anfangs<br />
zweimal und jetzt aktuell einmal jährlich stattfindenden Treffen<br />
veranstaltete die Historikerkommission weiterhin eine<br />
Vielzahl weiterer Veranstaltungen, wie Runde Tische, <strong>Journal</strong>istenseminare<br />
oder Podiumsdiskussionen.<br />
Die Jahrestreffen der Kommission sind zugleich mit öffentlich<br />
zugänglichen Tagungen verbunden, die in zunehmendem<br />
Maße auch unter Beteiligung internationaler Wissenschaftler<br />
durchgeführt werden. Die Tagungen finden alternierend einmal<br />
in Tschechien, dann der Slowakei und dann wieder in<br />
Deutschland statt. Ein weiterer Pfeiler der Kommissionsarbeit<br />
ist die jährliche Vergabe von Stipendien an Nachwuchswissenschaftler<br />
(ein aktuellen Überblick gibt die Homepage der<br />
Historikerkommission: Historikerkommission 1990-2007).<br />
Hervorzuheben aus dieser quantitativen Aufzählung von Ergebnissen<br />
sind vor allem drei, die aufgrund ihrer kommunikativen<br />
Wirkung als Lösungen bezeichnet werden können.<br />
Eine Publikation, die sog. „Skizze“ nimmt in der Vielzahl von<br />
Sammelbänden und Veröffentlichungen, die das gesamte<br />
Spektrum deutsch-tschechischer, deutsch-slowakischer Beziehungen<br />
abdecken, eine Sonderrolle ein (Gemeinsame<br />
Deutsch-Tschechische Historikerkommission 1996). Die Skizze<br />
wurde 1995 als eine Art Zwischenfazit von der Kommission in<br />
Angriff genommen. Entstanden ist eine gemeinsame Überblicksdarstellung<br />
deutsch-tschechischer Geschichte, in der<br />
deutsche und tschechische Historiker festhalten, was bisher<br />
schon gesichert vertretbar ist.<br />
Eine weitere, sehr wichtige Lösung ist die gemeinsame Festlegung<br />
einer Opferzahl der Vertreibung / Aussiedlung der<br />
Deutschen (Historikerkommission 1996). Auf tschechoslowakischer<br />
Seite wurde bis zu diesem Zeitpunkt eine Zahl von<br />
max. 10.000 Opfern offiziell vertreten, während auf deutscher,<br />
und hier vor allem auf sudetendeutscher Seite, von<br />
250.000 Opfern gesprochen wurde. Die große Diskrepanz<br />
der nationalen Perspektiven machte die Festlegung einer historisch<br />
gesicherten Zahl zu einem brisanten Politikum. Die<br />
Historikerkommission ermittelte eine Zahl von max. 30.000<br />
Opfern, die mittlerweile auch von politischen Interessenver-<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 66
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
bänden in beiden Ländern weitestgehend Ländern akzeptiert<br />
wurde.<br />
Eine dritte Lösung stellt eine gemeinsame Sprachregelung für<br />
die schmerzhaften Vorgänge der Nachkriegszeit dar: Wurden<br />
die Sudetendeutschen nach dem Krieg „vertrieben“ oder<br />
(nur) „ausgesiedelt“? Sollte man für diesen Prozess einen<br />
neutralen Begriff verwenden oder einigt man sich auf einen<br />
der in den Ländern bekannten Begriffe der Vertreibung oder<br />
Aussiedlung? Die Historikerkommission einigte sich schließlich<br />
auf das Begriffspaar „Vertreibung / Aussiedlung“<br />
(Historikerkommission 1995).<br />
Die Lösungen der Historikerkommission haben einerseits in<br />
ihrer kommunikativen Wirkung unbestreitbar zu einer Annäherung<br />
der beteiligten Staaten beigetragen. Andererseits ist<br />
bislang wenig erforscht, wie solche erfolgreichen Lösungen,<br />
die auf politischer Ebene offensichtlich nicht möglich waren,<br />
zustande kommen. Eine angemessene Beschreibung der Arbeits-<br />
und Wirkungsweise des Transnationalen Akteurs Historikerkommission<br />
kann daher auch Modellcharakter für die<br />
allgemeine kulturwissenschaftliche Beschreibung heterogener,<br />
komplexer Kollektive besitzen.<br />
Im Folgenden sollen daher zur Verfügung stehende kulturwissenschaftliche<br />
Ansätze auf ihr Erklärungspotential hin untersucht<br />
werden, bevor in einem nächsten Schritt Grundzüge<br />
eines neuen Modells präsentiert werden.<br />
3. Traditionelle kulturwissenschaftliche Erklärungsansätze<br />
Zur Beschreibung des Kollektivs Historikerkommission steht<br />
eine Vielzahl kulturwissenschaftlicher Ansätze bereit. So existieren<br />
einerseits statische Modelle, die Individuen primär einem<br />
Kulturträger, z.B. Ethnie, Nation, Milieu oder Schicht,<br />
zuordnen und damit die Heterogenität eines Transnationalen<br />
Akteurs vor allem als Aufeinandertreffen bzw. Aufeinanderprallen<br />
unterschiedlicher (national-)kultureller Gruppen beschreiben.<br />
Zum anderen entstehen trägerlose Konzepte von Kultur, die<br />
demgegenüber eher kulturelle Dynamik, Differenzen, Hybridität,<br />
Entgrenzung, Entankerung und Relationalität betonen<br />
und innerhalb eines Transnationalen Akteurs eine Durchdringung,<br />
bzw. Auflösung von Nationalkulturen diagnostizieren<br />
würden.<br />
Beide Ansätze sollen im Folgenden anhand des Beispiels der<br />
Historikerkommission auf ihre Anwendbarkeit überprüft werden.<br />
67<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
3.1. Trägerlose Modelle<br />
Die Historikerkommission ist als heterogener Transnationaler<br />
Akteur im Politikfeld Gemeinsame Geschichte aktiv. Eine erste<br />
naheliegende Vermutung lautet, dass die Mitglieder im Sinne<br />
trägerloser Kulturmodelle als „transkulturell“ (Welsch 2002)<br />
zu charakterisieren seien. Im Gegensatz zum traditionellen<br />
Verständnis von Kulturen als homogenen, abgeschlossenen<br />
„Containern“ (Beck 1998) konstatiert Welsch „eine Pluralisierung<br />
möglicher Identitäten“ innerhalb von Kulturen, die „extern<br />
grenzüberschreitende Konturen“ aufweisen (Welsch<br />
2002:1). Kulturen werden so tendenziell für alle anderen Kulturen<br />
zu Binnengehalten oder Trabanten: „ Es gibt nicht nur<br />
kein strikt Eigenes, sondern auch kein strikt Fremdes mehr. “<br />
(Welsch 2002: 2). Das Konzept der Transkulturalität schafft<br />
einen synergetischen Handlungskontext, der eine Hybridkultur<br />
als Gemeinschaftliches über kulturelle Grenzen hinweg<br />
erzeugt (Bolten 2006:149-150.)<br />
Übertragen auf die Historikerkommission bedeutet dies, dass<br />
deren Mitglieder sich selbstverständlich innerhalb der deutschen,<br />
tschechischen und slowakischen Geschichte bewegen<br />
könnten. Sie seien aufgrund ihrer „transkulturellen“ Formation<br />
in der Lage, ihre Ideen kritisch mit anderen Traditionen zu<br />
vergleichen. Die vermutete Transkulturalität der Mitglieder ist<br />
aus der Perspektive von Welsch eine Folge des veränderten<br />
Zuschnitts heutiger Kultur in Folge von Vernetzung, Hybridisierung,<br />
Umfassendheit der kulturellen Veränderungen (kulturelle<br />
Mischung) und der Auflösung der Fremd-Eigen-Differenz<br />
(Welsch 2002).<br />
Zweifel an der Passgenauigkeit dieses Konzeptes ergeben sich<br />
allein schon aus der Betrachtung der Entwicklung der Historikerkommission.<br />
Seit gut 20 Jahren versammeln sich jährlich<br />
Professoren aus 3 Nationen und finden „Lösungen“, die sie<br />
selber teilweise als „Kompromiss“ oder „kleinster gemeinsamer<br />
Nenner“ zwischen den beteiligten nationalkulturellen<br />
Grupen bezeichnen. Diese Prävalenz nationaler Zugehörigkeit<br />
unterstreicht folgendes Zitat:<br />
“[...] und die Arbeit an dem Bändchen verlangte natürlich viele Kompromisse.<br />
Und dieses ‚Grüne Heft’ atmet förmlich diese Kompromisse, wo dann<br />
natürlich auch viele von uns sagten: ‚Verflucht, da haben wir uns über den<br />
Tisch ziehen lassen’ und die anderen haben sich natürlich auch so gefühlt<br />
und gesagt, dass auch sie teilweise über den Tisch sich haben ziehen lassen.<br />
Wenn jemand das selber formuliert hätte, dann hätte er es bestimmt<br />
anders formuliert. Das ist aber natürlich etwas, was wir gemeinsam getan<br />
haben, und wir wollten das ja auch gemeinsam abschließen. Und um das<br />
zu dokumentieren, haben wir ja auch diese demonstrative Form des Nebeneinanderstehens<br />
des Textes (deutsch-tschechisch) gewählt, der inhaltlich<br />
identisch ist... Die gemeinsame Arbeit an dem Grünen Buch hat zwar<br />
viel Redaktionsarbeit und viel Feilen an einzelnen Begriffen verursacht, aber<br />
es war dann aber auch ein gemeinsamer Konsens.“ (Interview Mitglied 7)<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 68
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
Auch die Tatsache, dass es scheinbar notwendig war, eine<br />
gemeinsame Sprachregelung zu finden, die beide Seiten, die<br />
tschechoslowakische und die deutsche mit einbezieht, lässt<br />
an dem Konzept der Transkulturalität in dieser Radikalität<br />
zweifeln.<br />
Noch deutlicher werden diese Zweifel, wenn man sich die<br />
Beschreibung der Arbeitsmethode zur Erstellung der „Skizze“<br />
anschaut: Ferdinand Seibt, ein langjähriges Mitglied, formulierte<br />
vor den Beratungen den Wunsch an die Teilnehmer,<br />
dass sie doch daran denken sollen, dass es zwar zwei Fußballmannschaften<br />
gebe, es aber durchaus erlaubt sei, Eigentore<br />
zu machen (Interview Mitglied 22). Die Mitglieder der<br />
Kommission besitzen also ein ausgeprägtes Selbstverständnis<br />
als Vertreter nationaler Geschichtsinterpretationen. Diese nationale<br />
Zugehörigkeit besitzt für die Mitglieder hohe Bedeutung<br />
und kann nicht als Folklore oder simulierte Einheit abgetan<br />
werden. Die Schärfe kollektiver Trennung zwischen Eigenkultur<br />
und Fremdkultur, also zwischen tschechischer,<br />
deutscher und slowakischer Geschichtsauffassung, bleibt<br />
auch über Jahre sichtbar bestehen.<br />
Eine Interpretation der Historikerkommission als transkulturell<br />
erweist sich damit als unzulässig, da sie impliziert, kollektive<br />
Zugehörigkeiten z.B. zu Nationen könnten von den beteiligten<br />
Individuen problemlos abgelegt werden, um in etwas<br />
Neuem wie der Kommission aufzugehen. Zum anderen liefern<br />
sie keine Erklärungen für die größtenteils schmerzhaften<br />
Prozesse der Zusammenarbeit.<br />
3.2. Statische Modelle<br />
Das Gegenteil zur Hypothese der Transkulturalität stellen traditionelle<br />
statische Modelle dar, die Individuen primär als Vertreter<br />
eines bestimmten Kollektivs verstehen. In diesem Fall<br />
würden die beteiligten Historiker der Kommission vor allem<br />
als Vertreter dreier Nationalkulturen agieren und die jeweilige<br />
nationale Auffassung von Geschichte vertreten (exemplarisch:<br />
Schwarz 2002). Die Kommission als Transnationaler Akteur<br />
dient nach diesem Verständnis nur dazu, dass die Streitigkeiten<br />
nicht nach außen dringen. Dieses Bild wird vor allem von<br />
den Medien und Interessengruppen des Öfteren gezeichnet.<br />
Exemplarisch hierfür kann die Aussage vom Zeit-Redakteur<br />
Thomas Kleine-Brockhofff aus dem Jahr 1996 herangezogen<br />
werden. Er schreibt, dass<br />
„ein Besuch bei der gemeinsamen Historikerkommission [....] ein verstörendes<br />
Erlebnis sein [kann]. Er bietet einen Blick in eine Werkstatt der Verständigung<br />
und zugleich ein Schlachtfeld der Nationalismen“ (Kleine-Brockhoff<br />
1996).<br />
69<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
Die Ursachen für Auseinandersetzungen innerhalb der Kommission<br />
sind nach Aussagen der interviewten Mitglieder jedoch<br />
vielschichtig. Sie reichen von fachlichen und methodischen<br />
Differenzen bis hin zu individuellen Verhaltensweisen<br />
einzelner Mitglieder. Die Auseinandersetzungen „verlaufen<br />
auch nicht auf dem Niveau der deutsch-tschechischen Beziehungen“,<br />
wie ein Mitglied dies pointiert formuliert (Interview<br />
Mitglied 10). Die Konfliktlinien können quer durch nationale<br />
Lager gehen. Selten stimmen nationale Positionen und Konfliktpositionen<br />
überein, wie die Mitglieder in den geführten<br />
Interviews erklärten.<br />
Der gescheiterte Versuch der Kommission, eine Art zweiter<br />
„Skizze“ zu entwerfen, die darlegen sollte, in welchen Bereichen<br />
die beteiligten Nationen in ihrer Auffassung gemeinsamer<br />
Geschichte noch keine Einigung erzielt haben, demonstriert<br />
eindrücklich, dass die Vermutung eines Aufeinandertreffens<br />
von drei Nationen, bzw. drei nationalen Geschichtsinterpretationen<br />
die Realität verfehlt.<br />
So scheiterte dieses Projekt nicht etwa an unüberbrückbaren<br />
Gegensätzen zwischen den deutschen, tschechischen und<br />
slowakischen Historikergruppen:<br />
„Der Versuch ist daran gescheitert, weil es in den nationalen Sektionen<br />
schon unmöglich war, sich auf eine nationale Position zu einigen, die man<br />
dann sozusagen als nationalen Standpunkt gegenüber der anderen Seite<br />
vertreten könnte.“ (Interview Mitglied 7)<br />
Die Homogenitätserwartung an Primärkollektive, wie sie statische<br />
Konzepte nahelegen, in diesem Fall die Vorstellung einer<br />
nationalen Geschichtsinterpretation, welche die beteiligten<br />
Historiker prägte, verfängt also ebenfalls nicht. Es wird<br />
deutlich, dass die Verwendung solcher Modelle zu einer unzulässigen<br />
Komplexitätsreduktion führt, die keine nachvollziehbaren<br />
Erklärungsansätze für die Arbeitsweise der Kommission<br />
liefert (siehe auch zum Verhältnis Homogenität und<br />
Nation (Homogenitätsprämisse) in diesem Heft: Hansen<br />
2009b).<br />
Insgesamt wird deutlich: Weder traditionelle, statische Modelle<br />
noch die neueren, trägerlosen Konzepte sind in der Lage,<br />
die Arbeits- und Wirkungsweise der Historikerkommission in<br />
ihrer Komplexität angemessen zu beschreiben, da sie keine<br />
Erklärungsgrundlage anbieten, wie innerhalb des transnationalen,<br />
heterogenen Kollektivs Historikerkommission Ergebnisse,<br />
bzw. Lösungen erarbeitet werden, die in der Folge zu einer<br />
Verständigung der drei Staaten beitragen.<br />
Weiterhin wird deutlich, dass sich die Fragen nach dem Kulturträger<br />
(in diesem Fall die Historikerkommission) und die<br />
Frage nach der Kulturproduktion (Entstehung von Lösungen)<br />
unmittelbar bedingen. Ein Modell, das den komplexen Ge-<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 70
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
genstand Historikerkommission erklären will, muss daher beide<br />
Aspekte – auch in ihrer Wechselwirkung – betrachten.<br />
4. Anregungen zu einem neuen Modell<br />
Nachdem die Aussagekraft traditioneller kulturwissenschaftlicher<br />
Modelle zur Beantwortung der Frage, wie eine komplexe<br />
transnationale Kommission zusammenarbeitet und Lösungen<br />
produziert, relativiert wurde, soll im Folgenden ein alternatives<br />
Modell vorgestellt werden, das einerseits die Komplexität<br />
des Kulturträgers nicht unzulänglich reduziert und andererseits<br />
schlüssige Erklärungen für die Entstehung von Lösungen<br />
innerhalb des Kollektivs (Kulturproduktion) liefert.<br />
Grundlage des Modells bildet ein Kulturbegriff, der zwischen<br />
dem Begriff der Kultur (in diesem Fall z.B. den nationalkulturellen<br />
Sichtweisen auf Geschichte, aber auch die in der Kommission<br />
entwickelten Lösungen) und dem Begriff des Kulturträgers<br />
(in diesem Fall z.B. die beteiligten Nationen, aber auch<br />
die Kommission selbst) unterscheidet.<br />
Als Kulturträger definiert Hansen das Kollektiv, welches durch<br />
die „Ansammlung von Individuen mit gleichen Gewohnheiten<br />
oder gleichen Merkmalen“ gekennzeichnet ist. Während der<br />
Kollektivbegriff sich nach Hansen dabei auf das „Formale und<br />
Strukturelle konzentriert, fokussiert der Kulturbegriff wiederum<br />
auf das Inhaltliche. Kultur und Kollektiv sind nach diesem<br />
Verständnis zwei Seiten einer Medaille“ (Hansen 2009a:16).<br />
Durch diese Trennung wird der Begriff Kultur auf seine eigentliche<br />
Bestimmung reduziert, indem mit Kultur die Gewohnheiten<br />
(„habits“, nach Tylor 1871:1) von Menschen beschrieben<br />
werden, „die miteinander zu tun haben“ (Rathje<br />
2009a:170, vgl. auch 2009b) 7 .<br />
Übertragen auf den Kontext der Historikerkommission bedeutet<br />
dies, dass seinen Mitgliedern als Mitglieder von Nationalkollektiven<br />
natürlich deren politische Interessen und offiziell<br />
vertretene Standpunkte bekannt sind. Als Individuen sind sie<br />
jedoch gleichzeitig in der Lage, diese zu befürworten aber<br />
auch abzulehnen, bzw. andere Standpunkte aufzunehmen<br />
und ihre eigenen ggf. zu modifizieren.<br />
Wie am Beispiel der Historikerkommission deutlich wird, erschöpft<br />
sich die Kollektivität eines Menschen dabei nicht in<br />
der Zugehörigkeit zu einer einzelnen Gruppierung. Menschen<br />
sind in vielen Kollektiven gleichzeitig verortet. Viele Kollektivzugehörigkeiten,<br />
wie Geschlecht oder Hautfarbe, sind weitestgehend<br />
– wenn auch nicht unumkehrbar - vorgegeben,<br />
andere Kollektive lassen sich dazu gewinnen (Interessenkollektiv)<br />
oder werden durch schicksalhafte Ereignisse geprägt<br />
(Schicksalskollektiv). Die individuelle Identität setzt sich somit<br />
71<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
aus vielen Eigenschaften, Überzeugungen, Standpunkten und<br />
Vorlieben zusammen, die kollektiv unterstützt werden. Nach<br />
diesem Verständnis ist die persönliche Identität eine Addition<br />
von einerseits vorgegebenen und andererseits frei gewählten<br />
Kollektiven. Hansen beschreibt diese an sich einfache Tatsache<br />
als „Multikollektivität“ (siehe ausführlich bei Hansen<br />
2009a:20-26.).<br />
Individuen sind somit nicht als Baumaterial von Kollektiven zu<br />
verstehen und Kollektive selbst bestehen nicht aus Individuen.<br />
Sie können nur auf den Teil eines ihnen zugerechneten Individuums<br />
zurückgreifen, der für das Kollektiv relevant ist. Diese<br />
„partielle Gemeinsamkeit“ ist somit der einzige grundlegende<br />
Konstitutionsfaktor der Kollektivität 8<br />
(Hansen<br />
2009a:27).<br />
Für die Beschreibung des komplexen transnationalen Kollektivs<br />
der Historikerkommission eröffnen sich durch diesen Zugang<br />
Erklärungsmöglichkeiten für das Zustandekommen von<br />
tragfähigen Lösungen, die auf politischer Ebene über Jahrzehnte<br />
unmöglich schienen.<br />
So konnten auf Basis der beschriebenen Untersuchung drei<br />
Hypothesen entwickelt werden, die zu einem verbesserten<br />
Verständnis der Arbeits- und Wirkungsweise der Historikerkommission<br />
beitragen und als Modell zur Beschreibung anderer<br />
komplexer Kollektive herangezogen werden können.<br />
Hypothesen:<br />
1. Multikollektivität: Die Multikollektivität der Mitglieder ist<br />
kein Störfaktor, sondern eine notwendige Voraussetzung<br />
für das Erreichen von Lösungen.<br />
2. Optionalität: Kollektivzugehörigkeiten der Mitglieder werden<br />
situativ virulent.<br />
3. Iterative Stabilität: Das Erreichen gemeinsamer Lösungen<br />
führt nicht zur Homogenisierung des Kollektivs, sondern<br />
trägt rückwirkend zur Erhaltung der Multikollektivität der<br />
Mitglieder und damit zum Fortbestand des Kollektivs bei.<br />
4.1. Multikollektivität<br />
Die Multikollektivität der Mitglieder ist kein Störfaktor, sondern<br />
eine notwendige Voraussetzung für das Erreichen von<br />
Lösungen.<br />
Ausgehend von dem Befund individueller Multikollektivität<br />
erhöht sich die Beschreibung der Historikerkommission in ihrer<br />
Komplexität zunächst deutlich, da ihre Mitglieder in einer<br />
Vielzahl für die Kommission relevanten Kollektiven gleichzeitig<br />
verortet sind. Sie gehören jeweils dem Kollektiv der Deutschen,<br />
Tschechen oder Slowaken an. Gleichzeitig sind sie<br />
Wissenschaftler, innerhalb dieses Kollektiv fühlen sie sich un-<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 72
Alte<br />
Generation<br />
Multikollektivität<br />
Wissenschaftler<br />
Slowaken<br />
Freunde<br />
Deutsche<br />
Bohemisten<br />
Tschechen<br />
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
terschiedlichen Subkollektiven zugehörig, z.B. den Bohemisten,<br />
Kunsthistorikern oder Nationalismusforschern. Einige<br />
bezeichnen sich als historische Spezialisten, andere als Generalisten.<br />
Einige Mitglieder lassen sich dem Kollektiv der alten<br />
Generation europäischer Bildungsbürger zuordnen. Einige<br />
Mitglieder haben den gleichen Geburtsort, aber unterschiedliche<br />
Pässe.<br />
Abb. 1: Multikollektivität<br />
73<br />
Lösungen<br />
Kleinster gemeinsame Nenner<br />
Beispiel: Skizze<br />
Konsens<br />
Beispiel: Opferzahlen<br />
Nichtentscheidbarkeit<br />
Begriffspaar Vertreibung/Aussiedlung<br />
Am Beispiel der Lösung der gemeinsamen Sprachregelung<br />
„Vertreibung/Aussiedlung“ wird deutlich, welche bedeutende<br />
Rolle die individuelle Multikollektivität der Mitglieder für die<br />
Arbeits- und Wirkungsweise der Historikerkommission spielt.<br />
Während sich in Deutschland der Begriff „Vertreibung“ mehr<br />
oder weniger im öffentlichen Sprachgebrauch durchgesetzt<br />
hatte, wurde in Tschechien und in der Slowakei in diesem<br />
Zusammenhang jedoch der Begriff odsun (Aussiedlung) verwendet<br />
(Witte 2002).<br />
Die Kommission stand vor der schwierigen Aufgabe, hier einen<br />
allgemein anerkannten Begriff vorzuschlagen, der die<br />
historischen Geschehnisse angemessen beschreibt. Da sich<br />
die von den Nationalkollektiven präferierten Begriffe unterschieden,<br />
konnte keiner der Begriffe allein verwendet werden.<br />
Eine Möglichkeit wäre gewesen, stattdessen auf den<br />
neutralen Begriff „Transfer“ zurückzugreifen, der auf der<br />
Potsdamer Konferenz von den Alliierten verwendet wurde.<br />
Diese Lösung wurde von den Mitgliedern jedoch abgelehnt,<br />
da diese „neutrale“ Perspektive ohne Bezug zu den beteiligten<br />
Kollektiven (in diesem Fall den drei Staaten) gewesen wäre.<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
Eine Lösung, die allen drei Nationalkollektiven gerecht wird,<br />
konnte nur gefunden werden, in dem sich die beteiligten Mitglieder<br />
ihrer gemeinsamen Kollektivzugehörigkeit als Historiker<br />
bewusst wurden.<br />
Ein Mitglied der Kommission beschreibt dies folgendermaßen:<br />
“Wenn die deutsche Seite den Begriff Vertreibung verwendet, so sprechen<br />
wir [die Tschechen] von ‚odsun’, gemeinsam verwenden wir gegebenenfalls<br />
das Wort ‚Transfer’. Der Begriff ‚Vertreibung’ bezieht sich auch auf die<br />
wilden Vertreibungen, ‚Aussiedlung’ oder ‚Zwangsaussiedlung’ auf die<br />
organisierte Vertreibung (odsun). Wir bemühen uns, diese Begriffe nicht zu<br />
emotionalisieren, sondern daraus historische Fachtermini zu machen, die<br />
möglichst genau das erfassen, was geschehen ist.“ (Štepánková 1996: 5)<br />
Die Kommission einigte sich schließlich auf die Doppelbezeichnung<br />
„Vertreibung/Aussiedlung“, die zum einen auf das<br />
Schicksalskollektiv gemeinsamer Geschichte zurückgreift, in<br />
dem ein neutraler Begriff vermieden wurde, zum anderen<br />
den unterschiedlichen Perspektiven der Nationalkollektive<br />
Rechnung trägt und schließlich das Bemühen um geschichtliche<br />
Präzision der Mitglieder als Historiker in sich trägt.<br />
Als erstes Fazit lässt sich also festhalten: Da sich die Mitglieder<br />
in der Kommission durch Multikollektivität auszeichnen<br />
und kein Mitglied gesamthaft z.B. in seinem Nationalkollektiv<br />
aufgeht, sind konsensuale Lösungen möglich, die von allen<br />
Beteiligten getragen werden können. Keine der gefundenen<br />
Lösungen ist monokollektiv zu erklären. Die Lösung zeigt<br />
darüber hinaus, dass die Multikollektivität der Individuen besonders<br />
durch die schützende Hülle, welche sich durch die<br />
Konstitution als transnationale Kommission ergibt, wirksam<br />
werden kann.<br />
4.2. Optionalität<br />
Kollektivzugehörigkeiten der Mitglieder werden situativ virulent.<br />
Die oben dargestellte individuelle Zugehörigkeit zu mehreren<br />
Kollektiven erweist sich nicht zu jedem Zeitpunkt als gleichzeitig<br />
relevant. In bestimmten Situationen überwiegt die Zugehörigkeit<br />
zu Nationalkollektiven, in anderen die Zugehörigkeit<br />
zur Kommission oder als Wissenschaftler.<br />
Die gemeinsame Lösung hinsichtlich der Opferzahlen der Vertreibung/Aussiedlung<br />
von max. 30.000 wird von den Mitgliedern<br />
der Kommission als Konsens bezeichnet. Bei der Beurteilung<br />
dieser Lösung stehen vor allem die Kollektivzugehörigkeiten<br />
Wissenschaftler / Historiker im Vordergrund.<br />
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Alte<br />
Generation<br />
Multikollektivität<br />
Slowaken<br />
Freunde<br />
Deutsche<br />
Wissenschaftler<br />
Tschechen<br />
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
75<br />
Situation: Kommissionsmitglieder wollen Thema der Opferzahlen<br />
endgültig klären, damit die Diskussion in der Kommission aber<br />
auch in den Ländern versachlicht wird.<br />
Kommunikative<br />
Funktion<br />
Möglichkeit zur<br />
Kommunikationsfortschreibung<br />
Erzeugung von<br />
Einigkeit<br />
Akzeptanz von<br />
Differenzen<br />
Abb. 2: Optionalität<br />
Lösungen<br />
Kleinster gemeinsame<br />
Nenner<br />
Beispiel: Skizze<br />
Konsens<br />
Beispiel: Opferzahlen<br />
Nichtentscheidbarkeit<br />
Begriffspaar<br />
Vertreibung/Aussiedlung<br />
„Wir sind unabhängige Wissenschaftler, Historiker [...]. In so<br />
einer Frage gibt es keinen Kompromiss“ (Interview Mitglied<br />
1). „Wir haben erkannt, dass Konsens nicht (nationale) Identität<br />
bedeutet“ (Interview Mitglied 22).<br />
Das nationale Kollektivempfinden ist somit bei dieser Frage in<br />
den Hintergrund getreten. Die nationale präkollektive Prägung<br />
hat weniger eine Rolle gespielt, als die Differenzen, die<br />
durch die intrakollektive Heterogenität in der Gruppe der<br />
Wissenschaftler entstanden sind. Diese intrakollektiven Heterogenitäten,<br />
wie unterschiedliche Auffassungen über Methoden<br />
der Datenanalyse, sind als Wissenschaftler im Gegensatz<br />
zu nationalen Perspektiven jedoch lösbar. Es erscheint daher<br />
folgerichtig, dass in diesem Fall das Kollektiv Wissenschaftler<br />
in den Vordergrund getreten ist. Ein weiterer interessanter<br />
Aspekt des Kollektivs Wissenschaftler wird deutlich, wenn<br />
man sich seine Adjektivierung durch die Mitglieder ansieht:<br />
„Wir entstammen doch eigentlich alle einer mitteleuropäischen<br />
Wissenschaftstradition“ (Interview Mitglied 7).<br />
Diese Bewusstwerdung gemeinsamer Traditionen bzw. die<br />
Entdeckung pankollektiver Zugehörigkeit führt wiederum dazu,<br />
dass der Begriff „Konsens“ mit Leben gefüllt werden<br />
kann: Was bedeutet Konsens in der mitteleuropäischen Wissenschaftstradition?<br />
Man stimmt nicht etwa ab über einen<br />
Kompromiss, sondern man tauscht Argumente aus und führt<br />
den Diskurs so lange, bis eine Einigung im Sinne allgemeiner<br />
Anerkennung der Ergebnisse erzielt wird.<br />
Unterschiedliche Kollektivzugehörigkeiten, so ist zu vermuten,<br />
werden in einem heterogenen Kollektiv situativ virulent. Dabei<br />
erfüllen sie kommunikative Wirkungen: Wenn in diesem<br />
Fall das Kollektiv Wissenschaft hervorgehoben wird, dient es<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
dazu, Einigkeit zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken<br />
zu erzielen, indem an das Selbstverständnis der Mitglieder<br />
als Wissenschaftler appelliert wird. Diese führt zu vergrößertem<br />
Handlungsspielraum, da das Interesse, eine gemeinsame<br />
Geschichte zu schreiben, für die Mitglieder in der Historikerkommission<br />
wichtiger war, als das vorhandene Trennende.<br />
Kollektive oder Kollektivkonstruktionen werden situationsabhängig<br />
mal mehr, mal weniger wichtiger. Die Mitglieder<br />
sind in der Lage, ihre Kollektivzugehörigkeiten unterschiedlich<br />
virulent werden zu lassen. In diesem Sinne erhöht<br />
die Konstellation als Transnationaler Akteur den Handlungsspielraum<br />
der Mitglieder, da Kollektivzugehörigkeiten situativ<br />
je nach gesuchter Lösung angesprochen werden können.<br />
4.3. Iterative Stabilität<br />
Das Erreichen gemeinsamer Lösungen führt nicht zur Homogenisierung<br />
des Kollektivs, sondern trägt rückwirkend zur Erhaltung<br />
der Multikollektivität der Mitglieder und damit zum<br />
Fortbestand des Kollektivs bei.<br />
Warum war die Erzeugung von Konsens in Fall der Opferzahlen<br />
wichtig? Was wäre passiert, wenn z.B. ein rechnerischer<br />
Kompromiss gefunden worden wäre, also z.B. 125.000 Opfer,<br />
um zu verhindern, dass die gute, freundschaftliche Atmosphäre<br />
innerhalb der Kommission gestört wird?<br />
Alte<br />
Generation<br />
Multikollektivität<br />
Wissenschaftler<br />
Slowaken<br />
Freunde<br />
Abb. 3: Iterative Stabilität<br />
Deutsche<br />
Wissenschaftler<br />
Bohemisten<br />
Tschechen<br />
Kommunikative<br />
Wirkung<br />
Möglichkeit zur<br />
Kommunikationsfortschreibung<br />
Erzeugung von<br />
Einigkeit<br />
Akzeptanz von<br />
Differenzen<br />
Eine mögliche Antwort lautet: Die gefundenen Lösungen wirken<br />
auf die Kollektive selbst zurück.<br />
So wäre es für viele Mitglieder aufgrund ihrer Kollektivzugehörigkeit<br />
als Historiker in der Frage der Opferzahlen nicht hinnehmbar<br />
gewesen, einen „faulen“, da historisch nicht gesi-<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 76<br />
Lösungen<br />
Kleinster gemeinsame<br />
Nenner<br />
Beispiel: Skizze<br />
Konsens<br />
Beispiel: Opferzahlen<br />
Nichtentscheidbarkeit<br />
Begriffspaar<br />
Vertreibung/Aussiedlung
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
cherten Kompromiss einzugehen, der ihr Selbstverständnis als<br />
Wissenschaftler in Frage gestellt hätte.<br />
“Kompromisse kann es in der Geschichtswissenschaft eigentlich gar nicht<br />
geben. Oder nur in ganz simplen Fällen. Wenn es aber unterschiedliche<br />
Vorstellungen über Opferzahlen gibt, ist es praktisch unmöglich: ‚Wir nehmen<br />
jetzt an, dass die Opferzahlen in der Mitte liegen’. Das macht niemand,<br />
da das unseriös ist. Dann bleibt man lieber dabei, dass es unterschiedliche<br />
Vorstellungen darüber gibt.” (Interview Mitglied 1)<br />
Ein Kompromiss in dieser oder ähnlichen Fragen hätte entsprechend<br />
zur Folge, dass Mitglieder, die gegen ihre Überzeugung<br />
gehandelt haben, sich von den Mitgliedern der jeweils<br />
anderen Gruppe (in diesem Fall den nationalen Kollektiven)<br />
übervorteilt fühlen, sich entsprechend zurückziehen und<br />
ihre nationalkollektiven Zugehörigkeiten virulent werden lassen.<br />
Es kommt in der Folge zu Verhärtungen an den virulenten<br />
Kollektivgrenzen, der zukünftige Handlungsspielraum und<br />
damit auch die Möglichkeit, weitere Lösungen zu erzielen,<br />
schränken sich ein.<br />
Eine gemeinsame Lösung führt also nicht dazu, dass in Zukunft<br />
Heterogenitäten weniger relevant werden bzw. die<br />
Gruppe vereinheitlicht, sondern im Gegenteil die Flexibilität<br />
der individuellen Multikollektivität weiter bestehen bleibt.<br />
Stabilität eines komplexen Kollektivs wie der Historikerkommission<br />
entsteht also gerade nicht aus ihrer Einheitlichkeit,<br />
sondern ihrer Fähigkeit die Multikollektivität ihrer Mitglieder<br />
langfristig zu erhalten. Nur dann ist es dem Einzelnen immer<br />
wieder möglich, andere Kollektive als das Nationale virulent<br />
werden zu lassen und „ein Eigentor zu schießen.“<br />
Zur Erklärung von Konfliktlösungen innerhalb heterogener<br />
Kollektivs müssen daher immer zwei Perspektiven betrachtet<br />
werden: Welche Wirkung haben die beteiligten Kollektive auf<br />
das Finden von Lösungen und welche Wirkung haben die Lösungen<br />
auf die Kollektive.<br />
5. Schlussfolgerungen und Ausblick<br />
Aus den dargestellten Ergebnissen einer Untersuchung der<br />
His-torikerkommission lassen sich folgende Schlussfolgerungen<br />
für die Beschreibung komplexer heterogener Kollektive<br />
ziehen.<br />
77<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
Komplexitätserhöhung<br />
Multikollektivität<br />
Wissenschaftler<br />
Alte<br />
Generation<br />
Slowaken<br />
Freunde<br />
Deutsche<br />
Wissenschaftler<br />
Bohemisten<br />
Tschechen<br />
Kommunikative<br />
Wirkung<br />
Möglichkeit zur<br />
Kommunikationsfortschreibung<br />
Erzeugung von<br />
Einigkeit<br />
Akzeptanz von<br />
Differenzen<br />
Lösungen<br />
Kleinster gemeinsame<br />
Nenner<br />
Beispiel: Skizze<br />
Konsens Konsens<br />
Beispiel: Opferzahlen<br />
Nichtentscheidbarkeit<br />
Begriffspaar<br />
Vertreibung/Aussiedlung<br />
Multikollektivität<br />
Die Multikollektivität der Mitglieder ist kein<br />
Störfaktor, sondern eine notwendige Voraussetzung<br />
für das Erreichen von Lösungen.<br />
Optionalität<br />
Kollektivzugehörigkeiten der Mitglieder werden<br />
situativ virulent.<br />
Iterative Stabilität<br />
Das Erreichen gemeinsamer Lösungen führt nicht zur<br />
Homogenisierung des Kollektivs, sondern trägt rückwirkend<br />
zur Erhaltung der Multikollektivität der Mitglieder<br />
und damit zum Fortbestand des Kollektivs bei.<br />
Abb. 4: Komplexitätsreduktion durch Komplexitätserhöhung<br />
Methodisch scheint bei der Beschreibung solcher Kollektive<br />
zunächst eine gewisse Komplexitätserhöhung notwendig zu<br />
sein, um alle relevanten beteiligten Kollektivzugehörigkeiten<br />
der Mitglieder zu erfassen. Es wird deutlich, dass Konflikte<br />
und Lösungen nicht vollständig erklärbar sind, wenn man zu<br />
einfache statische Kulturträgerkonzepte verwendet: Man benötigt<br />
eine differenziertere Betrachtungsweise, die die<br />
Gleichzeitigkeit von Kollektivzugehörigkeit (Multikollektivität),<br />
ihre situative Ausprägung und auch die Rückwirkungen bestimmter<br />
gemeinsamer Erfahrungen (Lösungen) auf das Kollektiv<br />
berücksichtigen. Dies bedeutet jedoch auf der anderen<br />
Seite nicht, dass dadurch eine unüberschaubare Komplexität<br />
geschaffen würde, wie sie trägerlose Konzepte nahelegen.<br />
Im Gegenteil führt die vorgenommene Perspektiverweiterung<br />
letztlich zu übersichtlichen und nachvollziehbaren Erklärungsansätzen,<br />
wie es zu bestimmten Prozessen innerhalb des Kollektivs<br />
kommt.<br />
Als Fazit lässt sich daher im Hinblick auf die Möglichkeiten<br />
allgemeiner Kulturbeschreibung festhalten: Gezielte und<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 78<br />
Komplexitätsreduktion<br />
Darstellbarkeit von<br />
Kollektivzugehörigkeiten<br />
Darstellbarkeit von kollektiven<br />
Funktionen auf die Findung<br />
von Lösungen<br />
Darstellbarkeit von Wirkungen<br />
der Lösungen auf die Kollektive
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
sinnvolle Komplexitätserhöhung kann im Ergebnis wieder zu<br />
einer Komplexitätsreduktion führen.<br />
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79<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
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© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 80
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© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8
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1<br />
Ein Politikfeld ist eine analytische Kategorisierungseinheit zur<br />
Abgrenzung unterschiedlicher Politikbereiche. Politikfelder im<br />
Allgemeinen sind dabei nicht nur auf nationale Politikfragen<br />
beschränkt. Internationale Verflechtungen, globale Kapital-,<br />
Finanz- oder aber auch Migrationsströme führen zu einer Inter-,<br />
Supra-, und Transnationalisierung bzw. Europäisierung<br />
von Politikfeldern (Schneider / Janning 2006:223). Die Politikfeldanalyse<br />
als ein politikwissenschaftlicher Zugang fragt allgemein<br />
nach der klassischen Definition von Dye danach,<br />
© <strong>Interculture</strong> <strong>Journal</strong> 2009 | 8 82
Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
„was politische Akteure tun, warum sie es tun uns was sie<br />
letztlich bewirken“ (Dye 1972:1, Schneider / Janning<br />
2006:11). Als anwendungsorientierte Wissenschaft reagiert<br />
die Politikwissenschaft mit dem Ansatz auch auf das Bedürfnis<br />
der politischen Akteure, wissenschaftliche Beratung in<br />
komplexen Politikfeldern zu bekommen. Die Gründe hierfür<br />
sind die zunehmende Komplexität sozialer und ökonomischer<br />
Sachzusammenhänge, der Steuerungsverslust des Staates<br />
durch externaliserte Entscheidungszusammenhänge, ein geringes<br />
Fachwissen (Expertisen) von gewählten Entscheidungsträgern,<br />
der Wunsch nach Komplexitätsreduktion, eine Irritationsvermeidung<br />
von Lobbying, die Legitimation von politischen<br />
Zielen bzw. Entscheidungen und letztlich auch eine Effektivitätssteigerung<br />
des politischen Outputs. Das Hauptaugenmerk<br />
der Politikfeldanalyse richtet sich dabei auf die inhaltliche<br />
Dimension von Politik, die mit dem englischen Begriff<br />
„Policy“ erfasst wird (Schneider / Janning 2006:15).<br />
2<br />
Als ein weiteres Beispiel kann die türkisch-armenische Historikerkommission<br />
angeführt werden. Die Einrichtung wird von<br />
Seiten der Bundesrepublik des Öfteren gefordert, wie an dem<br />
interfraktionellen Antrag: „Erinnerung und Gedenken an die<br />
Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 –<br />
Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern<br />
beitragen“ (Bundestag 2005) deutlich wird. In dem<br />
Antrag wird die Bundesregierung explizit aufgefordert, eine<br />
Historikerkommission zu unterstützen. Das Dokument verweist<br />
darauf, dass der türkische Ministerpräsident Recep<br />
Tayyip Erdogan bereits selbst die Einrichtung einer bilateralen<br />
türkisch-armenischen Historikerkommission vorgeschlagen<br />
hat. Neben den Historikerkommissionen existieren als zweite<br />
Form Schulbuchkommissionen. Exemplarisch hierfür kann die<br />
deutsch-französische und die deutsch-polnische Schulbuchkommission<br />
(Strobl 2005, Schulz 2006) angeführt werden.<br />
3 „Robuste Ergebnisse“ sind nach der Definition von Star<br />
(2004:60):„komplexe von Handlungen, die jede für sich allein<br />
genommen nicht als gültig oder zuverlässig standhalten würden,<br />
gemeinsam jedoch die Welt für eine Reihe von Zwecken<br />
hinreichend gut beschreiben und handhaben. Die Robustheit<br />
eines Ergebnisses oder Ansatzes wird durch die Veränderung<br />
einzelner Elemente nicht beeinträchtigt. Sie besteht aus voneinander<br />
abhängigen Teilen. In diesem Sinne robuste [...] [Ergebnisse]<br />
sind charakterisiert durch historische Kontinuität<br />
und durch eine ausreichende Zahl politischer Verbündeter,<br />
um ihr Überleben zu garantieren.“<br />
4 „Historisierte Konflikte“ sind Konflikte, die sich an aktuellen<br />
Meinungsverschiedenheiten (zwischen Nationen) entzünden,<br />
deren Ursprünge jedoch in Konflikten der Vergangenheit lie-<br />
83<br />
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Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
gen, die zumindest auf einer Seite zu gravierenden Verlusten<br />
von Menschenleben oder Besitzstand geführt haben und nie<br />
ausgeglichen werden konnten. Diese ausgesprochenen oder<br />
unausgesprochenen Verluste wirken in der Beziehung zwischen<br />
den Nationalstaaten wie Altlasten und verleihen ihr eine<br />
schwer kontrollierbare Eigendynamik: Jede Kommunikation<br />
zwischen den Beteiligten muss sich implizit immer wieder<br />
auf den zurückliegenden Konflikt beziehen, der auf diese<br />
Weise in seiner historischen Unlösbarkeit perpetuiert wird<br />
und aktuelle Beziehungen latent belastet (Schulz 2009).<br />
5<br />
Das Modell der „Expertenkommission“ und das Konzept des<br />
„Transnationalen“ scheinen sich idealtypisch zu bedingen.<br />
Die Vorwürfe, die gegen Expertenkommissionen und transnational<br />
agierende Akteure vorgebracht werden, scheinen die<br />
gleichen zu sein, wie z.B. Intransparenz und Abgeschlossenheit.<br />
Auch der Vorwurf, dass trilaterale Kommissionen eine<br />
Art Global Governance anstreben, welches dem Konzept der<br />
„Governance without Government“ entspricht, steht als<br />
Vorwurf gegenüber Expertenkommissionen ebenfalls im<br />
Raum. Trotz der zum Teil sicherlich nicht ganz unberechtigten<br />
Vorwürfe scheint es, als ergebe gerade die Konstellation einer<br />
transnational organisierten Expertenkommission nach der einfachen<br />
Formel: Vorwurf + Vorwurf = Vorteil vielseitige Vorteile<br />
zur Lösung internationaler Konflikte.<br />
6 Gründungsmitglieder waren von deutscher Seite der Vorsitzende<br />
der deutschen Sektion Rudolf Vierhaus (Max-Planck-<br />
Institut für Geschichte in Göttingen), Detlef Brandes (Universität-Oldenburg),<br />
Ludolf Herbst (Institut für Zeitgeschichte<br />
München), Hans Lemberg (Universität Marburg), Hans<br />
Mommsen (Universität Bochum) und Ferdinand Seibt (Collegium<br />
Carolinum). Von tschechoslowakischer Seite waren unter<br />
dem Vorsitz von Jan Křen die Historiker Toman Brod, Jozef<br />
Jablonický, Jíří Kořalka, Dušan Kováč, Rudolf Kučera und Václav<br />
Kural vertreten.<br />
7 „Der Begriff der Gewohnheiten enthält kognitive Ressourcen<br />
bzw. auch (historische) Wissensvorräte genauso wie Verhaltensweisen.<br />
Sie sind permanenter dynamischer Veränderung<br />
unterworfen und können uneinheitlich und widersprüchlich<br />
sein. Mitglieder müssen sie weder besonders verinnerlichen<br />
oder gar explizit für gut befinden, noch selbst übernehmen<br />
oder praktizieren. Um den Tatbestand „Kultur“<br />
zu erfüllen, genügt es, dass diese Gewohnheiten Menschen,<br />
die mit einander zu tun haben, bekannt oder vertraut sind. Im<br />
Gegensatz zu individueller Idiosynkrasie beziehen sich kulturelle<br />
Gewohnheiten also immer auf mehrere: Kultur beginnt<br />
dort, wo mehrere Menschen miteinander interagieren, sie<br />
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Schulz: Kann man komplexe transnationale Kollektive beschreiben ohne unzulässig die Komplexität<br />
zu reduzieren? Einige Anregungen zu einem neuen Modell zur Kollektivbeschreibung<br />
endet bei den Eigenheiten des Einzelnen.“ (Rathje<br />
2009a:170)<br />
8<br />
Die Einschränkung der partiellen Gemeinsamkeit klammert<br />
den individuellen Überschuss, wie er bei Simmel beschrieben<br />
ist, aus. Damit dem Individuum weitere Kollektive offen stehen,<br />
darf es in jedem nur partiell verankert sein: „Jedes Element<br />
einer Gruppe [ist] nicht nur Gesellschaftssteil, sondern<br />
außerdem noch etwas“ (Simmel 1983:283). Hieraus folgt,<br />
dass der Einzelne zugleich innerhalb wie außerhalb steht, oder<br />
anders formuliert, „die soziale Umfassung als solche betrifft<br />
eben Wesen, die nicht völlig von ihr umfasst sind“<br />
(Ritsert 2000:71, siehe auch Rathje 2009a).<br />
85<br />
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