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Theorie Erzählung I. Im Moment II. Heuristik III. felt sense IV. Der ...

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<strong>Theorie</strong> <strong>Erzählung</strong>


THEORIE ERZÄHLUNGAlltäglich, amorphe Masse langfristiger Überzeugungen, von momentanen<strong>Im</strong>pulsen durchschossen. Sich immer neu formierende,persönliche Neigungen und Abneigungen; eine Idee kristallisiertsich heraus – neu. Es beginnt ein langer Weg.Fragile Andeutungen einer Idee, mehr noch eine Ahnung, siewollen wir schützen vor Anfechtungen und Hindernissen des Alltags.Doch zugleich darin sich bewähren lassen, um tatsächlich nichtnur ein vages Vorgefühl zu bewahren. Sondern physisch greifbareArtefakte hervorzubringen: Wirksame Interventionen.Diesem alltäglichen Prozess widmet sich eine <strong>Theorie</strong> intentionalerWerkgenese.1Während die <strong>Theorie</strong> nicht-intentionaler Werkgenese die hochkontingentenSettings beschreibt, aus denen Artefakte als aleatorischeMaterialverteilungen entstehen – materiell-situative Ausgangsbedingungeneiner Werkgenese –, setzt eine Untersuchung des weiterenVerlaufs hervorbringenden Handelns genau hier an. Sie untersuchtdie Details und mikroskopischen Entscheidungsmomente einesArbeitsprozesses, die für gewöhnlich als zu trivial und wenigwürdevoll erachtet werden, als dass sie erzählt und beschriebenwürden. Die intentionale Werkgenese umfasst den Umgang mit allden erschreckend profanen, für manche demütigend banalenSchwierigkeiten, die sich uns jeden Tag aufs Neue stellen, Problemeim Sekundentakt. Die nach einer als erfolgreich bewerteten Arbeitaber ungenannt bleiben, aus Scham und Vergessen; die den Erfolgeines Vorhabens aber in großem Maße ausmachen. Ein offenes Geheimnis.Diese Fragen der intentionalen Werkgenese lassen sich nichtmit Lehrsätzen zum Projektmanagement oder reduktionistischenPhasentheorien der Kreativität beantworten. Eine theoretizistischeDiskussion von Konzepten wie ›Kreativität‹, ›Originalität‹ oder ›Urheberschaft‹ist vielmehr zu ersetzen durch einen Blick auf den all-13


HEURISTIKtäglich stattfindenden, persönlichen Umgang mit Schlüsselmomenteneiner Arbeit. Individuelle Irritationen und Obsessionen rückenhier in den Vordergrund, persönliche Abgründe und Euphorien,Veränderungen im Selbstbild, das pulsierende Anwachsen undAusdünnen von Entscheidungssträngen. Einer wirklichkeitsfremdenAußenperspektive auf technische und prozedurale Aspekte wirdeine Innenperspektive entgegengesetzt, die sich der persönlichenErfahrungsweise, den intimen Reflexions- und Entscheidungsprozesseneiner Werkgenese zuwendet.<strong>Theorie</strong> der intentionalen Werkgenese ist <strong>Theorie</strong> der All-2tagspraxis hervorbringenden Handelns, der Pragmatik der Genese.14


THEORIE ERZÄHLUNGkönnen, welche Begrifflichkeiten, Metaphern und Bilder zur Selbstbeschreibungder individuellen Erfahrung genutzt wurden oderwerden. Doch diese eher technische, archäologische Beschreibungvon Metaphern und ihren Kontinuitäten kann kaum die individuellerlebte Erfahrungsgestalt, die subjektive Erfahrung in einem spezifischen<strong>Moment</strong>, ihre Eigenart und Intensität vermitteln. Denn dieGestalt unserer Erfahrung ist plastisch.Sie zeigt sich viel eher im Unterlassen und Ändern, im Wählenund Verwerfen, Akzeptieren und Modifizieren unseres Handelnsals in kontinuierlich beibehaltenen Verhaltensweisen. Sie ähneltweniger einem vorgefassten Plan oder Konzept als einer erst imNachhinein erkennbaren und retrospektiv dann von uns mit Sinnbelegten, unwillkürlichen Verhaltensweise. Eine unsichere Suchbewegung.Angenommen, Sie wären auf einer Gesellschaft und hätten das Gefühl, Sie langweiltensich und sollten nach Hause gehen. Aber angenommen, statt heimzugehen, ›öffneten‹Sie die Langeweile und fänden Zorn vor. Und angenommen, dass Sie beimVorfinden des Zorns auch fänden, Sie müssten dableiben und jemandem gleich etwasvon diesem Zorn sagen. Ähnlich scheint sich auch ein Ziel zu verändern, während wires verfolgen, aber später sagen wir, dass unser neues Ziel dasjenige sei, das wir in3Wirklichkeit schon immer gewollt hätten, obwohl wir es nicht wussten.16


<strong>II</strong>. HEURISTIK<strong>II</strong>. <strong>Heuristik</strong>Die Erfahrungsweise einer historischen Person oder Personengruppelässt sich indirekt, kriminalistisch oder archäologisch erschließen,aus Überlieferungen persönlicher Gespräche, aus Tagebüchern,Briefen und <strong>Erzählung</strong>en, Essays und Inszenierungen, ausAbbildungen und Liedern. Wie können wir aber die individuelleErfahrungsweise einer Person, die mit uns lebt, hier und jetzt, in dergleichen oder einer leicht verschobenen Kultur, tatsächlich nachvollziehbarbeschreiben? Ist eine wissenschaftlich legitimierbareund tatsächlich wirksame Methode hierfür denkbar? Selber sind wirkaum in der Lage unsere eigene Erfahrungsweise, dieses ephemereund flüchtige Ding, hinreichend verständlich in Worte zu fassen.Die größte Schwierigkeit liegt wohl darin, etwas, das sich vorunseren Augen, nein, in unserem Körper und Denken, von <strong>Moment</strong>zu <strong>Moment</strong>, Situation zu Situation vollständig zu verändern scheint,dieses unbestimmte, plastische Etwas, so greifbar zu machen, dasses überhaupt sprachlich fixiert werden kann. Tun wir unserer Erfahrungdamit nicht Gewalt an? Deformieren wir sie nicht, frierensie ein und konservieren sie, sodass der von uns als zentral erlebteCharakter ihrer situativen Veränderlichkeit vollkommen verlorengeht? Eine methodische Aporie liegt ganz offensichtlich darin, individuelle– und das heißt: notwendig instabile – Erfahrungsweisen inhinreichend stabile Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchungtransformieren zu wollen.Ein allzu fixes Modell der Erfahrungsweise einer Person solltenwir also nicht anstreben. Die Reduktion von Beweglichkeit undSituationsabhängigkeit unseres Handelns und Erfahrens auf simpleSystematiken der Erfahrung, Methodologien des Handelns kannnicht das Ziel sein. Gesprächspartner und Protagonisten dieses Erlebenswürden eine derartige Feststellung ihrer Handlungs- undErfahrensweise zurecht ablehnen. Wir würden mit einer solchenErkenntnisabsicht wohl auch kaum nachvollziehbare Beschreibungenindividueller Erfahrungsweisen erhalten, sondern eher wohlbe-17


THEORIE ERZÄHLUNGgründete Plädoyers gegen jeden Versuch, Erfahrung methodisch zubeschreiben. Wird sie doch richtigerweise als eine Einschränkungindividueller Entwicklungs- und Veränderungsmöglichkeiten erlebt:ein verheerender Angriff auf die persönliche Integrität, die individuelleErfahrungsweise selbst.Um diese Studie also nicht schon vor ihrem Beginn durcheine erfahrungszersetzende und biografiezerstörende Methode aufGrund laufen zu lassen, begreifen wir Erfahrung nicht als eine unveränderliche,fixierte Entität. Für die Beschreibung einer Erfahrungsweiseist vielmehr genau diese Offenheit auf künftige Veränderungender Erfahrung hin konstitutiv. Wir rekonstruieren nichtabgeschlossene Methodiken, sondern erzählen von situativ sichentwickelnden Weisen, auf neue Situationen handelnd und erlebendzu reagieren. Wir beschreiben keine Methode, sondern eine individuelle<strong>Heuristik</strong>.Dieser Begriff der <strong>Heuristik</strong> scheint aufgrund seiner besonderenGeschichte und der spezifischen Tradition seiner Disziplinbesonders geeignet, individuelle Erfahrungsweisen zu beschreiben.Denn die <strong>Heuristik</strong> ist eine alte Disziplin. Älter als die meisten Methodenoder Methodologien, die die Künste und Wissenschaften seitBeginn der Neuzeit ausgebildet haben, älter auch als die <strong>Theorie</strong>nder Erkenntnis seit jener Zeit, Historiografien der Ideen, älter alseine Beschreibung der Alltagsgeschichte und älter auch als die Äs-4thetik.Unter Namen wie ars inveniendi, Heuretik, Ereunetik, Zetetikoder sogar Analysis erscheint sie, sei es in Leibniz’ Versuch einerArs combinatoria (1666), in Kants Unterscheidung »heuristischer5Begriffe« , bis hin zu Vaihingers Beschreibung »heuristischer Fik-6tionen« oder Lakatos’ Formulierung heuristischer Prinzipien eines7Forschungsprogramms. Die Geschichte der <strong>Heuristik</strong> besteht auseiner Reihe partikularer Versuche zu ihrer immer wieder aufs Neueversuchten systematischen Grundlegung. Als Disziplin ist sie institutionellgescheitert, es gibt sie eigentlich nicht. Die »Lehre von den8Verfahren, Probleme zu lösen« bleibt ein Projekt.Es finden sich denn auch weniger wissenschaftliche <strong>Theorie</strong>nmit Allgemeingültigkeitsanspruch als individuelle Versuche, daseigene Handeln nachholend oder vorauseilend zu erklären: Metho-9dodizeen , in idiosynkratischen Produzentinnen- oder Künstlertheorien.Situative Verankerung und unsystematisches Vorgehenkonstituiert einen heuristischen Prozess und so scheint eine ›allgemeine<strong>Heuristik</strong>‹ auch undenkbar. Eben dieser wandelbare Charakterjedoch prädestiniert sie umgekehrt, eine Rahmentheorie zur18


<strong>II</strong>. HEURISTIKBeschreibung vielfältig individueller Erfahrungsweisen bereitzustellen.Das Paradox ihrer an Publikationen reichen Nichtexistenz bestätigtdies.Unter dem Begriff der <strong>Heuristik</strong> können also heterogene undweit diversifizierte, hochspezifische und persönliche Umgangs- undVorgehensweisen des Handelns und Erlebens nachvollziehbar beschriebenwerden. Die <strong>Heuristik</strong> bietet damit ein Meta-Modell füreine breite, thematisch und disziplinär kaum einzuschränkendeVielfalt von Studien zur allgemeinen <strong>Theorie</strong> des hervorbringendenHandelns, der Handlungs- und Entscheidungstheorie. Um sichtbar,genauer: lesbar und verständlich zu machen, wie es ist und sich anfühlt,wenn undeutliche Ahnungen Form gewinnen; wir Verbündetefinden und Vorgehensweisen entwickeln; diese durchführen – bis10ein Artefakt entstanden ist.19


THEORIE ERZÄHLUNG<strong>II</strong>I. <strong>felt</strong> <strong>sense</strong>Wenn wir versuchen, individuelle <strong>Heuristik</strong>en zu rekonstruieren, soist die Erfahrungsseite individuellen Handelns, wie eingangs beschrieben,uns unwiderruflich verschlossen. Frei zugänglich sindlediglich äußerlich sichtbare Handlungen der Protagonisten einesProzesses der Werkgenese sowie deren nachträgliche oder vorauseilendeÄußerungen über ihre Handlungen. Sie können wir beschreiben,beziehungsweise: über sie können wir schreiben.In diesem Zwischenraum aber, dieser unsichtbaren, blindenZone zwischen Handlungen einerseits und Aussagen andererseits,ereignet sich unser Erleben. <strong>Im</strong> Laufe eines Handlungs- oder Entscheidungsprozesseseignen wir uns ein Wissen darüber an, wie wirdiesen Prozess erleben; wir bilden uns Ansichten und Meinungen,Thesen und Mikro-<strong>Theorie</strong>n, über die wir im Umfeld des Handelnsdann sprechen. Wir denken darüber nach, notieren Sätze, streitendarüber mit anderen. Diese Interferenz, dieses Wechselspiel zwischenHandeln und Beschreiben im stetigen Ringen um eine stimmigeund uns selbst plausible Selbstbeschreibung können wir zurRekonstruktion einer <strong>Heuristik</strong> nutzen.Denn es sind keine logisch korrekten Aussagen, die wir imSinn haben; oft sind sie ethisch oder moralisch kaum vertretbar,nicht selten agrammatisch, inkohärent, inkommensurabel, non-verbal.Es sind undeutliche, doch klare Empfindungen, die uns heimsuchen.Empfindungen, die unsere Handlungsentscheidung dadurchmitbestimmen, dass sie im <strong>Moment</strong> des Handelns uns an uns selbst,am eigenen Leib wahrnehmen lassen, ob diese Entscheidung für unsSinn macht – oder nicht. Es ist ein körperliches, ein intuitives Gespür,ein Sinn für die individuell und situativ richtige und angemesseneHandlungsweise: Was wäre richtig für uns, zu tun?Eugene T. Gendlin, der amerikanische Phänomenologe undPsychologe, bezeichnet diese leiblich empfundene Bedeutung, diese11Selbst-Empfindung als <strong>felt</strong> <strong>sense</strong>. Dieser <strong>felt</strong> <strong>sense</strong> oder, in derÜbersetzung von Hans Julius Schneider, dieses sinnhafte Gefühl be-20


<strong>II</strong>I. FELT SENSEschreibt er als eine propriorezeptive Wahrnehmung, die uns diejeweils gegenwärtige, spezifische Erfahrungsgestalt leiblich spürenlässt. Diese Selbstwahrnehmung ereignet sich jedoch, wie Gendlinweiter ausführt, nicht während des Handelns oder Sprechens, sonderndavor und danach – in den Brüchen dazwischen. Es brauchtalso einen <strong>Moment</strong> der handlungsenthobenen Aufmerksamkeit, gelöstund gelockert, der es möglich macht, dass wir uns auf uns selbst,auf unsere eigene Erfahrungsgestalt konzentrieren können. Solche<strong>Moment</strong>e des Innehaltens werden nicht selten durch äußere Irritationenausgelöst, durch ein Zögern, einen Zweifel, durch größereKrisen und Ängste – oder allein nur dadurch, dass wir ›den Fadenverloren‹ haben, nicht mehr wissen, was wir gerade tun wollten.Solche oft mikroskopischen Unterbrechungen im ansonsten ungebrochenenFluss des Handelns sind es, die Ruhemomente einfordern,eine Selbstbesinnung bewirken. Sie zwingen uns, zum <strong>felt</strong><strong>sense</strong> zurückzukehren. Sie machen es möglich, die Konsistenz, dieBeschaffenheit unserer gegenwärtigen Bewusstseinslage und Erfah-12rungsweise wieder in den Blick zu nehmen.Wenn wir zugestehen, dass es solche Empfindungen gibt undwenn wir weiterhin anerkennen, dass sie unsere Entscheidungen oftstärker bestimmen als unserem Selbstbild als autonom handelndemIndividuum lieb wäre, so müssen wir in die <strong>Theorie</strong>n des Handelns,des Entscheidens und der Bedeutungsbildung einen Aspekt einführen,der in der Tradition der phänomenologischen Philosophie alsdas Leibliche bezeichnet wird. <strong>Im</strong> Gegensatz zu einer objektivistischen,atomistischen oder logizistischen Beschreibung der Weltumfasst dieses Leibliche die situativ gebundene und individuell geprägteErfahrensseite alltäglichen Handelns. Vermeintlich allgemeingültigeBeschreibungen von Raum und Zeit, Handlung undSprache, Empfinden und Entscheiden führt es zurück auf die je spezifischeund subjektiv geprägte Erfahrungsgestalt. Die individuelleErfahrung wird als notwendige Möglichkeitsbedingung jeder Erkenntnisbestimmt – denn wir sind keine anonymen Erkenntnissubjekte.Erst die individuelle Leiblichkeit in einem bestimmten <strong>Moment</strong>,mit all ihren Fehlbarkeiten und Obsessionen, Übereilt- undDummheiten, Albern- und Überspanntheiten, aber auch Leidenschaftenund Begeisterungen, Stringenzen und Zielstrebigkeiten,macht Erkenntnis möglich. Gendlin geht sogar so weit zu behaupten,leibliche Selbstwahrnehmung, bodily <strong>felt</strong> <strong>sense</strong>, sei der schlechthineinzige Weg, auf dem Bedeutungen sich bilden, Kategorien sichentwickeln und Ideen entstehen können.Selbst wenn wir dieser absoluten Aussage nicht folgen wol-21


THEORIE ERZÄHLUNGlen, können wir mit Wolfgang Hogrebe doch feststellen, dass eseben genau solche als sinnhaft empfundenen Ahnungen sind, die13kommende Handlungen ankündigen oder bahnen. Empfindungen,die Hogrebe treffend als »epistemisch präsentisch, aber ontisch fu-14turisch« beschreibt – und die schon einsetzen, wenn klare Begriffe,eindeutige Benennungen und ausformulierte Aussagen uns nochfern liegen.Eine Erkenntnistheorie der natürlichen Erkenntnis möchte ich hier eine solche nennen,die unseren szenischen Umgang-mit-Informationen und unser Stehen-in-Informationenstudiert, bevor wir schon zu Experten dieses Umgangs in den Wissenschaf-15ten werden.22


<strong>IV</strong>. DER PERSÖNLICHE TON<strong>IV</strong>. <strong>Der</strong> persönliche TonMit dem Begriff des <strong>felt</strong> <strong>sense</strong> bestreitet Gendlin in letzter Konsequenzauch die fundierende Bedeutung der Differenz und des Differenzierens,die in der gegenwärtigen Philosophie als zentral angenommenwird für den Verlauf eines Erkenntnisprozesses. Er betontdagegen, dass all unser Handeln und Denken in einer spezifischenErfahrungssituation leiblich verankert ist, die durchaus undifferenziertsein oder als vordifferential angesehen werden kann. Einesolche individuelle und alltägliche Erfahrungsweise lässt nachfolgendeUnterscheidungen dann überhaupt erst möglich werden. Diestetige Rückversicherung durch unsere leibliche Selbstwahrnehmungübernimmt somit eine generative Funktion: den Prozess vonvagen, leiblichen Ahnungen zu einer in Handlungen, auch sprachlichen,resultierenden Erkenntnis zu führen und dahin zu begleiten.Besonders eindrucksvoll demonstriert Gendlin dies anhanddes Bedeutungsfindungs- und – im Deutschen – auch Wortbildungsprozesses.Wenn wir nach Worten ringen, nach dem richtigen Ausdruck,gehen wir erfahrungsgemäß nicht von vorgegebenen semantischenMatrizen und Sprechhandlungsrastern aus, für die wir Wortezusammenklauben. Unsere Suche beginnt vielmehr mit einer vagenAhnung, einem undeutlichen Gefühl, das bedeutet: In dieser Richtungkönnte es weitergehen, das Wort, die Handlung, die wir suchen,könnte ungefähr dort zu finden sein.Wie der Satz, der Ausdruck aber weitergehen könnte, wissenwir nicht – wir haben nur das starke, sinnhafte Gefühl, dass er indieser Richtung weitergehen wird. Wir können nicht logisch präzisierenoder semantisch definieren, nach welchem Wort, welchenAussagen wir suchen. Wir können jedoch erzählerisch umschreiben,andeuten, evozieren, wie die sprachliche oder atmosphärische Beschaffenheit,die Konsistenz des Gesuchten ungefähr sein könnte:Das Wort ist warm, groß – nein eher: kompliziert, ganz klein; es fängtmit a an; erinnert uns an einen Eigennamen …Dieser kleine, bescheidene Such- und Erkenntnisprozess be-23


THEORIE ERZÄHLUNGginnt also mit einem Sich-Öffnen für die aktuelle Situation, einemHineingehen in den Bereich der subtilen Wahrnehmungen. Gendlinbetont diese Subtilität, die subtlety einer Situationserfahrung ausdrücklich,da sie komplexer sei als jedes Konzipieren von Begrifflichkeiten,jede daran anschließende semantische Differenzierung,jede <strong>Theorie</strong>bildung im Nachhinein: »Any situation, any bit of prac-16tice, implies much more than has ever been said.«Wenn wir also den Anspruch erheben, wissenschaftlich überProzesse der Werkgenese von der Seite ihrer Erfahrung her zusprechen, so müssen wir eben genau diese Feinheit und Zartheitsituativen Erlebens respektieren. Ihr müssen wir einen angemessenenRaum in unseren Darstellungen geben. Methodisch bedeutetdies, dass wir uns selbst, als wissenschaftliche Persona, als Gesprächspartner,Begleiter werkgenetischer Prozesse und als wissenschaftlicherAutor in die persönliche, subtile Erfahrung mithineinbegebenmüssen. Wir müssen einen fragilen, sehr persönlichen Tonim Untersuchen von und im Schreiben über Prozesse der Werkgenesesuchen.Ein persönlicher Ton lässt zunächst die Fallhöhe zwischendozierendem Autor und vermeintlich ahnungslosem Leser verschwinden.Das <strong>Im</strong>poniergehabe wissenschaftlicher Distanz wirdbehutsam, doch beharrlich in eine andere, unserer Alltagserfahrungnähere Art der Beschreibung überführt. Denn ein persönlicher Tonwissenschaftlichen Sprechens bezieht seine Autorität nicht aus derKenntnis kanonisierter <strong>Theorie</strong>n, sondern aus dem Grund individuellenErlebens: aus einer persönlichen Bewegtheit und motivierendenErfahrungsweise. Er nähert sich eher dem Ton der biografischen<strong>Erzählung</strong> und entfernt sich vom Ton der Scholastik oderDoxa.Ein eindrucksvolles Beispiel für den Erkenntnisgewinn einersolchen Schreibweise findet sich im Werk des bildenden Künstlersund Philosophen Thomas Lehnerer. Nach Studien zur Ästhetik vonSchleiermacher und Kant hat Lehnerer 1994 eine »Methode derKunst« vorgelegt. Er begibt sich darin auf die Suche nach einer Methodologiekünstlerischen Schaffens und entwickelt hierzu eine besondereDarstellungsform. In den argumentativen Gang durch Bildtheorie,Ästhetik und Kunsttheorie flicht Lehnerer immer wiederpersönliche Berichte von Arbeits- und Formfindungsprozessen. Dieselakonischen, sachbezogenen <strong>Erzählung</strong>en von alltäglichen Hindernissenund Lösungsversuchen eines Arbeitsprozesses zeigen, wieseine Reflexion in persönlichen Erfahrungen fundiert ist – die theo-24


<strong>IV</strong>. DER PERSÖNLICHE TONretische Fragestellung wird immer wieder auf konkret erfahrbareEreignisse zurückgeführt:Wie kann künstlerische Arbeit konkret vor sich gehen? Wo und wann ist im Einzelfallder entscheidende Augenblick, in dem ich die Mittel (mein Wissen und Können, meinVermögen) nicht mehr beherrschen, sondern ins Spiel bringen und loslassen soll?Und konkret: Wie fange ich ein Bild überhaupt an? Wie, nach welchen Kriterien führe17ich es dann fort? Und wann ist es fertig?Fragen, die sich Lehnerer hier als Philosoph stellt, erwachsen ausseinem persönlichen Arbeits- und Erkenntnisprozess als bildenderKünstler. Eine Reflexion, die Grundsätzliches infragestellt, dochwirklichkeitsnah rückgebunden bleibt an konkrete Situationen. PrekäreFragen seiner Argumentation räumt er nicht mit Begriffsanalysenaus dem Weg, sondern macht jeweils mit einer <strong>Erzählung</strong> deutlich,worin die Wucht dieser Selbst-Infragestellungen besteht und18wie im Arbeitsprozess damit umgegangen wird, auch im Scheitern.Er versucht nicht, seine künstlerischen Arbeiten im Nachhineintheoretisch zu legitimieren, sondern legt vielmehr die Erfahrungsgrundlage,die <strong>Im</strong>manenzebene (Deleuze) seiner Reflexion offen.<strong>Der</strong> Wert eines derart wagemutigen, persönlichen Schreibensliegt im Wechsel vom bloß propositionalen Wissen über einen Gegenstandzum internalisierten Handlungswissen. Dadurch erst gerätder Zwischenbereich alltäglichen Handelns tatsächlich in den Blick,19die Vielzahl kleiner, situativer Praktiken der ›Praxiswelt‹, von derPierre Bourdieu spricht. Eine hauchdünne, sich unserer Aufmerksamkeitentziehende Membran psychischer Prozesse und sozialerBezüge, die unser Handeln umfangen. Ein Geflecht von Handlungsvollzügenund Einstellungen, isolierten Erinnerungen, vorauseilendenGedanken, gemischten Gefühlen. Ein Amalgam persönlichenErlebens und objektivierbaren Handelns.25


THEORIE ERZÄHLUNGV. <strong>Theorie</strong> <strong>Erzählung</strong>Ein steter Wechsel von begrifflicher Analyse zu persönlicher <strong>Erzählung</strong>und zurück kann individuelle Erfahrungsweisen also plastischmachen. Wir sprechen nicht von gelernten <strong>Theorie</strong>n, sondern auseinem Praxiswissen heraus, unserem Praxiswissen, das das Gleitenvon erzählerischer Darstellung in theoretische Recherche motiviert,im Kontakt zu unserem <strong>felt</strong> <strong>sense</strong>.Wir befinden uns in einer Wellenbewegung, einem fortwährendenPendelgang. Sprechen wir von einem persönlichen Erfahrungsgrundaus, kehren wir jeweils knapp vor dem Abheben in eineausformulierte <strong>Theorie</strong> zurück in einen situationsgebundenen Bericht.Bevor wir uns verlieren in eine partikulare Anekdote setzt dieReflexion der wie von außen beobachteten Handlungs- und Denkfigurenein: Eine kontinuierliche Bewegung zwischen Beschreibungen,evokativen Nachvollzügen eines <strong>felt</strong> <strong>sense</strong> einerseits und darananschließendem, begrifflichen Handeln andererseits. Eine rhythmischeFolge, die immer wieder, immer insistierender die Innen- undAußenperspektive miteinander vertauscht und wieder vertauscht,Erfahrungsseite gegen theoretische Einholung tauscht und wiederzurück und damit erst ein plastisches, geradezu holographisches20Erleben der Werkgenese möglich macht.Die Erfahrungsgrundlagen waren für Lehnerer seine eigenen.In unserem Fall liegen sie allerdings verteilt in uns und in dem vonuns begleiteten und befragten Gegenüber. Doch ist der Wechsel derDarstellungsformen auch hier von Nutzen: denn die Außensicht, diewir notgedrungen einnehmen, wird in der erzählerischen Darstellungdes <strong>felt</strong> <strong>sense</strong> dominant sein, während die Selbstbeschreibungder beobachteten Akteure in der begrifflichen Analyse untersuchtwird. Wir werden, anders als Lehnerer, in den meisten Fällen nichtvon unseren eigenen Erfahrungen der Werkgenese sprechen, sondernvielmehr unsere Beobachtungen der Erfahrung anderer wiedergeben:eine doppelt gebrochene Erfahrung. Ebenso legen wirauch nicht unsere eigenen begrifflichen Reflexionen vor, sondern26


V. THEORIE ERZÄHLUNGanalysieren jene anderer Protagonisten. Diese doppelte Distanzierungschafft trotz der methodisch notwendigen Nähe eine reflektierendeDistanz, die von einer <strong>Theorie</strong> der intentionalen Werkgenesezu erwarten ist.Die Rekonstruktion einer individuellen <strong>Heuristik</strong> beginntdarum im Folgenden stets mit der <strong>Erzählung</strong> einer konkreten Situation.Wir beschreiben eine raumzeitlich eng umgrenzte Erfahrungdes Protagonisten einer Werkgenese, die entweder retrospektiv alsentscheidend für den weiteren Verlauf der Arbeit angesehen werdenmuss oder schon im Erleben der Situation selbst als entscheidenderfahren wurde. Hier sprechen wir nicht als objektive, anonymeErkenntnis-Instanz, sondern als Teilnehmer einer Situation derVerstrickung und Verwicklung. Diese <strong>Erzählung</strong>en sind relativ kurz,eine, selten zwei, Seiten sollen genügen, um eine intensive Erfahrungplastisch werden zu lassen. Ein close-reading situativer Erfah-21rungsgrundlagen.In einem zweiten Schritt wird die Individualtheorie des Akteursoder der Akteurin zu diesem Erlebnis befragt. Üblicherweiseliegt diese <strong>Theorie</strong> nicht in Schriftform vor, sondern muss aus verstreutenÄußerungen, Gesprächen, wiederholt verwendeten Begriffenoder Hinweisen extrapoliert und ausformuliert werden. Wirnähern uns der Selbstbeschreibung eines oder einer Handelndenund versuchen sein oder ihr begriffliches und theorieähnlichesSelbstverständnis mit der zuvor beschriebenen Situation stimmig zuverbinden. Inkonsistenzen zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung,aber auch eine Gleichursprünglichkeit von Reflexion undHandeln werden hier offensichtlich.Diese <strong>Theorie</strong>skizze verknüpft sich in einem dritten Schrittmit einer wissenschaftlichen <strong>Theorie</strong> zu gleichen oder ähnlichenGegenständen der Individualtheorie. In diesem Kontakt mit zeitgenössischenoder historischen <strong>Theorie</strong>positionen zeigt sich der Statusund die Relevanz der Künstlerinnen- oder Produzententheorie. <strong>Der</strong><strong>Theorie</strong>torso muss sich anhand einer Wissensform bewähren, diekeinerlei Rücksicht auf den Erfahrungsgrund ihrer Urheber nimmt.Von dieser Konfrontation ausgehend wird schließlich die nächsteErfahrungssituation beschrieben: <strong>Der</strong> Dreierschritt beginnt vonneuem.Ein gleitender Wechsel von empathisch-immersiver <strong>Erzählung</strong>zu distanziert-transzendierender Analyse entsteht, der in seinerWiederholung sich einspielt zu einer neuen Textform: der <strong>Theorie</strong><strong>Erzählung</strong>. Denkfiguren verschmelzen mit situativen Erfahrungen,individuelles Handeln und Erleben wird in einer konkreten27


THEORIE ERZÄHLUNGSituation nachvollziehbar. – Eine Vorgehensweise literarisch-essayistischerRecherche, die den hohen Anspruch allgemein übertragbarer<strong>Theorie</strong>n nicht aufgeben muss.28


VI. WIRKLICHKEITVI. WirklichkeitDie <strong>Theorie</strong> <strong>Erzählung</strong> ist eine Form wissenschaftlicher Darstellung,die ungewöhnlich reich, da gleichermaßen persönlich wie theoriegesättigt,ist. Sie erlaubt es, individuelles Erleben zu rekonstruieren,nachvollziehbar. Nicht davor in entomologischer oder archäologischerDistanz zu verharren, sondern als Ertrag der Studie eine Füllesituativ gebundener und übertragbarer <strong>Theorie</strong>positionen zu durch-22dringen. »Pragmatik als Basis von Semantik« , dies wird in <strong>Theorie</strong><strong>Erzählung</strong>en spürbar.Die folgenden Kapitel nutzen diese Vorgehensweise zur Darstellungeines partiellen Erkenntnisprozesses, einer Denkbewegung23im Laufe der intentionalen Werkgenese. <strong>Theorie</strong>n als partikulareund situationsgebundene zu erzählen, kann in vielen Bereichenkulturwissenschaftlicher Forschung hilfreich sein. Zwar entstehenso keine konsistenten <strong>Theorie</strong>architekturen, wohl aber eine Mannigfaltigkeiterfahrungsnaher und gleichermaßen theoriefähiger Kasuistiken.Unter dem Begriff der <strong>Heuristik</strong> und in Form der <strong>Theorie</strong><strong>Erzählung</strong> lassen sich hochspezifische, punktuell definierte Erfahrungsweisenunterschiedlichster Erfahrungs- und Lebensbereichebeschreiben und analysieren als situativ gebundene <strong>Heuristik</strong>endes … Eine Fülle von Einzelstudien als Beiträge zu einer offenenSammlung individuellen Erlebens sind denkbar, die persönlichenErfahrungen und Erkenntnissen eine Stimme geben, wissenschaftlich.Ein Projekt zur »Aufklärung unserer durchaus situationsab-24hängigen epistemischen Verfassung«.Die vorliegende Studie dringt damit an die Grenze dessenvor, was unhinterfragt als Wissenschaft bezeichnet werden kann.Die experimentelle Erkundung eines Bereiches jedoch aufzugeben,nur weil er bislang wissenschaftlicher Forschung als unzugänglichgalt, scheint der falsche Weg. Um individuelle Erfahrungsweisen zurekonstruieren, müssen vielmehr weitere Wissensformen in die Näheder Wissenschaft gerückt und in sie integriert werden, die zufrüheren Zeiten umstandslos als unwissenschaftlich ausgeschlossen29


THEORIE ERZÄHLUNGworden wären. Integrieren wir einen neuen, prekären Gegenstand,wie die individuelle Erfahrung, muss somit auch die Methodik derUntersuchung sich deutlich verändern.In einer Zeit, da Information gewohnheitsmäßig mit Wissenidentifiziert wird, kann die Forderung nach wissenschaftlichem Vorgehennur dann noch ihren Wert behalten, wenn sie immer wiederneue, vormals nicht-wissenschaftliche Gegenstände und Verfahrenin sich aufnimmt. Die universitäre Verwaltung eines selbstgefälliggepflegten Halbwissens kann nur dann vermieden werden, aufrichtig,wenn wir bemüht sind, die Grenzen einer Wissenschaft immerwieder neu zu bestimmen und zu beschreiben; wenn wir dieseGrenze immer weiter verlagern, sie neu ziehen, um ganz andere,immer geringere Befestigungen vorzunehmen gegen das, was dahinterbeginnt. Um so die Wissenschaft zu öffnen für eine weitergehende,weit grundlegendere Erfahrung der Wirklichkeit.30

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